Die Gartenlaube (1858)/Heft 6

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der gefangene Dichter.
Von Levin Schücking.


I.

Einer der großartigsten Residenzbaue des vorigen Jahrhunderts ist der, welcher den Großherzogen von Hessen und bei Rhein zum Aufenthalte dient. Wäre er so vollendet, wie Landgraf Ernst Ludwig, der fromme, thätige, väterlich sorgende Fürst ihn auszuführen beabsichtigte, so würde er an Pracht und Umfang wetteifern mit der größten aller Residenzen, welche das an solchen Schöpfungen so fruchtbare achtzehnte Jahrhundert errichtete, mit dem ungeheuern Sommerhause der neapolitanischen Bourbons zu Caserta. Leider aber sind Monsieur Rouge de la Fosse’s, des Architekten, Pläne nur zum vierten Theile ausgeführt, und nur das Modell im Museum zu Darmstadt giebt jetzt ein Bild dessen, was das Ganze werden sollte nach der Idee seiner Gründer. Aber ist der große Bau von Ernst Ludwig’s Nachfolgern nicht vollendet, so ist er von ihrer Liebe für Kunst und Wissenschaft im Innern durch die geistigen Schätze, welche nach und nach darin gehäuft wurden, desto reicher ausgestattet. Schon die Regierungsperiode des Landgrafen Ludwig IX. legte den Grund zu diesen Schätzen und zwar in Folge des regen Eifers, der für jedes Gebiet geistigen Strebens und humaner Bildung in der großen und edlen Seele der Landgräfin, der schönen und vielgepriesenen Caroline lebte. Sie auch hat die Schloßschöpfung des Vorfahren mit sinnigem Geschmack ergänzt, indem sie jenen Park hinzufügte, der sich auf der Nordseite der Residenz ausdehnt, und jetzt mit seinen Anlagen, seinen schönen Baumgruppen, seinem kleinen See das Publicum auf die kiesbestreuten Pfade lockt.

In einer der regelmäßigen und reinlichen Straßen der großherzoglichen Hauptstadt, welche diesem „Herrengarten“ nahe liegen, sieht ein einfaches zweistöckiges Haus, wenn wir nicht irren, mit dem Buchstaben E. und der Nummer 90. Dies Haus wird als eine Merkwürdigkeit den Fremden gezeigt; das heißt, wohlverstanden, denjenigen Fremden, welche darnach fragen sollten, und deren sind freilich gerade nicht allzuviel; denn wer in unserer vielbeschäftigten Zeit hat so viel Muße übrig, um sich der Betrachtung alter Häuser hinzugeben, und seine Theilnahme haften zu lassen an Mauern und Wänden, die höchstens wohl „Ohren“, aber leider keinen Mund besitzen, womit sie erzählen könnten, was sie einst Alles vernommen und erlauscht haben! Wäre das Letztere der Fall, dann freilich würde unser Nr. 90 E. manches tiefbedeutsame Wort, manche weittragende Idee, manchen hinreißenden Ausbruch einer dichterischen Inspiration uns überliefern können, die wohl werth, der Vergessenheit entrissen zu werden. Denn in diesem Hause wohnte einst Johann Heinrich Merk, und unter seinem Dache kehrten die „schönen Geister“ einer Periode ein, über welcher ein so schöner Geist der Humanität und des von neuen und großen Gedanken befruchteten dichterischen Schaffens und Strebens schwebte.

Es war an einem warmen, klaren und einen heißen Tag kündenden Morgen im Sommer des Jahres 1772, als aus diesem Hause des Herrn Kriegszahlmeisters Merk ein junger Mann heraustrat, der mit leichtem elastischen Schritt die drei oder vier Stufen vor der Hausthüre niederstieg, und sich dann jenen erwähnten nahegelegenen Anlagen des „Herrengartens“ zuwandte. Da sein Weg eine Strecke weit sich im Schatten einer Häuserreihe hielt, so schien er den Schutz seines kleinen dreieckigen Hutes, mit der schmalen Goldborte umher, für überflüssig zu halten; er trug ihn in den über den Rücken gelegten Armen. Das unbedeckte Haupt bot sich mithin frei der Beobachtung dar, und es konnte in der That nichts geben, was einer aufmerksamen Beobachtung würdiger gewesen, als eben dieses wunderbar schöne Jünglingshaupt. Seine strahlenden braunen Augen, seine kräftig geformte, in der Mitte etwas erhobene Nase, mit den stark ausgebildeten Flügeln, dem Zeichen der Race, des Muths und des Uebermuths; der regelmäßig gezeichnete Mund mit dem hohen Incarnat der Lippen, und das männlich stark ausgebildete Kinn – alles das bildete etwas, wie einen Normalkopf, und erinnerte an plastische Kunstschöpfung. Das schönste an diesem Kopfe war aber unstreitig die Stirn, welche mit der der Ludovisischen Juno an Regelmäßigkeit der Contouren und an sprechendem Ausdruck wetteifern konnte. Sie trat, obwohl sie nicht vorgewölbt war, sondern eher etwas hinter die senkrechte Linie zurückwich, doch um so mehr hervor, als der junge Mann das sorglich gepuderte Haar straff zurückgestrichen und hinter dem Nacken in einen stattlichen Zopf zusammengebunden trug.

Der Zopf war aber nicht das Einzige, was der Fremde von dem charakteristischen Costüme von Anno 1772 an sich aufwies. Er war im Gegentheil ganz nach Mode des Tages und zwar mit Sorgfalt gekleidet; in weißer Pattenweste, im Rock von dunkelgrünem leichten Sommerzeuge, in kurzen Beinkleidern von schwarzem Halbsammet und schwarzseidenen Strümpfen; den Degen, welcher damals zur Toilette eines solchen Cavaliers gehörte, hatte er jedoch fortgelassen.

Mit raschen, festen, fast eiligen Schritten ging er dem „Herrengarten“ zu. Aber in eigenthümlicher Weise veränderte sich sein Gang, wir möchten sagen, sein ganzes Wesen, als er im Bereiche des einsamen, um diese Stunde von Niemandem besuchten Gartens war. Seine Schritte wurden plötzlich langsam, seine Art, sich zu bewegen, bekam etwas Unstätes – es drückte sich etwas wie ein zielloses Schweifen darin aus; er schlenderte bald an der rechten [74] Seite des breiten gewundenen Pfades, bald war er zur Linken hinübergeschwankt, und eben so träumerisch irrend schweiften seine Blicke umher; bald ruhten sie auf einer Blumencorbeille, bald auf einer Gruppe von Bäumen, und als er endlich an dem kleinen See angekommen, auf welchem sich ein paar Schwäne bewegten, blieb er stehen, und schien die Blicke nicht von ihnen losreißen zu können, als ob er seine Freude daran habe, wie die schönen, mit einer so poetischen Mission unter den übrigen Geschöpfen bevorzugten Thiere – der nämlich, sich von allen Dichtern aller Zeitalter besingen zu lassen – an nichts Anderes dachten, als die Hälse in’s Wasser zu tauchen, und die Köpfe in den Schlamm zu stecken.

Als er endlich genug zu haben schien an diesem Schauspiel und sich abwandte, um weiter zu gehen, erblickte er in einiger Entfernung einen jungen Gärtner oder Gartengehülfen, der neben einem der Blumenbeete stand, und seine auffallend stattliche, kräftige Gestalt müßig gaffend auf die Schaufel lehnte – so daß ihm der Fremde gerade in derselben Weise zum Schauspiel gedient zu haben schien, wie diesem die beiden Schwäne.

Dem Fremden mochte die Entdeckung, so beobachtet worden zu sein, wo er sich ganz unbelauscht gewähnt, ein unbehagliches Gefühl erregen. Er ging jetzt rasch mit demselben straff elastischen Schritt, den er gehabt, als er sich noch in der Stadt befunden, weiter. Der Weg, den er verfolgte, und der sich schlangenartig zwischen den großen Rasenflächen umherwarf, führte ihn gegen sein Erwarten mit einer plötzlichen Wendung ganz in die Nähe des Gärtners.

Es war, wie gesagt, ein großer, kräftig gebauter Bursch mit einem echt deutschen Blondkopf, hübsch, frisch, von der Sonne gebräunt und dabei höchst kecken, unternehmenden Blicks.

Mit einem spöttischen Lächeln folgte er den Bewegungen des Fremden, und sah ihm mit demselben spöttischen Lächeln in’s Gesicht, während der junge Mann durch seinen Weg fast in gerader Richtung auf ihn zugeführt wurde.

Den jungen Cavalier schien dies höchlichst zu verdrießen, und um den Burschen in seine Schranken zurückweisen, blieb er neben ihm stehen, und sagte mit ziemlich befehlendem Tone:

„Schneide Er mir doch ein Bouquet aus den Blumen dort!“

Der Gärtnerbursch rührte sich nicht; auf seine Schaufel gestützt bleibend, antwortete er:

„Hier wird nichts abgeschnitten!“

„Und weshalb nicht?“

„Weil’s verboten ist für Fremde.“

„Ich bezahl’s ihm!“

„Für Fremde geht’s nicht!“

„Ich bin Seiner Herrschaft nicht fremd!“

„Ist Er ein Herr vom Hofe?“

„Vom Hofe? Nun ja, vom Hofe Apoll’s, guter Freund!“

Der Gärtner schüttelte den Kopf. Der Fremde aber schien sich auf seinen Strauß zu capriciren. Er wollte nicht abziehen ohne ihn. Der Bursche sollte nicht mit doppeltem Spott ihm nachschauen.

„Geb’ Er das Bouquet nur immer her. Ein gutes Trinkgeld soll Ihm werden,“ fuhr er immer in demselben befehlenden Tone fort.

„Was will Er mit dem Strauß?“ versetzte der Gärtnerbursche. „Er kommt damit gar nicht zum Garten hinaus; an den Ausgängen wird vigilirt, von den Aufsehern, den Schildwachen – die werden Ihn anhalten, wenn Er mit Blumen daher kommt.“

„Thut nichts – ich werde den Aufsehern ein Stück Geld in die Hand drücken.“

„Ist hierorts nicht Mode, das Geldindiehanddrücken!“ antwortete der Gärtner lächelnd. „Und noch einmal, was will Er denn mit dem Strauß, daß Er sich’s so viel will kosten lassen?“

„Was geht’s Ihn an?“

„Nun, ich meinte nur –“ versetzte der Bursch, sich jetzt abwendend und seine Schaufel ergreifend, um die Erde zwischen den Blumen damit aufzulockern.

Der junge Herr zog seine Börse hervor und nahm ein paar Silberstücke heraus.

„Das erhält Er für den Strauß,“ sagte er.

Der Gärtner hielt in der kaum begonnenen Arbeit inne und blickte den Fremden verwundert an. Eine solche Hartnäckigkeit und zwar, wie es doch allen Anschein hatte, blos um die Befriedigung eines launenhaften Wunsches zu erreichen[WS 1], mochte ihm etwas Neues sein. Er kannte den Eigensinn einer Poetenphantasie nicht.

„Geld thut’s allein nicht,“ antwortete er dann; „wenigstens gehören auch gute Worte dazu. Was will Er mit dem Strauß?“

„Muß ich denn, durchaus etwas damit wollen?“

„Weil Er sich’s so viel will kosten lassen, ja!“

„Gut denn – ich will ihn meinem Schatz schenken.“

„Das ist etwas Anderes!“ sagte der Bursche, indem er sein krummes Gartenmesser hervorzog.

„Hat Er je von der Blumensprache gehört?“

„Müßt ich doch nicht Gärtner sein, hätt’ ich nicht wohl davon gehört; aber ich verstehe mich nicht darauf. Bin noch nicht lang’ in dem Geschäft!“

„Nun, seh Er, die Levkoien da, die Er mir schneidet, die bedeuten: „heut komm ich!“ und die dunkle Nelke – geb’ er mir die dunkelrothe Nelke hinein, die bedeutet: „um sieben Uhr, wenn der Abend purpurn niederdunkelt!““

„Das ist hübsch,“ sagte der Gärtner. „Und dieser Goldlack, bedeutet der auch etwas? Soll ich ihn hinzugeben?“

„Freilich – „ich bin Dir treu wie Gold“ bedeutet er – und „bleib’ Du mir auch im Stillen hold“ sagt die Aurikel; so, schneide Er von beiden ab.“

„In der That, die Blumensprache gefällt mir, ich danke Ihm für den Unterricht; will mir’s merken:

Ich bin Dir treu wie Gold,
Bleib’ Du mir auch im Stillen hold –“

recitirte, wie um sich’s einzuprägen, der Gärtnerbursche.

„Und dann,“ fuhr er fort:

„Wenn der Abend purpurn niederdunkelt –“

„Aber da fehlt der Reim darauf; müßt’ so etwas sein, wie munkelt – funkelt –“

„Richtig,“ fiel der junge Fremde ein, „funkelt – etwa:

Dem Sterne gleich Dein schönes Auge funkelt!
Der Gedanke zwar ist wenig neu,
Doch Anlage hat Er zur Poeterei! – –

„Am Ende finden wir noch, daß wir Brüder im Apoll sind!“

„Apoll, was besagt das?“ fragte der Bursche, indem er sich aufrichtete, die geschnittenen Blumen ordnete und einen kleinen Knäuel Bast aus der Brusttasche hervorzog, um den Strauß zu binden.

„Nun will Er gar noch Unterricht in der Mythologie, nachdem er die Blumensprache bereits gelernt. Das nächste Mal, mein Freund! heut’ sage ich ihm nur, daß Brüder im Apollo nicht immer so viel heißt, wie gute Brüder!“

Der Gärtner überreichte seinen Strauß.

„Ich danke Ihm,“ sagte der junge Herr. „Da nehm’ Er sein Trinkgeld. Adieu!“

„Adieu,“ versetzte der Gärtner, und während der Andere sich zum Gehen wandte, rief er ihm lachend nach: „Und viel Vergnügen auf den Abend, Herr Bruder!“




II.

Der Fremde verschwand hinter den nächsten Gebüschpartien. Der Gärtnerbursche nahm seine Arbeit vor, aber nach wenigen Minuten warf er seine Schaufel über die Achsel, als ob ihn das Geschäft, das er begonnen, langweile, und den Dessauer Marsch pfeifend ging er gemächlich geraden Weges, ohne sich reglementmäßig den Windungen der Pfade zu fügen, über dem Rasen davon. Er suchte den dem Schlosse zunächst liegenden Theil der Anlagen auf und näherte sich hier einem hübschen kleinen Hause, das unter einer Gruppe hoher Pappeln, von dichtem Gebüsch umgeben, gar idyllisch dalag. Es war weiß beworfen, an der Süd- und Westseite von Reben umsponnen; zur Rechten und Linken der niedern Thür zeigten sich Staffelbänke, die eine Fülle von Blumen in Töpfen trugen. Da das Gebäude obendrein nicht gar weit von dem großen eisernen Gitterthore entfernt lag, welches den Haupteingang in die Anlagen bildete, so war unschwer in dem freundlichen Häuschen die Wohnung des Obergärtners zu erkennen.

Als der Gärtnerbursche das Haus erreicht hatte, lehnte er seine Schaufel an die Mauer desselben, zog seine leichte graue Leinenjacke glatt, nahm sodann den Strohhut ab, um sich das Haar aus der Stirn zu streichen und zu ordnen, und nachdem er [75] endlich einen Blick an sich selber herabgeworfen, wie um den ganzen Zustand seiner äußeren Erscheinung zu mustern, begann er, den Blicken eine andere Richtung zu geben. Er spähte nämlich mit einer gewissen Unruhe durch die offene Hausthüre[WS 2] in das Innere des Häuschens; er ging darauf zum nächsten Fenster, – sodann zum zweiten und endlich zu einem dritten; aber überall stieß sein suchendes Auge auf einen neidischen Vorhang von rothgewürfeltem Calico, der hinter den Scheiben hing und jeden Einblick in die inneren Räume des idyllischen Hauses unmöglich machte. Mißvergnügt wandte sich der Bursche jetzt der Hausthüre zu – er setzte zögernd den Fuß auf die Schwelle – aber im nächsten Augenblicke zog er ihn wieder zurück, begann auf’s Neue den alten Dessauer zu pfeifen und, mit auffallend erhellten Zügen ging er von dannen, der Rückseite des Hauses zu.

Nach wenigen Augenblicken kehrte er zurück, eine Leiter von ansehnlicher Länge auf der Schulter tragend. Er wandte sich damit nach der einen Giebelwand des Häuschens, lehnte die Leiter daran und stieg nun empor, bis auf die obersten Staffeln. Hier bog er vorsichtig, etwas scheu, wie es schien, den Kopf so zur Seite, daß er in das halb geöffnete Fenster, welches oben im Giebel angebracht war, blicken konnte. Eine Weile spähte er ungestört hinein; plötzlich aber, mit einer Bewegung so hastig, daß er beinahe das Gleichgewicht darüber verloren hätte, wandte er sich ab, stieg eine Staffel tiefer und begann mit wunderbarer Hast und grenzenlosem Eifer Rebenblätter abzupflücken.

Das Fenster oben hatte sich unterdeß auch zur anderen Hälfte geöffnet und ein ganz allerliebster feiner, schwarzäugiger Mädchenkopf blickte heraus.

„Aber Wilhelm, um Gotteswillen, was macht Er? Ist Er toll? Schämt Er sich denn nicht?“ sagte das junge Mädchen zornig.

„Schämen? Ei, weshalb denn, liebreizende Jungfer Minette?“

„Daß Er so keck und unartig ist, in meine Kammer hineinzuspioniren – und dazu hat Er am hellen Tage die Leiter an die Wand gestellt, damit’s Jedermann sieht, der Augen hat!“

„Weiß denn Jedermann, wo Ihre Kammer ist, Jungfer Minette?“ fragte der Bursch.

„Er ist abscheulich!“

„Levkoie!“

„Nun, macht Er bald, daß Er da fortkommt?“

„Goldlack!“

„Wilhelm, ich rufe den Vater, wenn Er nicht geht.“

„Aurikel!“

„Ich glaube, Er ist übergeschnappt!“

„Das bin ich freilich, und zwar aus Liebe zu einer so ungebildeten Person, die nicht einmal die Blumensprache versteht! Das war Alles Blumensprache, Minette!“

„Meinethalben spreche Er mit den Blumen, aber hier hat Er nichts zu schaffen!“

„Allerdings! ich habe alle Hände voll zu thun. Ich muß die Weinblätter abpflücken, damit die Sonne die jungen Trauben bescheinen kann; es ist die höchste Zeit, daß die Arbeit geschieht!“

Und nach diesen Worten gab Wilhelm sich auf’s Neue eifrig seiner Beschäftigung hin.

Minettens Zorn über ihn mußte nicht von der gefährlichsten Art sein. Sie blieb mit dem Oberkörper in dem Giebelfenster liegen und sah ihm aus ihren schwarzen Schelmen-Augen lächelnd zu.

Nach einer Weile blickte Wilhelm blinzelnd zu ihr auf. „Jungfer Minette,“ sagte er, „wie wird’s am Sonntag? Hat Sie’s dem Vater gesagt?“

Minette schüttelte den Kopf.

„Sie will’s nicht?“

„Was nützt’s? Er leidet’s nicht, daß ich mit Ihm zum Tanze geh’. Der verlaufene Schwab’, der Wilhelm Rath, ist ein Obenaus und Nirgendsan, sagt er.“

„Ich danke Ihr, Minette.“

„Mir?“

„Nun ja, weil Sie’s so hübsch boshaft nachspricht. Und ich hätt’ Ihr doch ein hübsches seidenes Band geschenkt, wenn Sie am Sonntag mit mir nach Bessungen hinaus zum Tanz gegangen wäre! Ich habe Geld, Minette.“

Wilhelm Rath klimperte mit den erhaltenen Silberstücken in der Tasche.

„So mach’ Er sich ein Vergnügen damit; geh’ Er heut’ Abend in den Birngarten Kegel schieben; es wird eine silberne Uhr ausgesetzt.“

Wilhelm schüttelte mißvergnügt den Kopf.

„Geh’ Er nur immer hin,“ fuhr Minette fort, „Er thut mir einen Gefallen damit.“

„Wenn ich Kegeln geh’?“

„Nun ja; es fällt den Leuten auf, daß Er alleweile die Abende hier umherlungert. Er geht nirgendwo hin. Er bringt mich in’s Gerede.“

„Was schadet’s, allerholdseligste Jungfer Minette? Bin ich denn kein anständiger Freier für die Jungfer? Bin guter ordentlicher Leute Kind. Mein Geschäft, die Gärtnerei, versteh’ ich auch. Daß ich bin durchgebrannt von den Soldaten fort und über die Grenze von unserm guten Schwabenländle – nun, das kann mir nicht schaden, bei keinem Menschen nicht. Wen die Werber gefaßt haben, der ist übel daran, absonderlich bei unserm Karl Herzog; und wer sich nicht aus dem Staube macht, sobald er Weg und Steg sieht, der ist ein Narr. Ich hab’s deshalb kein Hehl, daß ich das abscheuliche Ding, den Schießprügel, weggeworfen habe. Ihr Vater weiß es auch, Jungfer Minette; er hat mich doch zum Gehülfen angenommen und ich denk’, er nimmt mich noch zu etwas Besserem an.“

„Was Er sich einbildet!“ entgegnete Jungfer Minette spöttisch, und eine Handvoll Blätter von den Reben, die bis zu ihrem Fenster hinaufgeklettert waren, abreißend, um sie dem jungen Manne auf den Kopf zu werfen.

Wilhelm ergriff eine der lang niederhängenden Loden und führte damit einen Schlag nach dem jungen Mädchen.

Dieses sprang kichernd zurück und verschwand hinter dem Fenster.

Wilhelm schaute eine Weile in die Höhe, mit seiner Rebe bewaffnet, wie um den Schlag zu wiederholen, sobald sie sich auf’s Neue erblicken lasse. Aber Minette erschien nicht.

„Minette!“ begann er leise zu rufen.

Keine Antwort.

„Allersüßeste Jungfer Minette!“

Der schwarze Lockenkopf ließ sich bemerken, wie er vorsichtig um die Kante der Fenstereinfassung schaute.

„Will Er den Rebenzweig fallen lassen,“ kicherte sie, „sonst …“ und dabei streckte sie ihren hübschen runden Arm, den der offene Aermel des Morgenjäckchens vom Ellenbogen an unbedeckt ließ, über Wilhelms Haupt mit einem vollen Glase Wasser aus und drohte, dies über ihn niederzugießen. „Will Er sich jetzt auf’s Bitten legen?“

„Thu’ ich etwas Anderes, als mich auf’s Bitten legen bei der Jungfer Minette?“ entgegnete er, sich rasch zur Seite wendend, um dem drohenden Gusse auszuweichen. „Wenn’s nur hälfe bei der hoffährtigen Jungfer Minette. Sie ist gar zu stolz auf ihr verwettert hübsches Lärvchen und ihres Vaters große eiserne Geldkiste.“

„Geldkiste? Welche Geldkiste?“ versetzte Minette, indem sie das Glas neben sich auf die Fensterbank setzte.

„Nun, die große Geldkiste, die der Vater in der Hinterstube hat, die er Niemanden betreten läßt und immer so sorgfältig verschließt.“

Minettens Züge wurden plötzlich ernst. Sie schüttelte ihren hübschen rosigen Kopf und sagte:

„Einfältig Gerede! Kümmere Er sich nicht darum.“

„Nun, was hat’s denn sonst zu bedeuten, wenn’s nicht wahr wäre, was die Leute sagen, der Gärtner habe einen grausam reichen Onkel in Westindien beerbt und das Geld sei in einer großen eisernen Kiste gekommen und die habe der Gärtner in seiner Hinterstube fest in die Wand mauern lassen?“

„Davon ist keine Sylbe wahr, Wilhelm. Wenn Er deshalb nach mir freit, so lasse Er’s nur ja bleiben!“

„Es ist aber doch wahr, daß Niemand je von dem Gärtner in die Hinterstube gelassen ist; daß er nie einen Schritt aus dem Hause setzt, ohne vorher nachgesehen zu haben, ob auch die Thüre fest verschlossen; daß die Fenster mit dichten Vorhängen sorgfältig verschlossen sind, so daß Niemand vermag, einen Blick hineinzuwerfen – was bedeutet denn das Alles?“

[76] „Frag’ Er den Vater!“ entgegnete Minette, ernst lächelnd.

„Ich werde mich hüten. Wer ihn fragt, den wirft er zur Thüre hinaus. Also muß doch etwas ganz Absonderliches in der Stube sein. Etwas Lebendes ist’s nicht, denn dann müßte man bemerken, daß Speise und Trank hineingebracht würde –“

„Vielleicht geschieht’s des Nachts, wenn Alles schläft,“ warf Minette spöttisch ein.

Wilhelm schüttelte den Kopf.

„Dann müßt’ ich’s hören,“ sagte er; „denn ich, Jungfer Minette, damit Sie’s nur weiß, ich schlafe mein Lebstage nicht.“

„Bei Tage nicht, das glaub’ ich.“

„Auch in der Nacht nicht, weil ich an meinen allerholdseligsten und allergrausamsten Schatz denke.“

Minette griff wieder zum Wasserglase und streckte es lachend über Wilhelms Kopf aus. Dieser bog zur Seite aus, aber der Guß kam nicht.

„Nachts,“ fuhr der Gärtnerbursche dann fort, „bleibt’s im ganzen Hause still. Also ein Mensch kann’s nicht sein, der in der Hinterstube versteckt ist. Eine rare Pflanze, welche der Gärtner erzöge, auch nicht, die müßte Licht und frische Luft haben. Was ist’s nun? Der Gärtner wird doch Niemanden todtgeschlagen und darin versteckt haben? Es ist freilich nicht mit ihm zu spaßen, er kann zornig genug werden, wenn ihm etwas in die Quere kommt!“

„Wie mag Er nur so abscheuliches Zeug reden,“ versetzte Minette, die Farbe leicht wechselnd; „pfui, Wilhelm!“

„Aber es muß doch seinen Grund haben,“ fuhr der Gärtnerbursche fort.

„Den hat’s auch, seinen guten Grund, daß der Vater Niemanden in die Stube läßt. Aber es hat sich auch keiner darum zu kümmern – Er auch nicht, versteht Er, Wilhelm! laß Er’s sich gesagt sein oder mit unserer Freundschaft ist’s ein für alle Mal aus, daß Er’s weiß. Laß Er die Leute reden, wenn’s ihnen Vergnügen macht, thörichtes Zeug zu schwätzen!“

Und damit zog sich Minette vom Fenster zurück.

Wilhelm blickte eine Weile hinauf, um zu sehen, ob sie nicht wieder erscheine.

„Sie hat’s quer genommen, daß ich endlich einmal davon begonnen habe,“ sagte er dann halblaut für sich. „Und so klug bin ich, als wie zuvor. Curios ist’s bei alle dem. Neulich Abends kommt der Lehrbub’, der Matthes, gelaufen und sagt, er habe in der Dämmerung die weiße Frau über den Schloßplatz her in den Garten schreiten sehen verschleiert, langsam sei sie daher gegangen und auf des Gärtners Wohnung zu – die Thüre sei wie von selbst vor ihr aufgesprungen – drinnen sei sie verschwunden … hat der Bube gelogen oder die Wahrheit gesprochen? Ja, ja, seltsam ist’s, die Geschichte mit der Hinterstube; wie oft hab’ ich mich auf die Lauer gelegt, aber wahrzunehmen ist nichts. Nun freilich, wenn etwas wahrzunehmen ist, wird’s der Herr Gärtner schon vorher wissen, und dann heißt’s: Wilhelm, die Bäume hinten im Küchengarten müssen heute beschnitten werden, und Du, Matthes, lauf’ nach Kranichstein, dem Herrn Wildmeister sollst Du Quittenreiser bringen – damit sind die Aufpasser beseitigt!“




III.

Kehren wir jetzt zu dem jungen Manne mit dem Strauße zurück. Er hatte sich in einen der abgelegensten Theile der Anlagen begeben und dort auf eine Gartenbank niedergeworfen. Hier hatte er lange gesessen, das Haupt auf die Lehne der Bank zurückgelegt und so in die dunkle Bläue des Himmels starrend. Sein Auge hatte dabei einen eigenthümlichen schwärmerischen Glanz angenommen; auf seiner schönen Stirn lag etwas wie ein Weben unendlich beglückender hochfliegender Gedanken. Dann stand er auf und sagte halblaut für sich:

„Genug geträumt in der freien schönen Gotteswelt! Wir müssen jetzt zu Merk zurückkehren, der von seinem Kriegszahlamt nun wieder daheim sein wird. Wollen hören, wie Johann Heinrich Reinhard der Jüngere[1] über all die Sachen denkt, die uns durch den Kopf gegangen, und welche Bosheiten er uns und allen seinen lieben Mitchristen an den Kopf werfen wird!“

Mit raschen Schritten suchte er dann den Ausgang auf und zwar den Hauptausgang nach dem Schloßplatze hin, in dessen Nähe die Wohnung des Gärtners lag. Ein paar hundert Schritt von demselben entfernt blieb er plötzlich stehen.

„Aber mein Strauß!“ sagte er, indem er das große Bouquet, welches Wilhelm ihm vor einer Weile hatte schneiden müssen, betrachtete und sein Gesicht darin barg, um den Duft in langen Zügen einzusaugen. „Schöner Strauß, Du bist Contrebande! Am Thore werden wir auf eine Wache oder einen Aufseher stoßen, die Dich confisciren und am Ende den Frevler, der Dich trägt, dazu! Soll ich ihn fortwerfen? Es wäre Schade darum; aber, sieh da, taucht nicht da ein allerliebstes Mädchenantlitz vor uns auf? – bringen wir ihr die Kinder Florens zum Angebinde!“

(Fortsetzung folgt.)
  1. Merk’s Schriftstellername.




Wild-, Wald- und Waidmanns-Bilder.
Von Guido Hammer.
2. Das Wildschwein.


Die deutschen Wälder dürften wohl kaum ein urwüchsigeres Wild, selbst den Bär und das Elen, die beide wenigstens die Grenzen unseres Vaterlandes streifen, in sich bergen, als das Wildschwein. Mächtig und einfach von Formen, bietet es in seiner dunkeln, borstigen Bedeckung einen überaus wilden, fast dämonischen Anblick, dessen Eindruck durch das kleine, funkelnde, namentlich in der blutunterlaufenen Farbe der Wuth dem Feinde wahrhaft tödtlich entgegen leuchtende Auge noch verschärft wird. Ueberhaupt ist das merkwürdige Thier, was seinen Charakter anlangt, von einer seltenen Entschlossenheit, immer bereit, es mit jedem Gegner aufzunehmen. Unerschütterlichen Muthes voll bis zum letzten Augenblick des Unterliegens, verwindet es auch dann noch alle Schmerzen, so daß selbst der Todeskampf ihm keinen andern Laut auspreßt, als ein wuthgiftiges Schnauben und jenes unheilverkündende Zusammenschlagen der Gewehre.[1] Ein ritterlicher Kämpe verkauft der geharnischte Eber, wenn er, sei es vom Menschen oder Hunde, verfolgt und angegriffen wird, oder habe er gegen Bär, Wolf und Luchs zu kämpfen, sein Leben gewiß auf’s Theuerste. Kommt doch sogar der Jäger der Jetztzeit, trotz seiner überlegenen Feuerwaffe, bei solcher Jagd noch manchmal in Lebensgefahr. Lassen wir zur Veranschaulichung derselben ein Bild folgen und führen wir den Leser abermals an einem Wintertage in den Wald, wie neulich, da wir der Fährte des edeln Hirsches in Frieden nachgehen konnten. Diesmal richten wir unsere Blicke auf einen harten Kampf.

Es war an einem Decemberfrühmorgen. Die Natur hatte sich in ihr einförmigstes Gewand gehüllt. Kein blasser Streifen verkündete im Osten die Sonne; nur eintöniges Grau deckte den Himmel – den Boden fahles Weiß, das während der noch herrschenden Dunkelheit mit dem weißlichgrauen Horizonte in der Ferne zusammenschmolz. Der dunkle Föhrenwald, aus dem hier und da der mächtige und oft vom Blitz zersplitterte Wipfel einer aus einer früheren Generation von Bäumen herstammenden Eiche oder Buche emporragte, bildete den Contrast dazu, milderte aber nicht die tiefe Melancholie, die sich gleichsam auf Alles, so weit das Auge reichte, gelagert hatte, sondern gab ihr einen nur noch tieferen Ausdruck. Auf einem Kreuzwege im Walde, an einer vielleicht tausendjährigen Eiche, die in die trübe dämmerige Luft hineinragte, stand, wie es schien, erwartungsvoll die jugendliche, aber durchaus männliche Gestalt eines Jägers. Brandschwarzen Haares und Bartes und tiefer brauner Farbe des Gesichts von slavischer Bildung, hatte diese breitschulterige Gestalt etwas ungemein Imponirendes, was durch das kühne, dunkelblitzende Auge, mit dem es in die Ferne schaute, wo man die unbestimmten Umrisse eines daherschreitenden Menschen gewahrte, noch bedeutend unterstützt wurde. Mit den Füßen den

[77] 

[78] tiefen, weichen Schnee stampfend, um sie zu erwärmen, hielt er unverrückt das Auge auf den Kommenden geheftet, während neben ihm auf dem niedergetretenen Schnee ein Dachshund halb kauernd und frierend saß und nicht minder aufmerksam, als sein Herr, mit emporgezogenem Behänge und schief gehaltenem lauschenden Kopfe den Nahenden beobachtete. Daß er nicht laut wurde, bewies, daß seine Nase ihn bereits einen Bekannten wittern ließ, und so war es auch. In Kurzem war der Andere da, der, ebenfalls ein Jäger, lautlos im Schnee dahergewandelt kam, daß bei jedem Schritt die flaumigen Focken vor ihm herflogen, um in die sich bildende Bahn getreten zu werden. Ein langer Streifen durch eine makellose weiße Decke bezeichnete des Kommenden Fährte, die hier und da von der Fährte mancherlei Gewilds durchkreuzt war. Diese beobachtete der Daherschreitende, ohne viel Notiz von Dem, der auf ihn wartete, zu nehmen, mit Aufmerksamkeit. Noch ehe er ganz heran war, bezeugte das freundliche, unruhige Hin- und Herrücken des Dachshundes, so wie ein gelindes Schwanzwedeln, womit er im Sitzen den Schnee wegfegte, daß ein seinem Herrn Befreundeter nahe. Mit einem „Waidmanns Heil!“ reichte jetzt der Hinzugekommene dem Andern bieder die Hand, was kräftig und treuherzig erwidert wurde. Liebkosend streichelte dann Jener dem Dachse den Kopf, der mit halbunterdrücktem Winseln seine Freude ausdrückte, theils über den Empfang, theils in der Hoffnung, daß es nun jedenfalls weiter gehen und für ihn Arbeit geben werde. Nachdem sein Herr ihn emporgenommen und sich auf die Schulter gesetzt hatte, um ihn durch’s Laufen im tiefen Schnee nicht zu ermüden, schritt er mit einem: „Nun rasch vorwärts!“ voran, und der Andere, eine schmächtige Figur mit blondem Haar, Schnurr- und Knebelbart und einem milden, aber doch lebendigen, männlichen Auge, folgte ihm, indem er fragte:

„Was hast Du denn eigentlich stecken,[2] daß Du mich mit Büchse und ohne Hund bestellt hast?“

„Die Sache ist die,“ antwortete jener, der Unterförster auf „Heiligen Seeer Revier“ auf dem „Klosterwalde“ bei † war und Horst Czesla hieß, „gestern Abend, als ich vom Reviere nach Hause ging, spürte ich, da es bereits einen gehörigen Schnee herausgeworfen hatte, hinten an der Hirschbacher Grenze, nagelneu das starke Schwein, dem ich und viele Andere, wie Du weißt, so manches liebe Mal zu Gefallen gegangen sind, ohne die Bestie je zu Schuß bekommen zu haben. Es war, wie gesagt, ganz frisch, hinunter nach dem Koberbrunner See, der jetzt fast ohne Wasser ist, aber doch warme offene Stellen hat und deshalb das Satansthier vielleicht einmal bestimmt haben mag, dort in den Kaupen sitzen zu bleiben. Da ist doch eher einmal Hoffnung, zu Schuß zu kommen; denn aus einem Dickicht ist’s ja gar nicht ’raus zu bringen, weder mit Treibern, noch mit Hunden, und sich auf der Fährte in ein solches Nest heranzupirschen, ist auch kaum möglich, da es in die dichtesten Stellen geht und man ihm also ganz nahe auf’s Leder rücken müßte. Da könnte man nicht einmal schießen und das wäre denn doch zu gefährlich. Siehst Du, Camerad, weil ich nun, wenn ich’s nicht schießen kann, es wenigstens keinem Andern gönne, als Dir, habe ich Dich in der Stille bestellt und, walt’s Gott! erwischen wir heute die Bestie! Nur das sage ich Dir: Einer steht für den Andern ein, denn zu spaßen ist mit dem Burschen nicht, und das ist der zweite Grund, weshalb ich Dich dazu genommen. Ich weiß, wo es gilt, bist Du der Mann!“

„Es gilt!“ antwortete der Andere, der Adjunct beim Oberförster von demselben Reviere war und Pirschmann hieß, mit leuchtendem Blick und sein ganzes Wesen wurde voll Feuer un Erwartung einer solchen Jagd, die für den deutschen Jäger, außer in Wildgärten, bereits zur Seltenheit gehört. Rüstig gingen nun die beiden Jäger weiter, dabei sich besprechend, wie das Unternehmen zu leiten sei. Sie beeilten sich, möglichst schnell an’s Ziel zu kommen, damit nicht etwa ein anderer von den Forstbeamten, der abspüren ging, auf die Fährte und ihnen zuvorkäme; denn es war hoher, ausdrücklicher Befehl an alle Forstbeamten ergangen: jedes Schwein todt zu schießen, da kein Wildschaden mehr bezahlt wurde und die Bauern deshalb unduldsam waren.

Kein Lichtstrahl drang durch den dichten Schneehimmel, obgleich es Tag geworden war; freilich einer der trübsten, die im Jahre vorkommen, Dennoch war der Wald in diesem tristen Ton nicht ohne Schönheit; denn wie der mehrere Fuß hoch gefallene Schnee den Boden bedeckte, so lag er auch auf Aesten und Zweigen, die sich schwer herabneigten, fast unter der Last brechend. Die schlanken Birken hatte der Schneefall kreuzweise ineinander gebogen, daß sie den herrlichsten gothischen Bauwerken glichen und gleichsam Ehrenpforten für die darunter Hinstreifenden bildeten. Jedes schlanke Reiß trug tief gebückt seine Bürde eben so, wie die mächtige Eiche, die ungebeugt und starr auf ihren Schlangenarmen den vom Himmel empfangenen Schmuck zum Himmel streckte, während nicht minder ehrwürdige Fichten ihre Zweige, deren untere in ihrer weißen Bekleidung den Boden berührten, herniedersenkten, ein Bild der Demuth und – deshalb um so wunderbarer und rührender das Auge fesselnd. Kein Laut, kein Ton rings umher, denn selbst die Schritte der Jäger waren unhörbar; kein Hauch rührte Nadel und Zweig, kein Vogel ließ sich vernehmen – die Natur schlief gleichsam mit offenen Augen unter dem Zauber der winterlichen Hülle und der schweren bleiernen Luft. Auch auf unsere Jäger schien der schneebedeckte Himmel verstummend einzuwirken. Wenn auch der Blonde zuweilen einen stummen Blick auf die phantastischen Schneegebilde der belasteten Bäume streifen ließ und seinen Cameraden auf ihren Reiz aufmerksam machte, so kam es doch nicht zu einem munteren und heiteren Gespräch. Immer vorwärts treibend hatte der Andere nur Sinn für die Fährten, die seine Bahn kreuzten; aber auch sie interessirten ihn heute nur in so weit, als er die Fährte des starken Schweines etwa zu finden glaubte. So eilten sie, so schnell es der tiefe Schnee zuließ, weiter auf schmalen Pirschgängen durch hohes Holz, so wie durch Stangenholz und Dickicht dahin, in welchem sie den Schnee von dem jungen Wald in Massen abstreiften, so daß die beschneiten Zweige in die Höhe schnellten und auch die über ihnen hängenden Aeste entlasteten. Weite Blößen lagen jetzt vor ihnen und den Horizont begrenzten die Holzbestände, welche den ersehnten Koberbrunner See einschlossen. Mit verdoppelter Eile überschritten sie die öd’ sich vor ihnen ausbreitenden todten Gehaue. Trotz des kalten Morgens rannen unsern Waldmännern die Schweißtropfen von der Stirn, so hastig strebten sie vorwärts, da bereits wieder einige Flocken fielen und sie befürchten mußten, daß, wenn es ärger käme, die etwaigen Fährten verschneit würden. Endlich standen sie am Rande des See’s und tief aufathmend rasteten sie einige Augenblicke.

Nach Ueberlieferungen wußte man, daß der See Menschenalter lang ungeschmälert Wasser gehabt und daß sich damals Tausende von allerhand Wasservögeln aufgehalten. Plötzlich hatte er sodann angefangen, an Wasser arm zu werden, bis er völlig ausgetrocknet, ebenso lange als wildes Land dagelegen und sich dann zu füllen begonnen, und so abwechselnd fort. Jetzt glich der halb ausgetrocknete See einem mächtigen Kirchhofe, denn die ihn über und über bedeckenden Schilfkaupen in ihren beschneiten Formen sahen aus wie eben so viele schneebedeckte Grabeshügel, über die das Auge, ohne einen anderen Halt zu haben, bis an die undeutlichen Umrisse der das andere Ufer begrenzenden Waldung hinschweifte.

Nachdem ein Schluck aus der Flasche die Jäger erlabt hatte, gingen sie auseinander, um jeder eine Seite des See’s abzuspüren und sich auf der entgegengesetzten Seite zu treffen. Nach einer kleinen halben Stunde waren sie wieder beisammen und Pirschmann hatte wohl manche andere Fährte, aber keine des Keilers entdeckt; ebenso hatte Czesla außer der vom vorigen Abend, die jetzt verschneit und kaum noch bemerkbar war, keine frische gefunden. Mithin mußte das Schwein in den Kaupen sitzen. Sofort ging’s an die alte Fährte zurück und ohne Umstände wurde nun der Dachshund auf die Fährte gesetzt. In kurzen Bogensprüngen sah man das Dächsel im Schilf und Schnee verschwinden und zur höchsten Freude der Jäger wurde es auch sehr bald laut, und zwar so, daß man hörte: er stelle das Schwein.[3] Mit einem: „Jetzt ist uns geholfen!“ ging’s nun darauf zu. Aber das war keine leichte Arbeit, sich durch das dichte Schilf zu winden, das raschelnd von ihren Füßen zu Boden getreten wurde. Oder sie kamen durch offene Stellen bis an die Kniee in Schlamm und Wasser; dann wieder auf glatt gefrorenen Grund, der sie oftmals zum Fallen brachte, wobei sie für ihre Gewehre besorgt sein mußten. Jeder wollte der Erste sein, um möglichst auch zuerst zu Schuß zu kommen; doch schon waren sie ganz nahe heran, ohne daß sie das [79] Schwein im Gewirr von Schilf sehen konnten, und nur das Gebell des Hundes, so wie das Rascheln des dürren Schilfes, das, je nachdem die Sau den Hund annahm und dieser sich flüchtete, vom darauf liegenden Schnee frei wurde und deutlich die Stellen zeigte, wo Hund und Eber bereits aneinander gerathen waren. Mitunter sahen sie wohl das gereizte Thier einen Moment; trotzdem aber konnten sie nicht schießen, da man in demselben Augenblicke den Hund nicht sah und zu besorgen hatte, daß er in Schußlinie sein und mit getroffen werden könnte. Man merkte deutlich, daß er dem mächtigen Schwein, wie er auch immer unablässig auf dasselbe eindrang, nicht eben Furcht einjagte; es nahm nur Notiz von ihm, wenn er allzu anmaßend wurde. Dann fuhr es plötzlich auf ihn ein, aber mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit wußte sich das Dächsel jedes Mal, trotz dem ungünstigen Terrain, dem gefährlichen Gegner zu entziehen, um sofort auf einer anderen Stelle auf seinen Todfeind wieder einzustürmen.

Endlich bekam der eine von unseren Jägern, der Schwarze, einen Augenblick eine Lücke frei, um auf das Schwein schießen zu können, und gedämpft hallte der Schuß in die Winterluft hinaus. Aber kaum war dies geschehen, so fuhr das jedenfalls angeschossene, racheschnaubende Thier auf unsere Jäger zu, die rechts und links zur Seite sprangen und so, zum Theil durch die Kaupen geschützt, dem ersten Anprall entgingen. Ein zweiter Schuß von demselben Schützen blieb ohne andere Wirkung, als daß der borstige Feind nur noch wüthender wurde. Pirschmann hatte sich unthätig verhalten müssen, da ihm entweder der Hund, oder gar sein Freund in Schußlinie gewesen. Zum Glück konnten sich jetzt beide Jäger hinter die Kaupen flüchten. Dadurch kamen sie dem Eber aus dem Gesicht, der in seiner Wuth an ihnen vorüberschoß, den Dachshund unmittelbar hinter sich her, weiter hinein in den See ging, und prasselnd durch die zugefrorenen, wenn auch nicht tiefen Stellen brach, bis er sich abermals dem Hunde stellte. Sofort gingen die Jäger, nachdem Czesla wieder geladen hatte, auf der Schweißfährte[4] fort, aus der sie ersahen, daß das Schwein am Vorderlauft verwundet sein müsse. Es kostete Vorsicht, ehe sie einen Schuß anbringen konnten. Diesmal schoß Pirschmann zuerst; er kam aber zu hoch, und die Kugel ging nur durch den vor Wuth emporgesträubten Kamm. Ungeachtet der Gefahr nahm das Thier sogleich seine Feinde wieder an. In diesem Augenblick schoß der zweite Schütze und zwar mit Posten in ziemlicher Nähe, und als er sah, daß diese wirkungslos blieben, das Kugelrohr des Doppelzeuges auf den nun kaum zehn Schritte entfernten, eindringenden Keiler. Doch bei der Hast, mit der es geschehen mußte, mißlang auch dieser Schuß, und indem unser Jäger auf die Seite springen wollte, kam er auf dem Eise so unglücklich zu Falle, daß er dem sichern Untergange preisgegeben gewesen wäre, wenn nicht der Andere, da er seinen Cameraden in so augenscheinlicher Gefahr sah, mit verzweifelter Kühnheit die ungeladene Büchse weggeworfen und mit dem Hirschfänger, der hier fast wie ein Spielzeug war, sich todesmuthig zwischen das anbrausende Ungethüm und seinen Freund geworfen hätte. Kaum aber, daß sein Sprung ausgereicht hatte, den Freund zu decken, so war auch der schnaubende Eber schon heran, und ein einziger Schlag mit seinem haarscharfen Gewehr schlug den Unglücklichen nicht nur zu Boden, sondern brachte ihm auch eine Wunde in den Oberschenkel bei, die, vom Knie bis gegen das Hüftbein hin weitklaffend und blutend den blanken Knochen sehen ließ. Doch, immerhin noch glücklicher Weise, hielt sich das verderbliche Thier nicht bei seinem Opfer auf, sondern brach unaufhaltsam wie brausender Sturmwind, durch das Geröhricht, das Eis unter sich zerschlagend, so daß das niedrige Wasser des See’s hoch emporspritzte und seine Bahn durch den rothen Schweiß seiner mannichfachen Wunden, die es theils durch die Kugeln, theils durch die scharfen Eissplitter erhalten hatte, bezeichnete. Dabei hatte es seinen, obgleich schwachen, aber doch unermüdlichen Verfolger, den Dachshund, stets hinter sich. Matt und des ununterbrochenen Gekläffs überdrüssig, stellte es sich endlich nochmals, und drang mit höchster Erbitterung auf den kleinen tapfern Feind ein, der immer und immer auszuweichen verstand, ohne sich abschrecken zu lassen.

Inzwischen lag der todtenblasse junge Jäger auf dem von seinem Blute roth gefärbten Schnee; sein Camerad knieete neben ihm und versuchte, die Sau in aller Teufel Namen verwünschend, die Wunde mit dem herausgeschnittenen Unterfutter seiner Juppe und mit Werg aus seiner Schießtasche zu verbinden. Dann legte er weich geriebenes Schilf auf den Verband, um das durchdringende Blut zu hemmen, und band noch seine Fangleine darum. Mit stoischer Ruhe hatte der Verwundete der ganzen Operation zugeschaut, ohne sich vom Flecke rühren zu können. Behutsam nahm ihn nun sein Freund auf und lud ihn sich auf die Schultern, um ihn in ein nicht allzufernes Forsthaus vom Nachbarreviere zu tragen. Da fiel in kurzer Entfernung an der Grenze ein Schuß. Augenblicklich ließ Czesla den gellenden Jägerruf: „hupp, hupp!“ erschallen, um Hülfe herbeizuziehen. Sofort wurde der Ruf beantwortet. Ihn noch einmal freudig erwidernd und abermals Antwort vernehmend, ließ unser Waidmann seine Last sanft hernieder, breitete seine Juppe auf den Schnee, und legte den kranken Cameraden mit dem Rücken gegen eine Kaupe. Darauf sagte er:

„Jetzt, Brüderchen, kommt Hülfe! Nun lasse ich Dich einen Augenblick allein, und schieße erst das Mordvieh, den Teufel von einer Sau, todt. Der Hund stellt noch immer, und hörtest Du’s nicht, wie das Dächsel gaukste? Da mochte es wohl eins ausgewischt bekommen. Na warte, Satan, dich wollen wir schon kriegen!“

Dabei hatte er bereits sein Doppelzeug, welches Spitzblei schoß, geladen. Sein gellend wiederholtes „hupp, hupp!“ wurde schon viel näher, als das erste Mal, beantwortet, und jetzt eilte er der Gegend zu, wo der Hund noch immer, wenn auch schwächer, laut war. Bald war er auf Schußweite heran.

Auf einer kleinen ausgetrockneten Blöße mitten im Geröhricht auf zertretenem Schnee saß das schon todesmatte, aber noch immer wuthgierige Wildschwein. Aus ein paar Kugelwunden schweißend, den weißen Schaum vor dem Gebräche,[5] knirschte es mit den Zähnen, daß man es auf ziemliche Entfernung deutlich vernehmen konnte. Sein blutig unterlaufenes kleines Auge blitzte aus dem dunkelen Koloß todverheißend heraus, und war racheglühend auf den Dachs gerichtet, der sich in einer gemessenen Entfernung hielt und nur noch in Pausen den grimmen Feind ankläffte.

Dem abermals ertönenden Ruf des Herbeigelockten, der ganz in der Nähe erklang, antwortete unser Jäger mit einem Schuß auf das tapfere Wildschwein, und schon glaubte er wieder gefehlt zu haben, da es ruhig sitzen blieb; doch ehe er das zweite Rohr entlud, brach es zusammen. Stumm, wie es gekämpft, verendete das ritterliche Thier. Schnell sprang der Sieger, um nöthigen Falls den Fang zu geben, herzu. Auch der Dachshund versuchte es, seine Wuth an dem todten Recken auszulassen, doch ach! – kaum konnte sich der Schwerverwundete, was sein Herr erst jetzt schmerzlich und überrascht bemerkte, zu ihm heranschleppen. Aus einer klaffenden Wunde hing das Gescheide[6] heraus und schleppte auf dem Boden nach. Winselnd, halb vor Schmerz, halb vor Freude, seinen Herrn zu haben, legte er sich zu dessen Füßen nieder, und sah ihn mit einer Miene an, die unser eben nicht weicher Jäger, der für das Loos seines Cameraden nur eine Verwünschung für die Sau gehabt, nicht ertragen konnte, und die ihm die Thränen in’s Auge trieb. Liebkosend nahm er ihn auf, und suchte das Gescheide wieder in die Wunde zu stopfen. Den Herrn wehmüthig leckend, dankte das arme hülflose Thier dafür.

Unterdessen war der Förster vom Nachbarrevier – denn dieser war es gewesen, der, nachdem er einen Fuchs geschossen, den Ruf beantwortet hatte – herangekommen, da er natürlich dem Hundegebell und dem letzten Schuß nachgegangen. Rasch theilte unser Schwarzer dem weißbärtigen Alten alles Erlebte mit und bat um Hülfe. Mit einem herben Vorwurf, daß jener seinen schwer verwundeten Freund ohne Beistand liegen gelassen habe, beschleunigte er mit jugendlicher Kraft seine Schritte, den ungefähr fünfhundert Schritt vom hiesigen Wahlplatz entfernt Liegenden zu erreichen. Bei seiner Ankunft stärkte er zuvörderst durch einen Schluck Rum den Kranken, dem übrigens die Nachricht daß die Sau erlegt sei, sehr willkommen war, und der es seinem Freund durchaus nicht verargte, daß er ihn ein Weilchen verlassen, dagegen den armen winselnden Dachshund aufrichtig bedauerte.

Hierauf nahmen ihn der Förster und Czesla auf ihre kreuzweise verschlungenen Arme, um ihn nach dem nahgelegenen Grenzforsthause des Alten, der außerdem das Dächsel bis an den Kopf in seinen Büchsenranzen gesteckt hatte, zu tragen. Nicht weit von der Kampfstätte bekamen sie Hülfe, wie der Letztere wußte, durch Holzmacher im Walde. Dahin wurde der arme Pirschmann getragen, [80] wo man ihn auf einen mit Reisig bedeckten Schiebebock legte, diesen auf Stangen festband und so als Trage benutzte, welche von den Holzmachern aufgenommen ward. So schnell als möglich ging’s nun dem Forsthause zu, wohin der Förster vorauszueilen beschloß, um seine Familie auf das Ereigniß vorzubereiten. „Die Rosel besonders,“ – so flüsterte er dem mit einem alten Mantel bedeckten Kranken bedeutsam in’s Ohr, – „die könnte mir ja sonst des Todes erschrecken!“ Ein dankbares Lächeln und eine leise Kopfbewegung war die Antwort hierauf.

Seitdem verging mancher Tag in Schmerzen; aber als der Genesende endlich sein Lager im Hause des guten Alten verließ, um am Arme der Rosel, die ihn treulich gepflegt hatte, in der kleinen, mit Hirschgeweihen reizend verzierten Stube umherzugehen, bedurfte das Lächeln von damals keiner Erklärung mehr, und als es verlautete, daß Pirschmann mit der vielbewunderten und von aller Welt geliebten Rosel, der jüngsten Tochter des Försters, verlobt sei, da murmelte mancher derbe Jäger etwas von „Schwein“ und „Glück“ in den Bart, um in gewohnten Ausdrücken den Zusammenhang der unglücklichen Jagd mit dem jetzigen beneidenswerthen Gewinn des biedern Cameraden zu bezeichnen.




Das Blei und seine gefährlichen Wirkungen.
Von Dr. Franz Döbereiner.
I.
Bleikolik. – Das Bleioxyd. – Zubereitung der Speisen in Bleigefäßen. – Thee und Schnupftabak in Blei. – Kinderspielwerkzeuge von Blei. – Bleischrot beim Reinigen der Glas- und irdenen Flaschen. – Das Blei im geschossenen Wild. – Der Bleiverbrauch bei Küchen-, Speise- und Trinkgeschirren.


Schon in den ältesten Zeiten kannte man die höchst gefährliche Krankheit, die bei solchen Menschen auftritt, welche sich fortwährend mit der Bearbeitung und Verwendung des Bleies und dessen Verbindungen beschäftigen. Diese Krankheit nannte man wegen der sie begleitenden heftigen Leibschmerzen die Bleikolik oder auch, da sie insbesondere die mit Bleifarben sich beschäftigenden Maler und Anstreicher befällt, die Malerkrankheit. (Davon später).

Die Ursachen dieser Krankheit sind zweierlei Art: für’s erste wird sie veranlaßt durch das stetige Einathmen einer mit den Dämpfen und den staubigen Theilen des Bleies verunreinigten atmosphärischen Luft, wie sie in den Werkstätten, wo Blei verschmolzen oder sonst verarbeitet wird, immer enthalten ist; für’s andere kann sie aber dadurch hervorgerufen werden, daß die Arbeiter in solchen Werkstätten eine Verunreinigung der freiliegenden Körpertheile mit dem Staub des Bleies u. s. w. nicht füglich vermeiden können, wodurch theils eine Aufsaugung nach den innern Körpertheilen veranlaßt, theils aber auch durch die Hände eine Verunreinigung der davon befaßten Speisen verursacht wird.

Ganz ähnlich den Erscheinungen der Bleikolik, welche nur durch eine gänzliche Unterlassung der Arbeiten mit Blei oder dessen Verbindungen und durch eine zweckentsprechende ärztliche Behandlung, aber auch dann nicht immer mit sicherem Erfolg, geheilt werden kann, sind diejenigen Zufälle, welche im menschlichen Organismus nach einem wirklichen, absichtlichen oder zufälligen Genuß von Bleiverbindungen auftreten, und nicht selten den Charakter einer wirklichen Vergiftung annehmen. Derartige, das Leben gefährdende Vergiftungen sind aber ziemlich häufig, da leider im häuslichen wie im gewerblichen Leben die Verwendung des Bleies in verschiedenen Formen und zu verschiedenen Zwecken eine sehr häufige ist, trotzdem daß seit vielen Jahren auf die Schädlichkeit dieser Verwendungsarten hinreichend durch Sachverständige aufmerksam gemacht und selbst auch durch behördliche Verordnungen dagegen eingeschritten werden ist. Es sind nur kaum zehn Jahre verflossen, daß in einer Weinbau treibenden Gegend an der Elbe die absichtliche oder zufällige Vermischung des Weins mit Blei mehrere Opfer forderte, und es ist daher gewiß gerechtfertigt, in diesen viel gelesenen, weit verbreiteten Blättern die Gefahren, welche durch die Benutzung des Bleies und seiner Verbindungen veranlaßt werden, offen darzulegen.

Das Blei ist in seinem reinen metallischen Zustand wie jedes andere Metall für die menschliche Gesundheit als unschädlich zu betrachten, und würde wegen der Billigkeit und wegen der Leichtigkeit, mit der man es in die verschiedenartigsten Formen bringen kann, ein sehr brauchbares Material zur Verfertigung der verschiedenen Geräthschaften für den häuslichen und gewerblichen Bedarf sein. Diese Verwendung ist aber sehr beschränkt und zwar deshalb, weil das Blei in einem sehr hohen Grad die Eigenschaft besitzt, den Sauerstoff aus der atmosphärischen Luft und selbst auch aus verschiedenen Sauerstoffverbindungen anzuziehen und damit eine Verbindung zu bilden, die in Flüssigkeiten von saurer, basischer oder salzartiger Natur mehr oder weniger leicht löslich ist und diese, wenn sie als Nahrungs- oder Heilmittel benutzt werden, zu rasch wirkenden oder schleichenden Giften macht.

Jedermann kennt wohl die Eigenschaft des metallischen Bleis, daß es zwar beim Schaben mit einem Messer auf der bloßgelegten Stelle einen starken Metallglanz zeigt, aber auch sehr bald wieder mit verschiedenen Farben und fast pfauenschweifartig anläuft und sich später mit einer schwarzgrauen, leicht abfärbenden Decke überzieht. Diese Umänderung des metallglänzenden Bleis ist bedingt durch den in der atmosphärischen Luft enthaltenen Sauerstoff und die Bildung einer besonderen Sauerstoffverbindung, die eben als Decke ein Schutzmittel gegen die tiefer eingreifende Wirkung des Sauerstoffes auf das darunter befindliche metallische Blei ist. Bringt man nun gar das Blei an der atmosphärischen Luft zum Schmelzen, so wird die Einwirkung des Sauerstoffes noch verstärkt; es bildet sich auf dem schmelzenden Blei rasch eine graue, zum Theil pulverige Decke, die sich so oft erneuert, als sie beseitigt wird, bis sämmtliches Blei darin verwandelt ist. Erhitzt man nun diese Decke an der Luft stärker, so geht sie nach und nach in ein gelbes Pulver über, das eine Verbindung von Blei mit Sauerstoff in unveränderlichen Gewichtsverhältnissen ist und gelbes Bleioxyd oder, da es beim Abtreiben des Silbers oder Goldes vom Kupfer durch Blei als Nebenproduct auftritt, Silberglätte oder Goldglätte genannt wird. Dieses gelbe Bleioxyd kann unter gewissen Umständen aus der atmosphärischen Luft noch eine bestimmte Quantität Sauerstoff aufnehmen und sich in mehr oder minder intensiv feuerrothes Pulver verwandeln, was rothes Bleioxyd, im gemeinen Leben aber Mennige genannt wird.

Das gelbe Bleioxyd ist es namentlich, das im gelösten Zustand die giftigen Wirkungen äußert. Es bildet sich dasselbe aber nicht allein beim Erhitzen des metallischen Bleis an der atmosphärischen Luft, sondern auch, wenn dieses Metall mit sauren, basischen oder salzigen Flüssigkeiten in Berührung steht, wo es dann entweder als solches oder in einer anderen Verbindungsweise gelöst wird. Seine Bildung wird dann entweder durch den Sauerstoff der mit dem Blei in Verbindung stehenden atmosphärischen Luft oder dadurch veranlaßt, daß irgend ein Bestandtheil der Flüssigkeit Sauerstoff abgibt. Ja selbst das Wasser veranlaßt die Bildung des Bleioxydes, indem jenes stets etwas Sauerstoff mechanisch gelöst enthält, der von dem damit in Berührung stehenden Blei aufgenommen wird. Ganz insbesondere ist aber hervorzuheben, daß eben durch die Gegenwart von sauren, basischen oder alkalischen Flüssigkeiten die Anziehung des Sauerstoffes aus der atmosphärischen Luft durch das Blei begünstigt wird, indem jeder Antheil des entstehenden Bleioxydes von der Flüssigkeit gelöst und so stets die metallische Oberfläche des Bleis blosgelegt und für weitere Aufnahme von Sauerstoff empfänglich gemacht wird. Auf diese Weise kann selbst anscheinend reines Wasser in Berührung mit Blei so viel von diesem aufnehmen, daß es sehr giftige Eigenschaften erhält; es tritt hierbei die eigenthümliche Erscheinung auf, daß das reinste auf unserer Erde vorkommende Wasser, das Regen- und Schneewasser, auf das Blei lösend wirkt, während die meisten Arten des gewöhnlichen Quellwassers nichts davon zu lösen vermögen.

Erscheint es daher gefahrlos, die Leitungsröhren der Aufbewahrungsgefäße von Blei anzufertigen, was wir jedoch nicht im geringsten empfehlen wollen, so sind derartige Gegenstände für Regen- und Schneewasser gänzlich unzulässig, wenn das Wasser [81] darin längere Zeit aufbewahrt und zum Trinken, zur Bereitung von Speisen und dergleichen verwendet werden soll. Diese Unlöslichkeit des Blei’s in den meisten Quellwässern und seine Löslichkeit in reinem Wasser läßt sich in folgender Weise erklären: das Schnee- oder Regenwasser enthält neben mechanisch verdichtetem Sauerstoff auch Kohlensäure; durch ersteren wird die Bildung von Bleioxyd bedingt, das sich mit der Kohlensäure verbindet; diese entstandene Verbindung ist zwar in reinem Wasser unlöslich, aber nicht in solchem, das Kohlensäure enthält; ist diese auch aus dem Wasser gänzlich von dem Bleioxyd angezogen worden, so ist sie doch stets in der mit dem Wasser in Berührung stehenden atmosphärischen Luft enthalten, woraus sie fortwährend von jenem angezogen wird und so die Lösung des kohlensauren Bleioxydes veranlaßt. Da nun aber mit der Lösung des kohlensauren Bleioxydes immer neue Oberflächen des metallischen Blei’s bloßgelegt werden, so können auch fortwährend Sauerstoff und Kohlensäure, – die stetig von dem Wasser aus der atmosphärischen Luft angezogen werden – darauf einwirken und neue Lösung verursachen. Der bekannte Toxikolog Orfila erzählt einen Fall, wo aus sechs Trachten Wasser, die zwei Monate lang (an der atmosphärischen Luft) in einer Bleiwanne standen, vier Loth kohlensaures Bleioxyd erhalten wurden.

Die gewöhnlichen Quellwasser enthalten hingegen meist Schwefelsäure mit Basen (mit Kalk zu Gyps) verbunden; sie veranlassen zwar auch wegen ihres mechanisch verdichteten Sauerstoffes an dem mit ihnen in Berührung stehenden Blei die Bildung von Bleioxyd; dieser zieht aber sogleich die Schwefelsäure zu einer in Wasser unlöslichen Verbindung an, welche das Blei so dicht überzieht, daß keine weitere Einwirkung des in dem Wasser oder in der atmosphärischen Luft enthaltenen Sauerstoffes auf das Metall stattfinden kann.

Bei der Zubereitung unserer Nahrungsmittel kommen fast stets Kochsalz, in vielen Fällen Säuren, wie namentlich im Essig und in den verschiedenen säuerlichen oder sauer werdenden Pflanzensäften, und nur mitunter basische Körper, nämlich das Ammoniak bei der Käsebereitung oder bei der Zurichtung des im ersten Stadium der Fäulniß übergehenden Fleisches, in’s Spiel. Wir dürfen dabei in keinem Falle Gefäße von Blei (oder solche, die mit einer bleihaltigen Glasur überzogen sind) in Anwendung bringen, denn bei der größten Sorgfalt und Reinlichkeit kann es nicht vermieden werden, daß Blei gelöst und das Nahrungsmittel in ein schneller oder langsamer wirkendes Gift verwandelt wird. Ist aber schon die Zubereitung der Nahrungsmittel in Bleigefäßen sehr gefahrdrohend, so ist es noch mehr die längere Aufbewahrung derselben in solchen Gefäßen und es bietet oft dem Chemiker nur geringe Schwierigkeiten, aus nicht großen Quantitäten solcher zubereiteten oder aufbewahrten Nahrungsmittel durch geeignete Mittel und Wege das aufgenommene Blei selbst in metallischer Beschaffenheit auszuscheiden. Ja selbst beim Aufbewahren trockener oder halb trockener organischer Substanzen in Blei, wie z. B. des Thee’s oder Schnupftabacks in Bleifolie, wird das Metall nach und nach angegriffen und zwischen jene übergeführt. Besonders aber wirken noch die fettigen Körper, nämlich die Oel-, Fett- und Talgarten auf das Blei ein und lösen dasselbe schon bei gewöhnlicher, noch mehr aber bei erhöhter Temperatur in bedeutender Menge, indem jene unter dem Einflusse des atmosphärischen Sauerstoffes in besondere Säuren übergehen, die die Lösung des Blei’s ungemein begünstigen. Benutzen wir auch mitunter das Blei, um fette Oele zu bleichen, so dürfen wir doch die zum Verspeisen dienenden Oele niemals in bleiernen Gefäßen aufbewahren, noch weniger aber in solchen erhitzen, denn die entstehenden Verbindungen zwischen den Fettsäuren und dem Bleioxyd sind in dem noch vorhandenen unveränderten Oel oder Fett ungemein leicht löslich und machen dieses zu einem wahren Gift.

Ist es auch bei gewerblichen Beschäftigungen mitunter nicht zweckdienlich, Gefäße von Blei durch solche aus anderen Materialien zu ersetzen, so müssen doch in den Haushaltungen alle Koch-, Speise- und Trankgeschirre, so wie überhaupt alle Geschirre, wie Gemäße, Trichter, Hähne u. s. w., aus Blei verfertigt, gänzlich verbannt sein. Ja selbst solche Gegenstände von Blei, die nur oft durch die Hände gehen, können bei nicht gehöriger Reinlichkeit nachtheilige Einwirkungen auf den menschlichen Organismus ausüben, indem durch den an den Händen haftenden Bleiüberzug andere Gegenstände und selbst Speisen leicht verunreinigt werden. Wir müssen in dieser Beziehung insbesondere vor den aus Blei oder bleireichen Legirungen verfertigten Spielwerkzeugen für Kinder warnen, indem diese beim öfteren Antasten die Finger mit einem dünnen Bleiüberzug verunreinigen, wodurch diese beim Einbringen in den Mund, was bei den Kindern doch sehr häufig der Fall ist, den Bleiüberzug an die Zunge abgeben und theils durch die Aufsaugung, theils durch die Lösung und das Eindringen in den Magen nachtheilige Folgen verursachen müssen. Die Soldatenspielzeuge von Blei und die kleinen bleiernen Küchengeräthschaften für Kinderküchen mögen nicht selten die Ursache von dem oft ganz unerklärlichen Hinsiechen der Kinder sein.

Wie in allen anderen Fällen, so wird auch beim Blei seine Empfänglichkeit für den Sauerstoff und die Löslichkeit in gewissen Flüssigkeiten durch die Vermehrung seiner Oberfläche, d. h. durch seine geringere oder größere Zertheilung erhöht. Eine lothschwere Bleikugel hat nicht so viel Oberfläche, als ein Loth Bleischrot und dieses nicht so viel, wie eine gleiche Gewichtsmasse Bleipulver, weshalb dieses weit leichter von dem Sauerstoff angegriffen wird, als das Bleischrot und dieses wiederum leichter, als die Bleikugel. Sind die lösenden Flüssigkeiten in hinreichender Menge vorhanden, so verschwindet das Bleipulver ziemlich rasch, das Bleischrot weit später und die Bleikugel erst nach sehr langer Zeit. Dieses müssen wir bei einigen häuslichen Beschäftigungen noch ganz insbesondere beachten. So findet sich in vielen Haushaltungen, Wirthschaften und Weinhandlungen der Gebrauch, das Bleischrot beim Reinigen der Flaschen als reibendes Hülfsmittel zu verwenden. Dieser Gebrauch ist nur dann ohne Gefahr, wenn die Innenfläche der Flaschen ganz eben ist und keine Stellen hat, wo sich Schrotkörner entweder wegen Verengerung absetzen oder wegen Glasblasen abreiben können. Gewöhnlich haben aber die Glasflaschen, namentlich die sogenannten Weinflaschen, am Boden eine durch das Eindrücken desselben veranlaßte Verengerung, in welche sich beim Schütteln derselben mit Wasser und Bleischrot letzteres oft so fest einsetzt, daß es beim Umstürzen der Flaschen nicht herausfällt. Wird den so behandelten Flaschen nicht die gehörige Aufmerksamkeit gewidmet und irgend eine säuerliche Flüssigkeit, wie Wein, Bier, kohlensäurehaltiges künstliches oder natürliches Mineralwasser, Essig u. s. w. darauf gefüllt, so wird jedes sitzengebliebene Bleischrot davon nach und nach angegriffen und selbst gänzlich aufgelöst, dadurch aber die darin befindliche Flüssigkeit zu einem schwächeren oder stärkeren Gifte gemacht. Wir haben selbst Gelegenheit gehabt, einen aus dem Handel auf Flaschen bezogenen Wein schon durch den Geschmack so bleihaltig zu finden, daß er Widerwillen erregte, erhielten bei der chemischen Untersuchung die Gewißheit von gelöstem Blei und fanden bei der Beaugenscheinigung der Flasche eine Partie Schrotblei so fest am Boden derselben eingezwängt, daß sie nur beim Zerbrechen herausgenommen werden konnte und sich allseitig angefressen zeigte. Wir glauben auch, daß der von vornherein angedeutete Fall des Sterbens mehrerer Personen nach dem Genuß von Wein nicht durch eine absichtliche Behandlung desselben mit Blei – wie leider früherhin häufig der Fall war – sondern durch eine solche Reinigung der zu seiner Aufbewahrung dienenden Flaschen veranlaßt worden ist, und können diese Ansicht um so mehr hegen, als nicht sämmtliche Genossen des betreffenden Gastmahles durch Weinvergiftung zu leiden hatten.

Ist aber schon die Reinigung der Glasflaschen durch Bleischrot sehr gefahrdrohend, so ist es noch vielmehr die der irdenen Flaschen, da hier selbst die größte Aufmerksamkeit in Betreff der Beseitigung des Bleischrotes nutzlos ist. Die irdenen Flaschen haben nämlich eine so rauhe Innenfläche, daß sich das darin mit Wasser in Bewegung gesetzte Bleischrot abreiben muß und eine so behandelte irdene Flasche zeigt beim Zerbrechen die Innenfläche der Bruchstücke wie mit Graphit (Ofenschwärze) überzogen. Das so abgeriebene Blei bietet nun den auf solche Flaschen zu füllenden Flüssigkeiten eine sehr große Oberfläche dar und wird deshalb um so rascher gelöst; schon nach kurzer Zeit weiß dann der Chemiker in den Flüssigkeiten, wenn sie nicht bereits den eigenthümlichen Geschmack der gelösten Bleiverbindungen in auffallendem Maße besitzen, das Blei bestimmt nachzuweisen und das Innere der Flaschen erscheint bald frei von dem Bleiüberzug. Bei Flaschen aus Glas, die blasige Stellen besitzen, findet beim Reinigen mit Bleischrot eine ähnliche Erscheinung, wenn auch nicht so verbreitet, statt; die blasigen Stellen werden nämlich durch die Gewalt des in Bewegung gesetzten Bleischrotes nach innen hin zerdrückt und es treten [82] nun scharfe Stellen hervor, an welchen sich das Metall abreibt und dann leicht durch Flüssigkeiten gelöst wird.

Ist aber die Anwendung des Bleischrotes zum Reinigen der Flaschen schon wegen einer möglichen Lösung von Blei in den in jenen aufzubewahrenden Flüssigkeiten ganz unzulässig, so wird es dieses dadurch noch mehr, daß durchgehends das Blei, das auf Schrot verarbeitet werden soll, zur Erzielung eines gewissen Härtegrades mit Arsen – bis zu 10% – verschmolzen wird. Löst sich auch dieses in den das Blei zerstörenden Flüssigkeiten nicht eher, als bis das Blei selbst sämmtlich gelöst ist, so wird es doch bei einer nur theilweisen Lösung des Blei’s von so höchst feinpulveriger Beschaffenheit abgeschieden, daß es beim Ausgießen der Flüssigkeiten mit herausgeschlemmt und – wenn diese ein Getränk ist – mit genossen wird; durch die Bestandtheile des Magensaftes kommt es aber leicht in Lösung und veranlaßt die Erscheinungen und Zufälle einer Arsenikvergiftung in geringerem oder höherem Grade. Wird aber das Bleischrot gänzlich von der damit in Berührung stehenden Flüssigkeit gelöst, so äußert diese auf das abgeschiedene Arsen dieselbe Veränderung wie auf das Blei; es zieht entweder freien oder gebundenen Sauerstoff an und verwandelt sich in eine Säure, die in der chemischen Sprache Arseniksäure, im gemeinen Leben aber weißer Arsenik genannt wird, als eins der heftigsten Gifte bekannt ist und von der Flüssigkeit gelöst wird.

Alle diese Thatsachen thun hinreichend dar, wie höchst gefahrdrohend die Verwendung des Bleischrotes zum Reinigen der Flaschen ist und jeder sorgsame Haus- und Familienvorstand wird dadurch dahin geführt werden, diese Reinigungsmethode durch eine andere gefahrlose zu ersetzen, in welcher Beziehung wir hier nur auf ein bereits in manchen Haushaltungen, Wirthschaften und Weinhandlungen gebräuchliches Verfahren aufmerksam machen und dieses, da es weit sicherer, viel billiger und ohne Gefahr ist, empfehlen werden.

Man bediene sich nämlich beim Flaschenreinigen zum Abreiben der fester sitzenden Theile einer hinreichend langen Kette von schwachem Eisendraht, welche an dem einen Ende mit einem so weiten Ringe versehen ist, daß dieser außerhalb der Flaschenöffnung gehalten wird. Die Kette im Inneren der Flasche mit Wasser in Bewegung gesetzt, reißt alsbald alle Unreinigkeiten ab.

Das Fleisch des durch den Schuß erlegten Wildes muß jedes Mal von der Hausfrau oder der die Küche verwaltenden Persönlichkeit genau untersucht und von dem darin befindlichen Blei, es mag dieses in Kugelform, in gehacktem Zustande oder als Schrot vorhanden sein, sorgfältigst befreit und die um das aufgefundene Blei befindlichen Stellen herausgeschnitten werden. Man darf diese Vorsichtsmaßregel besonders dann nicht versäumen, wenn das Wildfleisch mit Essig oder saurer Milch zugerichtet oder, wie es einige Feinschmecker am liebsten haben, zuvor der beginnenden Fäulniß ausgesetzt wird. Die Säure des Essigs oder die Milchsäure der sauren Milch wirken sehr energisch auf das Blei ein und können so das Fleisch, wenn es Bleistücke enthält, stellenweise in ein sehr heftiges Gift verwandeln. Dasselbe gilt für das ohne Essig oder saure Milch zubereitete Wildfleisch, wenn es in die Fäulniß getreten ist, denn nichts Anderes ist der Zustand, bei welchem das Fleisch besonders während des Bratens den eigenthümlichen, nur Feinschmeckern beliebten haut goût besitzt. Die Fäulniß thierischer Körper ist aber stets mit der Bildung von Ammoniak verbunden, das die Verbindung des im Fleische befindlichen Blei’s mit Sauerstoff und dadurch seine Löslichkeit begünstigt. Aus dem oben über das Reinigen der Flaschen Gesagten geht aber schon hinreichend hervor, daß auch hier Bleischrot weit gefährlicher ist, als kugelförmiges oder gehacktes Blei, indem zugleich bei jenem das Arsen gelöst wird.

Der früherhin stets vorkommende und selbst durch besondere Landesgesetze geregelte Gebrauch, Blei in bestimmten Verhältnissen zu dem Zinn, das für Küchen-, Speise- und Trinkgeschirre, überhaupt zur Anfertigung der verschiedenartigsten Geräthschaften benutzt wird, zu setzen, ist ebenfalls ein die Gesundheit gefährdender Gebrauch, aber nicht des Blei’s wegen, sondern deshalb, weil das Zinn durch die Mischung in verschiedenen Flüssigkeiten löslich wird, was es in reinem Zustande nicht sein würde. Wenn in bleihaltigen Zinngefäßen Kochsalzwasser oder Essig längere Zeit stehen bleibt oder gar darin erhitzt wird, so lösen sich merkliche Quantitäten von Zinn auf und diese Flüssigkeiten verursachen dann beim Genuß mehr oder minder üble Folgen, indem die Zinnverbindungen ebenfalls zu den Giften gehören. Da nun aber da, wo Gerätschaften von Zinn für den Küchen- und Hausgebrauch beliebt sind, die Einwirkung genannter Flüssigkeiten nicht vermieden werden kann, so muß darauf gesehen werden, daß solche Geschirre aus dem reinsten Zinn oder, wie man in der neueren Zeit mit Vortheil gethan hat, aus einem solchen verfertigt sind, welches durch einen kleinen Zusatz von Stahl in seiner Härte und in seinem Glanz erhöht ist, ohne dadurch in Kochsalzwasser oder Essig löslich zu werden.

(Schluß folgt.)


Rosa Heisterberg.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)

Der junge Mensch wollte forteilen; er wandte sich noch einmal zu mir um. Er hatte noch etwas auf dem Herzen und es wurde ihm schwer, es auszusprechen, aber er mußte es aussprechen.

„Herr Criminalrath, die Bitte hat Sie vorhin schon einmal verletzt, aber ich darf sie Ihnen nochmals an das Herz legen; werden Sie nicht böse. Nicht wahr, Sie behandeln die Arme nicht mit Härte? Sie behandeln sie mit Menschlichkeit? O, glauben Sie mir, sie ist unschuldig. Und wenn Sie mir das nicht glauben können, nach Ihren Gesetzen nicht glauben dürfen, so fassen Sie wenigstens kein Vorurtheil für Ihre Schuld.“

„Mein Herr,“ sagte ich ihm, „halten Sie sich überzeugt, daß die Dame in jeder Hinsicht nur nach den Gesetzen der Menschlichkeit behandelt wird.“

„Dank, tausend Dank!“

Er wollte fortstürzen, ich hielt ihn jedoch zurück.

„Mein Herr, darf ich Ihren Namen noch nicht erfahren?“

„Verzichten Sie darauf.“

„Sie sind so fest von der Unschuld der Gefangenen überzeugt. Es könnte möglich werden, auf Ihr Zeugniß zu ihren Gunsten zurückzukommen.“

„Dann werde ich da sein. Jetzt nicht. Aber ich bitte Sie, aus meiner Weigerung keinen falschen Schluß zum Nachtheil der Dame ziehen zu wollen.“

„Sie hören, daß ich Sie nur als einen Vertheidigungszeugen betrachte.“

Er eilte fort.

Dem Gefängnißinspector ließ ich die Ermächtigung zur Annahme des Bettes für die Gefangene Rosa Heisterberg zukommen.

War die Gefangene, die schöne, junge Dame, die den höheren Ständen angehörte, mindestens darin einheimisch war, mit ihrer Bildung, mit ihrem für wahres, starkes Gefühl noch so sehr empfänglichen, mit ihrem vielleicht gar weichen Herzen, war sie schuldig oder unschuldig?

Wer war der, gleichfalls den besseren Ständen angehörende, kränkliche junge Mann mit dem unzweifelhaft braven, edlen Herzen, der sich so lebhaft, so leidenschaftlich für sie interessirte? In welchen Verhältnissen und Beziehungen stand er zu ihr, von deren Unschuld er so fest, so schwärmerisch, fast fanatisch überzeugt war? Ich war in hohem Grade auf die morgenden Verhöre gespannt.

Ich übertrug am andern Morgen von meinen Terminen Alles, was nur möglicherweise abzutreten war, an meine Hülfsverhörrichter und machte die andern Sachen rasch ab, um schnell zu den Verhören in der Untersuchungssache gegen Rosa Heisterberg überzugehen.

Der Polizeicommissarius, von dem sie verhaftet war, hatte sich noch nicht gemeldet. Ich mußte daher die Angeschuldigte selbst zuerst verhören, obwohl, bei jenem kurzen und nackten polizeilichen Berichte, es mir fast an allen Thatsachen zu ihrer näheren Vernehmung fehlte. Ich ließ sie vorführen.

Am Abend vorher hatte ich sie in Aufregung verlassen. Sie [83] hatte seitdem Zeit genug gehabt, über ihre Lage nachzudenken; sie hatte sich diese klar machen können. Mochte sie sich schuldig oder unschuldig fühlen, sie mußte, zumal da sie nach ihren eigenen Worten mit dem gerichtlichen Verfahren nicht unbekannt war, sich sagen, daß sie unter allen Umständen einer unangenehmen, namentlich für eine Dame peinlichen, schmerzvollen Untersuchung und Haft entgegenging. Gestern, unmittelbar nach ihrer Verhaftung, hatte sie, mit trotzigem schlechten oder mit ruhigem guten Gewissen, Manches leichter nehmen, über Manches sich ganz hinwegsetzen können, was bei besonnenerem Nachdenken ihr in hellerem und mithin wahrerem Lichte erscheinen und dann nothwendig schwer auf sie drücken mußte! Sie erschien gleichwohl in der Verhörstube durchaus ruhig, sorglos, fast heiter. Ich hatte sie, meiner Gewohnheit beim Inquiriren gemäß, stehend empfangen. Sie blieb jedoch nur kurze Zeit stehen; dann nahm sie einen Stuhl und sagte kurz, aber höflich:

„Darf ich bitten, mein Herr?“

Sie setzte sich. Ihr Benehmen war das einer vornehmen Dame, die in ihrem eigenen Salon oder Boudoir ist. Ich ließ sie natürlich sitzen, blieb selbst aufrecht stehen und begann mit vollkommener Inquirenten-Ruhe und Kälte das Verhör, vielleicht auch, ich kann es nicht ganz leugnen, mit einigem Vorurtheil gegen sie, das sie durch ihr Benehmen nothwendig in mir hatte wecken müssen.

„Ihr Name ist?“ fragte ich.

Sie sah mich einen Augenblick verwundert an, als ob sie sich auf einmal besinne, dann sagte sie lächelnd:

„Ah, mein Name und mein Alter sind zwar schon in dem polizeilichen Berichte angegeben, den der Commissarius mir mitgetheilt hat. Aber ich dachte nicht sogleich daran, daß der Angeschuldigte vor Gericht Alles selbst angeben muß. So ist es ja wohl?“

„So ist es.“

„Mein Name ist also Rosa Heisterberg, bin dreiundzwanzig Jahre alt und evangelisch-protestantischer Religion.“

„In dem Polizeiberichte sind Sie Rosa von Heisterberg genannt.“

„Richtig.“

„Das ist also Ihr wahrer Name?“

„Ja.“

„Sie nannten sich eben blos Rosa Heisterberg.“

„So? That ich das? Ich lege auf das von kein Gewicht.“

„Woher sind Sie gebürtig?“

„Aus einer holländischen Provinz.“

„Der Name dieser Provinz?“

„Es wird wohl nicht darauf ankommen.“

„Es wäre doch möglich.“

„Sie haben Recht: es wäre möglich; es könnte für die Zwecke Ihrer Untersuchung erforderlich werden, mein ganzes bisheriges Leben bis zu meiner Wiege hin zu verfolgen. Das meinen Sie doch?“

„Das meinte ich.“

„Nun, so wird es alsdann, wenn dieses Erforderniß eintritt, früh genug sein, Ihnen meinen Geburtsort zu nennen.“

„Nach den Vorschriften des Gesetzes müssen Sie ihn sofort angeben.“

„Ich muß? Und wenn ich nun nicht will?“

„Mein Fräulein, körperliche Zwangsmaßregeln wenden wir gegen Angeschuldigte nicht an. Auch Sie werden sie nicht zu fürchten haben. Aber nur sich selbst haben Sie es beizumessen, wenn Sie durch Verschweigen oder Verdunkeln oder Entstellen von Thatsachen, die nun einmal zu der Untersuchung gehören, diese und Ihre Haft in eine, vielleicht unabsehbare Länge hinausziehen. Erlauben Sie mir überhaupt jetzt gleich schon die Bemerkung, daß Sie mir Ihre Lage so leicht, nicht mit jenem Ernst, noch weniger mit jenem weiblichen Gefühle aufzunehmen scheinen, welche eine schimpfliche und jedenfalls mit einigen Beweismitteln unterstützte Beschuldigung des Diebstahls, eines gemeinen Verbrechens, auch bei dem vollsten Bewußtsein der Unschuld, zumal in einer Dame von Ihrer Bildung und Stellung, nothwendig hervorrufen müssen.“

Diese Ermahnung machte sie doch nachdenklich, ernster; aber mehr fruchtete sie nicht.

„Herr Criminalrath,“ erwiderte sie, „gerade weil ich meine Lage ernst, sehr ernst auffasse, kann ich mich nicht dazu entschließen, Sie mit meinen heimathlichen Verhältnissen bekannt zu machen. So wie ich jetzt in der Untersuchung befangen bin, kann höchstens diese meine Person, wie sie hier vor Ihnen sitzt, compromittirt werden, nichts weiter in der Welt, kein Name, keine Person, kein Ort. Genügt Ihnen diese Aufklärung meiner Weigerung?“

„Sie würden also auch über Ihre übrigen persönlichen Verhältnisse keine Auskunft geben?“

„Nein.“

„Nicht über Namen und Stand Ihrer Eltern?“

„Nein.“

„Wo Sie erzogen sind? Wo Sie Ihre Ausbildung erhalten haben?“

„Nein.“

„Wo Sie sich bisher aufgehalten haben? Und in welchen Verhältnissen?“

„Nein, mein Herr, und immer nein, welche ähnliche Frage Sie auch an mich richten mögen.“

„Wie lange halten Sie sich in Berlin auf?“

„Seit einem Vierteljahre.“

„Woher kamen Sie damals?“

„Erlauben Sie, daß ich Ihnen darauf die Antwort wieder verweigere.“

„Kamen Sie mit einem Paß hier an?“

„Nein.“

„Hat die Polizei Sie ohne alle Legitimation hier geduldet?“

„O nein. Ich begab mich sogleich nach meiner Ankunft zu dem holländischen Gesandten und dieser stellte mir einen Paß aus.“

„Wo befindet sich dieser?“

„Ich habe ihn gegen eine Aufenthaltskarte bei der Polizei deponiren müssen; dort wird er noch sein.“

„Legitimirten Sie sich bei dem holländischen Gesandten?“

„Gewiß.“

„Ich welcher Weise?“

„Das muß wieder mein Geheimniß bleiben. Indeß, Sie werden sich darüber beruhigen dürfen, wenn Sie sich erinnern, daß der Gesandte ein gewissenhafter, gar ein peinlicher Mann war.“

„Sie vergessen, daß ich die Auskunft, die ich haben muß, mir leicht aus den Acten der Gesandtschaft verschaffen kann.“

„Ich zweifle.“

„So hätten Sie dem Gesandten gar keine Legitimationsdocumente übergeben oder vorgewiesen?“

„Es ist möglich.“

„Er kannte Sie persönlich?“

„Nein. Aber, mein Herr, konnte ich ihm nicht in anderer Art überzeugende Mittheilungen über meine Verhältnisse machen? Und konnten ihn diese nicht zugleich veranlassen, mein Geheimniß zu ehren?“

„Danach dürfte man auch den Namen, den Sie hier führen, nicht als Ihren wahren annehmen?“

„Ich bitte, ihn dafür zu halten.“

„Mein Fräulein, der holländische Gesandte ist vor Kurzem gestorben.“

„Ja.“

„Sollten die Gesandtschaftsacten keine Auskunft geben und sollte diese auch Niemand anderes von den Personen der Gesandtschaft geben können, so würde zu meinem Bedauern jene langwierige Verzögerung Ihrer Angelegenheit eintreten, die ich schon vorhin andeutete.“

„Auch ich würde das bedauern, um so mehr als alle Ihre Nachforschungen völlig vergeblich sein würden.“

„Was bewog Sie, hierher zu kommen?“

„Ich hatte durch eine bekannte Familie erfahren, daß eine Frau von Waldheim eine Gesellschafterin suche.“

„Sie werden mir auch den Namen dieser Familie nicht nennen wollen?“

„Nein.“

„Sie erhielten sofort die Stelle bei Frau von Waldheim?“

„Sofort.“

„Auf Grund besonderer Empfehlung?“

„Ich überbrachte ihr wenigstens keine fremde Empfehlung.“

„Sie haben Ihre Stellung bei der Frau von Waldheim aufgegeben?“

„Seit etwa drei Wochen.“

„Aus welchem Grunde?“

„Wir fanden beiderseits keinen Gefallen mehr an einander.“

[84] „Wo wohnen Sie seitdem?“

„Bei der verwittweten Generalin von Hochkirch, die ich bei der Frau von Waldheim kennen gelernt hatte.“

„Gleichfalls als Gesellschafterin?“

„Als Mietherin, als Kostgängerin. Die Generalin lebt von einer geringen Pension.“

„Ich muß Sie bitten, mir zu sagen, wovon Sie leben?“

„Von meinen Ersparnissen.“

„Bei der Frau von Waldheim?“

„Auch früheren.“

„Sie brachten also Geld mit hierher?“

„Gewiß.“

„Wie viel?“

„Ich weiß das nicht mehr.“

„Ungefähr!“

„Ich kann es auch nicht ungefähr angeben. Und selbst wenn ich es könnte, ich würde wieder bitten, dies als mein Geheimniß zu betrachten.“

„Mein Fräulein, es wäre das ein Geheimniß, das mehr als eine Verzögerung Ihrer Untersuchung herbeiführen, das zugleich einen Verdacht gegen Sie begründen würde.“

„Ich muß das erwarten.“

„Werden Sie mir auch die Auskunft darüber verweigern, auf welche Art Sie jene früheren Ersparnisse erworben hatten?“

„Auch darüber.“

„Fräulein, ich komme jetzt unmittelbar zu der gegen Sie erhobenen Beschuldigung des Diebstahls. Bevor ich Sie darüber befrage, habe ich die Verpflichtung, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß hier jede Verweigerung einer Antwort oder jede unbestimmte oder unwahre Antwort doppelt zu Ihrem Nachtheile wirken, geradezu als eine Anzeige für Ihre Schuld gelten muß. Ich bitte Sie, das wohl zu erwägen.“

„Fragen Sie, mein Herr.“

„Die Frau von Waldheim soll mehrere Male schon vor einiger Zeit bestohlen worden sein, im Ganzen um eine nicht unbedeutende Summe, und Sie sollen die Urheberin dieser Diebstähle sein. Die näheren Umstände sind zu den Acten noch nicht angegeben. Sie werden durch offene Mittheilung von dem, was sich darauf bezieht, Ihre Sache nur verbessern.“

Wie sie bisher ruhig, kalt, unbefangen, in der letztern Zeit nur ernster, aber noch keinen Augenblick verlegen gewesen war, so zeigte sie auch, als ich ihr jetzt das ihr angeschuldigte beschimpfende, entehrende, nicht blos aus aller besseren, sondern aus jeder anständigen, ehrenvollen Gesellschaft ausstoßende Verbrechen vorhielt, nicht die geringste Verwirrung, nicht einmal irgend eine Aufregung. Der Blick ihres Auges blieb[WS 3] fest und klar; ihre Lippen zuckten nicht, ihre Farbe veränderte sich nicht. Ich muß gestehen, daß diese Unempfindlichkeit einen unangenehmen Eindruck auf mich machte. Mochte sie eine natürliche, mochte sie eine gemachte sein, auf keinen Fall entsprach sie den Anforderungen einer wahren Bildung, eines richtig fühlenden Herzens, der Ehre; am wenigsten war sie weiblich.

„Fragen Sie mich, mein Herr,“ wiederholte sie.

„Bei dem Mangel an Thatsachen kann ich specielle Fragen nicht an Sie stellen.“

„So kann ich Ihnen auch nichts antworten, als das Eine, daß, wenn die Frau von Waldheim wirklich bestohlen ist, ich an diesen Diebstählen unschuldig bin.“

„Sie scheinen zu begreifen, daß die Frau von Waldheim bestohlen sei?“

„Ich habe keine Untersuchung darüber angestellt.“

„Sie können sich auch außerdem eine Ueberzeugung, mindestens eine bestimmte Meinung darüber gebildet haben.“

„Bis jetzt war das noch nicht der Fall.“

„Was hat man Ihnen darüber, so wie über Ihre Betheiligung vorgehalten?“

„Von welcher Seite?“

„Zunächst von Seite der Frau von Waldheim.“

„Von Seite der Frau von Waldheim?“

Sie warf ihre Lippen spöttisch verächtlich auf. Es war die erste Bewegung, die sie während des Verhörs zeigte.

„Ich soll am gestrigen Nachmittage aus dem Schlafzimmer der Frau von Waldheim dreißig Gulden entwendet haben. Bei der Gelegenheit, hielt mir dann der Polizeicommissarius vor, sei zugleich der Verdacht auf mich gefallen, daß ich schon früher, als ich noch in dem Hause war, dort vorgefallene Diebstähle verübt hätte, einen von hundertundachtzig bis zweihundert Gulden und mehrere kleinere; selbst an Kleinigkeiten, wie eine Scheere, ein elfenbeinernes Nadeletui; vielleicht gar auch die Nadeln. Es wäre lächerlich, wenn es nicht im höchsten Grade empörend wäre, ein unschuldiges, achtbares Mädchen in solcher Weise zu beschimpfen und zu – verfolgen.“

Sie war mehr und mehr aufgeregt geworden. Sie legte namentlich auf das letzte Wort: verfolgen, nachdem sie zuerst gezögert hatte, es auszusprechen, einen eigenthümlich nachdrücklichen Ton.

Ich griff dies auf.

„Wer verfolgt Sie?“ fragte ich rasch.

Sie war plötzlich wieder kalt geworden. War ihre Aufregung nur eine gemachte gewesen? Beinahe kam es mir so vor.

„Es gehört nicht hierher,“ antwortete sie mir ruhig. „Wenigstens zur Zeit nicht. Später.“

„In welchen Beziehungen blieben Sie zu der Frau von Waldheim, nachdem Sie deren Haus verlassen hatten?“

„Sie blieb freundlich gegen mich, und hat mich in meiner späteren Wohnung mehrmals besucht, mich auch wiederholt zu sich eingeladen.“

„Und Sie?“

„Ich kenne die Gesetze der Höflichkeit.“

„Sie haben auch jene Einladungen angenommen?“

„Ja.“

„Würden Sie mir einen speciellen Grund Ihrer Abneigung angeben, von der Sie vorhin sprachen?“

„Von Abneigung habe ich wohl nicht gesprochen.“

„Von Kälte denn.“

„Besondere Gründe dafür wünschen Sie zu wissen?“

„So sagte ich.“

Sie besann sich einen Augenblick, dann sagte sie:

„Auch das vielleicht später.“

Ich hatte sie nur noch über zwei Punkte zu befragen. Im Uebrigen konnte bei dem Fehlen allen thatsächlichen Anhalts ein weiteres Verhör zu keinem Resultate führen.

„Waren Sie gestern in der Wohnung der Frau von Waldheim?“

„Nein.“

„Sie haben gestern noch ein Bette erhalten?“

Sie stutzte, als ich plötzlich und ihr völlig unerwartet die Worte an sie richtete.

„Verzeihen Sie mir,“ sagte sie, „daß ich Ihnen für diese gütige Bevorzugung noch nicht meinen Dank gesagt habe.“

„Mir sind Sie keinen Dank dafür schuldig.“

„Die gewöhnliche Gefängnißordnung würde es mir nicht verschafft haben.“

„Ein junger Mann Ihrer Bekanntschaft hat es für Sie gebracht.“ Sie wurde auf einmal roth und blaß.

„Nannte er sich?“

Sie sprach die Frage ängstlich lauernd aus. Es schien ihr viel daran gelegen zu sein, ob der junge Mensch sich genannt habe oder nicht. Damit stand auch wohl am gestrigen Abende ihre Verlegenheit in Verbindung, als der Gerichtsdiener mir den Besuch des jungen Menschen meldete.

Ich hätte durch eine kleine Unwahrheit jetzt leicht den Namen des Unbekannten erfahren können. Das Gesetz läßt dem Inquirenten hierin einen weiten Spielraum. Ich habe aus Achtung vor dem Rechte und vor meiner Ehre stets jede, auch die geringste Unwahrheit gegen meine Inquisiten verschmäht.

„Nein,“ antwortete ich der Gefangenen, „er nannte sich nicht.“

Die Mittheilung erleichterte sie sichtlich.

„Ich sehe,“ sagte ich, „ich würde auch Sie vergeblich nach seinem Namen fragen.“

Es schien plötzlich eine seltsame, aber tiefe Rührung sie erfaßt zu haben. Mit feuchten Augen und einer fast zitternden Stimme antwortete sie mir:

„O, mein Herr der brave Mensch hat um meinetwillen, aus Besorgniß für mich, Ihnen seinen Namen verweigert. Ich kann Ihnen diesen um seinetwillen nicht nennen. Dringen Sie nicht ferner in mich.“ Ich ließ sie in das Gefängniß zurückführen.

(Fortsetzung folgt.)



[85]
Album der Poesieen.
Nr. 17.

Abends, wenn die Kinder mein

Abends, wenn die Kinder mein
     Mit der Mutter beten,
Pfleg’ ich an ihr Kämmerlein
     Still heranzutreten.

5
Leise lausch’ ich an der Thür

     Ihrem Wort von ferne;
Ob sich’s gleiche für und für,
     Hör’ ich doch es gerne.

Und wenn Alles nachgelallt,

10
     Mägdelein und Bube,

Wenn das Amen leis’ verhallt,
     Tret’ ich ein zur Stube.

Wenn sie dann so lieb und warm
     Gute Nacht mir nicken,

15
Mit dem weichen Kindesarm

     Mich zum Kuß umstricken –

O, dann muß im Kämmerlein
     Wohl mein Herz sich regen:
Linde strömt es auf mich ein

20
     Wie ein Abendsegen!
Adolf Schults.




Gefunden und Verloren.
Von einem sächsischen Ausgewanderten.

Es war an einem heißen Junitage des Jahres 18.., als ich mit dem Dampfboote an Fort Snelling (im Staate Minnesota) vorüber den Minnesota-Fluß hinauffuhr. Ich konnte mir damals nicht erklären, was mich so sonderbar ergriff, als die hohen Wälle des Forts im Nebel hinter mir verschwanden. Viele Monate später, und leider zu spät, hatte ich erst den Grund davon erfahren. An einer der letzten Stationen des Flusses, einer sogenannten Stadt, die aus drei oder vier elenden Blockhäusern bestand, von denen das eine ein Hôtel und die anderen Kaufläden waren und die, wenn ich nicht irre, Liverpool oder gar London hieß, stieg ich an’s Land und setzte meine Reise in’s Innere zu Fuß fort. Der Tag war drückend heiß und Reisen ist kein Vergnügen in diesen entlegenen Gegenden, die die Civilisation kaum nur erst leise an der Oberfläche berührt hat. Ich legte mich nach einigen Stunden schon ermüdet in den Schatten eines gewaltigen Zuckerahorns auf den duftenden Blumenteppich, der in tausend reichen Farben rings um mich her in den Strahlen der heißen Junisonne glänzte. Ich dachte vergangener und zukünftiger Zeiten, dachte ein die ferne Heimath, an das trotz alledem und alledem schöne Deutschland, vor Allem dachte ich aber an meinen Bruder, die treue ehrliche Seele. Mit ihm zusammenzustoßen, war ich in diese Wildniß gekommen. Ich sollte ihn auf einer entlegenen Farm in einer der westlichsten Grafschaften des Territoriums antreffen und wir wollten dann vereinigt das schwere Leben amerikanischer Hinterwäldler beginnen, hierorts [86] die einzige Chance für den Unterbemittelten, sich durch Ausdauer und Fleiß eine bessere Zukunft zu gründen. Meine Gedanken gingen indeß bald in Träume über, Müdigkeit und Hitze thaten das Uebrige und endlich mußte ich, trotz des warnenden Summens der Musquitos, fest eingeschlafen sein, denn die Sonne stand bereits im Westen, Als ich plötzlich erwachte

„Hierher, zu Hülfe!“ hatte ich in englischer Sprache rufen hören und war eben noch bemüht, mit mir in’s Klare zu kommen, ob ich dies nicht etwa blos geträumt hätte, als ich denselben Ruf deutlich nochmals aus dem nahen Hochwald vor mir herüberschallen hörte. Im Nu war ich auf den Beinen und mit ein paar Sätzen hatte ich die kurze Prairiestrecke, die mich vom Waldsaume trennte, durchlaufen, als ich auch schon den Urheber des Hülferufes erblickte und zwar unter Umständen, die keinen Zweifel darüber ließen, daß der Lärm in der That kein blinder sei. Es war ein junger Mann von höchstens 34 Jahren, schlank und kräftig gebaut, der einen ziemlich ungleichen Kampf mit zwei Kerlen – Irländern, wie man auf den ersten Blick sehen könnte – zu bestehen hatte, Der Kampf war ungleich, nicht etwa wegen der feindlichen Ueberzahl, denn der junge Mann sah recht wohl danach aus, als ob er es mit beiden Lumpen aufnehmen könne, sondern ungleich vielmehr wegen der äußerst ungünstigen Nebenumstände, die ihn begleiteten. Mit der rechten Hand hatte er eine Revolver-Pistole festzuhalten, die der eine der Strolche ihm aus dem Gürtel gezogen hatte und die derselbe fortwährend bemüht war, ihm gänzlich zu entreißen; mit der freigebliebenen Hand mußte er den zweiten Vagabunden abwehren, der mit einem dicken Stocke auf ihn losschlug, und dabei hatte er auch noch so zu manövriren, daß er beide Kerle von seinem Reitpferde abhielt, das an einem Baume in der Nähe angebunden war und das ihm die Schlingel jedenfalls gestohlen haben würden, wenn es nur irgend möglich gewesen wäre. Mein Erscheinen machte der Sache ein schnelles Ende. Ich war, den Revolver in der Hand, bis auf etwa acht oder zehn Schritt zugesprungen, entschlossen, jedem der beiden Strolche einen Denkzettel zu geben, als sie Beide, sich zur Flucht wendend, vom Wege abwärts in den Hochwald hineinsprangen, dessen dicke Riesenstämme uns jede Chance benahmen, ihnen noch ein paar Kugeln mit nur einiger Aussicht auf Erfolg nachzusenden.

Der junge Mann drückte mir auf’s herzlichste die Hand und bedankte sich mit Wärme für den kleinen Dienst, den ihm mehr der Zufall als ich selbst geleistet hatte. Er sagte mir, er sei auf der Reise zur nächsten Land-Office, habe sich diesen Nachmittag ermüdet unter einen Baum gelegt, sei fest eingeschlafen und glücklicherweise eben noch rechtzeitig erwacht, als der eine der Kerle ihm schon die Pistole zur Hälfte aus dem Gürtel gezogen und der andere eben mit Losbinden seines Pferdes beschäftigt gewesen sei. Das Ende der Geschichte wußte ich und da auch mein Weg mich an der Land-Office vorbeiführte, so setzten wir unsere Wanderung gemeinschaftlich und zwar zu Fuße fort, indem mein Begleiter, wohl aus Artigkeit gegen mich, es verzog, sein Pferd am Zügel zu führen. Da es indeß schon Abend geworden war und die Nacht hier ziemlich schnell hereinbricht, so waren wir sehr erfreut, schon nach einem Marsche von einer kleinen halben Stunde ein leerstehendes Shanty anzutreffen, wie man sie in dieser Gegend so häufig vorfindet. Wir richteten uns, so gut es gehen wollte, für die Nacht darin ein, zündeten ein großes Feuer an, auf welches wir frische Zweige warfen, um uns durch den Rauch gegen die Musquitos zu schützen, und da mein Begleiter unterwegs ein paar wilde Tauben geschossen hatte, ich selbst aber noch eine wohlgefüllte Feldflasche besaß, so erfreuten wir uns eines recht wohlschmeckenden Mahles, nach dessen Beendigung wir unsere Pfeifen ansteckten und uns bald im unterhaltenden Gespräch befanden.

Mein Begleiter hatte viel von der Welt gesehen. Er war der Sohn eines ziemlich wohlhabenden Farmer in Ohio, hatte – sechzehn Jahre alt – das elterliche Haus verlassen, um in einem großen Handlungshause in Philadelphia das kaufmännische Geschäft zu erlernen. Dessen Einförmigkeit hatte ihm jedoch so wenig zugesagt, daß er sich schon nach Verlauf eines Jahres gegen den Willen seiner Eltern, nur mit unbedeutenden Mitteln und weniger mit einem bestimmten Plane, als vielmehr mit unbegrenzter Lust am Abenteuerlichen versehen, nach Peru aufgemacht hatte. Hier hatte ihm die Kenntniß der spanischen Sprache, seine kaufmännische Bildung und seine angenehme persönliche Erscheinung sehr bald eine Officiersstelle in den damaligen inneren Kriegen dieser Republik verschafft und er war wirklich für den Zeitraum von sechs Jahren – der ihm wie eine Ewigkeit erschien – stationär geblieben, als plötzlich die Kunde von der Auffindung fabelhaft reicher Goldminen im westlichen Californien ihn mit unwiderstehlicher Gewalt in das neue Eldorado gelockt hatte. Unter Abenteuern, Gefahren und Strapazen aller Art war es ihm hier wirklich geglückt, in einigen Jahren ein paar tausend Dollars zu erwerben, mit denen er dann nach den fernen Sandwichsinseln hinübergesegelt war und dort sich in Landspeculationen eingelassen hatte. Er hatte es hier abermals beinahe sieben Jahre ausgehalten, als ihm unerwartet eine günstige Gelegenheit wurde, seine Besitzungen an die englische Missionsgesellschaft verlaufen zu können. Durch dieses Geschäft hatte er, wie er meinte, eine ziemlich beträchtliche Summe realisirt, als mit einem Male lange geschlummerte Sehnsucht nach den Seinigen und zwar mit solchem Nachdrucke in ihm erwachte, daß er mit fieberhafter Ungeduld das Schiff erwartete, das ihn der Heimath zuführen sollte.

Achtzehn Jahre waren verflossen, seit er das elterliche Haus verlassen, und in diesem langen Zeitraume war ihm auch nicht eine Kunde von den Seinen zugekommen. Mehrere Briefe, die er in langen Zwischenräumen an sie geschrieben, waren ohne Antwort geblieben, und er wußte nicht, ob das treue Elternpaar, das mit solcher Liebe und Sorgfalt über seine Kindheit gewacht hatte und gegen das er wohl manche Sünde auf dem Herzen haben mochte, noch am Leben sei. Eine lange und gefahrvolle Seereise hatte ihn endlich in den gewünschten Hafen gebracht, mit steigender Ungeduld war er dann Tag und Nacht reisend, dem wohlbekannten Landstädtchen zugefahren, von wo aus ihn nur noch wenige Meilen von der Farm seiner Eltern, dem Schauplatze der glücklichen Tage seiner Kindheit, trennten. Aber ach, das wohlbekannte Landstädtchen war unterdessen zur unbekannten großen Stadt geworden; mit bangen und immer zunehmenden Besorgnissen war er auf neuen Wegen der alten Farm zugeschritten. Der Anblick eines Obstgartens von hochstämmigen Fruchtbäumen brachte Thränen in seine Augen, diesen wenigstens kannte er noch von früher her und sein Herz klopfte gewaltig, als er daran dachte, daß er hinter demselben endlich das väterliche Farmhaus erblicken müsse. Ja, hier stand es wirklich, dasselbe Haus! Er mußte einige Augenblicke anhalten, sich sammeln. Die vorübergehenden Feldarbeiter hatten ihm mit neugierigen Blicken nachgesehen; er suchte seine Aufregung so gut es gehen wollte, niederzukämpfen, er stieg über die Fenz und trat mit schwankenden Schritten in das wohlbekannte Haus.

Ein mächtiger Neufundländer stellte sich ihm drohend und die langen spitzen Zähne weisend entgegen und eine fremde Stimme fragte ihn, was er wolle. Er nannte seinen Namen und fragte nach den Seinigen; der Mann warf ihm, statt aller Antwort, die Thüre vor der Nase zu und noch lange hörte er das heisere Bellen des Hundes, das allmählich in ein leiseres Knurren überging und zuletzt mit einem langen Geheul endigte, verursacht vermuthlich durch ein paar Fußtritte seitens des neuen Besitzers der Farm.

Mein Begleiter schwieg hier und als ich ihn fragend aussah, glänzten ihm ein paar große Tropfen im Auge. hell bestrahlt von dem lodernden Feuer, das vor der Thüre unseres Shanty’s knisterte. – Wir saßen lange Zeit schweigend neben einander. Ich frug ihn endlich ob er erfahren, wodurch die Farm in andere Hände gekommen sei?

„Subhastirt,“ sagte er; „vor sechs Jahren.“

„Und Ihre Eltern?“

„Ich weiß es nicht,“ gab er mir zur Antwort. „Ich erfuhr nur, sie seien gleich nach der öffentlichen Versteigerung mit dem Wenigen, was ihnen geblieben, nach dem Westen gezogen. Seit drei Monaten suche ich sie vergeblich. Ich habe keine Mühe, keine Kosten gescheut, um sie aufzufinden; ich bin endlich ihrer Spur bis hierher nach Minnesota gefolgt; ich habe im ganzen Territorium in jeder Land-Office die Register nachschlagen lassen, die über den Ort ihrer Ansiedlung Auskunft geben könnten; es ist nur noch die einzige in Lessueur übrig, an die ich mich morgen wenden will. Wenn auch diese mir keinen Nachweis geben kann so habe ich jede Hoffnung, sie aufzufinden, veloren.“

Die helle Flamme vor der Thür beschien abermals eine Thräne, die langsam über die gebräunte Wange meines Begleiters rann. – Er hatte ein offenes, ehrliches Gesicht, das beim ersten Blick für ihn einnahm. Das Oberhemd von rother Wolle, das sich eng [87] an seinen Körper schmiegte, hob dessen kräftige und wohlgestaltete Formen anmuthig hervor und die nervigen Fäuste, denen man schwere Arbeit wohl ansah, paßten gut zu der kraftvollen und rüstigen Gestalt. – Ich nahm innigen Antheil an seinem Schmerze, sprach ihm Muth zu und sagte ihm, daß ich jedenfalls morgen in Lessueur den Erfolg seiner Nachforschungen abwarten wolle. Er drückte mir schweigend und sichtlich bewegt die Hand.

Wir brachen am andern Morgen schon sehr früh auf. Die Strecke nach Lessueur war ziemlich beträchtlich und es war zweifelhaft, ob wir unterwegs an bewohnten Farmen vorüberkommen würden. Auf meinem Plane fanden sich zwar Städte genug vor, meist mit stolzen und vielversprechenden Namen, wie Toulouse, Florenz, Genua u. s. w., in denen ein in hiesige Verhältnisse Uneingeweihter leicht erwartet haben würde, wenigstens einen Schluck Brandy und einen soliden Imbiß vorzufinden, indessen wußten wir Beide besseren Bescheid. Ich war erst am gestrigen Tage an einer Stadt vorübergelaufen, die San Francisco hieß und aus einem halbverfallenen Blockhause bestand, aus dem drei große Raubvögel krächzend und erschrocken herausflogen, als sie mich gewahrten. Das Land ist hier meist in den Händen von Speculanten, die – das Vorkaufsrecht für sich ausbeutend – große Strecken in Besitz genommen haben und günstige Gelegenheit, wie projectirte Eisenbahnen oder zuströmende Emigration abwarten, um es zu vortheilhaften Preisen losschlagen zu können. Der Weg, den wir zu verfolgen hatten, war auch nicht von der Beschaffenheit, ein schnelles Zuschreiten zu gestatten. Gewöhnlich mit den, an den Hochstämmen des Urwaldes mit ein paar Arthieben von der Vermessungs-Commission angezeigten Sectionslinien zusammenfallend, sind diese Wege nichts weiter, als aus dem Gröbsten durch den Wald gehauene Schneisen. Hier und da überwuchert sie das nachwachsende Unterholz, die Axteinschnitte an den Stämmen vernarben und es ist häufig, wenn man nicht mit einem Compaß versehen ist, geradezu unmöglich, sich zurecht zu finden, namentlich in den dichteren Stellen des Waldes, in die selten oder niemals ein Strahl der Sonne dringt. Wir wußten dies Alles, und deshalb schritten wir so wacker aus, als möglich; unsere Blicke von Zeit zu Zeit nach den Axtmaalen an den Bäumen – der Linie – richtend.

Das tiefe Schweigen des Waldes wurde nur hier und da durch einen Zug wilder Tauben unterbrochen, die prasselnd durch das dichte Laubwerk schwirrten. Mein Begleiter pfiff jedes Mal, gerade wenn der Zug über unsern Köpfen war; die ganze zahllose Taubenschaar flog wie auf ein Commando ein und setzte sich auf die sich unter ihrer Last biegenden und knarrenden Aeste; er schoß in der Regel eine einzelne Taube mit dem Revolver herunter, so das Signal zum plötzlichen Aufbruch für die übrigen gebend. Ich habe dasselbe Verfahren später noch häufig von Indianern gesehen und es selbst oftmals und nie ohne Erfolg angewendet.

„Haben Sie die Linie?“ fragte mein Reisegefährte, als er eben eine blutende Taube aufhob. Ich hatte, gerade so wie er, auf die Tauben, aber nicht auf die Linie geachtet. Wir gingen eine Strecke zurück und spähten vergebens nach angehauenen Stämmen; sie sahen alle glatt und kerngesund aus, keine Spur von einer Axtwunde. Wir mochten wohl eine Stunde vergeblich gesucht haben, als mein Begleiter plötzlich rief:

„Hier ist sie,“ und weiter ging es nach Westen zu, wie wir wenigstens wähnten.

„Gut, daß wir die paar Tauben haben,“ meinte mein Gefährte, „ich wüßte sonst nicht, wo wir etwas zu essen herbekommen sollten.“

Es sah in der That nicht aus, als ob wir unserem Bestimmungsorte sehr nahe waren; Lessueur liegt auf einer Prairie und wir befanden uns recht eigentlich im Hochwalde, von dem es schwer zu sehen war, wo und wann er ein Ende nehmen würde. Ein selbstbereitetes Jägermahl, das mein Gefährte redlich mir mir theilte und während dessen er sein Pferd für sich und uns nach Wasser suchen ließ, stärkte uns zum Weitermarsch, den wir noch immer mit leidlicher Zuversicht antraten. Erst als es dunkel wurde, der Wald noch immer kein Ende nahm und wir die fragliche Linie aller Augenblicke mit den Fingern, statt mit den Augen suchen mußten, fingen wir an, etwas besorgter zu werden. Es ist kein Spaß, im Urwalde unter ganzen Wolken von Musquito’s, die nur der Rauch spärlich vertreibt, das helle Feuer aber geradezu anlockt, bivouakiren zu müssen, und wir waren entschlossen, so lange als nur irgend möglich unsern Weg fortzusetzen, da der Wald doch endlich einmal aufhören müsse. Wirklich wurde er nach einiger Zeit lichter und noch ehe es völlig dunkel geworden war, sahen wir eine weite Wiesenfläche vor uns. Unser erster Blick, als wir das Freie betraten, war dem Himmel zugerichtet; er war bedeckt, vergebens suchten wir nach Mond und Sternen, wir mußten ohne Wegweiser die eingeschlagene Richtung beizubehalten suchen. Die Wanderung fing an, etwas beschwerlich zu werden. Schon kurz nachdem wir die Prairie erreicht hatten, waren wir bis über die Fußknöchel im Wasser gewatet, ohne jedoch darauf sonderlich zu achten, da die Wiesen- in jenen Gegenden oft bis in den Spätsommer hinein naß sind. Jetzt fing aber das Wasser an, uns fast bis an die Knie zu reichen; dazu wurde der Grund unter unseren Füßen immer weicher und nur mühsam konnten wir uns mit jedem Schritte aus dem Schlamme herausarbeiten. Das Pferd meines Begleiters machte uns dabei die meiste Noth; es zitterte heftig an allen Gliedern und gab durch allerlei Zeichen seinen lebhaften Widerwillen gegen unseren gefährlichen Nachtmarsch zu erkennen. Endlich konnten wir es geradezu nicht mehr von der Stelle bringen, es drängte nach der Seite aus, riß unter ein paar gewaltigen Sprüngen, denen mein Begleiter nicht schnell genug folgen konnte, diesem die Zügel aus den Händen und trat keuchend, dampfend und uns das Sumpfwasser in’s Gesicht spritzend mit wilder Eile den Rückweg an, bald in der Dunkelheit unseren Augen entschwindend.

Da standen wir nun mitten in der Nacht, offenbar wenn nicht schon innerhalb, doch mindestens sehr nahe einem jener Sümpfe, die sich dort häufig meilenweit in die wilde Gegend erstrecken, und schon das Grab manches Wanderers geworden sind. Die Musquitos, die uns in ganzen Schaaren umsausten, und die wir buchstäblich zu Hunderten mit den Händen aufgreifen konnten, fielen mit wahrem Heißhunger über uns her, und trieben uns fast zur Verzweiflung; Tausende von hellleuchtenden Käfern summten uns um die Ohren, die ganze Gegend wie mit einem feurigen Regen überschüttend. Dazu die Musik von Legionen von Fröschen, in deren einförmiges Quaken hier und da die mächtige Stimme eines Brüllfrosches, wie der dumpfe Donner eines Positionsgeschützes in das leichte Geknatter eines Plänklerfeuers, einfiel: – es war eine Nacht, wie man sie nur in diesen Wildnissen durchleben kann; eine Nacht, die man nicht leicht vergißt, die vielleicht in der Erinnerung angenehm sein mag, in der Wirklichkeit es aber keineswegs ist.

Da es nicht minder gefährlich schien, rückwärts wie vorwärts zu gehen, so hatten wir nur ein einziges Mittel, uns vor einem Nachtlager mitten in einem Sumpfe, das uns Beide unfehlbar auf’s Fieberbett geworfen hätte, zu bewahren, und das war einfach genug. Ich zog den Revolver und schoß eine Kugel in die Luft, – die Musik um uns her verstummte wie auf ein Zauberwort; eine zweite, dritte. Dann horchten wir athemlos. Nichts. Wir schossen weiter, zwischen je drei Schüssen jedesmal inne haltend und mit gespannter Aufmerksamkeit horchend. Da endlich knallte eine Antwort. Der scharfe kurze Schlag einer Büchse klang in unsere Ohren. Wir begrüßten ihn mit schwer zu schilderndem Jubel, und mein Begleiter ließ einen solchen schrillen und weitschallenden Pfiff durch seine schwieligen Finger, die er alle zehn an den Mund brachte, ertönen, daß die Frösche, die das Schießen schon anfingen gewohnt zu werden, abermals verstummten und erst wieder ihr Concert begannen, als wir den verwünschten Sumpf schon eine geraume Weile im Rücken hatten.

Wir folgten dem alten Manne, der uns aus dem Sumpfe herausgeloots’t und der auch das Pferd meines Begleiters eingefangen hatte, und nach etwa einer halben Stunde beschwerlichen Marsches durch dorniges Unterholz und dichtes Gestrüpp langten wir endlich durchnäßt, müde, hungrig, von Durst gepeinigt, vom Fieberfrost geschüttelt, in seinem ärmlichen Blockhause an. Ein tüchtiges Feuer, woran wir unsere Kleidungsstücke trocknen und unsere Glieder erwärmen konnten, war das Erste, was mir begehrten, und was uns bereitwillig gewährt ward. Dann verlangten wir etwas zu essen – für Geld natürlich; – Gastfreundschaft ist in diesen Gegenden eine Tugend des Luxus, man kennt sie so wenig wie diesen; die Leute sind meistens zu arm, um sie ausüben zu können, und Unglück und hartes Leben hat sie selbst hart gemacht. Der alte Mann entschuldigte sich mit sichtlicher Verlegenheit. Wir würden mit einem armen Nachtessen vorlieb nehmen müssen, meinte [88] er. Seine Frau sei krank und liege zu Bett, und er selbst habe keine Zeit gehabt, Brod zu backen; eine Kuh habe er seit gestern auch nicht mehr und Alles, was er uns geben könne, sei Mehl und Wasser. Das war freilich ein frugales Mahl nach solchem Marsche und wir bedauerten, unsere Tauben bereits unterwegs verzehrt zu haben. Indeß der Hunger macht zuletzt Alles möglich; – er hat mir später das nämliche Mahl elf Wochen lang gewürzt. Glücklicher Weise hatten wir Taback genug, und der Alte nahm mit Vergnügen den dargebotenen Beutel entgegen. Es schien ein lang ersehnter Genuß für ihn zu sein, denn er schmauchte seine kurze Thonpfeife mit offenbarem Behagen.

„Der mag auch mit dem Elend vertraut sein,“ dachte ich bei mir, als ich die gebeugte Gestalt, das magere Gesicht, die durchfurchte Stirn des alten Mannes betrachtete. Und doch hatte er bessere Tage gesehen. Er meinte, er sei nur erst ein paar Jahre hier, aber da er nur mit wenig Mitteln hergekommen sei und er das Geld zur Bezahlung seines „Claim’s“ in der Land-Office zu hohen Zinsen habe borgen müssen, so sei es immer rückwärts mit seiner Wirthschaft gegangen. Er habe schon vor einem Jahre die zweite Hypothek auf sein Grundstück aufgenommen, und sein Gläubiger – ein irischer Advocat – habe nur erst vor wenig Tagen gedroht, ihm die Farm wegzunehmen, wenn er nicht bezahle. Die Kuh habe er ihm bereits genommen, ohne sich um seine kranke Frau zu kümmern, der der Genuß der Milch gerade jetzt fast unentbehrlich sei.

„Elend und nichts als Elend,“ dachte ich. „Arme, geplagte Menschheit, wann wird deine Erlösungsstunde schlagen!“

Der Alte übertrieb nicht; ich sollte bald noch ganz andere Dinge zu sehen bekommen.

Mein Begleiter war nachdenklich geworden. Die Gesprächigkeit des alten Mannes ließ auch nach, und es ward bald so still in dem einsamen Blockhaus, daß wir deutlich die Athemzüge der alten Frau vernehmen konnten, die in einem mit rohen Bretern abgetheilten Raum des Hauses schlief. – Wir fühlten uns nach kurzer Zeit versucht, ihrem Beispiele zu folgen, streckten uns, in ein paar leichte wollene Decken gewickelt, auf das Lager nieder, das der Alte aus Stroh und Blättern für uns bereitet hatte, und waren bald genug fest eingeschlafen.

Ein lautes Klopfen an der Thür weckte uns erst ziemlich spät am andern Morgen.

„George Parker, George Parker! Aufgemacht!“ hörte ich draußen rufen. Ich rieb mir noch den Schlaf aus den Augen, als mein Begleiter schon aufgesprungen war. Er sah sehr blaß aus und zitterte heftig, große Schweißtropfen perlten ihm von der Stirn.

Der alte Mann öffnete die Thür, und ließ die Männer herein, die uns aus dem Schlafe gepocht hatten, und deren Pferde draußen angebunden waren. Der eine, eine kleine, dürre Gestalt mit gemeinen, abstoßenden Gesichtszügen, war der Gläubiger, von dem der Alte uns gestern erzählt hatte. Er entfaltete ein Papier, und las dessen Inhalt dem alten Manne mit näselnder Stimme und unverkennbar irischem Accente vor. – Die Farm so und so, im Township 112, Range 16, im County Lessueur, Minnesota Territory gelegen, sollte, wie es hieß, am nächsten Mittag öffentlich an den Meistbietenden versteigert werden.

Der alte Mann hatte schweigend zugehört, dann und wann einen Blick nach dem Krankenbette seiner Frau werfend. Als jener mit Lesen zu Ende war, setzte er sich nieder und verhüllte sein gramvolles Gesicht mit beiden Händen.

„Guten Morgen, meine Herren,“ sagte der dürre Mann mit der näselnden Stimme, sich mit seinem Begleiter zum Weiterreiten anschickend.

„Halt!“ rief plötzlich mein Reisegefährte, auf den kleinen Mann zuschreitend, und seine mächtige Hand unsanft auf dessen Schulter legend, „wie viel beträgt die Schuld?“

„Sir?„

„Wie viel die Schuld beträgt, will ich wissen!“

„350 Thaler, Ihnen zu dienen!“ war die Antwort.

„Da sind sie!“

Eine Handvoll achteckiger californischer Funfzigthalerstücke flog mit hellem Klange auf den Tisch.

„Ihr seid der Gläubiger, quittirt den Empfang, gebt die Schuldverschreibung heraus, macht die Subhastation rückgängig; ich werde dafür bezahlen!“

Der alte Mann entblößte das Gesicht. Ich sah zum ersten Male die Frau aus der Kammerthür treten; sie sah sehr bleich aus und ihre Lippen bewegten sich zitternd; ihre Blicke waren gespannt auf die Züge meines Reisegefährten gerichtet.

Das Geschäft war bald zu Ende. Der kleine Mann, der einen solchen Ausgang gewiß am wenigsten erwartet haben mochte, und der anfangs ziemlich verdutzt aussah, kam durch den Anblick des Goldes schnell genug wieder zur Besinnung, Er zählte die Stücke, prüfte sie, schob mit einigem Widerstreben ein paar derselben zurück, die über den Betrag liefen, steckte die andern sieben in seine Tasche, und händigte dem jungen Manne die Schulddocumente mit sammt der verlangten Quittung aus.

„Was verlangt Ihr für die Kuh, die Ihr der kranken Frau weggenommen habt?“ fragte mein Reisefährte weiter, nur mit Mühe seine Aufregung verbergend.

„Die ist in meinem Stalle,“ sagte der andere der beiden Männer; „für 50 Thaler könnt Ihr sie jeden Augenblick haben.“

„Bringt sie her, ich kaufe sie,“ war die Antwort. „Und jetzt macht, daß Ihr fortkommt, oder bei Gott“ – er wies nach der Thüre mit so unzweideutiger Gebehrde, daß die beiden Morgengäste schleunig und ohne Widerrede den Rückzug antraten.

Was weiter geschah? – Ich sah die alte Frau hastig auf meinen Begleiter zuschreiten, dem große Thränen über das braune Gesicht liefen. Sie sah ihn ein paar Augenblicke mit unbeschreiblicher Spannung an, sie streifte dann mit den welken, zitternden Händen das rothe Hemd von seinem linken Arme; – dann fiel sie ihm laut schluchzend um den Hals: „Mein Kind, mein liebes, liebes Kind!“

Das Mutterauge war schärfer gewesen; der alte Mann erkannte erst jetzt seinen Sohn und lange, lange lagen sich die Drei still weinend in den Armen.

Das elende Blockhaus war zum heiligen Tempel der Freude geworden, in dem drei glückliche Menschen weilten.



Ich ging am andern Morgen allein nach Lessueur, da es für meinen Gefährten jetzt dort nichts mehr zu thun gab. Nach einer langen und beschwerlichen Wanderung machte ich die Farm ausfindig, die ich zu suchen hatte, aber meinen Bruder fand ich nicht mehr. Er sei seit einigen Wochen abgereist, hieß es; wohin, konnte ich nicht erfahren. Es fehlte mir damals an Mitteln, seine Spur aufzusuchen, und ein Aufruf in den öffentlichen Blättern des Territoriums, das einzige, was ich zur Zeit thun konnte, blieb ohne Erfolg. Einige Monate später erst, als ich das erworbene Land bereits wieder verkauft hatte, und mich auf dem Rückwege nach Osten befand, las ich in dem Fremdenbuche eines Gasthofes am Minnesota seinen Namen. – „Am 16. Juni nach Fort Snelling gereist“ – hatte der Wirth dazu geschrieben. Im Fort selbst war nur noch eine Invalidenbesatzung anwesend; die Garnison – mein Bruder mit ihr – war schon Ende Juni aufgebrochen und durch Kansas nach dem fernen Utah gegen die aufständischen Mormonen marschirt. –

Ich wußte jetzt, warum ich so seltsam ergriffen war, als ich an jenem heißen Junitage mit dem Dampfboot, an Fort Snelling vorüber, den Minnesotafluß hinauffuhr, und die hohen Wälle des Forts im Nebel hinter mir verschwanden.

v. Gstz.

Illustrirtes Jagdprachtwerk.
Soeben erschien bei Ernst Keil in Leipzig und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Eine Gemsjagd in Tyrol
von Friedrich Gerstäcker.
Mit 34 Illustrationen in Holzschnitt und 12 Lithographien nach Originalzeichnungen von C. Trost.
Gr. 8. eleg. broch. 3 Thlr. 10 Ngr. – eleg. geb. in englische Preßdecken mit Goldschnitt 4 Thlr. 5 Ngr.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Gewehre: Hauer, Zähne.
  2. stecken: wenn man im Winter durch Abspüren sich überzeugt hat, daß irgend ein Wild in einem Dickicht oder sonstigen Schlupfwinkel sich verborgen hält.
  3. Stellen: wenn der Hund das betreffende Wild veranlaßt, ihm Stand zu halten, was er durch unaufhörliches Bellen zu erkennen gibt.
  4. Schweißfährte: Blutspur.
  5. Gebräche: der Rüssel, überhaupt das ganze Maul.
  6. Gescheide: die Gedärme.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: errreichen
  2. Vorlage: Hauthüre
  3. Vorlage: bieb