Die Gartenlaube (1860)/Heft 1
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No. 1. | 1860. |
- Vorwärts.
Jeder lebt sein eig’nes Leben,
Jedem schlägt sein eigen Herz;
Wie die Stunden drin es weben,
Wird es seine Lust, sein Schmerz.
Vorwärts! Vorwärts! Es bestehet
Nur was in sich selbst bewährt.
Was im Leben untergehet,
Ist des Lebens nicht mehr werth.
Vorwärts! Vorwärts! Denn verloren
Ist die Thräne, die ihm fällt:
Alles, was aus Gott geboren,
Ueberwindet auch die Welt.
Frisch an’s Werk und reg’ die Hände,
Schaffe rüstig für und für;
Wahrlich! Wahrlich! und am Ende
Liegt die Welt zu Füßen Dir.
„Gib mein’ lieben Mutterl und allen christglaubigen Seelen die ewige Ruh’, und das ewige Licht leuchte ihnen – Herr, laß sie ruhen im Frieden – Amen!“ so schloß ein hübsches, aber sehr bleich aussehendes Bauermädchen sein Nachtgebet, indem sie Stirne, Mund und Brust andächtig mit dem Kreuze bezeichnete. Gleichzeitig erhob sie sich, schob den hölzernen Stuhl, vor dem sie gekniet hatte, bei Seite, setzte den Wachsstock auf den nebenan stehenden Schrank und wollte eben das alte Gebetbuch schließen. Da fielen die Blätter etwas über, und zwischen den großbedruckten gebräunten Seiten wurde ein dürres Kleeblatt sichtbar.
Das Mädchen hielt einen Augenblick inne und betrachtete das Blatt, während über ihr vom kleinen Wachslicht schwach beleuchtetes Gesicht etwas gleich einer wehmüthigen Bewegung glitt. „Was thust Du noch da?“ fragte sie halblaut vor sich hin. „Hab’ gemeint, der Wind hätt’ Dich schon lang mitgenommen und verweht, wie dieselbe Zeit, wo Du grün gewesen bist! – Flieg ihr nach nun … Du gehörst nicht recht herein mehr unter die frommen Sprüche und Gebeter …“ Damit blies sie das Wachslicht aus, trat an das kleine niedrige Fenster und ließ das Kleeblatt in die Sommernacht hinaus fallen, die schwarz und lautlos über der Gegend lag.
Eine geraume Zeit starrte sie in das Dunkel hinaus, und ließ sich die Nachtluft um Stirne und Hals wehen. Sie kam kühl aus den Tiefen herauf, vom Moore her, das unten sich so schwarz hinstreckte, daß es trotz der Nacht zu erkennen war. Drüber hinaus stiegen Hügelreihen auf, mit finsteren Tannenwäldern und hie und da einem Gehöfte besetzt, dessen weiße Wände weithin leuchteten. Nirgends aber war eine Spur von Leben wahrzunehmen, und wenn manchmal ein Laut hörbar wurde, war es das Rauschen vom fernen Mühldamme, das manchmal ein Windstoß herüber trug. „Es ist doch recht einsam da heroben in der Einöde,“ flüsterte Rosel „und man könnt’ sich fast fürchten … Aber ich will machen, daß ich auch in’s Bett komme, es muß bald Mitternacht sein …“ Leise schloß sie das Fenster und trat an’s Bett, um sich niederzulegen, hielt aber plötzlich inne.
„Ich bin doch ein dummes, fürchtiges Ding,“ lachte sie dann halblaut vor sich hin, „jetzt wäre es mir in meiner Einbildung fast vorgekommen, als wenn ich was hätte krachen hören im Hause …“
Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich das wahrgenommene Geräusch wieder hören ließ und zwar so bestimmt, daß von einer Einbildung oder Täuschung nicht mehr die Rede sein konnte. Deutlich vernahm man das Krachen von Holzpfosten, dazwischen schwere dumpfauffallende Schläge, verworrenes Geräusch roher Männerstimmen, mitunter auch den kreischenden Hülferuf einer Weiberstimme.
„Heilige Mutter von Oetting,“ schrie Rosel entsetzt, „das ist die Stimm’ von der alten Bäurin … da gibt’s ein Unglück! Das sind Schelmenleut’, die im Hof’ eingebrochen sind.“
Halb entkleidet wie sie war, sprang sie zur Kammerthüre hin, riß sie auf und taumelte betroffen zurück, denn vom Hausgange her und die Treppe herauf loderte ihr die Helle von Kienfackeln entgegen. Beim Scheine derselben sah sie einen großen Mann in bäurischer Kleidung stehen, der in der einen Hand die Fackel empor hielt, mit der andern sich auf eine große Holzaxt stützte. Er schien als Wache an die Stiege gestellt zu sein, und wie er, durch das Knarren der Thüre aufmerksam gemacht, das heraustretende Mädchen bemerkte, sprang er mit hochgeschwungenem Beile auf sie zu.
„Rühr’ Dich nicht, oder Du bist hin,“ rief er ihr zu, und Rosel gehorchte wider Willen, denn vor Schrecken war ihr die [2] Zunge wie gelähmt und ihre Kniee knickten zusammen, daß sie, um nicht ganz umzusinken, sich am Thürgerüst anklammern mußte.
Die Schwäche dauerte aber nur einen Augenblick; ebenso schnell als Rosel von dem Eindrucke überwältigt worden war, durchzuckte und richtete sie der Gedanke wieder auf, daß sie sich zusammennehmen und einen Entschluß fassen müsse. Vom Erdgeschosse herauf erscholl fortwährend das drohende Durcheinanderrufen wüster Stimmen, immer seltener von den Klagelauten des Bauers und der Bäuerin unterbrochen, die also schon überwältigt sein mußten. Sie begriff rasch, daß ein Angriff oder Vertheidigungs-Versuch von ihr ganz erfolglos sein und nur mit ihrer eigenen Verwundung oder Tödtung enden würde; sie dachte daher auswärtige Hülfe herbeizurufen. Das Brandl-Gut lag zwar als Einöde auf dem Hügel, und das nächstgelegene Haus war mindestens eine halbe Viertelstunde entfernt; aber wenn es nur gelang, ein Nothzeichen zu geben, so war dieses vielleicht im Stande noch rechtzeitig Hülfe herbeizurufen, oder es konnte doch die Räuber erschrecken und verscheuchen. Eine qualvolle Minute verging unter vergeblichem Brüten, während dessen Rosel und der Wache haltende Mann einander laut- und regungslos gegenüber standen.
Jetzt fiel Rosel das Glöcklein ein, das auf allen Bauerhäusern in der Gegend in einem kleinen Thürmchen angebracht ist, um die weit im Felde zerstreuten Arbeiter zum Essen herbeizurufen. Wenn es ihr gelänge die Glocke zu läuten, so war es möglich, daß die Nachbarn das bei Nacht ganz ungewöhnliche Geläut hören und herbeikommen würden! Aber um zu dem Orte zu kommen, wo das Zugseil herabhing, mußte sie an der Stiege und dem dort stehenden Mann vorüber, und es war gewiß, daß er bei der ersten bedenklichen Bewegung sie zu Boden schlagen werde.
Unter den Wimpern hervorlauernd betrachtete sie ihn jetzt genauer, und es entging ihr nicht, daß er sie nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit beobachtete, sondern zum Theil nach dem hinhorchte, was unten an der Treppe im Erdgeschosse vorging. „Da unten wären wir fertig,“ rief eine grobe Stimme herauf, der man es anhörte, daß sie der Verstellung wegen gewaltsam hinabgedrückt war. „Jetzt wollen wir droben das Nest ausleeren. Wie steht’s droben?“
„Ganz gut,“ erwiderte der Wächter ebenfalls mit verstellter Stimme, das rußgeschwärzte Gesicht nach der Stiege richtend. „Es ist kein Mensch da, als die Dirn’, und die rührt sich nicht!“
Rosel fühlte, daß der entscheidende Augenblick gekommen sei; was geschehen sollte, mußte geschehen, eine Secunde später war es unmöglich und unnütz. „Heilige Mutter von Oetting, steh’ mir bei,“ murmelte sie fieberhaft zitternd vor sich hin, dann raffte sie sich gewaltsam auf und stürzte sich mit ihrer ganzen Kraft auf den nichts befürchtenden Räuber. Mit einer geschickten Bewegung unterlief sie ihn, daß er das Gleichgewicht verlor und unter Poltern und Fluchen rücklings die Stiege hinabstürzte. Im Fluge war sie den Hausgang entlang geeilt und hatte die Thüre entriegelt, die auf die offne Gallerie führt, die nach dortiger Sitte an keinem Hause fehlt. Dort, in der Ecke gegen den angebauten Stadel zu, hing das Zugseil des Glöckchens.
Jetzt stand sie keuchend an der wohlbekannten Stelle, aber – das Seil war nicht zu sehen. Es war abgeschnitten, ganz oben in unerreichbarer Höhe hing der Rest des Stricks; es war also offenbar, daß Jemand von den Hausgenossen selbst um den Raubanfall wußte und deßhalb im Voraus die Möglichkeit beseitigen wollte, fremde Hülfe herbeizurufen.
Rosel hatte sich bis dahin gewaltsam aufrecht erhalten – jetzt drohten ihr die Sinne zu schwinden, es ward ihr dunkel vor den Augen und sie griff krampfig nach dem Geländer, um nicht zusammenzusinken. Es brauste ihr vor den Ohren und wie durch das Geräusch von fallendem Wasser hörte sie das Rufen des Räubers, der sich wieder aufgemacht hatte und nun mit Mehrern an der Thüre zur Gallerie arbeitete und rüttelte. Schon krachten und brachen die Breter … im nächsten Augenblick war sie von den Räubern erreicht …
In den Knieen liegend blickte Rosel mit der sinnlosen ängstlichen Hast der Verzweiflung um sich. Sie erblickte nichts als vor sich das Geländer und seitwärts in der Ecke den Vorsprung des Scheunendachs mit der in ein aufgesperrtes Drachenmaul auslaufenden Dachrinne … „Liebs Mutterl,“ flüsterte sie halb bewußtlos, „hilf Du Deiner Rosel … zeig Du mir einen Ausweg …“
Nochmal blickte sie um sich, nochmal blieb ihr Auge an dem Dachvorsprunge der Scheune haften … „Wenn ich mich an die Rinne anhangen und auf’s Dach hinaufschwingen könnte," dachte sie, aber sie konnte den Gedanken nicht weiter erwägen, denn eben fiel die Thüre zertrümmert auf die Gallerie.
Die Räuber stürzten hinaus, voran ein starker, breitschultriger Mann mit einem gewaltigen rothen Bart, der fast das ganze Gesicht verdeckte und kaum erkennen ließ, daß es mit einer schwarzen Maske bedeckt war. „Hab’ ich Dich, Bestie?“ schrie der Mann und sprang auf Rosel zu.
Diese hatte im Moment, als sie die Thüre fallen hörte, sich halb besinnungslos aus das Geländer geschwungen. Fest hatte sie mit beiden Händen die Dachrinne erfaßt und war eben im Begriff sich auf das Scheunendach zu schwingen, als sie sich von starken Armen gepackt und zurückgerissen fühlte.
Ohne einen Laut von sich zu geben, faßte nun auch Rosel den Räuber und rang mit ihm, auf dem Geländer stehend. Ein Fehltritt hätte sie hinabgestürzt und ihr den Tod gebracht. Keuchend suchte der Angreifer sich von ihr los zu machen, aber umsonst.
„Zum Teufel,“ rief er dem Genossen zu. „was stehst Du da und reißest das Maul auf! Gib der Dirne Eines auf den Kopf, daß ihr das Drosseln vergeht …“
Der Gescholtene hob die Axt zum wuchtigen Streich, aber ehe sie niederfiel, hatte Rosel sich rasch ihren Vortheil ersehen, machte sich die Hände frei, und indem sie mit äußerster Anstrengung wieder die Rinne ergriff, stieß sie den Räuber mit dem Fuße gewaltsam mitten in’s Gesicht.
Schreiend taumelte er einen Augenblick zurück, aber es war genug ihm sein Opfer zu entreißen. Mit der Kraft der Verzweiflung hatte Rosel sich aus das Dach geschwungen, und ohne sie erreichen zu können, mußte er zusehen, wie sie sich vollends auf demselben erhob und dem Glockenthürmchen zukletterte.
„Das ist Dir nicht geschenkt, Bestie,“ rief er ihr nach, „wir treffen schon noch einmal zusammen … Aber jetzt macht, daß wir weiter kommen,“ fuhr er zu den Genossen gewendet fort. „Wenn die droben zu lauten anfängt, könnten sie leicht kommen und uns die gute Beute abjagen!“
Hastig ward der Befehl vollzogen. Nach wenigen Secunden huschten die Räuber aus dem Hause über den Hofraum weg nach dem nahen Walde zu. Im Hause selbst war es todtenstill, vom Dache aber wimmerte und heulte die Glocke, wie eine jammernde und klagende Stimme. Schon begann im Osten der erste graue Streifen zu dämmern; auf den entlegenen Gehöften der Flurnachbarn begann es schon sich hier und da zu regen, und so wurde das Nothzeichen bald gehört. Ehe eine halbe Stunde verging, strömten von allen Seiten die Männer und Bursche mit allerlei Waffen herbei. Sie fanden die Thüren des Hauses und Kisten und Kasten in ihm erbrochen, durchwühlt und ausgeleert. Der Bauer und die Bäuerin lagen gebunden und geknebelt in ihrer Schlafstube am Boden; Rosel mußte mit einer Leiter vom Dache herabgeholt werden.
„Das ist wieder kein Anderer gewesen,“ sagten die Bauern zu einander, als ihnen das Vorgegangene erzählt und die Person des Anführers geschildert wurde. „Das ist niemand gewesen, als der rothe Hannickel mit seiner Bande! Das ist nun der vierte Raub und Einbruch seit einem Vierteljahr, und drinnen auf dem Erdinger Landgericht schreiben sie einen Act um den andern zusammen und bringen doch nicht heraus, wo der rothe Hannickel steckt und wer es ist.“
Kopfschüttelnd, in schwerer Besorgniß um die Sicherheit ihres eigenen Hab’ und Guts gingen sie dann auseinander; Einer ward abgesendet, um beim Landgericht die Anzeige zu machen, und einige blieben als Wache in dem geplünderten Hause. Die Bewohner waren zu angegriffen und erschöpft, um für sich sorgen oder irgend eine Vorkehrung treffen zu können.
Rosel war wieder in ihre Kammer gegangen und kniete in der aufflammenden Morgenröthe am Bette nieder zum Gebete. „Das hab’ ich Dir zu verdanken, mein’ guts Mutterl,“ sagte sie heiß und innig. „Du hast mir den Gedanken eingegeben und die Kraft dazu!“
Als sie ihre Andacht vollendet hatte, legte sie sich noch auf ein paar kurze Morgenstunden zur Ruhe nieder, aber es dauerte lange, bis sie einzuschlafen vermochte. Die so neuen und furchtbaren Erlebnisse hallten noch lang in ihrer Seele nach, noch lang sah sie den Räuberhauptmann mit der schwarzen Larve und dem [3] rothen Barte vor sich, und als ob sie diese Stimme schon anderswo gehört hätte, klangen ihr immerwährend, selbst durch Schlaf und Traum dessen letzte Worte nach … „wir treffen schon noch einmal zusammen!“
Der dunklen Nacht war ein blauer sonnenheller Himmel gefolgt. Die ganze Gegend schimmerte und flimmerte im reichlich ausgesprengten Thau, die fernen Tannenwälder hoben ihre dunkelgrünen Häupter bestimmt und scharf in die klare Morgenluft empor, ein angenehmer Ostwind schüttelte überall den Duft von frisch gemähtem Heu von den Flügeln, die Lerchen wirbelten hoch in der Luft – es war als ob die Natur sich ebenfalls angeschickt hätte, den Sonntag der Menschen festlich zu begehen.
Von nah und fern, schwächer und deutlicher scholl Glockengeläut’ von den Kirchthürmen, die über die ganze Gegend hin zerstreut sich emporstreckten, um anzuzeigen, daß unter den Bäumen um sie herum sich eine Handvoll genügsamer Menschen zusammen gefunden und den eignen Heerd gebaut hatte. Es war um die Zeit, zu welcher überall der Frühgottesdienst gehalten wurde, und von allen Seiten, nach allen Richtungen hin, einzeln und in Gruppen gingen die Bewohner der kleinern Ortschaften, die keine Kirche hatten, und der Einzelgüter an den Rainen und Abhängen, zwischen Stoppelfeldern und noch üppig schwankenden Getreidefeldern hin, in den Gotteshäusern für das Gedeihen der vergangenen Arbeitswoche zu danken und den Segen zu erbitten für die kommende.
Auch auf dem Huberhofe schickten sich die zahlreichen Knechte und Mägde zu dem frommen Gange und verließen nach und nach im höchsten Sonntagsstaat das Haus. Die Bäuerin wollte ebenfalls fort; aber der Bauer und ein paar Knechte mußten ausnahmsweise zu Hause bleiben, denn der in der Nacht vorgefallene Raub mahnte zu besonderer Vorsicht. Es war hie und da schon vorgekommen, daß die Räuber zu ihren Einbrüchen gerade die Stunden gewählt hatten, wo sie die Höfe wegen des Kirchenbesuchs von den meisten und kräftigsten Bewohnern entblößt wußten.
Der Huberhof lag ganz allein, eingeschlossen von zusammengehörigen Aeckern, Wiesen und Waldung, auf einer schönen, sanft ansteigenden Anhöhe. Das stattliche mehrstöckige Haus mit seinen blanken weißen Wänden, den vielen hellen Fenstern und den freundlichen grünen Läden war stundenweit sichtbar. Seine Pracht und die zahlreichen Nebengebäude verriethen die Wohlhabenheit des Besitzers, und Mancher, der am Fuße des Hügels auf der Landstraße durch das breite trübselige Moor dahinschritt, mochte einen Augenblick stille halten und den Glücklichen beneiden, dem ein solches Eigenthum geworden.
Gegenüber, jenseits des Moors, stieg eine ähnliche Hügelreihe empor. Auf ihr, fast eingeschlossen von einem kleinen Tannengehölz, lag das in der vergangenen Nacht beraubte Brandlgut.
Auf der Bank vor dem Huberhofe saß dessen Besitzer; er hatte die Hände über den etwas hinaufgezogenen Knieen zusammengelegt und blickte in den blitzenden Morgen und die leuchtende Landschaft hinaus. Sein Blick war aber nicht der des freudigen Naturfreundes oder des frohen Besitzers, der sich an dem Erreichten erfreut – sein Blick war starr und glanzlos und streifte an den gedankenlosen Ausdruck des Blödsinns. Die Züge des Gesichts waren abgespannt und schlaff und bildeten einen abstechenden Gegensatz zu der Kraft, die sich in dem ganzen gedrungenen Körperbau des Mannes ausprägte.
Unfern des Bauers, um ihn völlig unbekümmert, lehnte an einer Zaunbrüstung ein junger Mensch in bäuerlicher Sonntagstracht, eine schlanke, fast fein gebaute Gestalt mit einem hübschen ausdrucksvollen Gesichte, dem nur der etwas unstäte Blick Eintrag that. Auch die Blässe desselben war störend, weil sie nicht zu dem ganzen Aussehen der Gestalt paßte und unwillkürlich den Gedanken an das wüste Leben hervorrief, dem sie ihre Entstehung dankte. Auch der Bursche sah starr vor sich in die Gegend hinaus, aber auch er sah nichts von der Schönheit des Morgens und der Gegend; wilde leidenschaftliche Gedanken gingen in ihm hin und wieder, und wenn sein Auge an irgend einem Gegenstande mit dem Ausdrucke des Bewußtseins haften blieb, war es das einzelne einsame Brandlgut gegenüber
Das Geräusch eines auf der Landstraße daherrollenden Wagens störte Beide aus ihrem Brüten auf.
Es war eine einfache Landkutsche, in welcher ein Herr in Uniform mit einem zweiten unscheinbar aussehenden Menschen saß. Es war der vom Landgerichte abgeordnete Assessor nebst Schreiber, die wegen des in der Nacht verübten Raubes den Augenschein vorzunehmen hatten. Der zu Pferde nachtrabende Gerichtsdiener machte die Commission vollzählig.
Der Bauer hatte eine Secunde lang aufgeschaut, sank aber sogleich in seine vorige theilnahmlose Stellung zurück. Der Bursche dagegen richtete sich hoch auf, – wie krampfig, als wollte er etwas zur Abwehr ergreifen, faßte er nach einem der Zaunpfähle und blickte fest auf den heranrollenden Wagen.
Jetzt war derselbe an dem Feldsträßchen angekommen, das von der Hauptstraße nach dem Huberhofe abzweigte. Der Beamte wechselte ein paar Worte mit dem begleitenden Reiter, worauf der Wagen in den Seitenweg ablenkte. „Sie kommen zu uns,“ murmelte der Bursche vor sich hin, „das hat was zu bedeuten!“ Rasch wendete er sich und schritt dem Hause zu, vor welchem er gleichzeitig mit der Kutsche anlangte.
Der Bauer hatte seine Mütze gezogen und stand nun mit gekrümmtem Rücken und blöd lächelnder Miene am Wagenschlage. „Ein’ schön gut’n Morgen, Gnaden Herr Assessor,“ sagte er, „das ist ja eine ganz seltsame Ehr’, daß Sie auf den Huberhof kommen.“
„Ich komme auch nicht zu Euch Huber, das wißt Ihr wohl,“ erwiderte der Beamte, „aber weil der Weg so hart bei Euch vorbeiführt, und weil Ihr doch dem Brandlgut so recht gegenüber liegt, wollte ich doch vorerst fragen, ob Ihr mir nichts erzählen könntet von der unglückseligen Geschichte.“
„Nein, Ihr Gnaden,“ antwortete der Bauer mit stumpfsinnigem Lachen. „Um solche Sachen kümmert sich der Huber nicht. Der Huber weiß von gar nichts.“
„Das glauben wir ihm auf’s Wort,“ sagte der Beamte halblaut gegen den Gerichtsdiener. „Das ist ein wahres Prachtexemplar von Beschränktheit! Der Himmel mag wissen, wie dieser Dummkopf zu einem solchen Weibe gekommen ist!“
Der Schreiber nickte mit grinsendem Lächeln; der Gerichtsdiener aber, eine martialische Figur mit fast ganz kahlem Kopfe und einem riesigen Schnurrbart im rothen Gesicht, stieß einen grunzenden Ton aus, der als Lachen gelten sollte. Dabei riß er den Hut vom Kopfe und machte vom Pferde herab eine so zierliche Verbeugung, als er sie noch aus der Zeit im Gedächtniß hatte, da er Chevauxlegers-Wachtmeister gewesen war.
Der Gruß galt der Huberbäuerin, die, von dem Knechte herbeigerufen, eben im vollsten Putz aus der Thüre trat. Es war ein schönes stattliches Weib von etwas ungewöhnlich großem Körperbau, aber mit einem Gesichte, so weiß und rosig, wie das der feinsten Städterin. Die bestimmten ausdrucksvollen Züge, die großen dunklen Augen und das reiche pechschwarze Haar machten es wohl erklärlich, daß sie in der ganzen Gegend nicht anders hieß, als die schöne Huberin. Daß sie diesen Namen verdiente, zeigte sich am Besten darin, daß nicht einmal die hohe unkleidsame Pelzmütze, die sie nach der Sitte der Gegend trug, die Anmuth ihrer Erscheinung zu schwächen vermochte. Nur die schmalen, etwas eingekniffenen Lippen gaben ihr, wenn sie nicht eben lächelte, einen schlimmen keifenden Zug. Das war aber selten, denn sie lachte gern, entweder weil sie das wußte, oder weil dadurch eine weitere Schönheit sichtbar wurde, – ihre blendend weißen Zähne.
„Nun, Huberin,“ redete sie der Beamte an, „könnt auch Ihr mir nichts erzählen, was uns auf die Spur des Gesindels führen könnte?“
„Wenn ich das könnt’, Ihr’ Gnaden,“ erwiderte sie, indem sie lächelnd an den Wagen trat und die Hand zum Gruße hineinbot, „dann hätt’ ich nicht auf die Frag’ gewartet. Es liegt wohl Niemand mehr daran, daß die Schelmenleute aufkommen, als mir! Wer steht mir dafür, daß der rothe Hannickel nicht in der nächsten Nacht über mein Haus kommt und mich zur Bettlerin macht!"
„Es ist unbegreiflich,“ sagte der Beamte kopfschüttelnd und ernst. „So zu verschwinden, als wenn sie von der Erde eingeschluckt würden!“
„Sie machen’s gar schlau,“ erwiderte die Bäuerin. „Man sieht und hört nichts, und wenn man noch so nahe dabei ist. Ich war diese Nacht mit all’ meinen Leuten keinen Schuß weit vom Brandl weg, und Niemand hat was gemerkt oder gehört, bis das Läuten anging.“
„Wie war das möglich?“ fragte der Assessor. „ Erzählt doch.“
[4] „Sehn Sie dort drüben am Fuße des Gehänges, auf dem das Brandlgut liegt, die große Ackerbreiten? Die ist mein, ich hab’ dort Weizen stehen gehabt, der war geschnitten und lag zum Einführen da. Weil’s nun gestern Abend so aussah, als bekämen wir bald nasses Wetter, hab’ ich meinen Leuten ein Fässel Bier für die Extra-Arbeit versprochen, und so sind wir noch Nachts Alle hinüber und haben den Weizen hereingebracht, Gott sei’s gedankt, trocken und schön, daß es eine Freude ist. Wie wir den ersten Wagen vollgeladen hatten, sind ich und der Hans damit heimgefahren, wie wir aber gegen den Hügel kamen, wo’s aus dem Moor herausgeht, da haben wir’s in der Finsterniß versehen, der Wagen ist umgefallen und wir mußten mit den Pferden zurück, um Leute und einen andern Wagen zu holen. Bis wir das halbe Stündel zurückkamen, ging gerade das Läuten los beim Brandl, und meine Leute sind unter den Ersten gewesen, die gerade recht gekommen sind, die Thür zuzumachen, wie die Kuh aus dem Stall’ war.“
Der Beamte schwieg nachsinnend; der Gerichtsdiener aber drehte die Spitzen seines Schnurrbartes steif hinauf und grunzte wieder wie zuvor. „Das ist wahr,“ sagte er dann. „Ich bin gerade heimgeritten vom Dorfner Jahrmarkt, und dachte Wunder schon, was ich für einen Fang gemacht hätte, als ich sah und hörte, daß sich unten im Straßengraben ’was rühre. Da war’s die Frau Hubern mit ihrem Knecht, die sich vergebens abplagten, den umgestürzten Getreidewagen wieder in die Höhe zu bringen. Bin auch abgestiegen und habe mitgeholfen, aber unser Einer versteht das nicht.“
„Sonderbar! Sehr sonderbar!“ meinte der Assessor, immer nachdenklicher. „Es müssen Leute von großer Schlauheit sein oder sie stecken an einem Orte, wo es Niemand einfällt, sie zu suchen! Aber immerhin, auch diese Bösewichter wird die Hand der Gerechtigkeit noch ereilen: es ist nichts so fein gesponnen, es kommt an die Sonnen!“
Damit grüßte er und befahl, weiter zu fahren. Die Bäuerin grüßte entgegen und blieb nachblickend stehen, bis der Wagen mit seiner Begleitung hinter der nächsten Heckenreihe verschwunden war. Ueber dieselbe hinüber hob sich der rothe Gerichtsdiener noch einmal aus dem Sattel empor und grüßte und grunzte zurück so freundlich, als er es zu Stande brachte.
Schon bei der letzten Rede des Beamten war über das schöne Gesicht der Huberin eine Bewegung geflogen, die ihm einen stark höhnischen Ausdruck gab. Dieser wuchs noch, als Alles verschwunden war und sie im Umwenden dem stumpfen Lächeln ihres Mannes begegnete, der wieder brütend und hinstarrend wie zuvor auf der Bank saß. Rasch aber glitt ihr Blick auf den Knecht, der in der Thüre hinter ihm stand; er war noch bleicher als zuvor, bis in die Lippen hinein, und mußte sich, wie vom Schwindel befallen, am Thürgerüst anhalten.
Im Begriffe, in’s Haus zu treten, wendete sie sich nochmals um und rief ihrem Manne zu: „Es ist mir nun schon zu spät, um noch in die Kirche zu gehen! Ich will nach der Küche sehen, und Du kannst immer allein Dich auf den Weg machen …“
„Mag nicht allein“, sagte der Bauer, ohne sich von der Stelle zu regen und nach der Seite hin knurrend. „Will auch daheim bleiben.“
„Nein, Eines von uns muß in der Kirche sein,“ erwiderte die Bäuerin gebieterisch „Es ist der Leute wegen. Also zieh’ Deinen Rock an, nimm Deinen Hut und mach’ daß Du fort kommst.“
Der Bauer regte sich immer noch nicht und zeigte keine Lust, zu gehorchen. Da trat die Huberin hart vor ihn, richtete ihre schwarzen funkelnden Augen auf ihn und fragte halblaut: „Muß ich Dir noch einmal sagen, daß Du gehen sollst?“
Der Bauer wurde unruhig; er vermochte den gespannten Blick des Weibes nicht zu ertragen, den er auf sich lasten fühlte, wenn er ihm auch nicht mit dem Auge zu begegnen vermochte. Furchtsam und scheu erhob er sich dann und murrte: „Du siehst ja, ich geh’ schon, Urschi, Du brauchst mich nicht so anzufahren." Damit drückte er sich hastig an ihr vorüber in’s Haus hinein und verschwand in der Wohnstube.
Die Bäuerin ging ebenfalls in’s Haus und, ohne ein Wort zu sprechen, an dem jungen Knechte vorüber, der noch immer wie angemauert am Thürgerüst lehnte – aber im Vorbeigehen winkte sie ihm schnell und unmerklich mit den Augen. Dann stieg sie die Treppe zum obern Geschoß des Hauses hinauf.
Der Knecht blieb noch eine Weile wie nachdenkend stehen; dann wandte er sich hastig und eilte dem Nebengebäude zu, in welchem sich der Heuboden befand, das aber an die Rückseite des Wohnhauses angebaut war.
Einige Augenblicke nachher trat auch der Bauer aus dem Hause und eilte, ohne sich umzusehen, den Hügel hinunter dem Kirchwege zu.
Die Reisen zur Aufsuchung einer nordwestlichen Durchfahrt, die von den seefahrenden und handeltreibenden Mächten schon nach der Entdeckung Amerika’s unternommen wurden, sind auch in späterer Zeit noch stets fortgesetzt worden, und je mehr man die Ueberzeugung gewann, daß eine solche Durchfahrt, die den atlantischen und stillen Ocean verbinde, existiren müsse, um so eifriger verfolgte man die auf die Entdeckung derselben zielenden Unternehmungen. Der Vortheil einer directen Verbindung mit Asien, wohin man von der alten Welt nur um Amerika herum gelangen konnte, war zu einleuchtend, als daß man den zwischen beiden Ländern in der Polargegend liegenden Weg nicht hätte aufsuchen sollen, und so sind zu diesem Zwecke die Erforschungsexpeditionen in der Neuzeit nicht weniger betrieben worden, als es vor Jahrhunderten der Fall gewesen, wo im Nordosten Amerika’s die Entdeckung der Hudsonsbai, Davisstraße, Baffinsbai, des Lancastersunds und Eismeeres des Nordpols erfolgte. Die Behauptung, daß letzteres in einer gewissen Zeit eisfrei sei, war Ursache, daß die englische Regierung den Plan der Auffindung jener Durchfahrt mit um so größerem Eifer verfolgte, und sie setzte, um Expeditionen hervorzurufen, für den Ersten, welcher auf dem nordwestlichen Wege in den großen Ocean gelangte, eine Belohnung von 20,000 Pfund Sterling aus. Dies war das Signal zu den Nordpolreisen.
Zwischen der ersten Nordpolreise, welche Parry, der ältere Roß und Buchan 1818 unternahmen, und der letzten, von der M’Clintock vor kurzem zurückgekehrt ist, liegt ein Zeitraum von mehr denn vierzig Jahren. Indem man während dieser Zeit von drei Richtungen her vordrang, zu Lande von den Ländern der Hudsonsbaigesellschaft gegen Norden, auf der pacifischen Seite durch die Behringsstraße gegen Osten, und auf unserer Seite durch den Lancaster-Sund gegen Westen, überzeugte man sich mehr und mehr, daß man einem Schatten nachjage, wenn man auf eine irgendwie benutzbare Durchfahrt rechne. Das wissenschaftliche Interesse blieb, namentlich seit die antarktischen Reisen die Vermuthung zu bestätigen schienen, daß an den beiden Polen unserer Erde eine völlig verschiedene Vertheilung von Land und Wasser stattfinden werde. Man suchte nun möglichst hohe Breiten zu erreichen, und noch 1827 hielt Parry ein Vordringen bis zum Nordpol selbst für möglich. Er versuchte es mit Schlitten, traf jedoch hinter dem glatten Eise, das sich nach seiner Meinung bis zum Pol erstreckte, auf lose, rauhe und oft dünne Massen, die von einer Menge offener Canäle durchschnitten wurden, und mußte unter 82° 45’ nördlicher Breite umkehren. Nach diesem Mißlingen trat er von den Nordpolreisen ganz zurück. Wie er am weitesten gegen Norden vorgedrungen ist, so hat er auch den Weg zu der Insel Melville gezeigt, welche die nördliche Küste der Banksstraße, oder mit andern Worten der nordwestlichen Durchfahrt, bildet.
Sir John Franklin wurde gleich bei den ersten Nordpolreisen beschäftigt. Er war 1818 ein junger Mann von zweiunddreißig Jahren, hatte aber seinen Namen bereits mit großen Ereignissen verbunden, mit der Beschießung von Kopenhagen, mit der Schlacht von Trafalgar und mit jenem ewig denkwürdigen Gefecht in der Straße von Malakka, in dem ein blos aus bewaffneten Kauffahrern bestehendes Geschwader der Engländer eine französische Kriegsflotte unter Admiral Linois in die Flucht schlug. Franklin hatte Cumberlandhouse zum Ausgangspunkte genommen und erreichte im Juli 1820 die arktische Küste des amerikanischen Festlandes. Seine Rückreise war die furchtbarste, die ein Entdecker in diesen Breiten bisher erlebt hatte. Die Kälte erreichte einen solchen Grad, daß
[5][6] die Zelte und die dünnen Decken kaum mehr Schutz gegen das Erfrieren gewährten. Nicht immer fand man so viel Holz, daß ein gutes Feuer unterhalten werden konnte, und dann hatte man noch die Qual, die hartgefrorenen Schuhe in der Nacht an den Füßen behalten zu müssen. War man nicht so glücklich, ein Schneehuhn oder ein Rennthier erlegen zu können, so mußte man sich von Steinflechten ernähren. Endlich wurde die Noth so groß, daß die Reisenden ihre Schuhe verzehrten und halb verfaulte Thierhäute, auf welche sie unter dem Schnee zuweilen stießen, begierig hervorzogen. Die Kräfte hatten durch Hunger und Kälte so gelitten, daß, wenn der eine Theil der Mannschaft auf dem Boden ausruhte, der andere Theil stehen bleiben mußte, um den Gefährten in die Höhe zu helfen. Eine zweite Reise zu Lande, die Franklin 1825–1827 ausführte, war nicht von solchen Leiden begleitet. Beide Unternehmungen lehrten einen langen Küstenstrich kennen, der sich an eine andere von Richardson[WS 1] erforschte Strecke anschloß.
Im Jahre 1844 beschloß die englische Regierung, eine neue Nordpolreise ausführen zu lassen und Franklin die Leitung derselben zu übertragen. Alle Behörden, die eine Stimme bei der Sache hatten, stimmten für eine Landreise, aber Sir John Barrow[WS 2], der als Geograph der Königin und als eigentlicher Anreger der Erforschung des arktischen Kreises ein doppeltes Gewicht hatte, setzte es durch, daß für eine Seereise entschieden wurde. Man gab Franklin zwei Schiffe, Erebus und Terror, die für die Reise besonders ausgerüstet und mit Lebensmitteln auf vier Jahre versehen wurden. Er übernahm den Erebus, Capitain Crozier[WS 3] den Terror. Die Bemannung beider Fahrzeuge bestand Alles in Allem aus 129 Köpfen.
Franklin hatte die Weisung, daß er so schnell als möglich den Lancaster-Sund zu erreichen suchen und bis zur Insel Melville steuern solle. Treffe er dort das Meer vom Eise frei an, so werde er die noch etwa 180 deutsche Meilen entfernte Behringsstraße ohne Hinderniß erreichen können. Am 26. Juli 1845 wurden der Erebus und der Terror zum letzten Male gesehen. Es war in der Melville-Bai, die an der Nordküste von Grönland, dem Jones-Sunde gerade gegenüber, liegt. Die beiden Schiffe wurden von der Mannschaft des Walfischjägers „Prinz von Wales“ gesehen, wie sie an einem Eisberge ankerten und darauf warteten, daß die ungeheuren Eismassen in Bewegung geriethen, die das Meer in unabsehbarer Weite bedeckten.
Die Jahre 1846 und 1847 verstrichen, ohne daß man sich über das Ausbleiben aller Nachrichten beunruhigte. Hatte man doch von den beiden Roß vier Jahre lang nichts gehört, und dann waren sie doch, allerdings abgemagert, aber mit unverletzter Gesundheit, nach England zurückgekehrt. Um Franklin brauchte man um so weniger in Sorge zu sein, als er eine reiche arktische Erfahrung, eine auserlesene Mannschaft, vortrefflich eingerichtete Schiffe und Lebensmittel in Hülle und Fülle besaß. Erst im Jahre 1848 wurden Nachforschungen beschlossen, und nun begann jene Reihe von Reisen, die sich von da fast ununterbrochen bis auf das Jahr 1859 erstrecken. Nicht genug, daß man von beiden Eingängen im Westen und Osten Schiffe in die Polarzone vordringen ließ, gab man ihnen den Befehl, im Winter mit Schlitten die ganze Umgegend ihres Zufluchtshafens zu bereisen, und veranstaltete auch auf dem Festlande Unternehmungen. Einmal waren zwölf Schiffe zugleich in jenen Meeren und im Ganzen sind mit Hinzurechnung der Landreisen etwa vierzig Versuche zur Rettung Franklin’s gemacht worden. Man hat bis zu den Punkten, wo die Natur unübersteigliche Schranken setzte, fast jede Bucht, jede Einfahrt, jeden Canal, jede Küste, jede Insel durchforscht. Wie die Bemühungen, so gingen auch die Mittel über das frühere Maß hinaus. Unter anderm nahmen Collison[WS 4] und M’Clure[WS 5] kleine Luftballons mit, welche sie in der Polargegend an langen Seilen in die Höhe steigen lassen wollten, um dem Vermißten bei Tag mittelst herabhängender farbiger Papierstücke, bei Nacht mittelst Lampen Signale zu geben. Man wußte nicht, daß die unglücklichen Mannschaften des Erebus und Terror in dem Augenblicke, als Sir James Roß mit dem ersten der zur Rettung bestimmten Schiffe das Polarmeer erreichte, bereits auf dem Grunde dieses Meeres oder unter dem Schnee und Eise der unwirthlichsten aller Küsten schlummerten.
Am 23. August 1850 wurden auf Cap Riley die ersten Spuren von Franklin aufgefunden. Jenes Vorgebirge ist die Spitze einer Halbinsel in der Nähe des Wellington-Canals, der von der Barrowstraße gegen Norden läuft. Capitain Ommaney[WS 6] sah hier Segeltuch und Seile der königlichen Marine, Knochen von Rindern, Schweinen und Schafen und fünf Steinwälle von ringförmiger Gestalt, in deren Mitte je zwei bis drei flache Steine lagen. Alle diese Dinge ließen sich nur auf Franklin deuten, und die Steinwälle mit den flachen Steinen in der Mitte machten es wahrscheinlich, daß Franklin am 29. August 1845 auf diesem Punkte gewesen sei. Er war nämlich angewiesen worden, genau an diesem Tage magnetische Beobachtungen anzustellen, und hatte zur Befestigung der Seile und zur Aufstellung der Instrumente solche Steinwälle und flache Steine gebraucht, wie man sie bei Cap Riley sah.
Einen oder zwei Tage später entdeckte der Walfischjäger Penny[WS 7] auf der Insel Beechey im Wellington-Canal das erste Winterlager Franklin’s. Hier sprach Alles so deutlich, daß kein Zweifel möglich war. Außer leeren Fleischbüchsen, einem Observatorium, einer Schmiede, sah man eine Anweisung zu meteorologischen Beobachtungen in der Handschrift des Capitains Fitzjames[WS 8], ein Papierstückchen mit dem Namen des Wundarztes M’Donald[WS 9] und drei Gräber, in denen nach den Aufschriften ein Matrose vom Erebus und zwei vom Terror ruhten. Franklin hatte dieses Winterquartier spät im Sommer und dann in großer Eile verlassen. Sein langes Verweilen bezeugten die tiefen Furchen, die seine Schlitten im Schnee, den die Sonne also schon aufgeweicht haben mußte, zurückgelassen hatten; für einen plötzlichen Aufbruch sprachen die beiden Umstände, daß man die Seile eines Zelts nicht losgeknüpft, sondern abgeschnitten hatte und daß nützliche Gegenstände, z. B. ein eiserner Ofen, zurückgelassen worden waren. Wohl hatte sich die Mannschaft übrigens befunden, denn sonst würde ihr gewiß die Lust vergangen sein, eine Vogelhütte mit einem Mosaikfußboden zu pflastern, und einige Gartenbeete anzulegen und mit rothem Steinbruch einzufassen.
Unter denen, welche nach Franklin suchten, befand sich ein muthiger Ire, der laut den Entschluß ausgesprochen hatte, nicht zurückzukehren, ehe er den Vermißten aufgefunden oder die nordwestliche Durchfahrt entdeckt hätte. Das erste Ziel verfehlte er, das zweite, freilich unter entsetzlichen Gefahren, zu erreichen, war ihm vom Glück beschieden. M’Clure – denn von ihm ist die Rede – gehörte zu denen, welchen die Behringsstraße als Ausgangspunkt angewiesen war. Indem er gegen Osten vordrang, gelangte er an einen Canal, der zwischen der Insel Melville und dem Bankscanal hindurch zu dem breiten Melville-Sunde führt, in den die Barrow-Straße mündet, eine Fortsetzung des Lancaster-Sundes, den Baffin 1616 als östlichen Eingang des Polarmeeres ermittelt hat. Der 26. October 1850 war der Tag, an dem M’Clure auf dem Eise des Meeres zu einem Punkte gelangte, der sich nach den astronomischen Beobachtungen als das Ufer der Barrow-Straße erwies. Ein Jahr später unternahm M’Clure eine Fußreise auf dem Eise nach der Bucht der Melville-Insel, wo Parry im Winter von 1819 zu 1820 seine Schiffe Hekla und Griper geborgen hatte. Durch andere Fußreisen wurde ermittelt, daß um die Südspitze des Bankslandes herum noch ein zweiter Canal, von M’Clure Prinz von Wales-Straße genannt, in den Melville-Sund führt.
Statt einer nordwestlichen Durchfahrt hatten sich zwei gezeigt, aber ihr Entdecker konnte nicht eine für sein Schiff benutzen. Um sich vor Eisblöcken von der fürchterlichsten Beschaffenheit und der massivsten Dicke, die er jemals gesehen hatte, zu retten, hatte er sein Schiff an der Nordseite des Bankslandes vor Anker gelegt. Furchtbare Eismassen hielten ihn dort zwei Sommer und zwei Winter eingeschlossen. Im dritten Frühling (6. April 1853) fand ihn ein Officier eines andern Schiffes, und mit Hülfe desselben führte M’Clure den gewagten Entschluß aus, auf dem Eise zu Capitain Kellett[WS 10] im Wellington-Canal zu wandern. Kellett befand sich in derselben Lage, und mit ihm verließen auch Belcher[WS 11] und Richards[WS 12] ihre Schiffe. Sie erreichten freies Wasser wo der Nordstern sie aufnahm, und England erlebte nun das unerhörte Schauspiel, vier Capitaine auf einmal ankommen zu sehen, welche die ihnen anvertrauten Schiffe im Eise hatten stecken lassen.
Weder M’Clure noch seine Unglücksgefährten hatten von Franklin das Mindeste erfahren. Durch die auf der Beechey-Insel gefundenen Spuren verlockt, suchte man ihn im höchsten Norden. Penny hatte berichtet, daß er jenseits jener Insel ein offenes Meer gesehen habe, das fünf deutsche Meilen weit gegen Norden zu verfolgen und an seinem Endpunkte mit einem Wasserhimmel, d. h. einer dunkeln Stelle am Himmel, die ein Anzeichen von offenem Wasser ist, bedeckt gewesen sei. Merkwürdig war ihm die Menge [7] der dortigen Thiere, der Walrosse, Eisbären, Polarhasen, Wölfe, Füchse, Rennthiere und des Wassergeflügels aller Art gewesen. War es nicht möglich, ja wahrscheinlich, daß Franklin, von der Beechey-Insel aus in diesem offenen Meere vordringend, sehr hohe Breiten erreicht habe, und daß ihm durch Eisriegel, wie Penny im Wellingtoncanal auf einen stieß, der Rückweg versperrt worden sei? Indem man allgemein zu diesem Glauben neigte, richtete man die ganze Aufmerksamkeit auf den höchsten Norden und vernachlässigte die übrigen Gegenden.
Dr. Rae[WS 13] war dem Gebiet, wo man, wie die Folgezeit lehrte, hauptsächlich hätte suchen sollen, einmal ganz nahe gewesen. Dieser unermüdliche Reisende hat nicht weniger als vier Reisen zu dem arktischen Gestade des Festlandes ausgeführt, um der Welt Gewißheit über das Schicksal der Männer vom Erebus und Terror zu verschaffen. Nur der Umstand, daß Eskimos seine Boote zerstört hatten, um sich das darin befindliche Eisen zuzueignen, hatte Rae auf der zweiten dieser Reisen verhindert, den Canal zwischen dem Wollaston- und Victoria-Lande in der östlichen Richtung zu beschiffen, die ihn zum König-Wilhelms-Lande führen mußte. Er blieb dennoch vier Wochen in diesen unwirthlichen Gegenden, um bei den Eskimos Erkundigungen einzuziehen. Nach dem, was er hörte, mußte er schließen, daß die Vermißten in den Gegenden zwischen Nordsomerset, das Roß durchwandert hatte, und der Küste, die dem Wollaston-Lande gegenüberliegt, nicht zu finden seien. Jetzt wissen wir, daß eben diese Gegend den Untergang der Mannschaften des Erebus und des Terror gesehen hat.
1851 war Rae wieder an der arktischen Küste, 1853 brach er zu seiner vierten und letzten Reise auf. Von 1853 zu 1854 überwinterte er an der Repulse-Bai, die durch den trostlosen Charakter ihrer Umgebung sprüchwörtlich geworden ist. Von Eskimos, mit denen er zusammentraf, hörte er Folgendes: „Vor längerer Zeit sah man ungefähr vierzig weiße Männer über das Eis gegen Süden wandern. Sie tödteten Seehunde nahe am nördlichen Ufer von König-Wilhelms-Land. Keiner der Reisenden verstand die Sprache der Eskimos, aber sie gaben durch Zeichen zu verstehen, ihre Schiffe wären im Eise erdrückt worden, und sie hofften eine Gegend zu erreichen, wo sie Rennthiere schießen könnten. Alle, mit Ausnahme eines einzigen Officiers, sahen mager aus, als ob sie Mangel an Lebensmitteln litten. Einige Zeit später, noch in demselben Frühjahr, vor dem Aufthauen des Eises, wurden die Leichen von dreißig Weißen auf dem Festlande und von fünf andern auf einer Insel in der Nähe eines bedeutenden Stromes (des Großen Fischflusses) entdeckt.“ Die Gegend, von der die Eskimos sprachen, zu erreichen, wollte Rae nicht gelingen.
Er überbrachte die Trauernachricht persönlich nach England und legte zugleich verschiedene Gegenstände vor, welche die Eskimos bei den Leichen gefunden hatten. Auf mehreren derselben waren Namenszüge eingegraben, aus denen sich mit Gewißheit ergab, daß diese Sachen Officieren Franklin’s gehört hatten. Nach Rae’s Berechnung fiel die Wanderung der weißen Männer über das Eis in das Jahr 1850, und es fragte sich nun, ob nicht einige von ihnen noch am Leben sein könnten. Die Eskimos hatten blos von vierzig Weißen gesprochen, aber auf beiden Schiffen befanden sich 129 Seeleute, und war es nicht möglich, daß viele dieser abgehärteten Männer ihr Dasein gefristet hatten? Die arktischen Reisenden, die man um ihr Gutachten bat, waren verschiedener Meinung. Scoresby[WS 14], Kellett, Sir John Roß und Oberst Sabine[WS 15] erklärten sich für die Möglichkeit, daß man einige noch retten könne, Rae und M’Clure sprachen sich dahin aus, daß an dem Untergange aller Begleiter Franklin’s nicht gezweifelt werden könne. Die Regierung gab dem letztern Gutachten den Vorzug, nicht so Lady Franklin. Die edle Frau, die in den ganzen früheren Jahren unaufhörlich thätig gewesen war, zu neuen Fahrten anzuspornen, und durch ein eigenes Fahrzeug, die Isabel, Nachsuchungen hatte anstellen lassen, rüstete noch einmal ein Schiff aus, den Dampfer Fox. Den Befehl übertrug sie dem Capitain M’Clintock, einem Begleiter Austin’s[WS 16] auf der Reise vom Jahre 1850.
Diese letzte Reise, deren Erlebnisse wir hier schildern wollen, hat keinem der Vermißten Rettung bringen können. Dagegen haben wir durch sie authentische Nachrichten von Franklin’s Schicksal erhalten, und der Mannschaft des Fox ist wenigstens die Befriedigung zu Theil geworden, auf dem Schauplatze der Katastrophe selbst einigen ihrer unglücklichen Landsleute eine letzte Ruhestätte bereiten zu können.
Unsere Erde, mit allen ihren Schöpfungen, und höchst wahrscheinlich die ganze Welt, ist aus nur einigen 60 Stoffen aufgebaut. Diese Stoffe, welche auch „Urstoffe, Elemente, Grundstoffe oder einfache Körper“ genannt werden (s. Gartenlaube 1853. Nr. 28), lassen sich nicht weiter in andere Stoffe zerlegen, auch läßt sich keiner derselben in einen andern Grundstoff umwandeln, und jeder hat seine ganz bestimmten Eigenschaften oder Kräfte, welche er, so lange er für sich allein besteht, weder verlieren noch ändern kann. Durch die verschiedenartigen Vereinigungen der Urstoffe unter einander (wodurch sogenannte „zusammengesetzte Körper“ entstehen) ist nun nicht nur die so außerordentliche Mannichfaltigkeit der Erdgeschöpfe hinsichtlich ihrer Form herbeigeführt, sondern auch die ganz enorme Verschiedenheit in deren Kräften bedingt. Vereinigen sich nämlich mehrere Elemente mit einander und bilden einen neuen (zusammengesetzten) Körper, so erhält dieser durch die Verschmelzung der Eigenschaften der sich vereinigenden Elemente seine ganz bestimmten neuen Eigenschaften (Kräfte) und die der einzelnen verschmolzenen Elemente sind nicht mehr bemerkbar. Wird dann dieser zusammengesetzte Körper wieder in seine Elemente aufgelöst, so gehen natürlich mit der Auflösung desselben auch seine Eigenschaften (Kräfte) verloren und es erscheinen die Elemente mit ihren Eigenschaften wieder. Vereinigt man z. B. die beiden in ihren Eigenschaften sehr von einander abweichenden Elemente „Sauerstoff“ und „Wasserstoff“ mit einander, so bildet sich „Wasser“, ein Körper, welcher wieder ganz andere Eigenschaften besitzt, als seine Elemente. Zerlegt man das Wasser, so kommen natürlich jene beiden Elemente mit ihren bestimmten Eigenschaften wieder zum Vorschein, und die Kräfte des Wassers sind sammt dem Wasser verschwunden. Die zusammengesetzten Stoffe bilden die Hauptmasse des Geschaffenen, während die Grundstoffe (mit Ausnahme von Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenstoff) rein nur sehr vereinzelt in der Natur vorkommen.
Auf der Erde gehen nun die Elemente, nachdem sie sich aus früheren Verbindungen losgetrennt haben, fortwährend neue Verbindungen ein und erzeugen so immerfort neue zusammengesetzte Körper mit neuen Kräften. Daher kommt es denn auch, daß die Erde auf ihrer Oberfläche und in ihrer Rinde seit Jahrtausenden ein immer anderes Ansehen erhalten hat und immerfort noch erhält. – In den allerfrühesten Zeiten bildeten sich blos, ohne Zweifel der eigenthümlichen damals herrschenden Verhältnisse wegen, durch einfache, aber sehr feste Vereinigung nur weniger Elemente, zusammengesetzte Körper von großer Einfachheit und ziemlich langer Existenz. Sie finden sich auch jetzt noch und zwar in flüssiger (luftförmiger oder tropfbarflüssiger), erdiger oder krystallinischer Form vor, werden „unorganische, todte, leblose, unbeseelte Körper“ genannt, bilden zusammen das „unorganische Reich“ und sind: die Luft, das Wasser, die Gesteine und der Erdboden, welcher letztere aber erst durch Zerstörung (Verwitterung) der Gesteine entstanden ist.
Allmählich erschienen dann auf der Erde, nach der theilweisen Zersetzung der unorganischen Körper und der daraus hervorgehenden Umänderung der Verhältnisse, aus einer größern Anzahl von Elementen zusammengesetzte Körper mit äußerst mannichfaltigen Eigenschaften (Kräften), welche durch die vielfach verschlungenen und sich durchkreuzenden Beziehungen und Verknüpfungen ihrer Grundstoffe zu einander sehr complicirte, aber lockere Verbindungen darstellen. Sie sind eben wegen der leicht trennbaren Verbindung ihrer Elemente auch leicht zerstörbar und vergänglich, von kurzer Dauer und bedürfen überhaupt zu ihrem Bestehen eines fortwährenden Sichneubildens. Bei ihrer Zerstörung, wo sie sammt ihren Eigenschaften aufhören zu sein, lösen sie sich natürlich ebenfalls wieder in ihre Elemente auf, die dann abermals in neue Verbindungen (Körper) ein- und zusammentreten. Es besitzen nun diese äußerst complicirt zusammengesetzten Körper bald eine größere, bald eine geringere Anzahl
[8] von „Organen“ d. h. von Theilen, von denen jeder einzelne seinen ganz bestimmten Bau, seine eigene Form und sein von Form und Bau abhängiges bestimmtes Geschäft (und zwar ein anderes als der andere) hat, alle zusammen aber zum Bestehen des Ganzen thätig sind. Man nennt diese Körper deshalb auch „organische Körper oder Organismen“; zu ihnen gehören: die Pflanzen, Thiere und Menschen. Je größer die Anzahl von Organen in einem organischen Körper ist und je vollkommner ihr Bau, desto höher steht dieser Körper unter den Organismen; je weniger und einfachere Organe er besitzt, ein desto niedrigerer Organismus ist er.
Die die organischen Körper bildende sogenannte „organische“ Masse erhält ihre bestimmte, sogen. „organisirte“ Form (organische Structur oder Textur) bei allen Organismen ganz auf dieselbe Weise, und zwar durch die Zellenbildung. Es bilden sich nämlich als allererste, aber nur durch das Mikroskop wahrnehmbare Grundlage jedes Theiles rundliche, mit einem Kerne im Innern versehene Bläschen, „Zellen“, die, mit verschiedenartigen Eigenschaften (Kräften) begabt, durch ihre Vermehrung und Umbildung zu Plättchen, Fäserchen und Röhrchen, die[WS 17] nach ihren verschiedenen Eigenschaften in verschiedener Weise thätigen Gewebe der Organismen aufbauen. Die Zellenbildung ist nur beim Vorhandensein von Wasser, Eiweißsubstanz (Eiweiß, Kleber), Fett (Stärke) und Salzen (vorzugsweise Kochsalz und Kalksalze), sowie bei dem gehörigen Wärmegrade und Luftzutritt möglich. Man trifft die genannten, zur Zellenbildung unentbehrlichen chemischen Substanzen in ihrer Vereinigung im Thier-Ei und Pflanzen-Samen, im Blute und in der Milch an. Die Pflanzen können alles Material, was zum Aufbau ihrer Zellen nöthig ist, aus dem unorganischen Reiche (aus Wasser, Luft und Erdboden) entnehmen, Thiere und Menschen dagegen bedürfen dazu hauptsächlich organischer Substanzen. Schon deshalb also mußten auf unserer Erde vor Erschaffung der Thiere die Pflanzen existiren und vor dem Menschen das Thier (s. Gartenlaube 1853, Nr. 32).
Da nun in den organischen Körpern während ihres Bestehens die Zellen und die aus diesen hervorgegangenen Gewebe fortwährend der Zerstörung unterliegen und für das Zerstörte sich immerfort Neues bildet, so muß den Organismen, um bestehen zu können, auch immerwährend solches Material zugeführt (ernährt) werden, aus welchem sie aufgebaut sind. Dieses fortwährende Neubilden und Absterben, Verjüngen und Mausern der Bestandtheile der Organismen hat man als „Stoffwechsel“ (s. Gartenl. 1854 Nr. 9) bezeichnet. So lange derselbe im Gange ist, sagt man von jedem organischen Körper „er lebt“, betrachtet Stoffwechsel und Leben als gleichbedeutend und nennt organische Körper auch „belebte, lebendige, lebende“. Hört der Stoffwechsel in ihnen auf, dann pflegt man dies „Sterben und Tod“ zu nennen, und in dem dadurch zur „Leiche“ gewordenen Organismus tritt nun durch Trennung der verschiedenen, eigenthümlich mit einander verbundenen Elemente die Zersetzung der organischen Substanz (Fäulniß, Verwesung, Vermoderung, Gährung) und so die Umbildung derselben in unorganische Stoffe ein, welche letztere dann wieder in andere organische Stoffe übertreten (s. Gartenl. 1854 Nr. 30). Auf diese Weise hört zwar jeder organische Körper mit seinen Eigenschaften nach seinem Tode scheinbar ganz auf, allein trotzdem dauern seine Grundstoffe fort und helfen neue Körper bilden. Gesundheit ist richtiges Vorsichgehen des Stoffwechsels (der Zellen- und Gewebsbildung und Mauserung), Krankheit dagegen falsches Vonstattengehen desselben. – Die den Stoffwechsel unterhaltende Ursache, d. h. das den Stoffwechsel bedingende eigenthümliche Zusammen- und Aufeinanderwirken der organischen Stoffe in einem Organismus, hat man auch mit dem Namen „Lebenskraft oder Seele“ bezeichnet, nennt deshalb die organischen, belebten Körper auch „beseelte“ und sagt beim Aufhören des Stoffwechsels in ihnen (also bei ihrem Tode) „die Seele sei entflohen.“ Natürlich ist hiernach die Seele (die man übrigens sehr häufig, aber ganz mit Unrecht, gleichbedeutend mit „Geist“ nimmt) kein unsichtbares, unkörperliches, vom Organismus trennbares Etwas, welches von Irgendwoher zu einer bestimmten Zeit in den organischen Körper hinein- und bei seinem Tode wieder herausfährt, sondern nur das dem Leben zu Grunde liegende Gebahren des organischen Stoffes. – In diesem Sinne haben demnach die Pflanzen ebenso wie die Thiere und die Menschen eine Seele, und diese ist in allen diesen Organismen von Bildung der ersten Zelle ihres Körpers an bis zu ihrem Tode vorhanden. Ebenso können die Pflanzen natürlich auch wie die Thiere und Menschen gesund sein, krank werden und sterben; alle bedürfen zum Leben (zur Unterhaltung des Stoffwechsels) der fortwährenden Einwirkung bestimmter äußerer Einflüsse, d. s. die „Lebensbedingungen“, wie Nahrung, Wasser, Luft, Wärme und Licht (s. Gartenl. 1853 Nr. 39).
Betrachten wir nun die organischen Körper genau, so ergibt sich, daß eine scharfe Grenze zwischen den einzelnen nicht aufzufinden ist, und daß alle zusammen eine ununterbrochene Kette von Körpern bilden, deren unterstes Glied die einfachsten, nur aus einer oder mehreren Zellen bestehenden Pflanzen sind, während das oberste der Mensch ist und zwischen diesem und den Pflanzen die Thiere mitten inne stehen. Der Uebergang vom Pflanzen- zum Thierreiche ist ein so unmerklicher, daß die Wissenschaft von manchen Körpern lange nicht gewußt hat, ob sie zu den Pflanzen oder zu den Thieren zu rechnen sind (Phytozoen und Zoophyten). Auch der Uebergang vom Thiere zum Menschen ist ein sehr allmählicher, wie der Schritt vom Affen zum Neger beweist, welcher letztere hinsichtlich seiner Kopf-, Arm und Beinbildung, sowie auch hinsichtlich seiner Sprache und Gebehrden dem Affen sehr ähnelt. Ja selbst der Uebergang aus dem unorganischen Reiche in das organische ist ein unmerklicher, wie die Lithophyten, Nulliporen und Korallen beweisen.
Mit Ausnahme der niedrigsten Thiere unterscheidet sich das Thier von der Pflanze hauptsächlich dadurch, daß es zwei aus eigenthümlich gebauten Geweben zusammengesetzte Organe oder Systeme besitzt, von denen das eine vorzugsweise der Bewegung, das andere dieser und auch noch der Empfindung dient; ersteres heißt das „Muskelsystem“, letzteres das „Nervensystem“. Diese beiden Systeme finden sich in den Thieren um so mehr entwickelt, je höher dieselben im Thierreiche und je näher sie dem Menschen stehen, bis sie endlich, zumal das Nervensystem, im Menschen die höchste Entwickelungsstufe erreicht haben. Je mehr sich diese Systeme bei den niedern Thieren vereinfachen und endlich ganz verschwinden, um so mehr nimmt natürlich auch das Bewegungs- und Empfindungsvermögen ab, bis endlich die niedrigsten Thiere so ziemlich den Pflanzen gleichen, während mit der vollkommneren Ausbildung des Muskel- und Nervensystems das Thier sich in seinen Eigenschaften immer mehr dem Menschen nähert. Mit der stufenweisen Entwickelung des Nervensystems hält auch die Ausbildung der Sinnesorgane und des Sprachapparates, sowie der Bewegungsorgane gleichen Schritt, und es versteht sich natürlich von selbst, daß mit dieser allmählich sich steigernden Vervollkommnung des Nerven-, Bewegungs-, Sinnes- und Sprach-Apparates bei den Thieren auch die Thätigkeit dieser Apparate in einem vollkommneren Grade zum Vorschein kommt, bis sie endlich im Menschen zur Zeit die größte Vollkommenheit erreichen kann, aber ja nicht etwa erreichen muß.
Die Thätigkeiten (Kräfte, Eigenschaften) des lebenden Nervensystems, welches bei den Thieren in seiner unvollkommensten Gestalt auch nur die einfachsten Bewegungen und schwächsten Empfindungen zu vermitteln im Stande ist, steigern sich nach und nach, in Folge seines immer vollkommener werdenden Baues in den verschiedenen Thierclassen und mit Hülfe der nun möglichen sehr mannichfaltigen Empfindungen, allmählich zum Denken (Vorstellungen, Begriffe, Urtheile, Schlüsse machen) und Wollen, zu Thätigkeiten, die natürlich nach dem vollkommneren oder unvollkommneren Baue des Nervensystems auch vollkommener oder unvollkommener vor sich gehen, so daß sich hier eine ungemein mannichfaltige Stufenleiter verschiedener Ausbildungsgrade nachweisen läßt. Beim Menschen, welcher das vollkommenste Nervensystem besitzt, müssen diese Thätigkeiten natürlich auch in höherem Grade, in größerer Menge als bei den Thieren, existiren können. Aber Verstand, Gedächtniß, Willen u. s. w, besitzt das Thier ebenso, jedoch seines unvollkommneren Nervensystems wegen in weit geringerem Grade, wie der Mensch. Bei Thieren und Menschen müssen übrigens die genannten höheren Thätigkeiten des Nervensystems, die man wohl auch „geistige“ zu nennen pflegt, ebenso wie die des Muskelsystems, durch Sinneseindrücke und Uebung (Erziehung) allmählich hervorgerufen und erlernt werden. – Abgesehen von dieser höheren Nervenfunction, vereinigt das Nervensystem die Thätigkeiten und Leistungen der einzelnen Theile und Organe des Thier- und Menschenkörpers zu einem harmonisch zusammenwirkenden, lebenden Ganzen.
Aus diesen wenigen Andeutungen schon wird der Leser entnehmen können, welch wichtiges Organ das Nervensystem für Thier und Mensch ist. Darüber nächstens Ausführlicheres.
Als vor sechs oder sieben Jahren über Europa jene absonderliche Geisteskrankheit hinzog, welche man mit dem Namen „Tischrückerei“ bezeichnete, wurde wohl jeder achtsame und wißbegierige Mensch in den tollen Wirbel verwickelt und betheiligte sich an der Sache, wenn auch nur auf Seiten der Opposition. Es lohnte wohl kaum der Mühe, noch einmal auf den ganzen Handel zurückzukommen, wenn man nicht allmählich verschiedenartige Schwindel damit verbunden und schließlich das Ganze in ein verrücktes System gebracht hätte, welches auch in dem aufgeklärten Berlin zahlreiche Anhänger zählt und literarische Erzeugnisse der tollsten Art in’s Leben ruft, von welchen ich weiterhin berichten werde. Zur Belustigung aufgeweckter Leser und zur Züchtigung aller Geisterbändiger will ich daher meine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse im Felde der Tischrückerei und Psychographie niederschreiben, und zufrieden sein, wenn es mir gelingt, auch nur einen Bekenner der neuesten Magie von diesem Holzwege des Geistes abzubringen.
Zunächst will ich vorausschicken, inwiefern ich mich selber an diesen mysteriösen Operationen aus Neugierde betheiligt habe. Selbstverständlich wollte Jeder bei seinen Versuchen sich so viel als möglich gegen eine „tendenziöse Tischrückerei“, Betrug oder Muthwillen sicherstellen, und ich beschloß deshalb, die Fähigkeiten meiner eigenen Kinder für den sogenannten „Vitalismus“ zu prüfen, da ich bereits in andern Häusern die Empfänglichkeit oder Geschicklichkeit der Kleinen für dieses unbekannte Etwas wahrgenommen hatte, gleichzeitig aber auch mit gerechten Bedenken gegen die ganze Geschichte erfüllt worden war.
An einem Sonnabend-Nachmittage, als zwei kleine Mädchen zu meinen beiden Töchtern gekommen waren, ließ ich also die vier Kinder, in deren Gegenwart, wie ich ausdrücklich bemerke, allerdings wiederholt von dem Rücken der Tische gesprochen worden war, an ein kleines dreibeiniges Tischchen treten und ihre Fingerspitzen mit der Gebehrde eines Klavierspielers ganz leicht auf die Platte legen. Kaum waren fünf Minuten verflossen, als das winzige Möbel in eine wahnsinnige Bewegung gerieth und so rasche Umdrehungen machte, daß die Kleinen nicht folgen konnten, sondern übereinanderstolperten. Die Erscheinung wiederholte sich noch öfters und zuweilen so heftig, daß die auf den mittleren Pfeiler geschraubte Platte sich losdrehte und den Kindern vor die Füße fiel. Diese Umdrehungen wechselten mit heftigem Klopfen der Tischbeine, während dessen der Tisch selber wiederholt umfiel, ohne daß es mir gelang, absichtliche Bewegungen und Manipulationen der Kinder zu entdecken. Dagegen äußerte selbst dieser kleine, nur wenige Pfund schwere Tisch nicht die mindeste Lust, sich zu regen, wenn wir anwesenden Erwachsenen, darunter einige Damen aus der Nachbarschaft, die Hände auf die Platte legten, wie ich denn auch unter den Händen von Erwachsenen niemals einen Versuch habe gelingen sehen. Es kam mir nun darauf an, die später sogenannte „spiritualistische“ Seite zu prüfen, und ich hieß die Kinder, dem Tische zu befehlen, die einzelnen Zahlen eines in meiner Brieftasche steckenden Lotterielooses, die Zahl der Thalerstücke in meiner Börse, der Schlüssel in meiner Hand durch Klopfen anzugeben, allein es schmerzt mich im Interesse der Berliner Magier, der Wahrheit gemäß bekennen zu müssen, daß auch nicht eine der verlangten Angaben richtig war, obgleich ich vorschriftsmäßig meine Hände in die Kette der Kinderhände mischte. Sämmtliche Zahlen waren falsch, und ich sah wohl, daß in Betreff aller angeblich erzielten richtigen Antworten absichtlicher Betrug der Mitwirkenden obwalten mußte. Ich beschloß, die Sache auf sich beruhen zu lassen, da sie mir nicht den geringsten vernünftigen Zweck zu verfolgen schien, und habe auch weiter keine wandelnden Tische gesehen, obgleich ich noch später zufällig bei einigen total mißlungenen Experimenten zugegen war.
Indessen das unterhaltende und vergnügliche Ende sollte noch nachkommen. Ein alter Herr, Rendant D. Hornung, mochte gleich aus Allem eingesehen haben, daß mit rohem Klopfen und der plumpen Anwendung von Tischen nur sehr unvollkommene Mittheilungen aus dem sublimen Reiche zu erzielen seien, welches er hinter den sich drehenden Tischen zu wittern glaubte; er verfertigte also ein in Reihen geordnetes Alphabet nebst einem Zahlensystem, an welches ein bewegliches Gestell mit einem auf die einzelnen Buchstaben deutenden Stifte geschraubt wurde, und hoffte, daß dieses storchschnabelartige Instrument durch das geheimnißvolle Fluidum der Vitalisten oder Spiritualisten in Bewegung gesetzt, und die Mittheilung von Wissenswürdigkeiten dadurch sehr erleichtert werden würde. Den tiefsinnigen Mann hatte seine Erwartung nicht getäuscht, unter befähigten Händen bewegten sich alle Gestelle; der Psychograph oder Seelenschreiber war erfunden, und sein Verkauf für einen oder zwei Thaler konnte als ein ganz einträgliches Geschäft angesehen werden.
Es ist nun sehr bemerkenswerth, daß man die durch den Psychographen gegebenen Aufschlüsse damals noch keineswegs einer etwaigen Geisterwelt beimaß, sondern in unendlicher Unschuld den Psychographen wie ein lebendes, bald redseliges, bald tückisches und verschwiegenes Wesen ansah, ihn mit Du anredete, mit ihm förmlich unterhandelte und ihn gleich dem Patiencespiel und Kartenlegen nur als ein angenehmes Orakel betrachtete. Sein ganzer Habitus machte ihn vorzüglich bei allen jenen Damen beliebt, die bereits die Tücken des Gottes Amor kennen gelernt und in seiner Verehrung mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. So wohnte in meiner Nachbarschaft eine ziemlich junge wohlhabende Wittwe, die unaufhörlich mit Heirathsangelegenheiten beschäftigt und daher fortwährend in der traurigen Lage war, dem verstockten Schicksale Fragen stellen zu müssen. Zwar hatte sie bei mehreren in befreundeten Familien aufgestellten Psychographen schüchtern Rath eingeholt, allein mit diesen obstinaten Instrumenten war kein vertrauliches Verhältniß möglich, und erst als ihre jüngere Schwester aus der Heimath zum Besuche erschien, ein zwar lediges, aber höchst unternehmendes Frauenzimmer, faßte sie wieder Muth und entdeckte sich dieser Schwester. Für eine Dame, welche an die „Memoiren eines Arztes“ von A. Dumas glaubte, mußte der Psychograph sehr viel Anlockendes besitzen. Bald war ein Exemplar erworben, und nach einigen Tagen hatte die ledige Schwester sich darauf dergestalt eingespielt, daß sie in unserer Gegend etwa einen Ruf, wie die Pythonissa zu Delphi, besaß, und von gewissenhaften Damen in schwierigen Fällen stets consultirt wurde. Ein Tänzer vom Corps de Ballet unterstützte Beide in diesem löblichen Orakelwerk. Er übte ihnen die damals neuen Tänze der Varsovienne und Polka-Mazurka ein, und leistete nach Beendigung dieser Lustbarkeit Spanndienste und Robot am Psychographen. War der Mann ursprünglich von so vergnüglichem Temperament, erheiterte sein Geschäft, das auf unablässiger Leibesbewegung beruhte, so auffallend das menschliche Gemüth, oder wirkten die Mittheilungen des Psychographen so vortheilhaft auf ihn ein: genug, wenn er aus dem Hause sprang, in ein schnödes Essigmäntelchen gehüllt, mitten auf der Straße umherhüpfte und zum Abschiede noch einmal nach den Fenstern der Damen empor kußfingerte, überkam mich ein Gefühl des Neides. Auch ich sehnte mich danach, ein Instrument von solcher angenehmen Wirksamkeit spielen zu sehen. Es war nicht schwer, die Damen, welche zuweilen in unser Haus kamen, zu bewegen, mir gelegentlich Zutritt zu gestatten. Da ich verworfen genug war, Glauben zu heucheln, erhielt ich die Erlaubniß, am nächsten Montage die Damen besuchen zu dürfen.
Ich fand sie allein, behaglich am Ofen sitzend. Auf einem Spieltische lag das Alphabet des Psychographen, und eine Lampe mit grünem Schirm paßte vortrefflich zu dem geheimnißvollen Werke. Die ledige Schwester arbeitete bereits mit dem Gestelle umher, und der Stift des Psychographen fuhr mit so großer Schnelligkeit über die Buchstaben, daß die angestrengteste Aufmerksamkeit dazu gehörte, Worte daraus zu bilden. Zunächst fiel mir unangenehm auf, daß der Psychograph, den die Damen, obgleich sie ihn vertraulich duzten, doch sehr höflich anredeten, z. B, „sage mir, guter Psychograph,“ oder „möchtest Du mir nicht erklären, lieber Psychograph?“ wenn er seine Antwort ertheilte, niemals sich der Interpunctionszeichen bediente, die doch neben der Buchstabentabelle von dem Erfinder angebracht waren, weil er offenbar von der Ueberzeugung ausging, daß die Kräfte einer unsichtbaren Welt die Hülfsmittel deutlicher Mittheilung menschlicher Gedanken respectiren müßten. Wie gesagt, betrachtete aber der Psychograph unter den Händen Bella’s, so hieß die ledige Schwester, sämmtliche Interpunctionszeichen als nicht vorhanden. Er ließ nicht allein, als ob er eine Psychogräphin wäre, stets die am Schlusse eines Satzes nothwendigen Punkte fort, sondern mißachtete selbst die unentbehrlichen Kommata. Zuweilen entwischten ihm in der Eile seiner Schreibewuth auch gewisse kleine Dialektsünden, welche an Frankfurt a. M., [10] die Vaterstadt der beiden Damen, erinnerten. Ich erinnere mich nur noch sehr deutlich, daß der unsichtbare Schriftsteller einmal „Mättchen“ statt „Mädchen" schrieb. Was den Inhalt seiner Mittheilungen betraf, so brachte er nur wenig Wissenswürdiges, überhaupt nichts, was nicht auch durch menschliche Wissenschaft, durch fleißiges Umherlaufen in der Stadt und einiges Talent zum Ausfragen und Klatschen zu sammeln und zu ergründen gewesen wäre. Meine Neugierde nahm ab, und ich begriff nun wohl, daß ich mich geirrt, und der Tänzer andere triftigere Gründe haben müsse, das Haus der Schwestern stets so fröhlich zu verlassen. Sehr artig dankte ich den Damen für ihre gütigen Operationen und bat nur noch, die unsichtbare psychographische Kraft auf die Probe stellen zu dürfen. Als die Damen Erlaubniß ertheilt hatten, that ich nichts weiter, als daß ich die Tabelle des Alphabetes verkehrt vor das Medium legte, indem ich auseinandersetzte, daß für den unsichtbaren Beantworter unserer Fragen es weder ein Oben, noch Unten, weder ein Rechts, noch Links geben könne. Sehr verstimmt ging das Medium wieder an die Arbeit, allein auch ich hatte die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Oben und Unten waren dem Unsichtbaren keinesweges gleichgültig. Anfangs ging die Schreiberei sehr langsam, Irrthümer kamen vor, einzelne Buchstaben wurden ausgelassen; endlich trat eine gänzliche Stockung ein. Die Damen behaupteten, ich gehöre zu den abscheulichen Ungläubigen, und in Gegenwart solcher bösartigen Menschen weigere sich der Psychograph entweder weiterzuschreiben, oder werde ganz kleinlaut und schwach. Ich räumte daher das Feld, und ging nach Hause. Bald darauf sagten sich aber auch die beiden Schönen von dem dämonischen Instrumente los und verheiratheten sich an zwei reiche Kaufleute. Ich fragte die Wittwe Braut an ihrem Polterabende, ob sie sich noch mit dem Psychographen beschäftige, und erfuhr, daß er ihre Verlobung richtig vorausgesagt habe, ihr von jetzt aber unnöthig geworden sei, da sie zu viel mit der Gegenwart zu thun habe, um an die Zukunft denken zu können.
Bald darauf machte ich eine Visite bei einer mir befreundeten Familie aus Paris und fand die Frau vom Hause mit ihrem Gemahle und einigen courmachenden Freunden eben im Begriff, eine Excursion nach einer benachbarten Wohnung von Bekannten zu machen, wo ein kräftiger Psychograph spielen sollte. Ich wollte mich verabschieden, allein die reizende Frau, welche nie Begleiter und Dienstfertige genug um sich haben konnte, befahl mir gebieterisch, sie zu begleiten. Als wir zu den Leuten kamen, war das betreffende Medium eben ausgegangen, und die Mutter desselben bedauerte, daß ihr selber die Natur die nothwendige Wunderanlage versagt habe. Zu der That sah die alte Frau vollständig mediatisirt aus. Eine junge Pariserin weiß indessen allen Hindernissen zu begegnen; meine Beschützerin entschloß sich unverzüglich selbst den Versuch zu machen, ob sie unter die Media gehöre. Sie hatte sich nicht sobald an den Psychographen gesetzt und die Hände auf das Gestell gelegt, als das galante Instrument anhub, die niedlichen Texte zu den Chansons zu schreiben, mit denen uns die kleine Sirene so oft nach dem Thee unterhalten hatte. Nun wurden von den Herren allerlei scherzhafte Fragen aufgeworfen, und der Psychograph beantwortete sie in französischer Sprache mit einer Eleganz des Witzes, der mir den größten Respect vor dem Esprit des Vitalismus einflößte. Offenbar war diese Naturkraft höchst vielseitig. Hatte sie in meiner Nachbarschaft unter den Händen der beiden Schwestern geantwortet, wie ein biederer Frankfurter a. M., so trat sie hier als höchst gewitzte Saloncreatur der Vorstadt Montmartre auf. Allmählich nahmen wir Alle Theil an der psychographischen Unterhaltung und machten demnächst, erheitert durch den glänzenden Muthwillen des Geistes, eine Spazierfahrt nach Charlottenburg.
In dieselbe Zeit fällt auch die erste öffentliche Vorlesung, welche über den Psychographen gehalten wurde. Veranstalter derselben zu einem wohlthätigen Zwecke war der Obristlieutenant von Forstner, ein würdiger alter Herr, der noch heute zu den Strenggläubigen der Psychographie gehört und in den Mittheilungen über die esoterischen Zusammenkünfte stets als Zeuge genannt wird. Im Saale des englischen Hauses, für gewöhnlich dem Schauplatze von Festessen und billigeren Concerten, war ein Katheder aufgestellt, um das sich eine zahlreiche Gesellschaft geschaart hatte. Wahrscheinlich war sie in Erwartung von Versuchen gekommen. Herr von Forstner begnügte sich indessen nur mit einem erläuternden Vortrage, stellte jedem Einzelnen beliebige Privatversuche anheim und endete mit einer Vorlesung verschiedener durch den Psychographen angefertigter Gedichte, deren Schlechtigkeit aber nicht übernatürliche Hülfe und Inspiration annehmen ließ. Nach einer Stunde trennte man sich sehr unzufrieden. Hier und da besprach ein Blatt die melancholische Vorlesung; dann verschwand die Psychographie fast ganz aus der öffentlichen Beachtung. Desto mehr griff sie in gewissen Kreisen im Stillen um sich. Gewiß lag für scharfsinnige, psychographisch strebsame Personen der Gedanke nahe, daß nicht das Instrument selber, sondern gewisse Geister Antwort ertheilten; man stellte sofort die nöthigen Recherchen an, und siehe da! wirklich waren es Geister, eine neue Berliner Magie war erfunden. der magere, an den Tisch geschraubte Storchschnabel, den Jeder für drittehalb Thaler per Post von dem Rendanten Herrn D. Hornung beziehen konnte, wurde ein Schlüssel zu Himmel und Hölle, und für eine Anzahl alter Herren, welche der Sorge für Erwerb und Angehörige enthoben sind, fand sich eine dankenswerthe Beschäftigung. Der Psychograph war aus einem müßigen Schwätzer und boshaften Stadtklätscher ein Geisterbeschwörer geworden; was war das Punctirbuch, die Rhabdomantie, die Wahrsagerkarte gegen ihn? mittelst einiger trockenen Spähne und Buchstaben citirte man mit Leichtigkeit den ersten besten Geist.
Die erste Nachricht von modernen Beschwörungen erhielt ich auf einer Kaffeegesellschaft, die leider in meiner eigenen Wohnung gegeben wurde. Eine alte, sehr fromme Dame erzählte, daß ihre Nichte, ein junges Mädchen von vierzig Jahren, bei ihren psychographischen Uebungen neuerdings von mehreren Geistern besucht werde, deren Angaben ihnen viel zu denken gäben. Wie es in solchen Cirkeln zu gehen pflegt, entspann sich gleich eine etwa achtstimmige fugirte Debatte darüber, und da keine Stimme durchdringen konnte, ging man in den beliebten Schlußchor über, der von Moden und Dienstmädchen handelt. Ich für mein Theil nahm die alte Dame bei Seite und verwickelte sie in ein Gespräch über die Aufschlüsse der Geister. Sie theilte mir mit, daß ein Großvater der Nichte, ein alter Herr aus dem siebenjährigen Kriege, nicht allein Vieles wisse, sondern auch nicht im Mindesten zurückhaltend in der Verbreitung seiner Kenntnisse sei. Nachdem sich einige absichtlich aufgeworfene leichte Zweifel hatte widerlegen lassen, bekannte ich, daß mir viel daran liege, über das Ende meines jüngsten Bruders, der nach Amerika ausgewandert und auf der Rückkehr durch die Prairie zwischen St. Louis am Mississippi und Milwaukee jämmerlich umgekommen sei, etwas Näheres zu wissen. Möglicher Weise sei der Herr Großvater nicht abgeneigt, sich mit dem Geiste meines armen Bruders in Verbindung zu setzen und mich dann des Näheren zu belehren. Zugleich bat ich die ganze Sache mit äußerster Verschwiegenheit zu behandeln, und lehnte bestimmt ab, bei dem Versuche der Citation anwesend zu sein, da ich für die physische Beschaffenheit der verehrlichen Media nichts Förderliches, sondern eher etwas Störendes in mir trage. Bitte und Ablehnung der Zeugenschaft waren Wasser auf die Mühle des alten Frauenzimmers. Sie versprach, ihre Nichte in Kenntniß zu sehen und mir später Nachricht von dem erzielten Resultat zu geben. Nach einer Woche lud mich die gute Mama ein, sie zu besuchen. Nicht so bald war ich eingetreten, als die Nichte, sonst ein gar gutes Wesen, mit freudestrahlenden Blicken mir entgegenflog und mir erzählte, daß die Stimme des Großvaters ihr verkündet habe, mein jüngster Bruder sei an dem Bisse einer Klapperschlange gestorben, habe übrigens einen leichten Tod gehabt und gehöre zu den seligen Geistern. Dann tranken wir gemeinsam Kaffee, sprachen Manches über die Abenteuersucht der armen jungen Leute und trennten uns gerührt. Nun muß ich aber, auf die Gefahr hin von allen Psychogräphlern für den verworfensten Schurken gehalten zu werden, bekennen, daß ich den lieben Weiblein eine abscheuliche Falle gestellt hatte. Mein Bruder, der Auswanderer, lebte noch in voller Blüthe der Gesundheit, hatte den kühnen Marsch durch die Prairie glücklich vollendet, war dann, amerikasatt, wieder nach Europa heimgekehrt und leistete augenblicklich seiner Militairpflicht in Danzig bei dem ersten Artillerie-Regimente als Bombardier Genüge, eine Thatsache, an der kein Geist Zweifel erheben konnte, zumal ich die Postscheine über die von mir monatlich an ihn geschickten Unterstützungsgelder sorgfältig aufbewahrte. Weil aber die alte Dame inzwischen gestorben ist, glaube ich nicht länger verpflichtet zu sein, dieses Intermezzo zu verschweigen.
Meine Neigung, die Psychographie zu studiren, war begreiflicherweise durch die gründliche Auskunft des Großvaters der Nichte [11] ziemlich erloschen. Wenn ich von Geistern hörte oder in nordamerikanischen und französischen Blättern las, erschien mir der simulirte Geist meines guten Bruders und warnte mich vor den leichtsinnigen Bewohnern des Jenseits, welche nicht einmal die erste polizeiliche Maßregel: die Identität der Person festzustellen, ergreifen. Selbst die nach und nach auftauchenden Schriften des schon genannten Rendanten D. Hornung, des Zauberers von Berlin, gingen spurlos an mir vorüber. Ich überwand mich nicht, die „Neuen Geheimnisse des Tages“ zu lesen, nicht „Heinrich Heine, der Unsterbliche“, nicht die „Neuesten Erfahrungen aus dem Geisterleben“. Erst als mir ein literarischer Freund das letzte Werk der psychographischen Schule, „Die neuesten Manifestationen aus der Geisterwelt“, mit der dringenden Bitte zusandte, diesem Ausbund der Ungereimtheit einige Beachtung zu schenken, machte ich mich darüber her und las das 180 Seiten lange Opus von Anfang bis zu Ende durch.
Wie ein solches Werk nah der ernsten philosophischen Arbeit des letzten Jahrhunderts gedruckt werden konnte, begreift man nur, wenn man die merkwürdige Schwäche der menschlichen Natur und den geistig herunterbringenden Einfluß einer Lebensweise ohne regelmäßige Beschäftigung in Anschlag bringt. Hier ist gar nicht mehr die Rede von einer Citation der Geister, wie sie im Mittelalter gebräuchlich war, wo z. B. Tritheim[WS 18] dem Kaiser Maximilian[WS 19] seine erste Gemahlin erscheinen ließ, oder Faust Kaiser Karl dem Fünften den Schatten Alexanders des Großen zeigte; hier handelt es sich nicht mehr um geschickt gemachte Erscheinungen von kurzer Dauer, in tiefem Schweigen, oder in Begleitung von einzelnen orakelhaften Worten; bei dem Verfasser der neuesten Manifestationen, Herrn D. Hornung, finden förmliche Geisterkränzchen statt. Die Geister stellen sich so gut ein, wie Herr von Forstner, General von Pfuel, Herr Commerzienrath Ravené, Herr Hofopernsänger Krause, Herr von Willisen und Herr Graf Knyphausen, anderer Gäste und Berliner Notabilitäten gar nicht zu gedenken; die Wohnung des „geistreichen“ Rendanten in der Lindenstraße Nr. 16 gleicht einer Ressource für Gespenster. Kaum hat sich das Medium an den Psychographen gesetzt, und die Gesellschaft Platz genommen, so bemächtigt sich auch schon ein Geist des Mediums und theilt sich den Anwesenden durch das schreibende Instrument mit. Namentlich gewöhnen sich die ganz bösen und die dubiösen Geister an unsere alten Herren, während die guten Geister zurückhaltender sind und das für ihre ausgezeichnete Stellung erforderliche Decorum beobachten.
Zuweilen befehden sich sogar die bösen Geister und mischen sich unberufen Einer in des Andern Conversation mit dem Magier und der verehrlichen Gesellschaft. Die Aergsten sind der Angabe nach Heinrich Heine und ein schlesischer Geist, ein gewisser Horaz von Forno. Es ist kaum glaublich, in welchem Tone sich das letztgenannte Scheusal in Gegenwart gebildeter adliger Herren, reicher Industriellen und Künstler vernehmen läßt. Einmal hat besagter Horaz von Forno den Sänger des Buches der Lieder unterdrückt, und Herr D. Hornung bittet nun Heine, seine ganze Kraft anzustrengen, um Forno zu verdrängen. Er würde ihn dabei unterstützen und die Kraft des Allerhöchsten anrufen. Statt Heine’s Antwort, den Forno als der Stärkere nicht zuließ, wurde Folgendes durch das Medium geschrieben: „Zum Donnerwetter! störe Heine nicht, er muß beten. Das arme Luder, das früher so schön richtig deutsch gesprochen, hat hier (in der Hölle) vor lauter Frömmigkeit seine Muttersprache verlernt; singt der Kerl jetzt immer:
Herr Gott, ich lobe Dir
Und preise Deine Güte.
Mehr hat das arme Vieh von diesem Bauchkneifen erregenden Liede auf Erden nicht gelernt, und nun leiert er immer diese beiden Strophen; man möchte sich hier die Ohren mit Watte zustopfen, und das Bauchkneifen nimmt gar kein Ende; ich habe schon den glänzendsten Durchmarsch bekommen. – Kannst du ihm das Lied nicht weiter vorbeten? damit wir doch wenigstens eine Abwechselung bekommen und unsere Därme sich wieder stopfen. Forno.“
Mit dieser Sippschaft verkehrt der Magier und seine Freunde Monate lang und nimmt jedes Wort, welches durch das Medium mittelst Inspiration der verschiedenartigen Geister aufgeschrieben wird, für baare Münze und unumstößliche Wahrheit, wovon man sich auf jeder Seite des verzweifelten Buches selbst überzeugen mag. Auch sind die Geister im Ganzen nicht undankbar für so viel Vertrauen und Glauben. Sie scheinen sich in der Gesellschaft der alten Herren wohl zu fühlen und kehren immer wieder. So ist da der Geist eines Kapuziners Konrad aus Tübingen, der als siebentehalb Fuß langes Gespenst in einer Schloßkellerei nächtlich umgeht, aber von dem Herrn, der dort zur Miethe wohnt, nicht zum Reden gebracht werden kann, da der Psychograph ihm den Dienst versagt und die Geister seit einigen Jahren sich angewöhnt zu haben scheinen, ihre Ansichten nur durch dieses Instrument mitzutheilen. Der Tübinger Herr schreibt deshalb an Rendant D. Hornung, den Großmeister der psychographischen Loge, und fleht ihn inständigst an, den nächtlichen Ruhestörer zu citiren und zur Angabe seiner Persönlichkeit, wie seines Charakters, resp. Verbrechens, zu veranlassen. Alsbald werden die nöthigen geistmagnetischen Operationen angestellt, und der „jenseitige Unbekannte“ gibt sich als den schon genannten Konrad zu erkennen, wobei er sich gleichzeitig des Mordes Herzog Heinrichs des Löwen und seiner Gemahlin schuldig bekennt. In dem Vortrage dieses armen Geistes, der nach seinem Geständniß – er muß es doch selber am besten wissen – schon seit dem Jahre 1193 umgeht und schlechterdings nicht zur Ruhe gelangen kann, liegt aber so viel Reuiges und Gemüthliches, so viel Redseligkeit und Hang zu guten Menschen, daß die Ressource mit ihm ein förmliches criminalistisches Verhältniß anknüpft und ihn bis zum April des nächsten Jahres nicht aus den Händen läßt. Die Klagen Konrad’s reichen zwar nicht an den großartigen Styl Hamlet’s sen., allein mit den Redensarten betrübter Geister in gewöhnlichen Trauerspielen oder Melodramen lassen sie sich allenfalls vergleichen. Solche Kerle aus dem Jenseits kann der Hornung’sche Verein brauchen, und Konrad wird von ihm so grausam gezwiebelt, wie nur ein menschlicher Verbrecher von seinem Inquirenten. Er soll den Leichenstein der von ihm ermordeten Herzogin Mathilde angeben, kann jedoch schlechterdings damit nicht zur Zufriedenheit der Gesellschaft und des Tübinger Herrn zu Stande kommen. Man correspondirt emsig, ja in Tübingen werden ordentliche Nachgrabungen angestellt. Konrad findet indessen stets neue Ausflüchte, und nachdem er die würdigen Herren ein Vierteljahr lang hingehalten, vertröstet er sie schließlich mit der Auffindung des Steines auf künftige Zeiten. Inzwischen benutzen ihn die Herren als Uebersetzer einer aus Pittsburg in Pennsylvanien eingesandten Hieroglyphenschrift, denn die Psychographen correspondiren schon trotz den Akademien der Wissenschaften. Diese von einem amerikanischen Medium verfaßte Schrift wird vollständig übersetzt mitgetheilt, und enthält eine Göttergeschichte und Schöpfung des Menschen auf – dem Planeten Saturn. Der Leser des Buches glaubt sich zuweilen wirklich in einem Narrenhause zu befinden, und ich bewahre von einem Besuche der Irrenstation im Berliner Arbeitshause noch einige Blätter mit Selbstbekenntnissen einer armen Wahnsinnigen auf, in denen mehr Vernunft und weniger Verstöße gegen die rohesten Elemente der Naturwissenschaft enthalten sind, als in dieser Geistermanifestation.
Eine angenehme Abwechselung bringt die plötzliche Erscheinung des ehrsamen Hans Fürchtegott Gellert hervor. Als nämlich in der psychographischen Gesellschaft gefragt wird: „Wer wird heute die hier aufgestellten Fragen beantworten?“ meldet sich unerwarteter Weise der Leipziger Professor als Stellvertreter Konrad’s. Der fromme Mann läßt sich sogar herbei, den Herren zu erklären: „wodurch Bosco befähigt sei, mit doppelt verbundenen Augen jede Schrift zu lesen“. Seine Erklärung ist sehr sublim, sehr spiritualistisch und geistmagnetisch –. –. Alle namhaft gemachten Geister brauchten eigentlich gar nicht citirt zu werden, um unsere Kenntnisse zu bereichern. Ueber das Jenseits sagen sie nichts, was nicht schon tausendmal von Schwärmern oder Gaunern wiedergekäut worden wäre, über das Diesseits nichts, was nicht alle oberflächlich Gebildeten sich an den Schuhen abgelaufen hätten. Ja Geister, welche wie der mit aufgeführte kleine Richard, der schon im Jahre 1844, elf Monate alt, gestorben ist, den besten Unterricht im Jenseits genossen haben – Richard gibt Christus als seinen Lehrer an! – zeigen sogar die empörendste Unwissenheit. Unfehlbar hätte dieser kleine Geist, wenn er leben geblieben wäre, unter der Anleitung des ersten besten Kandidaten der Philologie bessere Fortschritte im Griechischen gemacht, als im Jenseits, denn er begeht am Schluß des Buches in einem Gedicht einen so lächerlichen Sprachfehler, und Herr Rendant D. Hornung fügt eine so böotische und nie „auf Schulen“ erhörte Erklärung hinzu, daß wir der Versuchung nicht widerstehen können, die Blätter der neuesten Manifestationen zu einem Zwecke zu verwerthen, welcher das Finale eines der erfreulichsten, wenn auch nur irdischen Acte im menschlichen Leben zu bilden pflegt.
[12]Es dürfte die schöne und sicher auch dankbare Aufgabe eines deutschen Geschichtsschreibers sein, das Haus- und Familienleben Luthers in seiner ganzen Traulichkeit und stillen Würde zu beschreiben. Die meisten Biographen des großen Reformators schildern den Mann nur als zürnenden Kämpfer gegen Mißbrauch des göttlichen Wortes, als kühnen Streiter für seine Ueberzeugung, als überall gewappneten und schlagfertigen Krieger auf dem Felde des Geistes. Von dem liebenden Gatten Luther, von dem lehrenden und sorgsamen Vater, dem sinnigen Freunde der Musik und der Natur, von dem Manne der Wohlthätigkeit, der überall Thränen trocknete, so weit seine arme Hand reichte, von diesem erfahren wir nur wenig. Und doch welcher Reichthum an Liebe und Gemüth, welche Männlichkeit bei aller kindlichen Einfalt, welch ein treues echtdeutsches Gemüth! Bei seiner Arbeit, im Kreise der Seinen an der heitern Tafelrunde und am Krankenlager, spielend mit den Kleinen und mit ihnen betend, überall und in allen Lagen des Lebens – die große edle Natur! Sein Zusammenleben mit den Kindern ist ein wahres Idyll an Harmlosigkeit und stillen Freuden, dem es dabei nicht an kräftigen festen Zügen fehlt. Bei aller tiefen und echten Frömmigkeit des Gemüths strebte doch Luther stets danach, aus seinen Kindern – nicht verhimmelnde Duckmäuser – sondern edle, kräftige Menschen zu erziehen.
Eine der ergreifendsten Scenen aus dem Familienleben des wackern Mannes, in der er sich so recht in seiner ganzen Weichheit [13] und doch auch wieder in der alten Markigkeit seines Charakters zeigt, finden wir in den Sterbetagen seiner dreizehnjährigen Tochter Magdalena.
Das schwerkranke Kind lag im Sterben. Still weinend warf sich der Vater neben das Bette des frommen Kindes auf die Kniee und betete, mit Liebe und Schmerz ringend, um die Auflösung der Kranken. „Ich habe sie so sehr lieb,“ rief er, „aber lieber Gott dort oben, wenn es Dein Wille ist, so will ich sie gern bei Dir wissen!“ Darauf beugte er sich über das Bett des leidenden Kindes und indem er ihre Wangen strich, fragte er leise: „Magdalenichen, mein Töchterlein, bliebest Du gerne hie bei Deinem Vater, oder ziehest auch gern zu jenem Vater?“
„Ja, herziger Vater,“ antwortete das Kind und schlang die matten Arme um seinen Hals, „wie Gott will!“ – Da brach sein Schmerz in helle Thränen aus, er wandte sich ab, um dem Kinde seine Bewegung zu verbergen, und schluchzte: „O Herr, wie habe ich sie so sehr lieb! Und dennoch, wir leben oder sterben, so sind wir dein! –“
Als nun das letzte Stündlein des Kindes gekommen – es war am 20. September 1542, – seine Gattin, die liebe Käthe, in einer Ecke des Zimmers saß und das mit Thränen überfluthete Antlitz in den Händen verbarg, weil sie den Jammer nicht mit ansehen konnte, da warf der gebeugte Vater sich wieder vor das Bett auf die Kniee und betete, daß Gott es wolle erlösen – bald, recht bald! Dann umfaßte er das Töchterlein mit beiden Armen und legte seine Wangen an die ihren und suchte ihr den letzten Kampf zu erleichtern, obwohl ihm fast das Herz dabei brach. Ihr letzter Blick galt dem Vater!
Zwei Tage später lag die Todte, von Blumen überdeckt, im Sarge, in einem Gewölbe des Unterhauses. Als die Leichenträger und Leidtragenden kamen und dem armen Vater ihr Beileid bezeigen wollten, ergriff er die Hand des Einen und sagte in seiner milden Weise: „Ihr solltet nicht klagen, denn ich habe eine Heilige gen Himmel geschickt! O hätten wir Alle einen solchen Tod!“
Dann begab er sich still und allein hinunter in den kleinen Raum, wo jetzt sein Töchterlein die letzten Augenblicke im elterlichen Hause verschlief, öffnete den Sarg wieder und weidete sich zum letzten Male an dem Anblick des lieben Kindes, das nicht mehr, wie sonst, ihm sein „herziger Vater“ zurufen konnte. Für seinen Schmerz gab es keine Worte! „Du liebes Lenichen, wie wohl ist Dir geschehen!“ sagte er nur leise weinend, küßte noch einmal den kalten Mund und beugte dann seine Kniee zu einem Gebet um Trost und Kraft in seinen Leiden.[1] Gestärkt erhob er sich und schloß dann für immer das kleine Haus seines Lieblings. Als er wieder hinauf zu den Seinen kam, tröstete er sie und sagte: „Mein Kind ist nun wohlbeschicket, sowohl an Leib, als an Seele!“ Seiner Frau, der weinenden Kathi, sagte er tröstend: „Ein wunderbares Ding, zu wissen, daß sie in Frieden und ihr wohl ist und daß wir doch so traurig sind.“
Dann gab er ruhig Befehl sein Töchterlein hinauszutragen auf den stillen Friedhof.
Der regierende Herzog von Coburg-Gotha[WS 20] nimmt bekanntlich eine ehrenvolle Stelle unter den Tondichtern der Gegenwart ein. Eine brillante Oper um die andere geht aus seiner musikalischen Schöpfungskraft hervor; seine Hofkapelle und sein Hoftheater sind reich an tüchtigen Talenten. Es ist natürlich, daß musikalische Capacitäten aller Art in den Wintermonaten nach Gotha, in der übrigen Zeit nach Coburg strömen, wo eben Kapelle und Theater wirken, und entweder vom Herzog eingeladen, oder sich ihm offerirend ihr Licht vor ihm und dem Publicum leuchten lassen, oder wenigstens den Versuch dazu machen.
Es fehlt in den beiden Residenzen zur angegebenen Zeit selten an tüchtigen herzugewanderten musikalischen Kräften; denn die Musik, namentlich der Gesang liebt es ja, auf die Wanderschaft zu gehen. Die Virtuosen gleichen den Zugvögeln, nur daß sie nicht so naiv und harmlos sind wie diese, und sich gern von einem fürstlichen Liebhaber einfangen lassen.
Schwerlich nimmt irgend ein Glied dieses wandernden Virtuosenthums, das jährlich in den beiden thüringischen Städten einkehrt, Kenntniß von einem eingebornen musikalischen Genie, das auch vom Virtuosenwandertrieb beseelt, demselben in ganz anderer Weise als sie und in sehr origineller genügt. Und doch wäre dieser Mann, jetzt ein dreiundsiebzigjähriger Greis, werth, daß sie ihn beachteten und ehrten, ja sie könnten sogar noch viel, sehr viel von ihm lernen, was ihnen in Bezug auf ihre Kunst zum Nutzen und – wenn sie wirkliche echte Talente sind – zur künstlerischen Erhebung dienen könnte. Denn der alte wandernde Spielmann ist ein Träger jenes regenbogenfarbigen warmen Lichtstrahls, der harmonisch tönend aus dem Feuerrohr des Prometheus hervorzuckte, er ist ein echter musikalischer Genius, und die von ihm geschaffnen Tonstücke haben Millionen zartfühlender Seelen entzückt; sein Name ging weit über die Grenzen Deutschlands hinaus; er war ein in der ganzen civilisirten Welt gefeierter.
Es sind Jahre her, ich weiß nicht wie viel, als die auf dem Hoftheater in Gotha mit großem Beifall aufgetretene bekannte Sängerin S. mich aufsuchte. Ich machte einige Ausflüge mit ihr in die reizende Gebirgslandschaft. Auf einem derselben sah ich einen Mann mit einem kleinen Papierpäckchen unter dem Arme in ärmlicher Kleidung auf der Straße vor dem Wagen in derselben Richtung gehen. Ich erkannte ihn von weitem von hinten. Sie ist ja nicht zu verkennen, die eigenthümliche Gestalt, und ich glaube, im südwestlichen Thüringen kennt sie jedes Kind eine Viertelstunde weit von allen Seiten. Ich würde sie an ihrem Schatten erkennen; denn sie ist mir zum unentbehrlichen Bestandtheil der vaterländischen Gegend geworden, gleichsam zur nothwendigen Staffage der Landschaft. Und gewiß mir nicht allein. Mehr oder minder mag es allen thüringischen Landsleuten jener Gegend so ergehen. Diese Gestalt ist uns Allen eine liebe Gewohnheit, eine autotypische Erscheinung, wie Berg und Fels, Kirchthurm und Wirthshaus.
Ich flüsterte meinem Gaste schnell zu: „Sehen Sie sich den Mann, der vor uns geht, recht an. Er verdient Ihre Aufmerksamkeit im höchsten Grade.“
Wir holten ihn schnell ein; ich ließ halten. Das alte, liebe gutmüthige Gesicht mit den feinen scharfgeschnittenen Zügen, mit den blauen, träumerischen Augen lächelte uns einen freundlichen Gruß zu. Ein etwas gebückter Mann von mittler Größe, salop gekleidet, wie immer, mit einem schönen Kopfe, ausdrucksvollen Zügen, hoher gewölbter Stirn, von weichen blonden Locken umflogen. Er redete mich mit weicher sonorer Stimme an. Ich bot ihm einen Platz im Wagen an; er schlug ihn aus, er wollte sich im nächsten Dorfe verweilen. Das Papierpäckchen belehrte mich, was er dort zu verrichten hatte. Doch versprach er mich auf dem Heimwege zu besuchen.
Als wir weiter fuhren, fragte meine Dame: „Wer ist dieser Mann? Sein Habitus, namentlich sein Kopf und seine Züge haben mir imponirt. Das ist kein gewöhnlicher Mensch, und gerade seine ärmliche Kleidung bestätigt meine Vermuthung.“
„Meinen Sie?“ versetzte ich lachend. „Nun, er ist ein wandernder Musikalienhändler. In dem Päckchen trägt er neue Noten, geschriebene, gedruckte. Er besucht den Pfarrer, den Schullehrer, den Schulzen, vielleicht auch noch andere Dorfhonoratioren. Die kaufen ihm etwas ab. Er ist überall gern gesehen. Die Hausfrau behält ihn zum Frühstück, zum Mittagsbrod, der Hausherr trinkt ihm freundlich zu. Dann geht er weiter, schlicht, genügsam, heiter. In den Gasthöfen wird ihm die Zeche klein gemacht; oft gibt ihm der Wirth statt der Rechnung die Hand und wünscht ihm glückliche Reise und gute Geschäfte. So wandert er durch das Land.“
[14] „Und das wäre Alles?“
„Vielleicht ist er auch noch etwas mehr.“
„Wie heißt er?“
„Wozu ein Name? Ich werde Ihnen den alten, wunderlichen Kauz vorführen. Kaufen Sie ihm etwas ab. Dann mag er sich Ihnen selbst nennen. Ich glaube, er wird Ihnen gefallen, und Sie werden mir die Bekanntschaft Dank wissen.“
„Fast glaube ich, das ist kein gewöhnlicher Mann. Ich sehe es an seinen Augen, an seiner Stirn, an seiner ganzen Erscheinung. Er erinnert mich an Beethoven.“
Von dieser Bemerkung frappirt, brach ich das Gespräch ab.
Zwei Tage später trat gegen Abend der alte Musikalienhändler bei mir ein. Er pflegte mich oft zu besuchen; er wußte, wie lieb ich ihn hatte. Und auch er war mir gewogen. Ich stellte ihm einen Becher Wein auf den aufgeklappten Flügel im Nebenzimmer. Bald saß er vor dem Instrument und ließ die Finger leise über die Tasten hingleiten. Es klang herüber wie flüchtige Geistergrüße. In diesem Augenblick trat unsere Primadonna herein. Sie pflegte jeden Abend zu kommen. Ich winkte ihr zu und deutete auf den Spielmann im Nebenzimmer, den die Dämmerung eben sanft einschleierte. Sie nickte wie im Einverständniß und als wisse sie wirklich schon, wer er sei. Still und horchend saß sie auf dem Sopha. Aus dem dunkler werdenden Zimmer säuselten die Töne zu uns heraus. O Ohnmacht der menschlichen Sprache, wenn sie das tiefste, süßeste, heiligste Seelengeheimniß enthüllen soll! Dazu sind ja eben nur die Töne da; wozu brauchten wir sie, wenn die Sprachlaute es vermöchten? Hier wurde ein solches Geheimniß ausgesprochen. Das vermag nur ein musikalischer Genius. Die Andern hämmern, klimpern, lärmen, rasen auf den Tasten herum, daß Einem die Ohren gellen. Sie können kein Geheimniß aussprechen, denn sie wissen keins. Aber nur eine tiefe Seele versteht die wahre Sprache. Die Andern sitzen dabei und hören – Noten abspielen.
Meine Dame verstand den Mann da drin im dämmerigen Zimmer, und seine flüsternde Sprache drang ihr in die Seele. Ich sah im letzten Tagschein ein paar Thränen in ihren Augen schimmern. Ihre Brust hob sich mächtig, und doch hörte man sie nicht athmen. Der Spielmann verlor sich immer tiefer in seine wunderbaren träumerischen Phantasien. Die Nacht hüllte uns mehr und mehr ein. Niemand regte sich; man hörte nur die leisen, sehnsüchtigen, fröhlichen, neckischen, wunderbaren Töne. Sie klangen wie sich ein Dichter die Flügelschläge kleiner Engel vorstellen mag.
So war wohl eine Stunde vergangen (wir hatten das Zeitmaß verloren), als der Spielmann nach Licht rief. Es wurde zuerst in unser Zimmer gebracht. Der Virtuos kam heraus, sah die fremde Dame scheu an und schien von ihrer Anwesenheit wenig erbaut. Meine Frau bat ihn weiter zu spielen; er versetzte verdrießlich: „Ja, für Sie! Die andre Dame darf es nicht hören.“
Nun spielte er mehr mit Kunst. Doch war das Meiste hinreißend schön. Plötzlich stand er auf, nahm den Hut und verließ uns mit kurzem Gruße.
„Mein Gott!“ rief die Primadonna, „ich erwache wie von einem Rausche. Nie hab’ ich zartere, reinere Seelentöne vernommen. Dieser Mann ist ein großer lyrischer Tondichter. Aber wer ist der wunderliche Herr, der an meine Ohren das seltsame Begehren stellte, nicht zu hören? Sie sind mir seinen Namen noch schuldig.“
„Johann Ludwig Böhner ist sein Name, gewöhnlich vom französischen Titel seiner im Stich erschienenen zahlreichen Compositionen „Louis Böhner“ genannt.“
„Louis Böhner, der originelle, melodienreiche Tonschöpfer! Den wir Alle noch kennen, die jemals Musik getrieben!“ rief die Dame überrascht. „Aber wie ist mir denn, hab’ ich nicht sagen hören oder gelesen, er sei geisteskrank?“
„Daß er von Paradoxien, Bizarrerien und Futilitäten, zuweilen auch von fixen Ideen nicht frei ist, leidet keinen Zweifel, und Sie haben eben mit seiner göttlichen Tonmalerei auch davon eine Probe erhalten; ob er wirklich jemals im schlimmsten Sinne geisteskrank war, weiß ich nicht, wir haben eben kein anderes Wort für seine Abnormitäten.“
Die entzückte Sängerin erinnerte sich einer journalistischen Mittheilung von dem (vor 25–30 Jahren) so viel genannten Wit von Dörring über Louis Böhner, nach welcher dieser im Königsschlosse zu Kopenhagen eine seltsame, allerdings von Geistesverwirrung zeugende Scene mit einer königlich dänischen Prinzessin gespielt haben sollte. Auch behauptete sie, man habe ihr von gut unterrichteter Seite versichert, Böhner sei das Original zum Kapellmeister Kreisler in E. Th. A. Hoffmanns Kater Murr. Beide hätten zusammen in Bamberg gelebt und seien als musikalische Genie’s viel miteinander umgegangen. Ebenso versicherte sie, K. M. v. Weber habe das Motiv des Freischütz von Böhner entlehnt, und die beliebte Arie: „Wir winden dir den Jungfernkranz“ sei Böhner’s Erfindung.
Ich konnte über keins dieser Dinge Auskunft geben. Doch hatte ich die letztere Behauptung schon einige Male von Musikkundigen aussprechen hören. Mir war die Sache auf folgende Weise erzählt worden. Ein Böhnersches Concert enthalte allerdings eine Stelle, welche mit dem Thema des Freischütz nahe verwandt sei. Von einer eigentlichen Entlehnung dürfe man aber doch nicht reden. Was den genannten Brautjungfernchor betreffe, so habe Weber während seines Aufenthaltes beim Prinzen Friedrich (dem spätern letzten Herzoge) von Gotha auf einer Dorfkirmeß in dem erfurtischen Dorfe Alach einen Tanz spielen hören, den er für eine alte Volksmelodie gehalten, der aber eine Composition von dem in der Nähe Alachs, in dem gothaischen Dorfe Töttelstedt gebornen und aufgewachsenen L. Böhner gewesen sei. Und diesen Tanz habe Weber zu seinem berühmten Chor benutzt.
Meine Gesangskünstlerin bat mich angelegentlich, ihr den wunderlichen Tonkünstler zuzuführen. Meine Bemühungen, ihren Wunsch zu erfüllen, waren vergebliche, da man nie wissen kann, wo Böhner, der sich fast immer auf der Wanderschaft befindet, eben verweilt, beziehentlich wohnt. Er kam nicht wieder, und die Dame mußte abreisen, ohne seine nähere Bekanntschaft gemacht zu haben. Sie nahm mir aber das Versprechen ab, ihr über sein Leben und künstlerisches Wirken Aufschlüsse zu verschaffen. Ich wandte mich deshalb später an ihn, und er machte mir biographisch-aphoristische Mittheilungen, die ich heute, nach langen Jahren, auf Antrieb unseres gemeinschaftlichen Landsmannes und Freundes Ernst Keil, dem aus dem von Böhner ebenfalls oft besuchten Vaterhause eine warme Pietät für den wandernden Spielmann geblieben ist, zuerst für die Oeffentlichkeit benutze. Herr Keil ist nämlich von Böhner, den er im vaterländischen Gebirge traf, ersucht worden, in der Gartenlaube den „albernen Gerüchten, die über sein Leben und Thun im Umlauf seien“, zu widersprechen.[2]
[15] Jene pikante Veröffentlichung Wit von Dörring’s über die vorgeblich drastische Rencontre unseres Componisten mit der Prinzessin von Dänemark erklärte Böhner für eine unverschämte Erfindung und Bambocciade des berüchtigten zweideutigen Demagogen. Was seine Originalschaft zu E. T. A. Hoffmanns Johannes Kreisler betrifft, so gab er an: während seines fünfjährigen Aufenthaltes in Nürnberg (1810–1815) öfter und periodenweise in Bamberg zugebracht und mit Hoffmann, dem genialen und lebenslustigen Kunstgenossen, der von 1808 bis 1813 in der alten fränkischen Bischofsstadt lebte, frohe Tage genossen zu haben. Sie hätten da viel tolles Zeug zusammen getrieben und sich des Lebens auf ihre Weise gefreut. Nun ist bekannt genug, wie Hoffmann sich des Lebens zu freuen liebte, und es ist in Thüringen auch kein Geheimniß, daß Böhner die Lebenskunst ebenso genial auszuführen verstand, wie die musikalische. Hoffmann, elf Jahre älter als Böhner, nannte diesen Sohn und wird ihm wohl guten Unterricht und väterliche Anleitung gegeben haben. Böhner fing zu jener Zeit an seine Capriolen zu machen, die die Linie des gesunden Menschenverstandes bald übersprangen, und so ist es gar nicht unwahrscheinlich, daß sein phantastisches Lebensbild später von Hoffmann zu dem tollen Kapellmeister benutzt wurde.
In Bamberg versicherte man mich, E. T. A. Hoffmann habe allerdings bei der Schöpfung des Kapellmeisters Kreisler Böhnern vor Augen gehabt. Hoffmann schrieb den Kater Murr auf der Altenburg in einem der alten Thürmchen der Festungsmauer, das zu einem Zimmer eingerichtet ist. Zur Abwechslung warf er die Scenen, die er eben erfunden und beschrieben oder beschreiben wollte, mit Bleistift an die weiße Wand. Das waren denn die herrlichsten Karikaturen, geniale Schöpfungen seines übersprudelnden tollen Humors. Zuletzt waren alle Wände voll, lauter „Kreisleriana“. Und in diesen kecken Bildern soll Kreisler stets Böhners Züge getragen haben.
Das Machtgebot eines Schlaukopfs, deren die Welt leider mehr hat, als ihr zuträglich ist, hat diese Bilder als „dummes Zeug“ mit Tünche überziehen lassen. Ohne diese Barbarei würde das Mauerthürmchen höchst wahrscheinlich der Wallfahrtsort vieler genialer Menschen und ein Anziehungspunkt der schönen Altenburg mehr geworden sein.
In Bezug auf die angebliche Benutzung seiner Ideen durch K. M. von Weber im Freischütz antwortete Böhner ausweichend: es fänden sich wohl dergleichen Reminiscenzen in der berühmten Oper; das könne aber den schöpferischsten Geistern begegnen und sei weiter kein Plagiat. So wenig wie er selbst sich mit fremden Federn schmücke, eben so wenig könne er glauben, daß es ein so berühmter Componist, wie Weber, thue. Diese Aeußerung zeugt wenigstens von Böhner’s nobler Gesinnung, die er mir auch sonst in aller Weise bethätigte.
Johann Ludwig Böhner, geb. den 8. Januar 1787 zu Töttelstedt, einem großen gothaischen Dorfe zwischen Gotha, Erfurt und Langensalza, Sohn des dortigen Organisten, spätern Cantors, der aus Dietharg, einem der ältesten und schönsten unserer Walddörfer gebürtig war (daraus erklärt Böhner seine poetische Vorliebe für das Gebirg), erlernte schon als Knabe unter den Augen des Vaters gleichsam spielend Musik. Die große prächtige Orgel seines Geburtsortes spielte er bald mit Lust und Geschick, außerdem Klavier und Violine; auch sang er Sopran, und bildete sein hohes musikalisches Talent rasch und frühzeitig aus. Ohne Unterricht im Harmonie- und Instrumentalsatz gehabt zu haben, componirte er vom 10. bis zum 14. Lebensjahre mehrere Kirchenstücke und Schiller’s Lied an die Freude, jeden Vers besonders, mit Recitativen, Arien, Chören etc. als Hymnus. Diese seine ersten Versuche wurden in der Umgegend hie und da aufgeführt und fanden Beifall. Sein Vater besaß die Werke von Händel, Bach, Telemann, Graun, Bando, Haydn, Mozart und Beethoven, und diese wurden, da er sie fleißig spielte, Böhner's eigentliche Lehrer.
Vom 13. Jahre an besuchte Böhner das Gymnasium zu Erfurt, wo er oft Gelegenheit hatte, den großen Orgelspieler Joh. Christian Kittel, den letzten Schüler Seb. Bach’s, zu hören, und von dessen Schüler J. M. G. Fischer in Harmonie- und Fugensatz, so wie vom Organisten Kluge im Klavierspiel und Generalbaß Unterricht erhielt. Des kunstreichen Concertmeisters Fischer Concerte mit Dahlberg’s Kapelle regten ihn ungemein an. Böhner zeichnete sich hier als Orgelspieler und Sopransänger schon so aus, daß er davon Veranlassung nahm, sich ganz der Musik zu widmen. Darauf nahm er, 18 Jahre alt, seinen Aufenthalt in Gotha, wo Louis Spohr, nur drei Jahre älter als er, eben herzoglicher Concertmeister geworden war (1805). Bis 1808 Privatlehrer, hörte er Spohr oft in den Hofconcerten, ebenso Dussek[WS 21], Ebert, Himmel, wurde vom Erstern begünstigt und aufgemuntert und gab selbst unter dessen Direction ein Concert mit freier Phantasie bei Hofe.
Eine Aussicht, sich in Jena besser zu stehen, zog ihn 1808 dorthin, wo er anderthalb glückliche Jahre verlebte. Er gab hier viel Unterricht, componirte einige seiner ausgezeichnetern Werke, namentlich das Pianofortconcert in E, wozu ihm die liebenswürdige Louise Marezoll das Papier liniirte, und das er mit dem größten Beifall öffentlich vortrug.
Interessant ist, daß er im Hause des Buchhändlers Frommann der Lehrer jener durch Goethe’s „Wahlverwandtschaften“ unsterblich gewordenen Minna Herzlieb, Frommann’s Pflegetochter, der Ottilie in dem genannten Romane, wurde, zu der sich der alternde Zeus so wunderbar poetisch hingezogen fühlte, und von der er, die er als Kind schon geliebt, mit dem ganzen Zauber einer tiefen Frauenseele wieder geliebt wurde. Böhner kam so recht mitten in diesen Roman hinein, er lernte Goethe bei Frommann kennen und sah ihn auch in den Cirkeln einer in Jena lebenden reichen Engländerin, Frau Hemburg, wo er spielte und sich des Dichterfürsten Beifall erwarb. Hätte damals Goethe Böhner’s Originalität in ihrer tiefsten und eigenthümlichsten Bedeutung und in ihrer musikalisch-lyrischen Beziehung zu Minna näher kennen gelernt, ich bin überzeugt, unser Spielmann würde eine Stelle in jenem hohen Meisterwerke der tragischen Dichtkunst gefunden haben, wie der Lehrer und der Architekt.
Von Jena aus dem Herzog August von Gotha nachdrücklich empfohlen, erhielt Böhner von diesem das Reisegeld zu einer Kunstreise. Seine Absicht war, zu seiner weiteren Ausbildung nach Wien zu gehen. Bevor er diese Reise antrat, componirte er im elterlichen Hause zu Töttelstedt mehrere größere Werke, darunter die Ouvertüre in C zu seiner Oper „der Dreiherrnstein“ und das Pianoforteconcert in C, opus 10.
Weder er noch sonst Jemand dachte daran, daß sein Reisepaß nach Oesterreich mit dem Visa des österreichischen Gesandten in Dresden versehen sein müßte. Er ging über Suhl, Meiningen, Hildburghausen und Coburg, gab in allen diesen Städten Concerte und fand warme Unterstützung und Verehrung seines Genius, dessen Fittich sich damals in voller Kraft und Schönheit entfaltete. In Nürnberg rief seine öffentliche Production einen wahren Enthusiasmus und die ehrenvollste Anerkennung wach. Durch Franken und Bayern kam er bis nach Linz, wo er wegen ungenügender Reiselegitimation umkehren mußte. Ueber Regensburg gelangte er nach Nürnberg zurück und zwar mit gänzlich erschöpfter Casse. Da zeigte sich's, wie viel wahre Freunde sich der geniale junge Tonkünstler und Virtuos in der geistesregen kunstsinnigen Stadt erworben hatte. Von allen Seiten gewährte man ihm Hülfe und drang in ihn zu bleiben. Vorzüglich waren es der ebenso geniale wie liebenswürdige Guhr, der, fast ein Jahr jünger als Böhner, schon seit drei Jahren Musikdirector in Nürnberg war, dann ein Herr von Harsdorf und der Stadtgerichtsarzt Dr. Karl Prau, die sich um Böhner verdient machten. Und so blieb er denn in der reichen Handelsstadt und lebte ganze fünf Jahre in Dr. Prau’s Hause sorgenfrei und in glücklicher Muße. In dieser Zeit hat er seine vorzüglichsten Werke geschaffen, so auch die Oper „der Dreiherrnstein“, die allerdings kein dramatisches Leben, aber an Fülle lyrischer Schönheit nicht ihres Gleichen hat.
[16]
Eine naturwissenschaftliche Reise in Panama. Die Naturwissenschaft ist neuerdings durch mehrere bisher ganz unbekannte Vierfüßler und 25 Arten neue Insecten aus der zukunftreichen Republik Panama bereichert worden. Wenige, die von diesen neuen Schätzen hörten, dachten wohl daran, was sie kosten, unter welchen Mühseligkeiten, Lebensgefahren, Verlusten, Opfern und heroischen Kämpfen ein Paar Dutzend Schmetterlinge und die Kenntniß von einigen behaarten und beborsteten Republikanern Panama’s nach Europa gebracht wurden.
Hören wir, wie Gaetano Osculati[WS 22] aus Mailand, Mitglied der geographischen Gesellschaft zu Paris, die unbekannteren Regionen dieser reichgeschmückten Taille des amerikanischen Continents durchwanderte und die bisher unbekannten Insecten und Vierfüßler entdeckte. Er verließ die höchste Stadt der Welt, Quito, die Hauptstadt der Ecuador-Republik, in der sich alle Klimate und Vegetationsstufen der Welt zusammendrängen und wo eine englische Compagnie unter Leitung eines deutschen Kaufmanns in London ein neues Deutschland[WS 23] vorbereitet, am 7. Juni 1847, um Archidona zu erreichen und den Fluß Napo weiter zu untersuchen. Gepäck und Instrumente waren ihm vorausgegangen, da die indianischen, von der Regierung angestellten Cargueros oder Gepäckträger, die dort die Stelle von Posten und Briefträgern vertreten, sich wegen einer ansteckenden Krankheit in Quito nicht länger halten ließen. Als er nach Tombacho kam, war die ganze Stadt voller Tumult, Festlichkeit, Trunkenheit und allerhand seltsamer Mummerei. Sie feierten das Fest Corpus Christi. Aus vielmeilenweiter Umgegend waren braune, schwarzbraune, gelbe, rothe, schwarze Landleute und Indianer und unzählige Kreuzungen von spanischen, indianischen und Neger-Mischlingen in bunten Kleidern, Lappen und Putzfetzen herbeigezogen. Sie brüllten und tanzten unter Triumphbogen hin, die üppig mit Blumen und Früchten überdeckt waren und von denen[WS 24] lebendige Kaninchen und junge Ziegen zappelnd und jämmerlich schreiend in der brennenden Sonne herabhängen.
Diese doppelte Thierquälerei wird für die Küchen der Geistlichkeit prakticirt. Eingeborne Indianer bringen die Thiere als Opfer. Christen hängen sie zur Ehre Gottes lebendig auf und lassen sie den Tag über zappeln und – braten, bis sie Abends von den Köchinnen der Geistlichen abgeschnitten werden, während die Massen um Stiergefechte herum, in Maskenanzügen und unter Feuerwerken in schrecklicher Beleuchtung trunken jauchzen und Gesichter in allen Farben und Verzerrungen schneiden.
Osculati konnte das scheußliche christliche Fest nicht bis zu Ende mit ansehen und brach nach Papellcota am See gleiches Namens auf, wo er seine bepackten Indianer zu treffen hoffte. Nach einigen Schwierigkeiten fand er sie und brach mit einer kleinen Fußkarawane am 16. Juni auf, um Archidona zu erreichen. Der Weg dahin ist weder Chaussee noch schlechtester Fußweg, sondern ein enges Gewinde durch dickes Dornengebüsch und furchtbaren Urwald, durch lehmige Wassersümpfe, schlüpfrige Bergschluchten und gefährliche Flüsse. Es konnte immer nur ein Mensch hinter dem anderen her arbeiten, und wenn Einer stecken blieb, mußten auch alle Andern hinter ihm halten. Von mitgenommener Nahrung durfte nur wenig verzehrt werden. Des Nachts mußte man unter Zweigen und Blättern, durch welche der Regen strömte, zu schlafen suchen.
Zu diesen Qualen kam eine viel größere, die begründete Furcht unseres Helden, daß die Indianer sich heimlich verschworen, mit Gepäck und Lebensmitteln zu fliehen und ihn irgendwie zu „beseitigen“. Osculati hielt sich deshalb immer mit einer Doppelflinte und zwei Pistolen unter den Letzten, immer bereit, dem ersten Anfalle tapfer zu begegnen oder den ersten Fliehenden niederzuschießen. Die ersten Spuren der Auflehnung zeigten sich zwischen den Ruinen der alten Stadt Baeza; jetzt einer einzigen, bewohnten, verfallenen Hütte. Hier rastete die Karawane einen Tag. Am folgenden weigerten sie sich unter allerlei Vorwänden weiter zu gehen. Osculati war fest, züchtigte den Anführer und zwang sie, ihre Lasten aufzunehmen und vor ihm herzugehen.
Sie kamen zuerst zu den schönen, reinen Wassern des Vermejo-Flusses, wo Osculati einen schwarzen Bären schoß und durch Vertheilung des Fleisches sich zuverlässigere Diener zu sichern hoffte. Der vom Regen und geschmolzenem Gebirgsschnee geschwollene Cosanga hielt sie jedoch lange auf, bis man sich für einen Umweg entschied. Aber auf diesem war kein Uebergang zu entdecken, so daß die Karawane am Abende des dritten Tages sich übermüdet und tückisch für die Nacht einrichtete. Für Osculati hatten sie eine Hütte gebaut, in welcher er einen Theil des Bärenfleisches, Lebensmittel, Munition und sich selbst verbarricadirte. Aber vor dem Einschlafen merkte er, daß das Bärenstück gestohlen und seine Hütte ungemein fest und von allen Seiten geschlossen war. Er machte Oeffnungen und drohete Jedem mit augenblicklichem Tode, der zu fliehen oder ihm an’s Leben zu kommen suche.
Nach einigen Tagen war der Fluß gefallen, und Osculati machte sich mit dem Indianerführer auf, einen Uebergangspunkt zu entdecken. Während er an einer Stelle hinein watete, machte sich der Indianer davon. Nach seiner Hütte zurückgekehrt, bemerkte er, daß alle die Anderen mit dem größten Theile seiner Kleider und Lebensmittel geflohen waren. Unser Held fand sich nun allein in der Mitte einer unbekannten Wildniß, ohne Weg und Steg, in doppelter Gefahr vor Mord durch die Indianer oder wilde Thiere der Nacht, in Gefahr, Hungers zu sterben.
„Ich sammelte meine Geistesgegenwart,“ heißt es in seinem Tagebuche, „ergab mich in mein Schicksal und stellte zunächst meine vom Winde halb zerstörte Hütte wieder her, verbarricadirte sie mit Rohr, Aesten und Dornen gegen plötzliche Gefahr von Thieren oder Menschen, lud Flinte und Pistolen, machte noch einen Speer von einem langen Bambusrohre und nach einem elenden Mahle von Biscuit, wovon eine Kleinigkeit geblieben war, und Wasser, legte ich mich auf dem Reste meines Gepäckes zum Schlafen zurecht. Aber aus Furcht vor Ueberraschung stand ich mehrere Male auf, um draußen durch Pistolenschüsse etwa lauernde Feinde zu schrecken. Die Finsterniß war absolut, so daß ich die Hand dicht vor den Augen nicht sehen konnte, günstig für Bären und Jaguars, die dem Geruche folgen. Ich schoß mehrere Male während der Nacht und fand am Morgen noch etwas Kaffee, den ich mir bereitete. Ich blieb etwa eine Woche in dieser miserablen Hütte, immer hoffend, daß ein Indianer sich finden und mir Beistand leisten könnte, aber vergebens. Während der Zeit lebte ich von einem Säckchen voll Biscuit, das mir geblieben war, und das ich nur in den kleinsten Portionen zu verkleinern wagte.“ – Wird man glauben, daß unser Naturforscher während dieser Tage Forschungen anstellte, Insecten suchte, untersuchte und wirklich einige neue und seltene Sorten herausfand, sicherte, beschrieb und sorgfältig verpackte? Kaum glaublich; aber so that er.[WS 25]
„Den 27. Juni,“ fährt er fort, „regnete es unaufhörlich in Strömen. Der Fluß schwoll auf. Ich konnte kein Feuer anmachen. Mein bisheriger Muth sank zur Verzweiflung. Während der Nacht ward ich plötzlich durch näher und näher kommendes Brummen und Grunzen aus der Tiefe des Waldes aufgeschreckt. Bald bemerkte ich einen dunkeln Gegenstand, der auf mich zukam. Ungeachtet der dunkeln Nacht glaubt ich doch einen Tapir vermuthen zu müssen, da es schwer schritt und dem Geruche zu folgen schien. Meine Freude war maßlos, aber die Aufregung zugleich so groß, daß ich in Furcht, das Thier zu verlieren, zitterte und mich erst anlehnen mußte, ehe ich im Stande war, mein Gewehr zu zielen und zu entladen. Ich traf, doch zu schwach, das schwerfällige Thier in meine Hütte zu schleppen, begab ich mich wieder in mein Ruhelager, schlaflos in der Hoffnung, nun auf lange Zeit Mittel gegen den Hunger gesichert zu haben. Meine Freude war jedoch von kurzer Dauer. Beim Erwachen am Morgen fand ich mich unabsehbar von tosenden Wässern umgeben. Der geschwollene Fluß war ringsum bis an meine Hütte herangetreten und stieg immer noch, so daß ich kaum noch Zeit hatte, meine Koffer und die Reste armseliger Habe auf Bäume zu retten. Mehrere Sachen waren schon weggeschwemmt, auch mein Tapir-Schwein.
Es regnete immer weiter unaufhörlich. Die Stürme zischten und heulten, die Wässer gurgelten und tos’ten und klatschten donnernd gegen Felsen. Aus der Erde krachten vulcanische Eruptionen. Man wird sich kaum eine Vorstellung machen, welchen Eindruck diese furchtbaren Scenen auf einen Mann machten, der von Hunger, Angst und Schlaflosigkeit so geschwächt war, wie ich.“
Was blieb ihm jetzt übrig, als sich auf einen furchtbaren Tod vorzubereiten? Er schrieb sein Testament und einen Brief an den Präsidenten der Republik, wickelte diese Papiere wasserdicht ein, band sie an eine lange Stange und daran ein Taschentuch, wie eine Fahne, und steckte sie, in die Ferne winkend, auf. Nach zehntägigem Warten, Zögern, Hungern und Verzweifeln raffte er die letzten Reste seines Muthes und seiner Nahrungsmittel zusammen und beschloß einen Versuch zu machen, Archidona schwimmend zu erreichen. Er theilte die Nahrungsmittel in zwei Hälften, um die eine für den Fall des Mißlingens und der Rückkehr in der Hütte zurückzulassen und mit der andern und den werthvollsten Artikeln sich den Fluthen anzuvertrauen. So stürzte er sich in die unabsehbaren Strömungen des Cosanga. Aber die aufgeregten, mächtigen, einander jagenden und überthürmenden Wasserberge schlugen ihn zurück. Er war zu schwach, den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Dabei verlor er die Hälfte seiner Lebensmittel und ein Pistol. Jetzt beschloß er, die Rückkehr nach Baeza zu versuchen.
„Drei Tage dieses Versuches,“ erzählt er selbst, „brachten mich endlich auf eine sandige Stelle, auf der ich, zu schwach, mir Schutz und Schirm zu bauen, schlief. Am Morgen brachte ich mich nur mit der größten Schwierigkeit auf die Beine; deren blutende Wunden hinderten mich schmerzhaft im Auftreten und Gehen. Die Hoffnung aber, daß ich nun in einem Tage Baeza erreichen könnte, bemeisterte Schmerz und Schwäche, und so quälte ich mich vorwärts.
Am Tage vorher hatte ich mein letztes Biscuit gegessen. Zwei Hände voll gerösteter Mais blieb Alles, was mich noch vor dem Verhungern ein Weilchen schützen konnte. Ich arbeitete mich mit den furchtbarsten Anstrengungen durch Morast und unabsehbar hohes, in einander gewirrtes dichtes Röhricht. Sehr oft mußte ich auf dem Schmutze und Moraste durch unentwirrbar verwachsenes Rohrgestrüpp hinkriechen. Ich war über und über mit Schlamm und Schleim bedeckt. Unter diesen unsäglichen Qualen des Vorwärtsdringens war es vier Uhr geworden, ohne daß ich irgend etwas Lebendem oder Hoffnung Erweckendem begegnet war. Meine Kraft schien absolut erschöpft; bewegungslos und bald besinnungslos saß ich da und genoß 30 Maiskörner, um die andern für einen zweiten Tag zu verwahren. Dabei vernahm ich zum ersten Male einen Laut – das Krähen eines Hahnes. Zitternd, daß ich mich getäuscht haben könnte, horchte ich mit der qualvollsten Spannung. Nach einigen Minuten deutlich derselbe Laut! Das Blut fließt wieder in meinen Adern und gibt den Gliedern Kraft und Wärme. Ich stürze mich auf die Kniee und schreie weinend vor Freude auf: Gerettet! Barmherziger Himmel, ich danke Dir!“
Man trug den zu einem geisterhaften Skelett abgequälten Helden von Baeza nach Archidona, wo er unter Pflege und Liebe bald wieder erstarkte. Mailand erreichte er in neuer Gesundheit und gab dann der Welt ein edles Beispiel, welche Opfer man der Wissenschaft bringen, welche Gefahren und Schrecknisse der echte Mann erleben und überwinden kann.
Die Schiller-Lotterie hat bis heute bereits 109,070 Loose à 1 Thaler verkauft. Rechnen wir davon 34,000 Thaler für Gewinnankäufe und Spesen ab, so bleiben der Schillerstiftung jetzt schon 75,000 Thaler Ueberschuß, ungerechnet der Loose, welche noch abgesetzt werden. Wir können also wohl annehmen, daß mit dem in Dresden angelegten Stammcapital von 25,000 Thalern, den bedeutenden Einzahlungen von Moskau, Wien und anderen Städten, die Schillerstiftung augenblicklich schon ein Vermögen von 125,000 Thalern besitzt, mit dessen Zinsen schon mancher darbende Autor erquickt werden kann.
- ↑ Diese Scene ist es, die unser Künstler zur Darstellung gebracht hat. Die wunderbar erschütternde Wirkung des Bildes beruht hauptsächlich in seiner Einfachheit und tiefen Wahrheit. Wir haben dasselbe mit ausdrücklicher Genehmigung des Künstlers (Gust. König) und des Verlegers (Rud. Besser) in vergrößertem Maßstab einer der vielen vortrefflichen Illustrationen des unter dem Titel: „Luther, der Reformator" erschienenen Prachtwerks nachgebildet. Das schön ausgestattete Buch enthält 48 Stahlstiche, sämmtlich nach Zeichnungen von G. König. Die Red.
- ↑ Nicht im Gebirge, sondern in Arnstadt war es, wo ich im Laufe des letzten Sommers Böhner antraf. Dreißig Jahre waren verflossen, daß ich ihn nicht gesehen, und doch erkannte ich den freundlichen Greis sofort wieder. Damals – ich meine vor dreißig Jahren – mochte er wohl auf seiner Durchreise durch L., meine Geburtsstadt, erfahren haben, daß mein Vater einen neuen ganz vortrefflichen Flügel gekauft hatte; genug, eines Sonntags in der Abenddämmerung – es war im Hochsommer – trat plötzlich ein fremder Mann in unser Zimmer, wo die ganze Familie versammelt war, und bat freundlich, das Instrument proben zu dürfen. Mein Vater mußte den Fremden wohl kennen, denn dieser hatte seine Bitte noch nicht ganz ausgesprochen, als er erfreut seine Hand nahm und ihn selbst zum Flügel führte, auf dessen Sitz sich der Angekommene sofort niederließ. Ich erinnere mich der Scene noch, als ob sie gestern erlebt wäre. Der Vater winkte uns still vom Instrument weg, das wir neugierig umstanden, und alsbald klangen die Töne des Spielenden durch das Zimmer. Wie horchten wir hoch auf! So viele vortreffliche Musiker auch in unserm Hause verkehrten – dieser Zauber von Musik war uns neu. Ein wunderbar süßes Gemisch von weichen, innigen und doch zugleich auch neckischen und jauchzenden Melodien, wie wir so verlockend und rührend noch nie gehört, umrauschte uns und versetzte uns mit jeder Minute in eine heiligere Stimmung. Andächtig wie in der Kirche lauschten wir dieser neuen Religion der Töne. Der Künstler sah und hörte nichts als sein Spiel und blickte nur dann und wann träumend nach Oben. Mein guter Vater war wie verklärt. Das wunderbare Spiel mochte hinaus auf die Straße gedrungen sein, bald füllte sich das Zimmer mit Nachbarn und Freunden, und als dieses nicht mehr zureichte, auch die Hausflur, und als auch diese gefüllt war, der Platz an den Fenstern auf der Straße, die bald bis auf die Mitte gefüllt war. Alles horchte still und mit gehaltnem Athem, und nur dann und wann hörte man’s flüstern: der Böhner ist’s – Louis Böhner! So mochte er eine halbe Stunde gespielt haben, als er sich umsah und die Versammlung erblickte. Ich sah, wie sich die Stirnfalte rollte, mit einem schrillen Accord schloß er plötzlich seine Phantasien, stand auf, nahm Hut und Stock und indem er meinem Vater noch flüchtig die Hand drückte, drängte er sich schnell und ohne auf dessen Einladung zu hören, durch die gedrängte Menge, die ihm ehrfurchtsvoll Platz machte. Eiligen Schrittes und ohne weiter von der Menge Notiz zu nehmen, wanderte er durch die Straßen zum Thore hinaus, nach seiner vier Stunden entfernten Heimath Gotha zu.
Seitdem sind dreißig Jahre verflossen, und der arme Böhner wandert noch immer und wird wohl wandern, bis er einst einkehrt in das kleine stille Haus, in dem er für immer ausruhen darf von seines Lebens Mühen. Möge sein Lebensabend ein freundlicher werden! Und deshalb, wenn Ihr auf [15] einem Thüringer Bahnhof oder in einem der Hotels der kleinen Städte den freundlichen Greis noch trefft, wenn er Euch anredet mit dem kleinen Päckchen unterm Arm und den bittenden Worten: „Lieber Herr – ein neues Musikstück von Louis Böhner,“ da wäre es doch recht hübsch, wenn Ihr dem alten Herrn recht viel abkauftet und ihm so die Sorgen der alten Tage etwas abnähmet, die wohl nun bald zu Ende gehen. Er hat so Vielen eine Freude gemacht – vergeltet’s jetzt noch dem wandernden Greis, der Euren Dank wohl verdient.E. Keil.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ John Richardson, schottischer Naturhistoriker, Mediziner, Botaniker, Zoologe, Geologe, Polarforscher, Ichthyologe und Entdecker (1787–1865) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ britischer Staatsbeamter und Geschichtsschreiber (1764–1848) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Francis Crozier, britischer Marineoffizier (1796–1848) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Sir Richard Collinson, britischer Marineoffizier und Nordpolarforscher (1811–1883) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Robert John Le Mesurier McClure, britischer Seefahrer und Nordpolarforscher, Entdecker der Nordwestpassage (1807–1873) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Sir Erasmus Ommanney, britischer Marineoffizier und Nordpolarforscher (1814–1904) (Quelle: englische Wikipedia)
- ↑ William Penny, schottischer Walfänger und Polarforscher (1809–1892) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ James Fitzjames, britischer Marineoffizier und Polarforscher (1813–1848) (Quelle: englische Wikipedia)
- ↑ Alexander McDonald, schottischer Arzt und Polarforscher (1817–1848)
- ↑ Sir Henry Kellett, britischer Marineoffizier, Polarforscher und Ozeanograph (1806–1875) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Sir Edward Belcher, britischer Marineoffizier und Polarforscher (179–1877) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Sir George Henry Richards, britischer Marineoffizier und Polarforscher (1820–1896)
- ↑ John Rae, schottischer Arzt und Polarforscher (1813–1893) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ William Scoresby, britischer Walfänger und Polarforscher (1789–1857) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Sir Edward Sabine, irischer Astronom (1788–1883) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Sir Horatio Thomas Austin, britischer Marineoffizier und Polarforscher (1801–1865) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Vorlage: die die
- ↑ Johannes Trithemius, Abt des Klosters Sponheim, Universalgelehrter und Humanist; wurde auch bekannt als Hexentheoretiker (1462–1516) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Maximilian I. von Habsburg, ab 1508 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1459–1519) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha (1818–1893) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Jan Ladislav Dusík (Johann Ludwig Dussek, Johann Ladislaus Dussek, Jean Louis Dussek), böhmischer Pianist und Komponist (1760–1812) (Quelle: Wikipedia)
- ↑ Gaetano Osculati, italienischer Naturforscher (1808–1894) (Quelle: englische Wikipedia)
- ↑ Vorlage: Dentschland
- ↑ Vorlage: deuen
- ↑ Fehlenden Punkt ergänzt