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Die Gartenlaube (1860)/Heft 49

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 49. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Aus dem Gedenkbuche der Gartenlaube.
An Deutschlands Frauen und Jungfrauen.
Ihr Leiterinnen und Bildnerinnen der künftigen Geschlechter, deutsche Frauen und Jungfrauen, in Eure Hand ist Deutschlands künftiges Glück oder Weh gegeben. Ihr sollt unsern Söhnen und Enkeln die Liebe und Treue in die Brust hauchen, welche nichts als das Vaterländische und Deutsche will, welche das Fremde und Ungleiche für das Eigene und Gleiche verwirft; Ihr sollt durch Euren Beifall oder Tadel, durch Eure Anerkennung oder Verwerfung dem ganzen Leben die Richtung und das Streben geben, die dem Vaterlande Heil und Ehre bringen. Die höchste Gewalt, die stille Gewalt der Sitte und Meinung, die allmächtige Gewalt des Herzens ist unter Eure Obhut gethan, Ihr werdet sie für das Vaterland gebrauchen, denn ihr wollet ja die Mütter und Gattinnen freier und stolzer deutscher Männer sein.
Darum bitte ich Euch im Namen meines Volkes und der höchsten Ehre des Volkes, der Sprache. Am meisten aber bitte ich Euch, fürstliche und adelige Frauen und Jungfrauen, die Ihr den glänzenden Reigen des höheren und idealischeren Lebens führet. Euch vor allen geziemt es, Euch zu deutschem Stolz und deutscher Glorie zu erheben und dem Großen und Kleinen des Volks voran zu leuchten. Euer ist die Aufgabe, zu beweisen, daß die deutsche Sprache auch ihre Grazien und Musen hat, die in Königssälen und Fürstenpalästen erscheinen dürfen; nur durch Euch können sie die Anerkennung gewinnen, die keine Klagen und Beschwerden der besseren im Volk ihnen gewinnen werden. O stellet Euch auf die Höhe, die Euch gebührt: wollet deutsche Frauen sein, wollet als deutsche Fürstinnen und Herrscherinnen glänzen, wollet das Deutsche als das Höchste und Herrlichste in Eurer Nähe leuchten lassen – und die Männer werden glauben, es sei das Höchste und Herrlichste. Dann erst wird die deutsche Sprache werden, was sie sein kann, und man wird sie nicht mehr beschuldigen, wie heute geschieht, sie könne nicht lieblich, anmuthig und fürstlich sprechen, sie könne nur mit dem Pöbel schelten und poltern und mit den Gelehrten verworrene Knoten dunkler und träumerischer Gespinnste schlingen.
     Im Jahre 1813.
Ernst Moritz Arndt aus Rügen.




Die schwerste Schuld.
Von dem Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder.
1. Ein Flüchtling.

Der 18. October des Jahres 1813 war in jener Gegend, in welcher an diesem Tage die nachfolgenden Begebenheiten sich zutrugen, ein klarer, sonniger Herbsttag. Bei Leipzig war er der Tag des schrecklichsten Blutbades, welches freilich die Bluttaufe der Befreiung Deutschlands von den Franzosen war. Aber wem verdankte das deutsche Volk die französische Unterjochung, die sieben Jahre lang mit eiserner Schwere auf ihm gelastet hatte? Dieselbe Schuld droht wiederum Deutschland unter das fremde Joch zu beugen. Doch es steht ihr jetzt ein Anderes gegenüber. Der zum lebendigsten Bewußtsein erwachte Gedanke der Einheit und Einigkeit des deutschen Volks wird im Augenblicke der Gefahr zur lebendigen und kräftigen That werden, und muthig und groß neue Schmach und neues Elend von Deutschland zurückschlagen.

Die nachstehenden Begebenheiten trugen sich in einem von dem lebendigeren Verkehr abgelegenen Theile des gebirgigen Westphalenlandes zu. Wir verstehen darunter nicht das damalige Napoleonische Königreich Westphalen, das wenige Tage nachher verschwand, sondern die geographische Bedeutung jenes Namens. Denn jene Gegend war unmittelbar zu dem französischen Kaiserreiche geschlagen worden. Die Grenze eines deutschen, oder vielmehr, da damals Alles in Deutschland französisch werden mußte, eines unter einem deutschen Regentenhause verbliebenen Landes war nicht fern. An dieser Grenze patrouillirten zwei französische Gensd’armen auf und ab.

Sie befanden sich in einer engen, waldigen Schlucht und gingen dort mit gespannten Karabinern umher, nach jedem Geräusche lauschend, in jedes Dickicht spähend, stumm, nur durch Zeichen manchmal sich über etwas verständigend. Sie mußten eine wichtige Aufgabe haben, einen erheblichen Fang machen wollen. Ihre Aufgabe beschränkte sich auf die Schlucht. Sie horchten manchmal weiterhin, ein Zeichen, daß wohl auch weiterhin die Grenze in ähnlicher Weise besetzt war.

Es war Nachmittags, und die tiefste Stille herrschte. Die beiden französischen Gensd’armen waren die beiden einzigen lebenden Wesen in der Schlucht. Sie hörten nur das Rascheln des früh gefallenen Laubes unter ihren leisen Schritten. Sonst schlug kein Laut an ihr Ohr, auch aus der weiteren Ferne nicht. Sie waren etwa fünfzig Schritte von einander entfernt. Auf einmal standen sie Beide fast in demselben Augenblicke still. Beide horchten. Ein Schritt kam näher.

Die Schlucht selbst bildete die Grenze des französischen Kaiserreichs und des deutschen Großherzogthums, zu dessen deutschem Prinzen der französische Kaiser vielleicht in demselben Momente bei Leipzig die denkwürdigen und der Geschichte aufbewahrten Worte sprach: „Avancez, Roi de Prusse!“ Auf der Seite des Großherzogthums faßte ein hoher, dicht mit Holz bewachsener Berg sie ein. Auf der inneren französischen Seite lief eine niedrigere Hügelkette mit einzelnen tieferen Einschnitten. In einem dieser Einschnitte bewegte sich der näher kommende Schritt. Er mußte in der Mitte der Schlucht hervorkommen. Die beiden Gensd’armen standen mehr nach den Enden hin. Sie gingen auf die Mitte zu, leise, das Berühren des Laubes vermeidend, daß es nicht raschele, den [770] Karabiner in Bereitschaft, um in jedem Augenblicke Feuer geben zu können. An einer dicken Eiche trafen sie zusammen und flüsterten leise miteinander.

Dann stellten sie sich schweigend hinter der Eiche auf, die Augen und die Mündungen ihrer Gewehre nach dem Hügeleinschnitte gerichtet, aus welchem der Schritt hervorkommen mußte. Die französischen Gensd’armen, welche in Deutschland verwendet wurden, waren meist sehr gewandte, erfahrene Leute, auch die Deutschen unter ihnen, und der Deutschen waren unter ihnen viele.

Ein ältlicher Mann kam zum Vorschein. Er ging langsam und sorglos, wie ein Spaziergänger.

„Er darf uns nicht sehen,“ flüsterte der eine Gensd’arm dem andern zu.

Ihr Auge suchte zu erforschen, an welcher Seite der Eiche der Spaziergänger vorübergehen werde. Sie verbargen sich an der entgegengesetzten Seite. Ganz entfernen konnten sie sich nicht mehr, ohne gehört und gesehen zu werden.

Der Spaziergänger kam näher. Es war eine große, hagere, knochige Gestalt. Er hielt sich gebückt. Das Gesicht war blaß, tiefe Runzeln durchfurchten es. Die Augen waren von grauen, tief hervorhängenden Brauen überschattet; die Oberlippe bedeckte ein weißer, kurz geschorener Schnurrbart; kurz geschoren waren auch die fast schneeweißen Haupthaare. Das Ganze des Greises, Gesicht, Gestalt, Haltung, zeigte Kraft, Gram und Trotz; eine Kraft, die der Gram brechen wollte, die der finstere, fast menschenfeindliche Trotz aufrecht hielt. Er ging an dem Baume vorüber, aber seine Augen waren unter den finsteren, buschigen Augenbrauen aufmerksamer gewesen, als die Gensd’armen vermuthet hatten. Er sah sie in ihrem Versteck und stutzte, doch nur einen Augenblick. Er sah sie ruhig, voll, nachdenkend an, als wenn er sie und sich fragen wolle, was sie hier machten. Dann ging er, langsam wie er gekommen war, tiefer in die Schlucht hinein. Er hatte keinen Augenblick seinen gleichförmigen Schritt gehemmt.

Nach einer Weile blieb er stehen und schien sich zu besinnen, ob er seinen Spaziergang fortsetzen solle oder nicht.

Die Gensd’armen hatten sich nicht gerührt. Ihr Blick hatte ihm gezeigt, daß sie ihn sahen, ihn aber nicht beachteten. Sie beachteten ihn dennoch.

„Er bleibt stehen. Es ist unangenehm, seine Anwesenheit kann uns verrathen.“

„Wir können ihn nicht entfernen. Jedes Geräusch, jedes Wort könnte Alles vereiteln.“

„Wer ist der Mensch?“ fragte der Eine, der in der nächsten Gegend fremd zu sein schien. „Er hat ein militairisches Aussehen.“

„Der Mann ist ein Geheimniß.“

„Wie, die kaiserliche Gensd’armerie duldet Geheimnisse? Gar an der Grenze?“

Der Gefragte wollte antworten, aber der Andere ließ ihn nicht dazu kommen.

„Horch!“ rief er auf einmal in noch leiser flüsterndem Tone.

Sie hatten schon Beide ihre Gewehre wieder in schußgerechte Lage gebracht. Dann standen sie unbeweglich, wie vorher. Sie hörten in der That etwas; es war wieder ein einzelner Schritt, der sich nahete und ebenfalls von der Hügelkette herkam, also aus dem Innern des französischen Reichs, und wollte hin nach der Grenze. Aber er kam nicht aus dem Einschnitte in der Kette, oben auf einer Anhöhe wurde er gehört. Die Gensd’armen horchten mit der gespanntesten Erwartung nach ihm. Sehen konnten sie nichts. Die Anhöhe war mit hohen Bäumen und darunter mit dichtem niedrigem Gebüsch bedeckt.

„Er geht schnell und leise, er wagt kaum das Laub zu berühren.“

„Er ist’s.“

„Er kommt auf uns zu, – er kann uns nicht entgehen.“

„Wenn nicht jener Greis –“

„Still! Da ist er.“

Ein einzelner Mann war am Fuße der Anhöhe aus dem dichten Gebüsch in eine lichtere Stelle der Schlucht hervorgetreten.

Er konnte in der Mitte der dreißiger Jahre sein. Es war eine große, hohe und stolze Gestalt. Das schöne, männliche Gesicht war bleich; man sah ihm Anstrengungen und Entbehrungen an.

Gleichwohl hielt er sich noch kräftig, selbst stolz aufrecht und hatte noch mit jenem raschen und leichten Schritte gehen können.

„Er ist’s,“ hatten die Gensd’armen gesagt.

Er war der Fang, den sie machen wollten. Auch seine Kleidung verrieth den Flüchtling. Ein alter blauer Leinwandkittel bedeckte die hohe, stolze Gestalt; ein zerknickter Hut war tief in die Stirn gedrückt.

„Er kann uns nicht entgehen,“ hatten sie auch gesagt.

Sollte er ihnen wirklich nicht mehr entgehen können? Der Flüchtling, der aus dem Innern des weiten Kaiserreichs kam, der kaum noch hundert Schritte von der Grenze des Reichs entfernt war? Er war Flüchtling, eine Gefahr war ihm auf den Fersen. Es mußte eine dringende, hohe Gefahr sein. Jene Anstrengungen und Entbehrungen zeigten es, jene Verkleidung, die Spannung, der Eifer, mit dem er verfolgt wurde. So nahe, so im Angesichte seiner Befreiung, seiner Rettung, sollte er dennoch verloren sein?

Und er war ein Deutscher, man sah es den blauen Augen, den dunkelblonden Locken, dem ganzen Gepräge des feinen doch kräftigen Gesichts an. Und er kam aus dem grausamen, blutigen französischen Kaiserreiche, das Nichts mehr haßte und verfolgte, als deutsche Männer und deutschen Muth. Er war noch darin, in diesem Kaiserreiche; er wollte, er mußte ihm erst noch entrinnen. An der lichten Stelle, in die er hineingetreten, war er stehen geblieben, er sah sich nach allen Seiten in der Schlucht um und forschte nach allen Seiten. Es herrschte die völligste Stille rund um ihn her. Kein Blatt aus den Bäumen, kein Laub am Boden rührte sich. Keines Vogels Stimme belebte die einsame Waldschlucht. Er sah auch nichts. Die beiden Gensd’armen mit ihren Gewehren verbarg ihm der dicke Stamm der Eiche, hinter der sie standen. Zwischen ihm und jenem finstern Greise mit dem militairischen Aussehen befanden sich Hunderte von Bäumen.

Er blieb ferner stehen, um auszuruhen, um zu neuen Kräften sich zu erholen, für die letzten Schritte, die er einer Gefahr gegenüber noch zu machen hatte. Er nahm den alten, zerknitterten Hut ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu trocken, und schlug mit einem dankbaren Blicke nach oben die Augen auf. Er glaubte sich frei, gerettet. Der Arme! Er hatte seine Stirn getrocknet und setzte den Hut wieder auf, sah sich noch einmal um und horchte noch einmal in die Schlucht hinein. Es blieb still, wie vorher. Er ging weiter und schritt in gerader Richtung vor. Er wollte die Schlucht durchschreiten, die ihn von der deutschen Grenze trennte. Noch achtzig bis hundert Schritte hatte er zurückzulegen. Dann war er im Vaterlande; der Freiheit, dem Leben zurückgegeben.

Die gerade Richtung seines Weges mußte ihn fast unmittelbar an der Eiche vorbeiführen, hinter welcher die beiden Gensd’armen verborgen standen. Sie winkten sich wieder mit den Augen zu, an welcher Seite des Baumes er vorüber gehen werde. Keine halbe Secunde lang hatten sie ihn aus den Augen gelassen. Sie verfolgten ferner jede seiner Bewegungen. Die Mündungen ihrer Karabiner waren auf ihn gerichtet. Aber sie waren nicht die Einzigen, die ihn gesehen hatten.

Auch der finstere, greise Spaziergänger hatte die Schritte vernommen, die sich von der Anhöhe naheten. Er hatte sich nach ihnen umgesehen und zwischen den verdeckenden Bäumen zuerst nur den blauen Kittel erblickt, dann die volle hohe Gestalt. Dann sah er wieder die in der höchsten Spannung lauernden Gensd’armen und ihre auf den Fremden gerichteten Gewehre.

Ein Flüchtling! Welche andere Ahnung, welcher andere Gedanke konnte in seinem Innern Platz finden? Dem Gedanken war ein eben so schneller Entschluß gefolgt. Er kehrte zurück in der Richtung, in welcher der Fremde stand, der jetzt schon wieder sich voran bewegte. Der Fremde hatte ihn noch nicht gesehen. Er hörte Schritte und hielt die seinigen an. Sein Blick flog mit der Schnelle des Blitzes durch die Schlucht. Er sah den Greis. Ein Entsetzen ergriff ihn. Der Greis war allein, ohne Waffen. Seine Miene, wie finster sie war, war keine feindliche, keine drohende. Der Flüchtling stand dennoch, wie von einem plötzlichen betäubenden Schlage getroffen. Er starrte den Greis wie eine Erscheinung des Schreckens, des Todes an. Aber nur einen Augenblick, dann war das Entsetzen gewichen. Er hatte den finstern Greis erkannt, man sah es ihm an, und die Erkennung erfüllte sein Herz mit der Angst. Den Mann selbst fürchtete er nicht. Er wandte sein Gesicht von ihm ab und ging weiter, aber seitwärts, um die Nähe des Erkannten zu vermeiden. Da durchfuhr auch den Greis plötzlich etwas Entsetzliches. Er hatte den Fremden genauer betrachtet und erkannte auch ihn. Er wollte fliehen, fliehen vor dem Flüchtling, der vor ihm entwich, um desto sicherer in die [771] Hände seiner Verfolger zu fallen. Er vermochte es nicht. Eine Gewalt, der er nicht widerstehen konnte, trieb ihn dem Verfolgten entgegen.

Die beiden Gensd’armen hatten ihn nicht bemerkt. Sie sahen nur den Flüchtling und hielten ihre Gewehre im Anschlage auf ihn. So ließen sie ihn auf sich zukommen. Sie gewahrten dann sein plötzliches Stutzen und Erbleichen. Aber sie konnten nicht sogleich die Veranlassung entdecken. Die Bäume verbargen ihnen den Greis. Im Augenblicke darauf kam der Flüchtling nur um so gerader auf sie zu. Sie ließen ihn ruhig herankommen. Entgehen konnte er ihnen nicht mehr. Todt oder lebendig, auf Eine Weise mußte er in ihre Hände fallen, und darauf lautete wohl ihr Befehl.

Der Flüchtling sah sich nach dem Greise nicht wieder um.

Der Greis mußte ihm zurufen, wenn er ihn warnen, retten wollte.

„Zurück!“ rief er, mit gedämpfter Stimme, mit desto größerer Angst. Der Verfolgte mußte sich nach der Stimme umsehen. Er sah die Angst des Rufenden und erkannte auf einmal etwas Anderes. Er erkannte eine Gefahr, die hohe Gefahr, in der er schwebte.

Er wollte umkehren. Es war zu spät.

„Halt!“ tönte es laut durch den Wald. „Halt, keinen Schritt mehr!“ rief es, daß es von den Wänden der Schlucht widerhallte.

Einer der beiden Gensd’armen rief es. Beide sprangen mit den angelegten Karabinern hinter der Eiche hervor.

Der junge Mann sah sie, aber er erschrak nicht mehr. Wie er sie sah, war schon sein Entschluß gefaßt. Er stand dreißig Schritte von ihnen. Entfliehen konnte er nicht mehr, ihre Karabiner trugen achtzig bis hundert Schritte weit. Hätte er es aber auch vielleicht gekonnt, von Baum zu Baum springend, bis er das schützende dichtere Gebüsch, aus dem er gekommen war, wieder erreicht hatte – sein kräftiges Gesicht zeigte einen hohen Stolz und einen dieses Stolzes würdigen festen Entschluß. Er riß aus seiner Brusttasche ein Doppelpistol hervor und spannte beide Hähne.

Dann ging er langsamen Schrittes auf die beiden Gensd’armen zu, mit ruhiger Achtsamkeit jeden ihrer Blicke, jede ihrer Bewegungen im Auge haltend. Er hatte ein eben so muthiges, wie stolzes Herz. Todt oder lebendig sollte er in die Hände seiner Verfolger fallen. Er wußte es. Für seine Freiheit und für sein Leben wollte er kämpfen, so lange er es vermochte. Dann hatte er die Ehre gerettet. Stolzer, fester Muth imponirt Jedem.

Die beiden Gensd’armen waren es jetzt, die unschlüssig standen. Aber nur einen Augenblick. Sie hatten einander fragend angeblickt. Da wußten sie auch wieder, was sie zu thun hatten.

„Halt, oder wir schießen!“ rief wiederholt einer von ihnen.

Noch zweimal setzte der junge Flüchtling den Fuß vorwärts.

Dann stand er starr, unbeweglich, festgebannt. Er hatte einen raschen Schritt gehört, der sich ihm von der Seite nahete. Er sah sich nach ihm um. Der Greis kam auf ihn zu, den er gemieden, der vor ihm entwichen war. Drei Schritte machte der finstere Mann noch, dann stand er in der Schußlinie der Gensd’armen. Er deckte mit seinem ganzen Körper den Flüchtling.

„Fort!“ rief er diesem zu. Seine Stimme war fest, laut, befehlend.

Den Flüchtling traf sie, wie wenn er in der Schlacht eine Kommandostimme gehört hätte. Er zuckte zusammen. Aber gehorchen konnte er ihr nicht. Sein Gesicht verfinsterte sich. Es wurde stolzer, aber es war ein trotziger Stolz, der sich darin zeigte.

Mit diesem wandte er sich an den Greis.

„Zurück!“ sagte er zu ihm, ruhig, kalt. „Will ich leben, so kann ich mein Leben selbst vertheidigen.“

Er wollte noch etwas hinzusetzen, und es mußte wohl etwas Bitteres sein. Ein strenger Ausdruck seines Gesichtes ließ es errathen.

Er schwieg. Er bedurfte auch keines Wortes mehr. Durch das gefurchte Gesicht des Greises war ein tiefer Schmerz gezogen, sein Körper drohte zusammenzubrechen. Er senkte tief sein weißes Haupt und trat still zurück. Der Flüchtling konnte dennoch nicht weiter voran schreiten. Von allen Seiten war schon in der Schlucht Bewegung entstanden.

Die Gensd’armen hatten nicht ohne Absicht mit lauter, der Greis hatte nicht ohne Ahnung mit gedämpfter Stimme gerufen.

Die Grenze war in weiter Ausdehnung besetzt. An dem Flüchtling mußte sehr viel gelegen sein. Ein Dutzend Gensd’armen waren in die Schlucht gedrungen. Der Flüchtling war von ihnen umringt, der Greis konnte ihn nicht mehr beschützen; keine Hülfe konnte es. Er war verloren, unrettbar. Sollte er dennoch kämpfen? Seine Augen blitzten noch muthig.

Da trat einer der Gensd’armen aus dem Kreise vor, seinen Karabiner nicht angelegt, aber tief gesenkt. Es war eine stattliche Figur, ein schon ältlicher Mann, die Spitzen seiner Haare waren grau. Gram bedeckte sein Gesicht.

„Ergeben Sie sich,“ sagte er zu dem Flüchtling, ruhig, fast würdevoll. „Sie können zwei von uns erschießen, wenn Ihnen das Glück günstig ist. Aber es wäre dennoch ein Unglück für Sie. Entgehen können Sie uns nimmer, und auch Ihr Leben können Sie nicht einmal einsetzen. Da ergibt sich der Soldat nach allen Kriegsregeln, und das kann auch ein braver preußischer Officier.“

Dem Manne waren die Thränen in die Augen getreten. Sämmtliche Gensd’armen standen in stummem, fast ehrerbietigem Schweigen. Der Flüchtling stand mit wogender Brust, in seinem Gesichte wechselten tiefe Blässe und dunkle Röthe. Aus der Brust des finsteren Greises aber rang sich, als er die Worte von einem braven preußischen Officier aussprechen hörte, ein Schmerzensschrei. Er verhüllte sein Gesicht; seine Gestalt beugte sich wieder. Er verschwand unter den Bäumen. Keiner hatte auf ihn geachtet. Der Flüchtling hatte sein Pistol gesenkt. Er reichte es dem Gensd’armen hin, der ihn angeredet hatte.

„Nehmt mich gefangen!“


2. Franzosenwirthschaft.

In einer Entfernung von fünf Minuten lag vor dem Thore der Stadt ein einfaches Landhaus. Die Stadt war eine kleine Landstadt mit zwei- bis dreitausend Einwohnern. In einem weiteren Umkreise die einzige Stadt an der Grenze, und daher der nothwendige Sitz französischer Civil- und Militärbehörden, die an der Grenze concentrirt werden mußten. Die Grenze war eine Viertelmeile entfernt. Das einfache Landhaus lag freundlich seitab von der Landstraße, ein kleiner, mit Bäumen bepflanzter Weg verband es mit dieser. Ein umfangreicher Garten umgab es. An den Garten schloß theils Ackerfeld, theils dichte, bis an das Gebirge reichende Waldung sich an.

In einem hellen Wohnzimmer des Landhauses befanden sich zwei Damen. Sie waren von verschiedenem Alter und auch sonst in allem Anderen einander unähnlich, eine gewisse Familienähnlichkeit gab sie dennoch als Verwandte zu erkennen.

Die Aeltere war eine hohe, aber hagere und gebeugte Gestalt. Das Gesicht, von einem wunderbar feinen und vornehmen Schnitt, war bleich und eingefallen. Die Augen waren groß, dunkelbraun; dichte schwarze Augenbrauen überschatteten sie, bedeckten sie aber nicht und verbargen nicht ihren Blick. Dieser Blick war ein eigenthümlicher; bald glänzte er wie ein zuckender Blitz, bald brannte er wie ein dunkel glühendes Feuer in stürmischer Waldnacht; dann senkte er sich plötzlich ermattet, ohnmächtig, erloschen. Eine Fülle rabenschwarzer Locken umzog das Gesicht. Die Dame konnte achtundzwanzig bis dreißig Jahre zählen.

Die Jüngere schien in dem frischen Alter von achtzehn Jahren zu stehen. Die zierliche Gestalt trug ganz die Frische dieses Alters. Das schöne Gesicht hatte aber schon Züge einer tiefen Schwermuth. Das große blaue Auge schien weinen zu wollen, wenn man hinein sah, und wer hinein sah, meinte dann, in die eigenen Augen müßten ihm recht schmerzliche Thränen über den Gram und den Schmerz des schönen jungen Kindes treten. Und sie war sehr schön.

Die hohe, gebeugte Gestalt der Aelteren, ihr dunkelglühender Blick unter den starken Augenbrauen, der vornehme Schnitt ihres Gesichts erinnerten zu sehr an den Greis, der, vielleicht kaum eine Stunde früher, in der Waldschlucht an der Grenze den Flüchtling hatte retten wollen, als daß man nicht sofort Töchter des alten Herrn hätte erkennen sollen.

Vor beinahe sieben Jahren, an einem kalten Decemberabende des Jahres 1806, war in der kleinen Landstadt eine Herrschaft mit Extrapost angekommen, ein Herr mit zwei Töchtern. Sie reisten ohne Bedienung; ihre Erscheinung hatte dennoch etwas Vornehmes. Sie wollten in der Nacht nicht weiter fahren und kehrten in dem Gasthof des Städtchens ein. Der Herr, schon ältlich, hatte ein finsteres, fast menschenscheues Aussehen. Die ältere Tochter war kränklich und so hinfällig, daß der Vater sie aus dem [772] Wagen in den Gasthof mehr tragen als führen mußte. Sie war trotz ihres Leidens bildschön gewesen. Die zweite Tochter, ein sanftes, reizendes Kind von elf Jahren, war weinend neben der Schwester hergegangen. In das Fremdenbuch hatte der Herr den Namen Krajewski, Particulier aus Polen, eingeschrieben. Alle drei sprachen deutsch.

Die ältere Tochter war noch in derselben Nacht ernstlich erkrankt. Man hatte zu einem Arzt schicken müssen. Bevor der Arzt zu der Kranken eingetreten war, hatte er eine mehr als halbstündige geheime Unterredung mit dem Vater, dem Herrn Krajewski, gehabt. Nachdem er sodann die Kranke untersucht, hatte er den Ausbruch eines heftigen Nervenfiebers angekündigt. Von einem Weiterreisen der Familie konnte nicht die Rede sein. In den ersten sechs Wochen, erklärte der Arzt, sei in der strengen Winterzeit und in dem rauhen Gebirgsklima nicht daran zu denken, vielleicht gar vor dem Eintritte des Frühlings nicht. Das Nervenfieber nahm seinen regelmäßigen Verlauf, nach der Versicherung des Arztes wenigstens. Denn außer ihm kam kein Fremder zu der Kranken. Der Vater und die Schwester besorgten ihre Pflege. Der Arzt war ein alter, würdiger, verschwiegener Mann.

Es müsse da ein Geheimniß vorliegen, meinten die Einwohner des Städtchens. Der Arzt erklärte Alles natürlich. Auffallend blieb es dennoch, daß man die Kranke in ihrem Fieber oft laut und anhaltend wehklagen, jammern, weinen und dann plötzlich kurze, heftige Schmerzensschreie ausstoßen hörte. Wer das namentlich in der Nacht hörte, dem wollte es beinahe das Herz zuschnüren. Es seien das Fieberparoxysmen, erklärte der Arzt.

Aber sechs, acht Wochen waren vergangen; das Fieber war längst verschwunden; die lange anhaltenden Klagetöne vernahm man gleichwohl noch manchmal durch die Stille der Nacht, wenn sie auch weniger laut waren, und selbst die kurz abgestoßenen, durchdringenden Schmerzensrufe wollten einzelne Personen ein paar Mal wieder gehört haben. Und als das Frühjahr kam – die Familie hatte in der That während des Winters an die Weiterreise nicht denken können – und der Vater die Genesene oder Genesende draußen in die warmen, erquickenden Strahlen der Frühlingssonne führte, glaubten die, die in das furchtbar bleiche, schöne Gesicht der hohen und fast zerbrochen gebeugten Gestalt sahen, darin mehr als die Spuren einer schweren körperlichen Krankheit, glaubten sie darin die Zeichen einer tiefen Krankheit des Gemüths und in dem manchmal wilden Blitzen und Glühen der Augen gar den Ausdruck eines Irrsinns des Geistes zu entdecken. Das finstere Gesicht des Vaters, der die Tochter führte, blieb unbeweglich. Die jüngere Schwester, die schweigend folgte, schien alle ihre Kraft aufbieten zu müssen, um ihre Thränen zurückzuhalten. Was war der eigentliche Grund des schweren Leides der Familie? Der Arzt blieb stumm, wie das Grab. Sie selbst sprachen mit Niemandem, als dem Arzte.

Der Frühling des Jahres 1807 war ein milder, warmer geworden. Auch um das kleine Landstädtchen breitete er rund umher auf Bergen und Hügeln seinen grünen Waldesschmuck, die bunte Pracht und den süßen Duft seiner Blüthen aus. Das Städtchen lag in einem abgelegenen, verborgenen, wilden Thale. Im Frühlingsschmucke ist das wildeste Thal das reizendste. Für eine Genesende ist die stillste Natur die wohlthuendste. „Ich möchte hier bleiben,“ hatte die kranke Tochter zu dem Vater gesagt. Dem finsteren, ewig schweigsamen Manne war ein Stein vom Herzen gefallen. Fünf Minuten vor dem Thore der Stadt stand ein Landhaus zum Verkauf. Er kaufte es für den Preis, den man forderte. bezahlte ihn baar. So war er geblieben.

Die Aeltere genas, aber ihre hohe Gestalt blieb gebeugt, ihr feines Gesicht bleich und eingefallen. Der irre Blick der Augen verlor sich, aber ihr dunkles, wildes Glühen konnte den, der es noch manchmal sah, mit einem unheimlichen Schauder erfüllen. Die jüngere Schwester war zur schönen Jungfrau, zu jenem Engel an weicher Milde emporgeblüht. Der Vater war finsterer, schweigsamer, menschenscheuer geworden. Auf ihm besonders, auf ihm am schwersten und drückendsten mußte das Geheimniß und das Unglück der Familie lasten.

Was dieses Unglück war, blieb ein Geheimniß. Der alte Arzt war gestorben, als treuer, verschwiegener Freund. Was er wußte, hatte er mir sich in das ewig stumme Grab genommen. Der Vater, der Greis, hatte seit dem Tode des Arztes mit Niemandem Umgang. Die ältere Tochter hatte immer die Menschen mehr gemieden, als er. Die Jüngere hatte ihrer Erziehung und Ausbildung wegen dem Verkehre mit der Welt nicht ganz entzogen werden können, aber nie hatte sie ein Wort über ihr Haus, ihre Familie und ihre Verhältnisse gesprochen. Nicht gegen ihre Freundinnen, an wie wenige sie sich auch angeschlossen hatte, nicht gegen einen edlen, jungen Mann – doch über diesen noch einige Worte.

Die jüngere Tochter des Gutsbesitzers Krajewski zeichnete schon in ihrem siebzehnten Jahre durch ihre weiche, feine Schönheit sich aus. Sie wurde der Gegenstand der Aufmerksamkeit der jüngeren Beamten der Stadt und der Officiere der Garnison. Die Beamten waren Deutsche, die Officiere Franzosen. Das junge Mädchen achtete nicht auf die Einen und nicht auf die Anderen. Sie vermied sie Alle. Nur ein Einziger durfte sie grüßen, und sie erwiderte seinen Gruß. Es war ein junger Advocat an dem Districtstribunale. Anfangs hatte sie auch ihn nicht beachtet. Aber da hatte sie sich eines Tages mit der Rückkehr aus der Zeichenstunde, die sie bei einem Lehrer in der Stadt hatte, verspätet. Das Halbdunkel des Abends war schon eingetreten, als sie das Thor der Stadt verließ. In der Stadt hatte sie hinter sich einen Schritt gehört, der immer in gleichmäßiger Entfernung von ihr blieb, der sie zu verfolgen schien. Sie war allein, sie sah keinen Bekannten auf der Straße und wagte auch nicht, sich umzusehen. Sie beeilte nur ihre Schritte. So verließ sie die Stadt und erreichte die menschenleere, dunkle Landstraße. Der verfolgende Schritt war hinter ihr geblieben. Sie verdoppelte die ihrigen, aber trotzdem konnte sie ihm nicht entgehen, nach einer Minute hatte er sie erreicht.

In der Stadt und ihrer weiteren Umgegend war ein Regiment stationirt. Der Oberst mit den meisten Officieren befand sich in der Stadt. Der frivolste und frechste Officier des Regiments war der Adjutant des Regiments. Er war der Neffe und der Liebling seines Obersten, der ihm Alles nachsah. Der Oberst war der höchste Befehlshaber in der Stadt und Umgegend, dem Alles gehorchte, auch die Verwaltung, auch die Gerichtsbehörden. Er war Franzose, sie waren Deutsche, die den Franzosen dienten.

Der Regimentsadjutant war an der Seite des jungen Mädchens. Er war frech und frivol wie immer. Er nahm mit Gewalt ihren Arm und wollte sie in eine enge, dunkle Straße führen, die sich von der Landstraße seitwärts zwischen die Gärten vor der Stadt zog. Sie war vom Schreck gelähmt und konnte ihm nicht entfliehen, sie konnte sich nicht gegen ihn wehren. Sie wollte laut um Hülfe rufen, aber sie vermochte es nicht. Der Schrei wurde ein ersticktes Stöhnen.

„Sie sind so erschrocken, mein Kind,“ höhnte der freche Franzose sie. „Ein Spaziergang in dieser herrlichen Abendluft wird Ihnen den Muth wiedergeben. Kommen Sie! Und vor Allem lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich Sie anbete.“

„Hülfe! Hülfe!“ wollte sie noch einmal rufen.

„Ich verschließe Ihren schönen Mund mit Küssen,“ drohte der Franzose.

Aber eine Hülfe für das arme Kind war schon da.

„Sie sind ein Elender, mein Herr!“ rief unmittelbar hinter ihr eine Stimme.

Der Arm des Officiers wurde von einer kräftigen Hand aus dem ihrigen gerissen. Mit flammenden Blicken stand ein junger Mann zwischen ihr und dem Franzosen. Es war ein junger Advocat des Districtstribunals, der ihr öfters, und wie oft geflissentlich, begegnet war, der aber immer nur stumm und ehrerbietig sie zu grüßen gewagt hatte. Der Officier sah ihn wüthend an.

„Mein Herr, Sie wagen es –“

„Sie einen Elenden zu nennen, mein Herr, und Sie aufzufordern, sofort diese Dame zu verlassen.“

„Mein Herr, Sie verdienen Züchtigung.“

Der Franzose war bewaffnet, er faßte den Griff seines Degens.

Der junge Advocat war ohne jede Waffe. Desto größer und edler war sein Muth.

„Mein Herr,“ sagte er ruhig, „Sie sind von mir beleidigt, ich habe Sie einen Elenden genannt. Ich bin ein Mann von Ehre. Sind auch Sie es, so wissen Sie, welche Genugthuung Sie von mir zu fordern haben. Sollten Sie es nicht wissen, so weiß Ihr Officiercorps Ehre und Feigheit von einander zu unterscheiden.“

Der Franzose knirschte mit den Zähnen, aber er ging.

(Fortsetzung folgt.)
[773]

Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.

Von Guido Hammer.
Nr. 18. Eine Birkhahnbalze.

Auf der Birkhahnbalze.

Es war vergangenes Frühjahr, Anfangs April, als ich auf einer schlesischen Herrschaft Gelegenheit hatte, einen der schönsten Birkhahnbalze, die ich bis dahin kennen gelernt hatte, zu beobachten. Da der Balzort in den weiten Revieren fern vom Schlosse lag, so mußte ich mich schon in der zweiten Morgenstunde zum Rendezvous nach der Oberförsterei begeben, um von da mit dem Oberförster nach dem entlegenen Ziele zu fahren. Fort ging es durch die stille Haide, über welche die mattleuchtende, aber glänzende Mondsichel ihr gedämpftes Licht ergoß. Nur die weggewohnten Pferde konnten den Pfad so sicher schreiten, denn im Holze war tiefste Nacht. Nach mehrstündigem Fahren in der ununterbrochenen geschlossenen Haide, wo die nächtliche Stille nur manchmal durch das Abstreichen eines Auerhahnes, der mit geräuschvollem Flügelschlage den schützenden Wipfel verließ, oder durch das Brechen eines durch das Dickicht ziehenden Wildes gestört wurde, öffnete sich an einer Stelle der Forst in ein weites, weites, mooriges Wiesenland von ungefähr tausend Morgen Fläche, der „heilige See“ genannt; jedenfalls früher ein wirklicher See. Hier und da tauchten einzelne Holzeilande aus der einförmigen, nebelbelagerten Grasebene empor, die in solcher Beschaffenheit vollkommen den Eindruck einer inseltragenden stillen Wasserfläche bot. Auf diesem Terrain sind in weiten Entfernungen mehrere Schießhütten für den Balz errichtet, die man jedoch in der noch herrschenden Dunkelheit und bei dem Nebel nicht entdecken konnte. Nachdem wir hier den Wagen verlassen, schritten wir, der Oberförster voran, lautlos über die wassergetränkte, sumpfige Fläche dahin, um, jeder in einer der Balzhütten, unsern Stand einzunehmen. Der Mond, über den jetzt schwarzes Gewölk eilend dahinjagte, stand bereits [774] tief am Horizonte und stimmte mit seinem scheidenden Glanze so recht zu der tiefernsten Melancholie, die sich über die stille Waldeinöde gelagert hatte, und die noch dadurch erhöht wurde, daß dann und wann ein schlaftrunkener Kiebitz, den unser Kommen aufscheuchte, wie träumend ein Stück fortstrich, seinen Namen traurig durch die nächtliche Stille rufend, bis er auf die nächste Kaupe oder hinter einem Stück schwarzer Moorerde wieder einfiel, um dort noch fortzuruhen. Sonst war Alles still, wie im Grabe. Nach kurzer Zeit hatte ich meine Hütte erreicht, in der ich mir, das Schießzeug auspackend, Alles bequem zurecht legte. Den Blick gen Osten gewendet, um den grauenden Morgen kommen zu sehen, schweifte das Auge hinaus, bis es, durch den plötzlich verschwundenen Nebel nicht mehr behindert, in weiter Ferne am dunkeln Waldessaume haften blieb. Darüber bildete sich jetzt ein dämmernder Streifen des kommenden Tages, der sich allmählich blutroth an dem sonst düsteren Wolkenhimmel entfaltete und vermuthen ließ, daß der ziemlich kalten Nacht ein regnerischer oder gar schneeiger Tag folgen werde. Bald vernahm das Ohr die bereits kommenden Hähne, während das Auge noch nicht im Stande war, die Dämmerung, welche noch die Bodenfläche verhüllte, zu durchdringen, um die liebedurstigen Vögel wahrnehmen zu können. Kaum traute ich meinen Ohren, so massenhaft schienen die balzenden Hähne sich auf der Blöße, weit nach dem Saume des Waldes zu, eingefunden zu haben. Das war ein Kollern, gleichsam ein großer, zusammenhängender Ton, als rückten sie in geschlossenen Colonnen heran.

Der Tag wurde lichter, so daß endlich auch das Auge, vom Spähen ohnedies geschärft, die nicht allzufernen Gegenstände unterscheiden lernte und dabei mehrere dunkele Körper wahrnahm, die wie Birkhähne aussahen, obgleich sich’s später herausstellte, daß mich einzelne Stücke Moorboden getäuscht hatten. Bald aber fing es an wirklich lebendig zu werden, und endlich kam ein Hahn so weit an die Hütte heran, daß man ihn bequem beobachten konnte. Schnalzend und kollernd trat er mit dem schönen lyraförmigen Spiel[1] radschlagend einher, dann und wann in die Höhe springend, als brenne es ihm unter den Ständern.[2] Es dauerte nicht lange, so kamen andere nebenbuhlerische Genossen, die sich nicht minder spreizten und kokettirend sich von der schönsten Seite zeigten. Man hatte nun vollauf zu thun, nach allen Seiten durch die verschiedenen Schießluken zu lugen, um nicht etwa einen schon schußgerecht herangekommenen balzenden Burschen zu verpassen. Jetzt hatte sich einer der Besessenen auch so weit genähert, daß ich ihn auf’s Korn nehmen konnte – und donnernd dröhnte der erste Schuß dem Walde zu, sich mit den kollernden Liebesversicherungen der schöngefiederten Birkhähne mischend.

Das erste Opfer lag, während die Ueberlebenden in ihrem Liebesrausche den Schuß nicht einmal gehört zu haben schienen, denn ungestört fuhren sie zu balzen fort. So hatte ich Gelegenheit, in kurzer Zeit wenigstens 30 Hähne zu zählen, während sie auf den entfernteren Balzstätten, wie das Ohr vernahm, nicht minder massenhaft vorhanden zu sein schienen. Mit lächerlicher Grandezza schritten die Kampflustigen flügelschleifend und radschlagend unter einander umher, dabei die drolligsten Capriolen und Sprünge machend, bis endlich Einzelne aneinander geriethen und in blinder Wuth sich zerhackten. Hatte dann der Stärkere oder oft nur der Muthigere den Gegner in die Flucht geschlagen, so schritten die Sieger mit doppelt stolzem und aufgeblähtem Wesen einher, sich dazu die höchsten Stellen auf dem Balze aussuchend, um von da aus die in der Nähe weilenden Geliebten durch die zärtlichsten Töne und sonstiges Gebahren an sich heranzulocken. Diese nahmen, von solcher Liebenswürdigkeit hingerissen, nicht Anstand, durch leises Gackern ihre Bewunderung auszudrücken, und folgten willig den verführerischen Einladungen des Siegers, der, wiederum auf halbem Wege entgegenkommend, durch Vorüberstreichen an der Auserwählten in ihr die Sehnsucht zu erhöhen sucht, sich mit dem im Hochzeitkleide prangenden Werber zu vermählen.

Nachdem mancher Schuß die stille Haide durchhallt hatte und der Tag höher und höher stieg, zogen sich auch die schwarzen Gesellen mit ihren Hühnern, die sie sich kämpfend errungen hatten, nach dem Walde zurück, so daß öfters ganze Flüge die Luft durchstrichen, wenn sie irgendwo durch eine verdächtige Wahrnehmung plötzlich zur Flucht veranlaßt worden waren. Natürlich wurden nun auch die Balzplätze leer, und so trat ich denn endlich aus der pulverdampfigen Reisighütte heraus, um die gemachte Beute aufzunehmen und mich über die Richtung, die die angeschossenen Hähne genommenen hatten, zu orientiren, damit diese von dem hinzukommenden Revierförster mit dem Hunde gesucht werden konnten. Wie frisch athmete sich’s in der freien Luft, mit welcher Lust schweifte jetzt das Auge bei der Tageshelle über die weite Fläche! Züge lärmender Krähen, die vom Walde, ihrem Nachtquartier, her nach den Feldern zogen, belebten die, wenn auch eintönige, doch großartige Landschaft. Auch die Kiebitze waren jetzt munter und umschwärmten uns, dann und wann niederschießend, um nach dem Hunde zu stechen, und gleich darauf in ihrem schnellen Fluge sich wieder emporschwingend, bis wir den am Walde haltenden Wagen erreicht hatten.

Nun ging’s wieder fort durch die weiten, wildreichen Forsten, dem Schlosse zu, auf welchem Wege noch manches Stück Wild, Roth- wie Rehwild, das in den Stangenhölzern den schützenden Dickungen zuzog, dem Auge sichtbar wurde.

Daß bei einem so reichen Balze die Freude der Beobachtung größer ist, als die am bloßen Schießen, versteht sich von selbst, da hierbei von der Spannung, ob wirklich ein oder der andere Hahn einfallen und ob er dann auch schußgerecht kommen werde, kaum die Rede sein kann. Bei so bewandten Umständen ist das Schießen, wenn sonst nur das Schießzeug sich in gutem Stande befindet und die passende Munition nicht fehlt, ein wahres Kinderspiel, wobei nur das Eine zu beobachten gilt, daß man die Entfernungen, die aus der dunkeln Hütte nach dem schwarzgefiederten Wilde auf dämmeriger Fläche ungemein täuschen, gehörig wahrnimmt.




Aerztliche Strafpredigten.
Die Anacahuitesucht.

Ein Jauchz entringt sich jetzt den hustenden Brüsten der schwindsüchtigen Menschheit aller Länder und mit ihm das Wort Anacahuite, welches ein in den Apotheken ziemlich theures Holz ist, das die deutschen Lungenleidenden dem preußischen Consulate zu Tampico in Mexico zu verdanken haben und das zu einem Theelöffel voll auf zwei Tassen Abkochung früh nüchtern, sowie des Abends vor Schlafengehen zu trinken ist, wenn es nämlich den Indianern Brustleiden aller Art curiren soll. Natürlich muß es der schwindsüchiige Europäer ebenfalls in Tampico, aber ja nicht etwa in Europa, und zwar längere Zeit trinken, wenn er gesunden will. Doch könnte er auch, wenn ihn sein Weg nicht gerade nach Mexico führt, dafür in Algier oder Egypten, meinetwegen auch in Palermo oder Madeira, früh und Abends einige Tassen Süßholzthee oder eine Abkochung von geraspeltem Ofenbankholze trinken. Der Erfolg wird ziemlich derselbe sein, ob man dieses oder jenes thut, denn nicht das Holz, wohl aber das Klima schafft dem Brustkranken in Mexico die Besserung und scheinbare Heilung.

„Ja, mir hat aber dieses Anacahuite auffallend schnell Linderung meiner Brustbeschwerden gebracht.“ So sprach ein Lungensüchtiger, der so vernünftig war und seit einigen Wochen einen Respirator[3] trug, trotzdem aber so unvernünftig war und diesen heilsamsten aller Heilapparate (s. Gartenlaube 1855, Nr. 8) für nichts, den ziemlich indifferenten, nur etwas bitterlich und zusammenziehend schmeckenden Holzthee aber für ein Wundermittel achtete. – Am Respirator läßt sich übrigens der Unverstand der kranken Menschheit recht deutlich sehen, denn nur wenn Brustkranke auf dem letzten Stück Lunge röcheln, da klammern sie sich erst dieses vortreffliche Schutzmittel für die Athmungsorgane, welches beinahe den Winteraufenthalt in warmen Klimaten ersetzen kann, vor dem Munde an. Und was dabei so empört, nur erbärmliche Eitelkeit oder die lächerliche Heuchelei, trotz des Aussehens eines ausgenommenen Herings doch eine Hausknechtsgesundheit besitzen zu wollen, die ist’s, die eine ganz enorme Anzahl von hustenden Schwindsüchtigen [775] viele, viele Jahre früher, als es nöthig wäre, in’s Grab stürzt. Wenn solche respiratorscheue Selbstmörder dann den Tod heranrücken sehen, so jammern und wehklagen sie ganz ungerechter Weise über ihr Unglück, nicht aber über ihren Unverstand, der das Unglück herbeizog; ja sie höhnen wohl gar die medicinische Wissenschaft, weil sie ihnen neue Lungen einzusetzen nicht vermag. Tod und Verderben und nebenbei noch meine Verachtung jedem Lungenkranken, der bei rauher kalter Witterung nicht einen Respirator trägt, vorausgesetzt nämlich, daß ihm an seinem Leben etwas liegt.

Was müßte man denn nun eigentlich von einem Mittel, welches die Lungenschwindsucht curiren soll, verlangen? Diese Frage läßt sich aus dem, was die Wissenschaft über diese Krankheit weiß und was im Jahrgange 1855, Nr. 15 der Gartenlaube ausführlich besprochen wurde, dahin beantworten: entweder muß das Mittel die eben im Gange befindliche Absetzung von Tuberkel- (oder Schwindsuchts-) Materie, die in der Regel mit hitzigem Fieber (sehr beschleunigtem Pulse und erhöhter Hautwärme) einhergeht, sofort zum Stillstand bringen, oder hatte dies (wie wohl immer) die Natur schon gethan, so mußte es einen spätern Nachschub von Tuberkelmasse (also einen neuen Anfall von Tuberkelabsetzung) ganz und gar verhindern. Das Unschädlichmachen der schon in die Lungenspitzen abgesetzten Tuberkelmasse besorgt stets die Natur, dazu haben und brauchen wir kein Hülfsmittel. Es thut dies die Natur hauptsächlich mit Hülfe zweier Entzündungsprocesse, nämlich der Brustfell- und der Lungenentzündung, welche der unwissenschaftliche Arzt gern wegcuriren möchte. Glücklicherweise mißglückt aber dieses unglückselige Vorhaben stets, und deswegen können Schwindsüchtige, die sich eigentlich über stechende Schmerzen auf der Brust freuen sollten, so lange am Leben bleiben.

Die im Gange befindliche Absetzung von Schwindsuchtsmasse in das Lungengewebe eher zum Stillstand zu bringen, als dieser Krankheitsproceß sein naturgemäßes Ende erreicht hat, vermag nun Anacahuite ebenso wenig, als irgend eine andere Arznei oder Heilmethode. Hierbei bleibt das einfachste diätetische Verfahren sicherlich auch das vortheilhafteste; dies aber besteht nur in der allergrößten (körperlichen, geistigen, gemüthlichen und geschlechtlichen) Ruhe, sowie im Einathmen einer ganz reinen, warmen Luft bei mäßig nahrhafter, leichtverdaulicher Kost. Hinsichtlich der Luft wird am meisten gefehlt, denn anstatt den Patienten im größten, schönsten, hellsten, gutgelüfteten und behaglich warmen Zimmer und im Bette zu finden, trifft man ihn sehr oft in einem kleinen, düstern, kühlen, ungelüfteten Raume, dessen Luft nach alter Wäsche, Schweiß, Excrementen aller Art und fauligem Auswurfe stinkt. Das Ausgehustete sollte, wenn’s denn einmal im Krankenzimmer aufbewahrt werden muß, stets in einem gutverschlossenen Gefäße bleiben, damit die bei seiner Fäulniß entstehenden übelriechenden und dem Athmungsorgane nichts weniger als zuträglichen Gase die Zimmerluft nicht verunreinigen können. Kurz, eine reine warme Luft im reinen Zimmer ist das Haupterforderniß bei allen Brustaffectionen.

Wie durch Anacahuite aber ein Schwindsuchtsnachschub, der bei Brustkranken bald in kürzerer, bald in längerer Zeit, nicht selten aber (wenn die zuerst abgelagerte Tuberkelmasse veraltet) auch gar nicht wiederkehrt, ganz und gar verhütet werden könnte, das mag ein Anderer erklären. Verfasser würde an dieses Wunder erst dann glauben, wenn viele hundert anacahuitete Lungensüchtige früher oder später an einer andern Krankheit als an Lungentuberculose untergingen. Bis das nicht geschehen ist, gebe ich meinen Leidensgefährten den Rath: bei Vermeidung von Blutandrang nach der Lunge (also Meiden einer rauhen und kalten, staubigen und rauchigen Luft, sowie von Erkältung und Allem, was starkes Herzklopfen macht) den Ernährungszustand ihres Körpers ordentlich zu besorgen, d. h. durch richtiges Essen und Trinken, zweckmäßiges Athmen guter Luft, passende Bewegung und gehörige Ruhe ein gutes nahrhaftes, flott circulirendes Blut zu erzeugen. Eine Menge von Brustkranken kommen aus lauter Feigheit, aus Angst vor dem Tode, zu keinem Wohlbefinden; ein Nachtschweiß, einige stärkere Hustenanfälle, etwas Blut im Ausgehusteten, ein paar Bruststiche setzen ihr feiges Herz in den größten Alarm, dieses pumpt dann ganz natürlich eine unnütze Menge von Blut in die Lungen, und so kann es allerdings zum frischen Erkranken dieses schon kranken Organes kommen. Eine andere Sorte von Brustkranken läßt, um einfältiger Weise jede Spur eines Brustleidens an sich getilgt zu sehen, fortwährend an ihrem Corpus herumquacksalbern, gebraucht jeden neuauftauchenden (arzneilichen, gymnastischen, elektromagnetischen und sympathetischen) Schwindel, jagt aus einem Welttheile in den andern, stiehlt alten Jungfern dicke Möpse und verspeist deren (nämlich der Möpse) Fett auf Leberthran-Bemmen mit Heringsmilch, nimmt nach dem lebensmagnetischen Hahnemann II., Herrn Dr. Lutze, Kohle in der 10. Verdünnung, wenn seine rechte Lunge, kohlensauren Kalk aber, wenn die linke leidet, oder probirt unter Leitung eines echten Vollblut-Homöopathen die gegen Lungensucht als Hauptmittel empfohlenen etwa 30 Nichtse dem Alphabete nach durch; kurz macht eine Lächerlichkeit und Dummheit über die andere, und warum? nur um unerhebliche und unhebbare Beschwerden (Husten mit oder ohne Auswurf, kurzen Athem, Drücken auf der Brust, Magerkeit etc.) los zu werden.

Da bleibt freilich nur ein Trost: mit Brustkranken kämpfen Götter selbst vergebens, also warum nicht auch
Bock.




Das unterirdische Paris.
Von Friedrich Oetker.

„Es ist schwer, die Unterwelt zu besuchen.“ Auch in Paris werden Einem große Schwierigkeiten gemacht, wenn man die Wunder der Tiefe betrachten möchte. Bloße Neugier ist keineswegs eine genügende Einlaßkarte. Zum Glück besann ich mich, daß ich in Kassel einmal Stadtrathsmitglied gewesen war und in dieser Eigenschaft die Verpflichtung gehabt hatte, mich dann und wann mit ober- und unterirdischem Unrath zu befassen. Ich unterließ daher nicht, diesen Umstand bei der Pariser Oberbehörde gehörig hervor zu kehren, und hatte nun das Vergnügen, daß sofort meine „ernsten Ziele“ gewürdigt und die unwillfährigen Reinlichkeitsbeamten des Service de la salubrité in die artigsten und zuvorkommendsten Wegweiser umgewandelt wurden.

Es ist bekannt, daß Paris seinem uralten Namen Lutetia, oder Schmutzloch, noch vor wenigen Jahren alle Ehre machte. Die Straßen waren wahre „Kothgassen“, die Abzugsrinnen der Sammelplatz alles Unflaths; an vielen Stellen verbreiteten sich unaufhörlich, bei gutem wie bei schlechtem Wetter, die schauderhaftesten Ausdünstungen; auf Schritt und Tritt war man von der ärgerlichsten Besudelung bedroht.

Das hat sich wunderbar geändert. Nicht blos in den weiten Straßenzügen, welche die neuere und neueste Zeit geschaffen hat, herrscht spiegelblanke Sauberkeit, auch in den engen Windungen der alten Stadtheile ist mit geringen Ausnahmen eine musterhafte Reinlichkeit hergestellt worden. Trittsteine, bedeckte Abzüge, eiserne Ausgußröhren, Spühlkrähne und sonstige Vorrichtungen haben wahrhaft Erstaunliches geleistet; es gibt einzelne Gassen, die früher kaum in Stiefeln zu durchwaten waren, die aber jetzt, mit Canälen versehen und mit Asphalt gepflastert, den zartesten Seidenschuhen zugänglich sind.

In der That, die letzten Jahre haben das Ungeheuerste, das Außerordentlichste zu Wege gebracht. Es ist keine Uebertreibung, wenn man behauptet, daß die Regierungszeit Napoleons III. für die Verschönerung und Vergesünderung von Paris mehr gethan hat, als alle früheren Herrscher und Regenten zusammengenommen. Ganze Stadttheile sind weggerissen oder in ihrem engsten, winkligsten Häusergedränge durchbrochen worden, um für weite Plätze und breite, baumbepflanzte, bankbesetzte Straßen und Spaziergänge Raum zu schaffen. Die Verbindung des Louvre mit den Tuilerien, die Verlängerung der Kais und der Rivoli-Straße, die Ausschälung des Stadthauses und des St. Jakobsthurmes aus den alten Häusermassen, die Verschönerung des Boulogner Gehölzes und seine Verbindung mit der Stadt, die Anlegung der Boulevards [776] de Strasbourg und de Sebastopol, die Herstellung neuer Seine-Brücken, die Erbauung des Industriepalastes, diese und zahlreiche andere Werke sind in weniger als einem Jahrzehnt vollendet worden, und fast eben so bedeutende sind noch im Bau und im Plan.

Eine der großartigsten und merkwürdigsten Schöpfungen aber ist das neue Système des Egouts, die Einrichtung der unterirdischen Abzugsgräben zur Fortschaffung der Straßenabflüsse und sonstiger Unreinlichkeiten. Den Richtungen der Hauptstraßen entsprechend ist Paris von einem Netze von Canälen unterhöhlt; wie ein Strom mit seinen Nebenflüssen und Nebenbächen zieht sich ein meilenlanges überwölbtes Wasser- und Schlammbett unter der Stadt hin, das von allen Seiten die Abflüsse der Straßen aufnimmt und unweit Asnières, also in ziemlicher Entfernung von der eigentlichen Stadt, in die Seine ausmündet. Die ganze Länge der gesammten unterirdischen Abzugsgänge von Paris wird auf mehr als 180,000 Meter oder weit über 20 deutsche Meilen angegeben.

Bis jetzt ist dieses riesige Werk nur wenig bekannt. Von den Herrlichkeiten des oberirdischen Paris weiß alle Welt zu erzählen; aber wer kennt die unterirdischen Gänge und Ströme?

Vielleicht ist es daher Manchem nicht unlieb, wenn ich ihn einen Blick in die Unterwelt thun lasse. Ja selbst zarte Leserinnen brauchen vor einem Besuche nicht zurückzuschrecken; denn „da unten“ ist’s durchaus nicht so fürchterlich, als man wohl glauben sollte. Die Hauptgänge oder die égouts collecteurs sind weit und hoch und dabei an den Seiten so reinlich und überall durch so zahlreiche Schächte gelüftet, daß eine Durchwanderung keinerlei Unbequemlichkeiten bietet. Auch Ungeziefer findet sich nicht; weder Land- noch Wasserratten sind im Stande, in den neuen Gängen sich zu nähren oder zu verbergen. Man kann kaum einen größeren Gegensatz denken, als den von den verpesteten Kloaken anderer Städte, insbesondere Londons[4], die nur für Ratten und sewer-hunters oder Canaljäger betretbar sind, und den luftigen und sauberen „Galerien“ von Paris. Zwar hat man einen eigenthümlichen, aus tausenderlei Dünsten und Düften zusammengesetzten Geruch zu bestehen, aber derselbe ist doch nicht sonderlich belästigend und auf alle Fälle gar nicht gefährlich.

Die einzige Gefahr, welche möglich bleibt, ist die des Ertrinkens, nämlich bei einem heftigen und plötzlichen Gewitter; denn alsdann brausen die Wasser und Unreinlichkeiten von allen Seiten in solcher Fülle zusammen, daß die gewöhnliche Bettung weit überfluthet wird und auch wohl Stockungen entstehen. Allein man hat in dieser Beziehung für die Arbeiter so viele Vorsichtsmaßregeln getroffen, daß bei einiger Aufmerksamkeit kein Unfall zu befürchten ist, obwohl deren doch zuweilen vorkommen. Abgesehen von Hülfsabflüssen in die Seine, innerhalb der Stadt, sind in gewissen Entfernungen Rettungsschachte mit eisernen Stufen angelegt, worin sich die Arbeiter zurückziehen können. Ja, an einigen Stellen ist der Canal von Quergängen überwölbt, wodurch man von einer Seite auf die andere gelangen kann, ohne den Strom überschreiten zu müssen. Auch an genügenden Ausgängen fehlt es nicht.

Wagen wir’s also getrost, unweit des Pont au Change in einen der Hauptgänge einzutreten. Er nimmt die Abflüsse der neuen Straßen, unweit des Stadthauses und des Boulevard von Sebastopol auf und ist selbst mit einem Ehreneingange für den Kaiser und für hohe Würdenträger versehen. Der gewöhnliche Eingang ist am Seine-Ufer unter dem Quai de Gesvres. Man wandert eine Strecke gerade aus oder im Canal des Boulevard von Sebastopol hin, dann nimmt der Hauptgang die Richtung der Rue Rivoli, wendet sich unweit der Madelaine rechts und geht in den großen Gesammtcanal über, der, wie schon erwähnt, in die Seine ausmündet und erst im Frühjahr 1859 in Thätigkeit gesetzt worden ist.

Ein Blick auf die Karte und den Plan von Paris zeigt, daß die Seine nach Durchströmung der Stadt, wobei sie bekanntlich zwei Inselstädte, die alte Cité und die Ludwigsstadt, bildet, einen weiten Bogen um das Boulogner Gehölz beschreibt und dann bei Neuilly wieder näher an die Stadt heranrückt. Früher wurden eine Menge Unreinigkeiten innerhalb der Stadt in den Fluß abgeleitet, was um so widriger war, als sein Wasser nicht bloß zum Baden, sondern, in Ermangelung von Brunnen, auch zu den meisten häuslichen Bedürfnissen verwendet wird. Neuerdings ist dies, wenn auch nicht ganz abgestellt, doch unendlich gemindert worden, indem man durch den neuen Hauptcanal den Abfluß seitwärts, also unterhalb der großen Biegung der Seine, angelegt hat. Ja man geht schon mit dem Gedanken um, auch von der linken Stadtseite, namentlich vom Quartier Latin, den Unrath mittels eines Siphon oder Heberwerks unter der Seine durch in den großen Abflußcanal zu leiten, um so die ganze ungeheuere Stadt von den bisherigen Uebelständen zu befreien.

Wenn man bedenkt, wie viel Spülicht und Ausguß in einer Stadt wie Paris vorkommt, so kann man sich eine Vorstellung von der Ausdehnung machen, welche der Hauptcanal haben muß. In der That ist das Auszugsbett wie ein kleiner Strom anzusehen. Zu beiden Seiten sind breite mit Cement überzogene Bänke; ebenso ist das weite, über zwölf Fuß hohe Gewölbe mit Cement bekleidet. An den Seiten sind in allen Gängen aus weißen Porcellanplatten die Namen der Straßen, unter denen man sich befindet, angebracht, sodaß Jeder, der mit einer Laterne versehen ist, sich unten so gut wie oben zurecht finden kann. Zugleich dienen die mächtigen Gewölbzüge dazu, die Stadt mit frischem Wasser zu versehen. Während im Schlammbett der Mitte der Unrath davon zieht, strömt zur Seite in gewaltigen gußeisernen Röhren, durch Dampfkraft gefüllt, das reine Wasser, um überall die Springbrunnen, die Spülstöcke, die Begießhähne und sonstigen Bewässerungsvorrichtungen der Stadt zu nähren.

Am bemerkenswerthesten ist die Art, wie die Abzugsbetten, die bei der Lage von Paris keinen bedeutenden Fall haben können, vor dem Verschlammen und Verstopfen geschützt werden. In den engern Gängen hilft man durch Stauungen, durch Schieber etc. nach; für die breitern aber hat man eigenthümliche Reinigungsmaschinen erfunden, nämlich Wagen, deren Räder auf den Seitenbänken der Abzugsrinnen wie auf Eisenbahnschienen laufen und durch die Triebkraft des abfließenden Wassers in Bewegung gesetzt werden. Hinten am Wagen ist nämlich ein Stau- oder Stoßbret angebracht, welches in das überall gleich- und ebenmäßig geformte Auszugsbett hinabreicht und so von dem Strome erfaßt und fortgetrieben wird. Vorn dagegen ist die Maschinerie, welche den Schlamm aufwühlt und weiterschiebt und je nach den zu bewältigenden Massen von oben gestellt und gelenkt wird.

„Nehmen Sie gefälligst Platz,“ sagte mir der Steuermann dieses wunderlichen Fahrzeugs, nachdem wir eine Strecke zu Fuß gegangen waren, „wir wollen nun, wenn’s Ihnen beliebt, eine kleine Spazierfahrt machen.“ In der That schien der Wagen zu solchen tours de plaisir eigens eingerichtet zu sein. Außer dem Sitze des Lenkers, der rückwärts fuhr, war noch eine bequeme Bank für ein paar Mitfahrende vorhanden. Ich stieg auf, der Beamte, welcher mich geleitete, ebenfalls, und so kutschirten wir in der Galerie de Rivoli, wie dieser Hauptcanal gewöhnlich genannt wird, davon, nachdem man noch ein paar Laternen angezündet hatte, um mich Alles in reichlicher Klarheit betrachten zu lassen.

Ich muß gestehen, daß ich niemals eine eigenthümlichere Fahrt gemacht habe. Während oben die leichten Carossen und schweren Omnibusse im brennenden Lichte der Junisonne donnernd über die eisenbedeckten Luftschachte flogen, fuhren wir unten bei Laternenschein durch die kühlen Gewölbe, rings von einfallenden Wassergüssen umrauscht und von Nichts als von dem langsam ziehenden Schmutzstrome getrieben. Natürlich ging unsere Fahrt nicht immer schnell; allein je weiter wir vorrückten, desto stärker ward der Strom und desto rascher rollte unser Fuhrwerk. Mitunter, vor ungewöhnlichen Sand- und Steinmassen. stockte es auch wohl einige Secunden. Dann stauete aber das nachströmende Wasser, bis es, höher und kräftiger werdend, das Hinderniß überwältigte und den Wagen nun um so schneller vorwärts trieb.

So zogen wir gegen eine Stunde lang unter der Erde hin. Dann stiegen wir ab und betraten den großen Gesammtcanal, der unmittelbar mit der Seine in Verbindung steht. Auf diesem verrichtet ein Schiff dieselben Dienste, wie anderwärts die Wagen. Es ist flach und ziemlich geräumig und gleitet wie ein Charonsnachen, in schweigender Düsterheit, auf dem unterirdischen Schlammstrome dahin.

Die Dienstmannschaft in dieser Unterwelt besteht etwa aus anderthalbhundert Köpfen für ganz Paris.



[777]
Der Fisch der Gebirge.

Wenn der Bewohner des Niederlandes die höchsten Gegenden unseres Vaterlandes durchwandert und über dunkelbewaldete Höhen und zerrissene Felsenhänge hinabsteigt zu jenen schnellfüßigen Bächen, die ihre silberhellen Wasser, bald im schäumenden Sturze tobend, bald nur rauschend und murmelnd, den größern Flüssen zuführen: äußert er wohl oft: „Ach, wie schade, daß diesen reinen Gewässern die belebenden Fische fehlen!“ – und wenn ihm dann ein Gebirgsbewohner antwortet: „Das glauben Sie nicht! In jenem tischgroßen und kaum fußriefen Tümpel hinter dem Ellernstrauch liegen ganz gewiß ein halbes Dutzend der schönsten Speiseforellen“ – glaubt er’s nicht, bevor man ihn überzeugt. – Ich verdenke es ihm auch nicht, denn wenn er die Kunst „Forellen in der Freiheit zu sehen“ noch nicht versteht, wird sein Auge, vorzüglich in kleinen Gewässern, nur selten einen Fisch dieser Art erblicken.

Als ich vor sechszehn Jahren in’s Gebirge kam, bemühte ich mich anfangs selbst vergebens, auch nur eine Forelle zu sehen. Eines Tages, als ich in der Nähe der Wolfshöhle bei Annaberg in gleicher Absicht an der Sehma hinschlich, traf ich einen alten Jäger. Derselbe hatte mich wahrscheinlich zuvor aufmerksam beobachtet und trat mit der Frage auf mich zu: „Was suchen Sie denn, guter Freund?“ – „Man sagt“ entgegnete ich, „es gäbe in diesem Bache viel Forellen, und ich bemühe mich schon seit einer halben Stunde vergebens auch nur eine einzige zu erblicken.“ Er lächelte fein und mich gemüthlich auf die Achsel klopfend bemerkte er: „Der Herr ist gewiß aus dem Niederlande und hat’s noch nicht gelernt, die Fore zu schauen. – Jetzt passen’s auf, wenn Sie eine sehen wollen!“ Er legte sein Gewehr bei Seite, warf sich sofort auf alle Viere und kroch auf den Bach zu. In der Nähe des Ufers wurden seine Bewegungen so vorsichtig, wie die des schleichenden Fuchses. – Am Bach angekommen rief er: „Eine, zwei, drei, vier, fünf – sechs Foren, wenn Sie schauen wollen, aber gerade so müssen’s machen wie ich!“ – Ich marschirte vierfüßig hinterdrein, und richtig, ich zählte auch: „Eine – zwei – drei – vier – – Wo sind aber sechs? ich sehe ja nur vier.“ – „Ich glaub’s schon! – Sehens nur nach dem großen Stein mitten im Bach, stromaufwärts guckt ein tüchtiger Forenkopf drunter raus.“ – Es war so. „Doch wo ist die sechste?“ – „Die wird sich zeigen, sobald irgend ein Käfer, Grashüpfer oder dergleichen herabschwimmt. Jetzt – passen’s auf!“ – Etwas von dem angegebenen Raube bemerkte ich zwar nicht, hörte aber einen appetitlichen Schnapper und sah eine Forelle pfeilschnell unter das ausgewaschene Ufer fahren. – Wir sprachen ganz vernehmlich mit einander, und ich äußerte meine Verwunderung darüber, daß die Fische dadurch nicht verjagt würden. „Die Fore hört schlecht, aber sieht gut“, sagte er. langsam hob er seine Arme in die Höhe – die Fiscke standen noch still – jetzt machte er eine rasche Bewegung mit den Händen – und keiner war zu sehen. „Ach, das ist schade,“ bemerkte ich, „gern härte ich noch lange zugesehen, und nun wird es wohl eine Weile dauern, ehe die Fische wieder sichtbar werden?“ – „Heute hier nicht,“ entgegnete der Alte, „wir müßten uns denn zwei Stunden ganz entfernen und von einer andern Seite anschleichen; wenn Sie jedoch einige Schritte mit stromabwärts gehen wollen, will ich Ihnen mehrere zeigen.“ Meine freie Zeit war indeß abgelaufen. Ich dankte dem freundlichen Gebirgsmann und ging heim, war aber von Stund an ein großer Freund des Fisches der Gebirge, und die verehrten Leser dieses Blattes werden vielleicht einiges Interesse daran finden, die naturgeschichtlichen Erfahrungen über diesen meinen Lieblingsfisch, die ich seit einer Reihe von sechszehn Jahren machte, kennen zu lernen, und so gütig sein, dabei zu vergessen, daß meine Darstellung der anderer Schreiber dieses Blattes nicht ebenbürtig ist.

Die bevorzugten Brutplätze der Forelle sind die unbedeutendsten Waldbäche der Gebirge, wenn sie nur ausdauernd laufendes Wasser und hinreichend Steine haben; jedoch liebt sie besonders granitsandigen Boden und meidet kalkhaltige Gewässer. Wie der Lachs zur Brutzeit in die seichten Flüsse hinaufsteigt und dabei oft über 10 bis 12 Fuß hohe Hindernisse wegspringt, so zieht auch die Forelle Ende Septembers und Anfang Octobers stromaufwärts, und es ist unbegreiflich, mit welcher Geschicklichkeit sie die stärksten Stromschnellen und Stürze überwindet. Ich habe es zweimal gesehen, daß dieser Fisch über ein stehendes Mühlrad von Schaufel zu Schaufel sprang und endlich glücklich in’s hohe Wasser kam. Ist der Bach seicht genug, d. h. bei kleinem Wasserstande oft nicht stärker, als daß man ihn einen Augenblick mit dem Fuße aufhalten kann, so setzt sie hinter einem Steine ihren Laich an, der sofort durch den Milchner befruchtet wird. Nach diesem Geschäft ist sie sehr abgespannt, und ihr Fleisch hat alle Schmackhaftigkeit verloren, sobald das erste Hochwasser eintritt, läßt sie sich von demselben wieder in ihre Heimath führen. Nach einiger Zeit platzen die Eier, und es erscheint ein winziges Fischchen mit einem großen Magensacke, aus welchem es sich, ohne andere Nahrung zu sich zu nehmen, fast einen Monat lang erhält. Nach dieser Zeit erhält die Forelle ihre eigentliche Gestalt, nur ist der Kopf nach Proportion zu groß. Mag auch der Winter noch so streng sein, so hat sie doch schon im Frühjahr die Länge von 11/2 Zoll und darüber erlangt und wächst nun sehr schnell, so daß sie schon im nächsten Jahre eine Hand lang wird. Hierauf geht sie nach und nach den Bach abwärts, um tieferes Wasser aufzusuchen. Stundenlang habe ich oft die Brutplätze belauscht. Die jungen Forellen stehen stets einzeln, am liebsten an solchen Stellen, wo das Wasser mit gemäßigter Schnelle über feinen Sand fließt. Wenn man nicht genau Acht gibt, erkennt man sie gar nicht; denn wegen ihrer scheinbaren Unbeweglichkeit hält man sie für ein auf dem Grunde liegendes Stückchen Holz. Dabei bewegen sie Flossen und Schwanz genau nur so schnell, als nöthig ist, um auf dem Platze zu bleiben. Bringt jedoch der Strom irgend eine Beute, so fahren sie mit der Schnelligkeit des Blitzes darauf los, erhaschen sie und kehren ebenso schnell zurück zu der verlassenen Stelle, um ihre scheinbare Unbeweglichkeit fortzusetzen. Große Forellen (sie erreichen oft ein Gewicht von 4–6 Pfund und darüber) sieht man meist gar nicht. Sie liegen fast stets unter solchen Ufersteinen, die im tiefen Wasser stehen, und kommen bei hellem Wasser gewöhnlich nur des Nachts hervor, um ihre Nahrung zu suchen. Die besonderen Eigenthümlichkeiten des Fisches überhaupt erfährt man am besten bei seinem Fang, dessen verschiedene Arten hier folgen.

a. Das Greifen.

Unter Greifen ist das Fangen mit den Händen zu verstehen. Bei dem geringsten Wasserstande macht sich der Fischer an sein Geschäft. Er zieht sich dabei fast nackend aus und watet in solche Stellen der Bäche, die nicht über 11/2 Fuß Wasserstand halten. In tieferen ist sein Geschäft sehr undankbar. Mit Kennerblick prüft er die auf dem Grunde, aber doch hohl liegenden Steine, greift mit beiden Händen an den Seiten derselben herum und stopft alle unter den Stein führenden Höhlungen, außer einer, mit Steinen oder Rasen zu. Jetzt langt er vorsichtig zu dem noch offenen Loche hinein und fühlt die ganze Höhlung unter dem Steine aus. Spürt er den Fisch, so krabbelt er ihn leise an dem Bauche, bis er die ganze Hand unter denselben gebracht hat. Ein fester Griff um Kopf und halben Leib bringt ihn in seine Gewalt, wenn er nicht über 1/4 Pfund wiegt; ist er jedoch stärker, so muß er beide Hände zu Hülfe nehmen und hat dann oft noch das Unglück ihn entschlüpfen zu sehen, wenn er ihn nicht geradezu todt drücken will. Schwieriger ist das Geschäft, wenn die Forelle so weit unter den großen Ufersteinen liegt, daß der Arm des Fischers nicht zureicht, sie mit der Hand zu umfangen. Oft erreicht er den Fisch mit den Fingerspitzen und muß ihn doch in Ruhe lassen. Alles Stoßen mit Stöcken etc. vermag dann nicht, ihn von seinem Platze zu treiben: er läßt sich vielmehr, ohne zu weichen, todt stoßen und ist dann doch nicht herauszubringen. Eines Tages spürten wir unter einem über eine Elle breiten Ufersteine ein ziemlich großes Exemplar. Obgleich der langarmigste Greifer darunter griff, war es doch nicht möglich den Fisch zu fassen. Wir machten uns daher darüber, das Ufer hinter dem Steine zu durchbrechen, und kamen nach der Arbeit einer Viertelstunde auf die Forelle, die sich nun ganz ruhig herausnehmen ließ und sich als eine 3 Pfund schwere sogenannte Lachsforelle präsentirte. Wir wandten später die erwähnte Methode noch oft an, und sie wurde meistens mit glücklichem Erfolge gekrönt. Bequemer ist

b. der Fang mit Netzen.

Dies geschieht auf dreierlei Art. Entweder mit dem Streifhamen bei ganz trübem Wasser oder mit Leuchte, oder durch das [778] sogenannte Streichnetz. Nach einem starken Platzregen oder nach schnell eingetretenem Thauwetter nimmt das Wasser der Gebirgsbäche eine rahmkaffeeartige Farbe an. Der Streifer macht sich schnell auf, ehe sich diese Farbe wieder verliert, und nimmt seinen Streifhamen auf die Schulter. Dieser ist ein an einer langen Stange senkrecht befestigter Hamen. Seine halbmondförmige, unten 3–4 Fuß weite Oeffnung läuft in einen etwas längern Sack aus, dessen Ende an die äußerste Spitze der Stange befestigt ist. Er läßt das Netz an solchen Stellen, wo das Wasser ruhig steht, ein und zieht es langsam nach dem Ufer zu, worauf er es schnell emporhebt und die Gefangenen herausnimmt. Dasselbe Netz wendet man auch bei dem Leuchten an; nur wird dabei die Stange losgemacht. Zum Leuchten gehört außerdem eine hellscheinende Lampe, welche man dergestalt in einen großen umgekehrten Topf befestigt, daß man die ganze Vorrichtung an einer Stange über dem Bache tragen kann. Wenn dieses geschieht, bleiben die Forellen ganz ruhig auf der Seichte stehen und bemerken es nicht, wie ihnen durch den Fischer der Weg zur Tiefe gesperrt wird. Ist dieses geschehen, so jagen einige mit sogenannten Plumpstangen in’s Wasser geführte Stöße die Forellen dem aufgespannten Hamen zu, der von dem Fischer, der ihre Ankunft durch den auf den Netzsack gestellten Fuß sogleich bemerkt, schnell emporgezogen wird. Dieselbe Leuchte gebraucht man auch bei dem Streichnetz. Dieses ist ein viereckiges Netz mit sehr großen Maschen, vor dem ein anderes ganz feines hängt. Kommt die Forelle geschossen (schnell geschwommen), so fährt sie mit einem Theile des feinen Netzes durch eine Masche des größern und ist so wie in einem Sacke gefangen. Die bequemste und für den Kenner erfolgreichste Art des Forellenfanges ist

c. das Angeln.

Bei trübem Wasser ist nichts leichter als Forellen zu angeln. Man nimmt einen dicken oder dünnen Faden, bindet einen mittelmäßigen Angelhaken daran, etwas Blei und einen Kiel mit Kork. Zum Köder nimmt man Regenwürmer und geht dann am Bache hin, die Angel in jede ruhige Stelle einwerfend. Ist das Wasser nicht zu trübe, sodaß die Forelle den Fraß auch in der nächsten Nähe nicht sehen kann, so darf man sicher auf guten Fang rechnen. Bei trübem Wasser scheint dieser Fisch ein ganz anderer zu sein, als bei Hellem. Er schwimmt dann unermüdlich auf dem Grunde hin und her und frißt mit unermeßlicher Gier alles Genießbare, was ihm das Wasser entgegenschwemmt. Fängt man ihn unter solchen Umständen, so findet man den Leib strotzend voll Regenwürmer. Wirft man ihn wieder in’s Wasser, nachdem man ihn durch Abschneiden eines kleinen Theils einer Flosse kenntlich gemacht hat, so fängt er sich nach einer halben Stunde oft schon wieder. In der Gefangenschaft gibt er den Fraß meistens wieder von sich und fällt dabei in eine todähnliche Erstarrung. Große Kenntniß der Eigenheiten dieses Fisches und viel Gewandtheit erfordert dagegen der Fang mit der Angel bei hellem Wasser. Die Forelle ist dann so scheu und hat solchen wählerischen Appetit, daß man die äußerste Vorsicht aufwenden muß.

Will man sie dann fangen, so gehört erstens dazu ein leichter 7–8 Ellen langer Stab, versehen mit einer wenigstens ebenso langen möglichst feinen Schnur. Diese fertigt man am besten von weißem Pferdehaar, 8 bis 10 Haare stark, und dreht sie gut zusammen. Da die Haare nicht sehr lang sind, muß man kleinere Schnürchen nach der Haarlänge machen und diese dann verknüpfen. Dieses geschieht durch einen besonderen Knoten, da die Pferdehaare, zu sehr umgebogen, leicht springen. Um dieses zu vermeiden, nimmt man die beiden Enden der zu verbindenden Schnürchen und legt sie 11/2 bis 2 Zoll über einander, sodaß man rechts und links ein Schnürchen und die beiden Enden in der Mitte hat. Jetzt macht man einen gewöhnlichen Knoten, indem man das Ende der linken Schnur und die ganze rechte zweimal durch die gebildete Schlinge steckt und dann zusammenzieht. Ein solcher Knoten zieht sich nie auf, und die Angel springt sehr selten bei demselben. An das untere Ende der Schnur befestiget man einen mittelmäßigen Haken, vielleicht von der Rundung einer kleinen Haselnuß. Der Haken muß vor dem Gebrauche ganz spitzig geschliffen werden, und seine Spitze muß ziemlich weit auswärts stehen. 11/2 bis 2 Fuß über dem Haken bringt man einen ganz leichten Angelkiel einer schwachen weißen Gänsefeder, zu 11/2 Zoll Länge verstutzt und ohne Kork, an. Nur bei starker Strömung ist zur Beschwerung der Angel ein wenig Blei nöthig. Sehr gut ist es auch, wenn man zum untern Ende der Schnur (Anbiß) den Stoff nimmt, der jetzt von den meisten Anglern von Fach benutzt wird. Es besteht dieser aus 12 bis 16 Zoll langen feinen Fäden, ähnlich starken Pferdehaaren, aber von ungemeiner Festigkeit. Leider ist es mir noch nicht möglich gewesen, den wahren Namen und die Abkunft desselben zu erfahren. Als Köder nimmt man am liebsten Regenwürmer und zwar solche, die eine hellrothe Farbe und langen dünnen Körper haben. Diese Art besitzt neben großer Lebendigkeit mehr Zusammenhang als andere Arten und wird deswegen nicht so leicht abgerissen. Hat der Angler sein Zeug im Stande, so geht er zum Bache. Er bleibt so weit vom Wasser, daß die Forelle höchstens seinen Kopf sehen kann, und wirft dann vermittelst einer kunstgerechten Schwenkung die Angel in’s Wasser; läßt sie von dem Strome abwärts treiben und geht ihr ohne Aufenthalt immer nach, indem er sich stets so weit als nur thunlich vom Wasser entfernt hält. Das Verharren auf einem Orte ist durchaus vergeblich, denn die Forelle, die nicht augenblicklich beißt, beißt nach einer Stunde auch dann nicht, wenn man ihr den Köder unmittelbar vor das Maul bringt. Ebenso unnütz ist es, die Angel da hineinzuwerfen, wo man eine Forelle hat schießen sehen, denn durch ihre Flucht zeigt sie allen in ihrer Nähe befindlichen an, daß Gefahr droht.

Hat die Forelle angebissen, so wartet man höchstens zwei Pulsschläge, haut sie durch einen kleinen Schneller mit dem schwanken Stabe an und zieht sie sobald als möglich heraus, denn dieselbe besitzt eine solche Kunstfertigkeit, sich vom Haken loszumachen, daß eine an irgend einem Orte ihres Maules angehakte Forelle, ins freie Wasser gelassen, oft nur wenige Secunden braucht, um sich los zu machen. Man rede mir nicht ein, man dürfe sie ja nur länger beißen lassen, so käme der Haken in die Gedärme, und dann könne sie unmöglich entfliehen; denn die Forelle ist klug genug, den Fraß wieder fahren zu lassen, sobald sie bemerkt, daß er auf unnatürliche Weise mit irgend Etwas zusammenhängt.

Hauptsache für die Angler bleibt es außerdem, den Standpunkt eines Fisches zu kennen und die Angel so zu werfen, daß der Fraß 2 bis 3 Fuß vor diesem in’s Wasser einfällt, denn der Fisch verfolgt selten die Angel rückwärts, weil er dadurch, daß er dann die ganze Schnur über und neben sich sieht, zurückgeschreckt wird. Bei geringem Wasserstande beißen die Forellen im tiefen Wasser fast nie; man muß sich deswegen fast ausschließlich an die Strömungen halten. Bei hellem mittlen Wasserstande wirft man an solchen tiefen Stellen ein, wo die Strömung allmählich in Stauwasser übergeht. Bei starkem und etwas trübem Wasser muß man viel Blei anhängen, damit die Lockspeise auf dem Grunde hinstreicht. Auf die Witterung kommt beim Angeln weit weniger an als auf die Wasserfarbe; doch sind stilles warmes Wetter und mittelhohes Wasser mit der sogenannten Bierfarbe die günstigsten Umstände dabei, und ich selbst habe dann oft so schnell gefangen, daß zwei Drittheile der Zeit auf’s Anködern und Loshaken und nur ein Drittheil auf das Angeln selbst kam. – Schon oben habe ich bemerkt, daß der beschriebene Fisch bisweilen besonderen Appetit habe. Dieses ist namentlich bei ganz geringem Wasserstande der Fall, und er geht dann oft lieber auf Grashüpfer, Käfer, Raupen etc., als auf Würmer. Oeffnet man den Magen der Forelle in solcher Zeit, so findet man ihn fast leer, woraus man erkennt, daß sie bei hellem Wasser 3 oder 4 mal weniger Nahrung zu sich nimmt als bei trübem. Um große Forellen zu fangen, wendet man am besten die Nachtangel an. Sie besteht aus einem gewöhnlichen Bindfaden, am untern Ende mit einem derben, sehr spitzigen Haken versehen, an welchen als Köder ein kleiner lebender Fisch gesteckt wird. Damit der Köder an der Stelle bleibt, befestigt man 2 Fuß vom Haken einen ein halbes Pfund schweren Stein. In den Monaten Mai, Juni und Juli Abends gegen 10 Uhr wirft man die Angel in tiefe Tümpel ein und sieht so früh als möglich nach. Ist das Wasser trübe, so kann man mit Sicherheit auf guten Fang rechnen.

So kräftig sich die Forelle im freien Wasser bewegt, eben so leicht ermattet sie in enger Gefangenschaft, und man muß dann besonders bei warmem Wetter das Gefäß, in welchem man sie transportirt, oft mit frischem Flußwasser auffüllen, wenn man sie am Leben erhalten will. Ohne fließendes Wasser kann sie durchaus nicht leben, und ist ein Teich auch noch so groß, so sterben alle [779] Forellen darin, wenn er auch nur drei Tage keinen frischen Zugang hat. Liegt der Teich nahe an einem fließenden Wasser, so wandern die Forellen aus; d. h. sie springen in thaureichen Nächten heraus auf den Damm und zappeln so lange, bis sie in’s fließende Wasser kommen. Nach dem Tode wechselt dieser Fisch die Farbe und bekommt große lichte Flecken. Auch im Leben ändert sich sein Aussehen nach den Eigenschaften seines Aufenthaltes. In engen dichtbeschatteten Waldbächen erscheint er fast ganz schwarz, während er in weiten sonnigen Wassern eine ganz lichte Farbe annimmt; jedoch geschieht dadurch seiner Schmackhaftigkeit kein Abbruch. Es ist sehr zu beklagen, daß in neuerer Zeit die Menge dieser herrlichen Fische sehr abnimmt. Die Ursachen davon sind weniger darin zu suchen, daß man ihnen zu sehr nachstrebt, als darin, daß durch die Entwässerung der Wälder und Sümpfe und die Bewässerung der Wiesen den besten Brutplätzen oft so viel Wasser entzogen wird, daß kaum noch ein Drittheil der Forellenbrut fortkommen kann. Da das erwähnte Uebel wohl schwerlich zu heben ist, sich vielmehr alljährlich vergrößert, so steht in Erwartung, daß der Forellenbestand nach und nach immer mehr abnimmt; darum ist, schließlich bemerkt, zu wünschen, daß die künstliche Zucht dieses Fisches in unserer Zeit immer mehr Anerkennung finde.

Hpl.




Deutsche Bilder.
Nr. 6.      Eine thüringische Landesmutter.
Von Ludwig Storch.

Es gilt als ein unwandelbares Gesetz, daß jeder körperlichen oder geistigen Schöpfung, jeder Gestaltung und Einrichtung des Menschen- und Naturlebens nur so lange gestattet ist, nützlich und förderlich in ihrem Kreise zu wirken, als das Maß der in ihr liegenden Bildungs- und Gestaltungskraft ausreicht; hat sie dieses Ziel erreicht, so kann sie nur noch künstlich oder vielmehr naturwidrig erhalten werden und wirkt dann in dem Grade schädlich, wie früher nützlich. Nichts in der Welt macht hiervon eine Ausnahme, wenn es sich auch noch so sehr mit dem Heiligenschein schmückt und seinen „göttlichen“ Ursprung noch so laut behauptet. Man würde jedoch stark irren, wenn man die jetzt veralteten, schädlich wirkenden Institute als unbedingt verwerflich schelten wollte, während sie doch nur bedingungsweise verwerflich sind; denn man verkennt dabei ganz und gar, welchen großen Nutzen sie einst, als sie lebenskräftig waren, gebracht haben. In einen gleich großen Fehler verfallen aber auch die, welche sich im Geist in die Zeit versetzen, wo diese Institute Heil und Segen bewirkten, ohne zu bedenken, daß sie in demselben Grade jetzt Unheil und Schaden anrichten; das Verlangen ihrer fortwährenden Beibehaltung, weil sie „göttlichen Ursprungs“ seien, ist daher ungerecht, denn die Welt steht niemals still, und der Geist der Zeit schreitet rastlos vorwärts, wenn wir solches auch erst später zu bemerken vermögen.

Welcher vorurtheilsfreie Geschichtskundige wollte nur einen Augenblick die hohe Bedeutung der Klöster und Mönchsorden als Träger, Pfleger und Förderer der Cultur, sowohl der materiellen, wie der geistigen, in Zweifel ziehen? All unsere Bildung, die gewerbliche, technische, artistische und scientifische, also der ganze Schatz unserer Culturmittel hat in der Möncherei seine Wurzel, die Handwerkszünfte wie die Gelehrtenschulen sind aus den Klöstern hervorgegangen. Ohne die fleißigen Conventualen des 12. und 13. Jahrhunderts hätten wir eben so wenig die klassische Literatur der alten Griechen und Römer, als zweckmäßige Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft. Welcher vernünftige Mensch wollte aber daraus den Schluß ziehen, daß auch jetzt die Klöster als Culturträger nothwendig wären, nachdem wir gesehen haben, daß, als sie ihre Mission vollbracht und die Cultur auf den Punkt gebracht, den zu erreichen sie die Kraft und den Trieb hatten, sie nun die Feinde und Hemmnisse der vorschreitenden Cultur geworden waren! Kein Mönchsorden hat mehr Segen gestiftet als der der Benedictiner; die ausgezeichnetsten Männer sind daraus hervorgegangen, und zuletzt war er in eine Versorgungsanstalt fauler Adliger ausgeartet, welche in verdummender Ueppigkeit und Schwelgerei im Molluskendasein vegetirten und jeden in ihrer Mitte, der sich zu etwas Besserem berufen fühlte, wüthend verfolgten, marterten und quälten. Wer nun aus solcher saubern Benedictinerwirthschaft, wie sie z. B. der ehemalige Benedictiner und nachherige Professor der Philosophie Schad in seiner Selbstbiographie beschreibt, den ganzen Benedictinerorden vom Anfang seines Bestehens verdammen wollte, wie sehr würde der im Irrthum sein, wie unrecht würde er thun! Ganz dieselbe Bewandtniß hat es mit den zahlreichen Höfen und Höfchen und der Kleinfürsterei in Deutschland; und die Klöster und die kleinen Fürstenhöfe stehen in engerm Zusammenhange, als man meinen sollte. Denn als die Klöster ihre Mission erfüllt und die Cultur soweit geführt hatten, als sie dessen fähig waren, und nun anfingen dem Naturgesetz gemäß culturfeindlich aufzutreten, wurden sie im nördlichen Deutschland aufgehoben, und ganz zu derselben Zeit bildeten sich die zahlreichen kleinen Höfe, welche die Weiterführung der Cultur gerade da in die Hand nahmen, wo die Klöster sie hatten fallen lassen. So wurden die kleinen Höfe als Träger und Pfleger der Cultur die Erben und Nachfolger der Klöster, und auch sie sind dem eisernen Naturgesetze erlegen, daß sie Feinde der vorschreitenden Cultur geworden sind, als sie aufgehört hatten, Förderer derselben zu sein.

Nirgends bewährt sich die Wahrheit dieser culturhistorischen Erscheinung deutlicher als in Thüringen, welches ohnstreitig unter allen Länderstrichen Deutschlands der materiell und ideell cultivirteste ist. Der Grund dieser im „Herzen Deutschlands“ so allgemein verbreiteten Geistes- und materiellen Cultur ist durchaus nur in dem Umstande zu suchen, daß Thüringen unter allen deutschen Ländern erst die meisten Klöster und Pfaffen und dann die meisten kleinen Fürstenhöfe und Dynastenresidenzen hatte. Als die Kloster- und Pfaffencultur in ihr Gegentheil umgeschlagen war, erstand ein thüringischer Mönch als Reformator des verkommenen Kirchenthums, und die Fürsten verwandten die säcularisirten Klostergüter zur Fundation von hohen und niedern Bildungsanstalten. Jede thüringische Residenz erhielt ihr Gymnasium, jede Stadt ihre Bürgerschulen, jedes Dorf seinen Schulmeister. Diese wettin’schen Fürsten aus dem ernestinischen und albertinischen Stamme wetteiferten miteinander, wohlthätige Bildungsinstitute in ihren Staaten zu errichten, und da diese wegen ihrer geringen Arealgröße leicht zu überschauen waren, so drang ihr väterlich wohlwollender Blick bis in die kleinsten Dörfer und machte es ihnen möglich, als getreue Landesväter für das körperliche und geistige Wohl ihrer Landeskinder zu sorgen. Ihr gemeinsames landesväterliches Werk war die in der deutschen Culturgeschichte der letzten drei Jahrhunderte so hochwichtige Universität Jena. Zwischen den fürstlichen Familien, namentlich dem regierenden Herrscherpaare, und den Unterthanen entstand ein einfaches herzliches Verhältniß, das an das Patriarchenthum der Vorzeit erinnert. Diese moderne Erzväterschaft erhält ihren höchsten naiven Ausdruck in Herzog Ernst dem Frommen von Gotha und Altenburg und steigert sich zu ihrem höchsten selbstbewußten Ausdruck in Großherzog Karl August von Weimar. Die Geschichte beider demselben Hause entsproßnen Fürsten liefert dafür die rührendsten Beweise. Herzog Ernst borgte sich, wenn er verreisen wollte, seines Oberförsters in Georgenthal Schimmel, und Großherzog Karl August gab, unter allen deutschen Fürsten der erste, seinem Lande freiwillig eine Verfassung mit Volksvertretung. Zwischen beiden Fürsten liegt freilich das Jahrhundert französischer Corruption alles fürstlichen Geblüts in Deutschland, in welchem die Leute von Gottesgnaden sich alles Ernstes einbildeten, daß sie eine Art Halbgötter seien, und vor lauter Ueberspanntheit gar nicht wußten, was für Tollheiten sie noch treiben sollten. Merkwürdiger Weise hat auch in dieser Richtung die thüringische Fürstlichkeit ihren höchsten Ausdruck in demselben Hause gefunden. Denn der Großvater Karl Augusts, der Herzog Ernst August von Weimar, war der abenteuerlichste Fürst, der je Land und Leute regiert hat.

Die Quasipatriarchenzeit hörte schon im 17. Jahrhundert auf, und die Mission der kleinen Höfe als Culturförderer erreichte mit dem deutschen Reich ihre Endschaft. Ihre letzte und ihre schönste Blüthe ist aber der herrliche Karl August. Von ihm an treten

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Herzog Alba und die Gräfin von Schwarzburg.

die kleinen Höfe dem Aufschwunge der Cultur allmählich feindlich entgegen. Sie erliegen eben dem eisernen Naturgesetz. Erst waren sie die Führer der Cultur; jetzt nimmt die Cultur sie ins Schlepptau. Und wie nun ein thüringischer Mönch berufen war, der culturfeindlichen Mönchswirthschaft ein Ende zu machen und der Cultur neue und höhere Bahnen zu eröffnen, so scheint es fast, als sei in unsrer immer heftiger aufgeregt werdenden Zeit, die abermals nach höheren Culturbahnen drängt, ein thüringischer Fürst desselben Stammes dazu berufen, sich an der neuen nothwendigen nationalen Geistesarbeit wesentlich zu betheiligen.

Aber auch hochsinnige fürstliche Frauen bewährten sich als echte Landesmütter an dem Liebeswerke der Beglückung ihrer Landeskinder und sorgten mit unablässigem Eifer für deren geistiges und leibliches Wohl. Die heilige Elisabeth, die Landgräfin von Thüringen, der Engel der Wartburg, zählt unter ihrer fürstlichen Nachkommenschaft in Thüringen und Hessen manche hochverehrte Nachfolgerin in den geräuschlosen Thaten der Liebe und Barmherzigkeit, und der sanfte Mondglanz der Verklärung, von einem großen Mutterherzen ausleuchtend, schmückt nach ihr manch schönes Frauenhaupt als Glorie der Fürstenkrone, in dessen Auge, von jenem Liebesglanze erhellt, die unversiechbare Thräne des Erbarmens schimmert. Ja, wir dürfen stolz sein auf mehr als eine fürstliche Frau, die mit der Würde ihres Standes die beglückende Kraft des großen Herzens verband und mit den conventionellen Anforderungen den erhabnern Bedürfnissen heiligen Liebesdranges genügte. Aus der patriarchalischen Zeit nennen wir vor Allen die Landgräfin von Hessen-Kassel, die hochbegabte Gemahlin des jung verstorbenen Landgrafen Wilhelm V. des Beständigen, Amalie Elisabeth von Hanau, die große Vormünderin-Regentin, welche mit seltener Geistesgröße und Kraft das Land in den furchtbar über dasselbe hereinbrechenden Stürmen des dreißigjährigen Kriegs rettete und mit wahrer tiefer Liebe zu allen Landeskindern dasselbe trotz der äußersten Ungunst der Zeit wieder in Flor brachte. Ihr segensreiches Andenken ist unsterblich. In demselben Jahrhundert [781] hatte Hessen-Kassel noch eine zweite bedeutende Fürstin zur Vormünderin-Regentin, die Wittwe des eben so jung wie sein Vater verstorbenen Landgrafen Wilhelm VI., Hedwig Sophie von Brandenburg.

Von einer andern ausgezeichneten thüringischen Fürstin, der Herzogin Louise Dorothee von Gotha und Altenburg, habe ich in der Gartenlaube schon ausführlich berichtet. Sie wird von ihrer Base, der Herzogin Anna Amalia von Weimar und Eisenach, der Mutter und Vormünderin Karl August’s, überstrahlt; denn diese steht wie „die rosenfingrige Eos“ am Morgenhimmel unsres neuen Bildungstages und eröffnet der aufgehenden Sonne deutscher Geistesgröße das nächtliche Thor.

Der Gegenstand des heutigen Bildes der Gartenlaube ist ebenfalls dem Leben einer hochherzigen thüringischen Fürstin aus der patriarchalischen Periode entnommen. In den thüringischen Geschichtsbüchern öfter verzeichnet, ist die Begebenheit, welche unser Maler in so trefflicher Weise dargestellt hat, zumeist doch durch Schiller’s unsterbliche Feder allgemein bekannt worden. Es ist die Gräfin Katharina von Schwarzburg, geborne Gräfin von Henneberg, welche gleich der ein Jahrhundert spätern Landgräfin Amalie Elisabeth von Hessen als Landesregentin ihren Unterthanen zu Liebe einen wahren Heldenmuth entwickelte, der um so glänzender in die Augen springt, als sie sich dem fürchterlichsten unbeugsamsten Menschen des mittlern 16. Jahrhunderts, dem Herzog Alba, gegenüber geltend machte.

Katharina war die Wittwe des regierenden Grafen Heinrich 37., eifrigen Beförderers der Reformation in seinen Landen, und sie fuhr in seinem Geiste zu regieren fort, suchte unablässig die gereinigte Lehre auszubreiten, den Schulunterricht zu verbessern, und die Güter der säcularisirten Klöster zu wohlthätigen Zwecken zu verwenden. Ihre Thätigkeit zum Besten ihrer Unterthanen war unermüdlich; in jeder Beziehung eine echte Landesmutter, verweigerte sie helfende Liebesthat auch Fremden nicht, die hülfsbedürftig sich bittend an sie wandten. Namentlich schützte und unterstützte sie protestantische Geistliche, die um der neuen Lehre willen aus dem Amte vertrieben und verfolgt wurden.

Ihr ganzes Leben gibt ein schönes Bild von vorsorglicher Menschenliebe, Ueberzeugungstreue, Standhaftigkeit und Heldenmuth, und jener landesmütterlichen Gewissenhaftigkeit, welche, wie wir schon bemerkt, diese Zeitperiode kennzeichnet. – Die Begebenheit, welche den Vorwurf unseres Bildes abgibt, hat ihr aber in der Geschichte den Beinamen der „Heldenmüthigen“ erworben, und in Betracht der Umstände ist er kein unverdienter.

Die Sache des jungen Protestantismus hatte am 24. April 1547 in der Schlacht bei Mühlberg an der Elbe den ersten schlimmen und anscheinend tödtlichen Schlag erhalten; der siegreiche Kaiser Karl V. zog mit dem gefangenen Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen durch Thüringen und Franken nach Böhmen, um sich Prag zu unterwerfen. Die schwarzburgische Regentin hatte sich von ihm einen Schutzbrief zum Besten ihrer Unterthanen gegen nicht unwahrscheinliche Excesse der kaiserlichen Truppen ausgewirkt, wogegen sie sich anheischig machte, die durch das Saalthal ziehenden Heerhaufen gegen billige Vergütung mit Lebensmitteln zu versorgen. Die Bewohner der naheliegenden Dörfer durften ihre werthvollen Habseligkeiten auf dem Fürstenschlosse in Rudolstadt bergen.

Nachdem sie so mit kluger Umsicht die zweckmäßigsten Anordnungen zum Schutze des Lebens und Eigenthums ihrer Unterthanen getroffen, lud sich der spanische General des Kaisers, Herzog Alba, dessen Kaltblütigkeit die Schlacht bei Mühlberg gewonnen und der mit dem triumphirenden Stolze des Siegers einherzog, bei der Gräfin zu einem Frühstück zu Gast. Die Fürstin antwortete höflich, der Herzog möge mit dem vorlieb nehmen, was ihr Haus zu bieten vermöchte, auch bäte sie geziemend nicht zu vergessen, daß sie im Besitz eines kaiserlichen Schutzbriefes sei.

Der Herzog erschien in Begleitung des berüchtigten Herzogs Heinrich von Braunschweig und seiner Söhne, die, von den protestantischen Bewohnern der welfischen Lande vertrieben, mit dem Heere des Kaisers zogen, um sich später mit dessen Hülfe wieder einsetzen zu lassen. Die Gäste waren also die grimmigsten Feinde des unterlegenen Lutherthums und entschlossene Herren vom Schwerte. Die Gräfin war lutherisch und hatte nichts als den kaiserlichen Schutzbrief und ihre Höflichkeit, mit welcher sie nach Kräften gut bewirthete. Die Gäste wurden munter und galant gegen die Wirthin; es ging Alles gut. Plötzlich wurde die Fürstin hinausgerufen; man meldete ihr, daß die spanischen Soldaten in mehreren schwarzburgischen Dörfern geplündert und das Vieh weggetrieben hätten. Empört über dieses wortbrüchige Verfahren, läßt sie in größter Eile das Thor des Schlosses schließen und ihre ganze männliche Dienerschaft bewaffnet die Thür des Speisesaals besetzen, in welchen sie nun wieder mit dem Stolz beleidigter Frauenwürde eintritt, den noch bei der Flasche sitzenden Herren mittheilt, was ihr soeben hinterbracht worden, und daran die Beschwerde knüpft, wie schlecht die Soldaten des Kaisers den ihr von ihm verpfändeten Schutzbefehl respectiren.

Herzog Alba entgegnete ihr lachend, das gehe im Kriege nicht anders, und beim Durchmarsch eines Heeres, namentlich eines siegreichen katholischen durch protestantische Länder, dürfe man dergleichen kleine Auschreitungen nicht so hoch anschlagen: sie ließen sich eben nicht verhindern, trotz Kaiserwort und Schutzbrief.

„Meint Ew. Excellenz wirklich so?“ rief die Gräfin auf’s Aeußerste entrüstet. „Wir wollen sehen, ob es sich so verhält. Denn ich sage Euch, meinen armen Unterthanen muß ihr Eigenthum zurückerstattet werden, oder – bei Gott! – Fürstenblut für Ochsenblut!“

Mit diesen drohend gesprochenen Worten war sie aufgesprungen, hatte die Thür des Zimmers aufgerissen und die Bewaffneten hereingerufen. Es drang ein hübsches Häuflein herein, und sie sahen so wenig wie ihre Gebieterin aus, als sei die Sache bloßer Scherz. Dem eisenfesten Herzog Alba, der durch nichts gerührt werden konnte, wurde es nicht wohl beim Anblick dieser sonderbaren Veranstaltung. Die Herren sahen einander verdutzt an. Von ihren eigenen Soldaten getrennt, in einem festen Bergschlosse, einer zum Aeußersten entschlossenen heldenmüthigen Frau und ihren ihr ganz ergebenen Leuten mit bewehrten Fäusten gegenüber, blieb den fürstlichen Kriegsmännern nichts weiter übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Der Herzog von Braunschweig fand zuerst den schicklichsten Ausweg aus dieser unerwarteten Klemme, indem er in ein lautes Gelächter ausbrach, der beleidigten Fürstin eine schmeichelhafte Anerkennung ihrer landesmütterlichen Vorsorge und ihres entschlossenen Muthes aussprach und ihr das Versprechen gab, es beim Herzog Alba dahin zu bringen, daß der Handel zu ihrer Zufriedenheit beigelegt werde. Der Spanier ließ sich dazu auch bereitwillig finden, indem er unverzüglich einen Befehl an sein Heer ausfertigte, das geraubte Vieh ohne Zeitverlust den Eigenthümern zurückzustellen.

Die Gräfin ließ ihre gefangenen Gäste aber nicht eher vom Schlosse, als bis sie der Zurückgabe des Raubes gewiß war; hernach bedankte sie sich schönstens bei denselben, die dann auch sehr höflich sich von ihr beurlaubten.

Herzog Alba hatte die Bekanntschaft einer deutschen Landesmutter gemacht.

Im folgenden Jahre, als Kaiser Karl den protestantischen Fürsten sein berüchtigtes Interim aufgenöthigt hatte, diesen abscheulichen Gewaltstreich gegen die Gewissensfreiheit, dessen sich die Katholiken standhaft erwehrten, hatte ein talentvoller Prediger in der nahen Stadt Saalfeld, Kaspar Aquila, wie viele seiner Amtsgenossen, muthig gegen die kaiserliche Glaubensvorschrift von der Kanzel gepredigt. Aber ihm widerfuhr die Ehre vor vielen Andern, daß der Kaiser fünftausend Gulden auf seinen Kopf setzte, wahrscheinlich aus dem Grunde, weil Aquila schon früher als Feldprediger im Heere des Kaisers in den Niederlanden sich standhaft geweigert hatte, eine Kanonenkugel zu taufen, und deshalb zum Tode verdammt nur durch Zufall gerettet worden war.

Gräfin Katharina verbarg den bedrohten Geistlichen Monate lang auf ihrem Schlosse und pflegte seiner mit der edelsten Menschenliebe.

So waltete sie in vielbewegter Zeit fast dreißig Jahre als guter Engel über dem kleinen Lande und starb im 58. Lebensjahre von allen Schwarzburgern tief betrauert. Und noch heute wird ihr Andenken dort in hohen Ehren gehalten.



[782]
Die Spiritualisten und die Wissenschaft.
Der weissagende Ring im Glase.

Die Gartenlaube hat vor Kurzem durch einen Artikel über den Spiritualisten-Spuk gezeigt, daß es noch viele Gebiete gibt, auf denen sich Betrügerei und Leichtgläubigkeit begegnen. Aber der indirecte Vorwurf, der in der Besprechung jener Thatsachen der Naturforschung gemacht wurde, als ob an ihr und an ihrem Indifferentismus solchen „Zeichen der Zeit“ gegenüber die Schuld läge, trifft nicht sowohl die Wissenschaft, als Jene, die sich ihrer Früchte nicht theilhaftig machen wollen. Es gibt eine ganze Species von Menschen, denen der Schauer des Geheimnißvollen ein größeres Vergnügen gewährt, als die Erkenntniß des Wahren, und die deswegen den Mahnungen des Verstandes gegenüber ihre Ohren verstopfen, um sich den angenehmen Kitzel, der mit einer gelinden Furcht immer verbunden zu sein pflegt, nicht rauben zu lassen.

Mucker und Pietisten belehren zu wollen, hält die Wissenschaft allerdings unter ihrer Würde; sie betritt ihr Gebiet, auf dem die Schandpfähle der Menschheit Wurzel schlagen, einmal, die Wahrheit verkündend, aber nie wieder, und es ist deshalb ihr kein Vorwurf zu machen, sondern lediglich jenen, welche den Zuruf heut überhören oder morgen vergessen, um im alten Schlamme fortzuwühlen.

Die Naturforscher haben dies Urtheil der Wahrheit auch über das Tischdrehen und die Geisterklopferei gesprochen, und zwar schon zu einer Zeit, als sehr vernünftige Menschen noch „Ketten bildeten“ – es wurde verlacht, weil es gar so prosaisch war, immer wieder den alten bekannten Gesetzen und den alten Kräften zu begegnen. Nicht einmal Elektricität sollte im Spiele sein. Aber die Blicke, welche uns die Gartenlaube in das Getriebe der Spiritualisten thun ließ, fordern uns dringend auf, noch einmal den Versuch zu wagen, wenn auch nicht diejenigen zu überzeugen, welche die Breter vor ihren Köpfen befragen, denn diese Art Leute bilden eine stille Gemeinde des unnahbaren Blödsinns, so doch den noch Unbefangenen durch den stricten Beweis das Unsittliche und Vernunftwidrige jenes Gebahrens zu enthüllen.

Wenn wir die in der Gartenlaube mitgetheilten Fälle von Geistercitationen betrachten, so finden wir bei ihnen eine Menge von Umständen so plumper Art vereinigt, um die Menschen zu täuschen, daß wir uns unmöglich die Mühe geben können, dergleichen einzeln zu untersuchen. Wolken mit Bildererscheinungen, Hände, die aus dem Nebel hervorlangen, Stimmen und Musik, die man aus ganz unbestimmbarer Richtung zu hören glaubt, sind Effecte, die schon seit den frühesten Zeiten zu derartigem Gaukelspiel gedient haben, und die sich leicht durch optische und akustische Vorrichtungen in der verschiedensten Weise hervorbringen lassen. Sie sind in der That auch nicht das Wesentliche des heutigen Spukes. Dieser findet vielmehr seinen eigentlichen Drehpunkt in der vermeintlichen Fähigkeit der Menschen, auf allerhand leblose Gegenstände, vorzüglich auf Geräthe des täglichen Gebrauchs und unter diesen vor allen Dingen auf Tische dergestalt einzuwirken, daß durch dieselben Mittheilungen aus einer andern Welt, einer „Geisterwelt“ empfangen werden können, also in dem eigentlichen Tischdrehen, Tischschreiben, Tischklopfen etc. – und diesem wollen wir daher noch einmal wissenschaftlich zu Leibe gehen.

Um aber völlig deutlich zu werden, müssen wir auf ein altes Experiment zurückkommen, auf den bekannten „weissagenden Ring im Glase“. Für diejenigen, denen das Experiment fremd geblieben sein sollte, wollen wir kurz erwähnen, worin dasselbe bestand. Es wurde ein Ring, an ein Haar oder einen feinen Seidenfaden geknüpft, von der Person, die ihn befragen wollte, so in ein Glas gehalten, daß er, wenn er in pendelartige Bewegungen versetzt wurde, bei seinem Hin- und Widerschwingen die Wände des Glases treffen und einen glockenähnlichen Ton hervorbringen mußte. In der Anzahl von Schlägen, durch welche der Ring auf die betreffende Frage das Glas zum Tönen brachte, war die Antwort enthalten. War nach Zahlen gefragt worden, so erhielt man direct Auskunft – nur auf Brüche verstand sich das Orakel nicht –; Worte mußten aber erst übersetzt werden; das hatte jedoch keine Schwierigkeit, denn die Zahl der einander ohne längere Pausen folgenden Schläge bezeichnete die Stellung des Buchstaben im Alphabet. Man brachte als Ursache dieser Erscheinung bald den Magnetismus, bald die Elektricität, bald noch unbekannte Kräfte, bald das sogenannte Od auf’s Tapet, und diejenigen, bei denen das Experiment am leichtesten gelang, nannte man Sensitive oder Medien (Medium, das Mittel, durch welches uns armen kurzsichtigen Menschenkindern, denen der Einblick in eine übersinnliche Welt verwehrt ist, Offenbarungen aus jener Welt gemacht werden).

Als ein untrüglicher Beweis, daß das Spiel des Ringes durch eine eigenthümliche, außerhalb des Menschen liegende Kraft hervorgerufen und geregelt werden sollte, galt die vermeintlich gemachte Beobachtung, daß sich der Ring über verschiedenen Metallen, wenn man dieselben in das Glas legte oder in die Hand nahm, in verschiedener Weise bewegen sollte, bald von rechts nach links, bald umgekehrt, bald in Kreisen, bald in Ellipsen, bald stoßend, bald in ruhigen Linien.

Wir wollen bei der Discussion dieses Phänomens systematisch zu Werke gehen, und untersuchen:

1. Bewegt sich der Ring, wenn er in der angegebenen Art gehalten wird, überhaupt? Ja.
2. Schlägt er, oder hat er wirklich an das Glas geschlagen, daß man aus der Aufeinanderfolge der Schläge nach einer bestimmten Deutungsweise die Antwort herauslesen konnte? Auch das soll nicht geleugnet werden.
3. Ist die Ursache davon aber in einer eigenthümlichen Kraft des Ringes zu suchen? Nein, sondern im Menschen, der den Faden zwischen seinen Fingern hält.
Und endlich 4. Wenn die bewegende Kraft im Menschen liegt, ist sie eine besondere, nur gewissen Menschen, den sogenannten Medien oder Sensitiven, innewohnende Kraft? Durchaus nicht, denn sie beruht nur in der Schwäche und Erschlaffung der Muskel- und Nerventhätigkeit, in der nur mangelhaften Controle, welche die meisten Menschen über sich selbst auszuüben vermögen, und in einer nur dadurch hervorgerufenen Selbsttäuschung.

Das ist also zu beweisen. Es ist eine bekannte Thatsache, daß wir unsre Muskeln nur eine verhältnißmäßig sehr kurze Zeit in dem Zustande der Anspannung erhalten können. Sie erschlaffen allmählich und gehen zurück, allein ehe sie ihre Spannung völlig verlieren, gerathen sie in den Zustand des Zitterns, der in einem rasch abwechselnden Nachlassen und Wiederzusammenziehen der Muskelfasern besteht. Jede neue Anspannung oder Contraction ist von einer erneuten Nerventhätigkeit abhängig, wenn wir auch nicht einen erneuten Entschluß, der als Wille auch durch die Nerven fortgepflanzt werden würde, als nothwendig annehmen wollen. Versagt der Nerv seinen Dienst, so hört auch der Muskel auf thätig zu sein. Schwache Menschen, die unfähig sind ihren Willen constant zu erhalten, wechselnde faselhafte Naturen, werden viel eher vom Zittern befallen, als kräftige, ruhige, willensstärke Charaktere, deren Seele den wechselnden Eindrücken, die auf sie einstürmen, minder leicht nachgibt; denn der Muskel bleibt nur so lange contrahirt, als der Wille in derselben Weise auf den Nerv wirkt.

Wie dies mit dem weissagenden Ringe zusammenhängt, das wird uns sogleich klar werden, wenn wir uns ein wenig um das Mechanische der Pendelbewegung kümmern. Jener Ring ist ja nichts Anderes, als ein freischwebendes Pendel. Wir können ein solches in Bewegung versetzen, wenn wir seinen Schwerpunkt aus der Ruhelage – senkrecht unter dem Aufhängungspunkte – bringen, entweder dadurch, daß wir ihm einen Stoß geben, oder dadurch, daß wir den Aufhängungspunkt verrücken, sodaß derselbe nicht mehr senkrecht über dem Schwerpunkte liegt. In beiden Fällen sucht der Schwerpunkt sich wieder unter den Aufhängungspunkt zu begeben, welches Bestreben die bekannten Schwingungen zur Folge hat.

Hält man also den Faden, an welchem der Ring befestigt ist, zwischen den Fingern, so wird jede kleine Ausweichung derselben – als eine Verrückung des Aufhängepunktes – kleine Schwingungen des Ringes hervorrufen, genau so, als ob man dem an einem völlig unverrückbaren Punkte aufgehangenen Ringe entsprechende kleine Stöße beigebracht hätte. Läßt man aber auf einen freischwebenden Körper in regelmäßigen Zwischenräumen rasche Stöße, und wenn sie auch nur gering sind, einwirken, so wird derselbe alle die kleinen Kraftportionen in sich aufspeichern, zu einander [783] addiren, die anfänglich vielleicht kaum sichtbaren Ausweichungen werden sich mit jedem neuen Stoße vergrößern, und endlich werden wir eine Kraftleistung vor uns haben, als ob wir die Gesammtsumme aller jener geringen Kraftäußerungen auf einmal hätten auf den schwebenden Körper wirken lassen.

Die Erfurter Glocke kann ein einziger Mensch zum Anschlagen bringen, aber es dauert vielleicht eine Stunde und länger, ehe sie die nöthige Schwingung erhält. Indem nun die Hand den Faden des Ringes hält, erschlafft sie allmählich, und durch das Zittern derselben, sowie durch die regelmäßig wiederkehrenden Pulsschläge, wird der Aufhängungspunkt fortwährend verrückt, was, wie wir gesehen haben, ebenso wirkt, als ob auf den Ring selbst entsprechende kleine Stöße erfolgt wären. Die Wirkung wird sein, daß der Ring, wie die immer größere Bogen beschreibende Glocke immer weitere Schwingungen macht, endlich an die Wände des Glases antrifft und diese zum Klingen bringt.

Aber wir merken ja nichts vom Zittern? Weil unsere Aufmerksamkeit auf den Ring gerichtet ist, und weil auch die Vibration nur eine geringe ist, die erst in ihrer Gesammtwirkung sichtbar wird. Ehe diese eintritt, vergeht daher auch eine gewisse Zeit, die um so größer sein wird, je ruhiger das Temperament des Haltenden ist, je mehr derselbe seine Sinne beisammen, seine Nerven und Muskeln in der Gewalt hat. Nervöse, aufgeregte, unklare, krankhafte Naturen kommen viel eher zum Ziel, das sind die echten Medien, durch die der Geist des Ringes spricht, die besten Sensitiven. Man soll den Versuch machen, und man wird Jeden, der das Biertralla in den Fingern hat, noch viel sensitiver als selbst das sensitivste Frauenzimmer finden.

Damit, daß sich als die Ursache der Bewegung des Ringes eine ganz gewöhnliche Muskelvibration herausgestellt hat, ist aber erst die eine Hälfte des Phänomens erklärt. Die andere, obwohl sie scheinbar die geheimnißvollste ist, ist viel einfacherer Natur. Die Anzahl der Schläge an das Glas nämlich, durch die uns das dämonische Orakel kundgegeben wird, hängt lediglich von dem Willen desjenigen ab, der den Faden hält. Weiß dieser die zu gebende Antwort, wie es ja bei den gewöhnlichen Fragen nach Alter, Zeit etc. meist der Fall ist, oder hat er ein dunkles Gefühl davon, indem er etwas darauf Bezügliches noch nicht ganz vergessen hat, so wird er dem Ringe erlauben, so viel Schläge zu thun, als nöthig sind. Ist der letzle geschehen, so wird unwillkürlich der Muskel gespannt, daß die so leicht zu bestimmende Bewegung aufgehoben wird. Freilich will er das nicht thun, er thut es eben unwillkürlich. Denn hat man von der Antwort gar keine Idee und kennt man auch die Grenzen nicht, innerhalb welcher sie etwa liegen könnte, so kommt allemal Unsinn zu Tage, falls nicht etwa, was unter den tausend und abertausend Fällen, in denen diese Narrethei getrieben worden ist, wohl einmal möglich wäre, zufällig das Richtige gerathen worden ist, wie so Vieles gerathen wird. Aber selbst in diesem Falle hat nicht der Ring, sondern der wißbegierige Freund den glücklichen Griff gethan.

Ein schlagender Beweis, daß dieser Theil der Erscheinung lediglich durch den unbewußt wirkenden Willen bestimmt wird, liegt in Folgendem. Das Pendel, es mag aus einem ain Haar der Geliebten aufgehangenen Ringe oder aus einem bleiernen Knopfe an einem Zwirnsfaden bestehen, schwingt über Gold oder Silber, Kupfer oder Guano, gleichviel über allen in derselben Weise, vorausgesetzt nämlich, daß derjenige, welcher es hält, unbefangen und noch nicht in seine lieferen Geheimnisse eingeweiht ist. Hat er aber erfahren, daß es über einem Ducaten in einer von rechts nach links geneigten Ellipse, über einem Kreuzer in einer Kreislinie schwingen muß, so geht von Stund an das Pendel, ohne nur ein einziges Mal zu irren, in diesen Bahnen, während es bei einem Anderen, dem man daö Umgekehrte gesagt hat, auch folgerichtig umgekehrt schwingt.




Blätter und Blüthen.


Londoner Industrieen (Zur Warnung). „Capitalien zu placiren!“ Unter dieser Aufschrift begegnet man sehr häufig in den gelesensten Zeitungen verschiedenen Annoncen, welche jedem Geldbedürftigen den schätzbaren Antrag machen, ihm beliebige Summen gegen niedrige Zinsen und geringe Sicherheit ohne alle Weiterungen vorzuschießen. Gewöhnlich sind es hübsche runde Beträge, etwa von 100,000 Pfund oder 700,000 Thaler preuß. Cour., womit die armen britischen Capitalisten weiter nichts anzufangen wissen, als sie auf dem Continent, insbesondere in unserm lieben, vertrauenden Deutschland, unterzubringen. Die Biedermänner geben sich dabei ganz das Ansehen, als wollten sie den Bettel so geschwind als möglich los sein; man wende sich nur an die bezeichnete Adresse, London, Tottenham Road oder Chelsea, und umgehend rückt die Silberflotte oder der gewichtige Papiernautilus ein. Geldbedürftige gibt es überall, also auch in Deutschland; aber so blindlings zugreifende arglose Leute, wie hier, gibt es leider nicht überall. Viele haben sich an die verführerischen Londoner Adressen gewendet, insbesondere Geschäftsleute aus Ostpreußen, Westphalen, Hamburg und Sachsen. Aus allen diesen Gegenden liegen constatirte Nachrichten über den Ausgang derartiger Geschäfte vor. Auch der Schreiber dieser Zellen hat sich, freilich nur des Versuchs halber und zu seinem speciellen Zweck der Veröffentlichung – an ein solches Londoner Haus gewendet, nämlich an die Herren Roberts, Barclay & Comp., welche „Kaufleuten, Fabrikanten und Gewerbtreibenden aller Art 100,000 Pfund Sterling und darüber gegen mäßigen Zinsfuß zur Verfügung stellten“, falls dieselben nur „gute Referenzen“ beibringen könnten. Daran fehlte es nun meinem portofreien Antrag durchaus nicht; aber das ehrenwerthe Londoner Haus mußte doch Lunte gerochen oder sich erkundet haben, denn es gab mir auf meinen Vertrauensbrief nicht einmal Antwort. Ich kann daher nur erzählen, wie es Andern gegangen ist, aber aus ganz authentischen Quellen. Der Verlauf ist stets, mit nur geringen Modificationen, der folgende:

Der Hülfesuchende wendet sich in einem frankirten Schreiben an die zuvorkommende Geldquelle in London, er sendet einen wahrheitsgetreuen – oder auch geschminkten! – Bericht über seine Verhältnisse ein, nennt seine Bürgen und begehrt ein Capital. Umgehend erhält er – unfrankirt – ein verbindliches Antwortschreiben: Das Geld liegt parat, es hat die Verabfolgung desselben gar keinen Anstand – nur wird der verehrte Darlehnsucher doch hoffentlich einsehen, daß man ohne alle Sicherheit doch kein Geld verleihen kann, namentlich ins Ausland; er wird daher freundlich aufgefordert, diejenige Sicherheit namhaft zu machen, die er allenfalls bieten kann, wobei nicht undeutlich zu verstehen gegeben wird, daß man blos der Form wegen so verfahren müsse, ein Auge zudrücken und ungrad’ gerade sein lassen werde. Der Geldbedürftige sieht die Hülfe lockend und nahe vor sich – aber wer sich nach London wendet, der hat gewöhnlich schon in Deutschland verhypothecirt, was möglich war, wenn auch sonst seine Bilanz eine ganz gute und er nur durch die Calamität der Krisis in ernstliche Verlegenheit gerathen sein mag, die den Fortbestand seines Geschäftes bedroht. Mit heißem Kopf durchläuft er nunmehr alle Möglichkeiten der Beschaffung einer Sicherstellung; allein es fällt ihm nichts ein, als – ein Accept. Dies ist der gewöhnliche Weg. Schlägt aber der Mann einen andern ein, bietet er Bürgschaft, Nachhypothek, Faustpfand, Policen – so wird ihm kühl höflich entgegnet: Das sei allerdings etwas, aber nicht genug; zu mehrerer Sicherheit sei sein Accept verschiedener Wechsel auf 3, 4, 6 Monate Frist nothwendig. Was soll er thun? Schon zu sehr hat er sich in den Gedanken hineingelebt, mit einem Male aller der drückenden Quälereien los zu werden, die ihm seither das Leben zur Hölle gemacht haben; er sagt sich, daß es ihm ja mit Hülfe des zufließenden Capitals leicht möglich sein werde, zur Verfallzeit Deckung zu beschaffen; er denkt, er bekomme ja den Werth seines Accepts in die Hand und könne daher selbst im schlimmsten Falle nichts verlieren; endlich ist er durch die erhaltenen Zuschriften fast sicher, daß man von seinen Wechseln keinen Gebrauch machen, sondern sie blos als ein Unterpfand betrachten werde – kurz, er acceptirt und sendet die gestempelten Unglückspapiere nach London.

In fieberhafter Spannung erwartet er nunmehr die Rimessen; er späht der Ankunft des Postboten täglich stundenlang entgegen – endlich kommt er, endlich, mit einem dicken Brief aus London, declarirt 1000 Pfund Sterling! Glück auf, Erlösung! Mit zitternden Händen bezahlt der gute Mann das hohe Porto, kaum vermag er zu quittiren, kaum das Couvert zu lösen. Die Seinigen umstehen ihn athemlos; so viel Geld ist lange nicht in’s Haus gekommen, eine neue bessere Zukunft hat sich aufgethan. Aber nur auf einen Augenblick; das Londoner Schreiben enthält nicht Banknoten, sondern Wechsel, ordentlich ausgestellt, scheinbar tadellos, aber doch nur Wechsel. Erste Enttäuschung. „Da werde ich viel daran verlieren müssen!“ brummt der Herr; „indessen auch das wird zu tragen sein; Hauptsache ist jetzt Cassa!’ – Und er wandelt halb vergnügt, halb unruhig zum Banquier, um die Wechsel zu discontiren. Dieser sieht dieselben einen nach dem andern kaltblütig durch und gibt sie dann kopfschüttelnd zurück: „Kann ich nicht gebrauchen; ganz unbekannte Firmen.“ Erbost trägt der Besitzer seine Papiere zum zweiten, zum dritten Banquier – überall dieselbe Antwort; doch nein, der dritte macht ihm den Vorschlag, gegen billige Provision das Incasso zu übernehmen. Der Mann braucht zwar baares Geld, aber was will er machen? er übergibt die Wechsel theilweise zum Incasso, einige verwendet er auch zur Deckung von Schulden. Nun glaubt er sich etwas Luft geschafft zu haben; er benutzt diesen Zustand zur Schreibung eines sehr entrüsteten Briefs an seine Londoner Geschäftsfreunde, worin er dieselben für sämmtliche Spesen verantwortlich macht – erhält aber darauf kein Sterbenswörtchen Antwort. Da sendet eines schönen Morgens der Banquier nach ihm; mit Hast folgt er der Einladung, denn er hofft auf Silber; da empfängt ihn unter der Thüre schon das Donnerwort: „Ihre Wechsel sind falsch! Solche Firmen existiren nicht, oder wenn sie existiren, sind sie zahlungsunfähig!“ – Und so ist es, der arme Getäuschte hat ein ganz werthloses Papier in Händen, und steht wieder auf dem alten Flecke. Doch nein, er ist jetzt weit schlimmer daran, er hat sich selber ruinirt. Die Accepte, welche er [784] gegeben, erscheinen, sind gültig, einerlei, ob er Werth dafür empfangen hat oder nicht, ob er geprellt oder solid bedient worden ist. Das Wechselgesetz richtet sich als furchtbares[WS 1] Phantom vor ihm auf in seiner ganzen Strenge; da hilft kein Einreden, keine Gegenklage: er ist verloren. – Jenes Londoner Schurken-Haus hat die Accepte sofort verkauft an einen Speculanten, der, nach vorher eingeholter, meist telegraphischer Erkundigung, ziemlich genau weiß, was er dafür geben kann; oft ist das verzweifelt wenig, aber die Schwindler machen dennoch ein gutes „Geschäft“. Der nunmehrige Besitzer läßt die Wechsel am Verfalltage präsentiren, und zwar der größeren Sicherheit und Bequemlichkeit halber vielleicht durch the London Association for protection of Trade (die Londoner Gesellschaft zum Schutz des Handels), welche natürlich von der vorhergegangenen Operation nichts weiß und nur ihre Pflicht thut. Sie läßt durch den Continental-Advocaten, dem sie die Sache übergibt, Protest erheben, und jetzt bleiben dem Acceptanten nur drei Mittel: Zahlen, Wechselarrest oder Concurs. Das letztere ist natürlich das Gewöhnliche, und meistens nimmt in diesem Falle der zweite Londoner Speculant noch mehr aus der Masse, als er für die Papiere gezahlt hat. Die Darlehnverschaffer aber in London zu verklagen, dazu gehört Geld, Zeit und die Versicherung, daß auch bei der Klage etwas herauskomme; an allen diesen Bedingungen fehlt es aber gänzlich; man klagt daher nicht, und das ist am Ende noch das Klügste. Man ist eben in eine Räuberhöhle gefallen. Daher muß folgender Erlaß des Polizei-Präsidiums in Berlin mit Dank begrüßt und zur Warnung weit hin verbreitet werden:

„Seit längerer Zeit finden sich in den Zeitungen Bekanntmachungen, in welchen ausländische – angeblich – Handelsfirmen Gelder zu mäßigen Zinsen offeriren. Die angestellten Ermittelungen haben ergeben, daß mit diesen Anerbietungen lediglich auf die Leichtgläubigkeit Einzelner speculirende Betrügereien beabsichtigt werden, und daß sie erhebliche Verluste für diejenigen berbeigeführt haben, welche auf dergleichen Anerbietungen sich eingelassen haben.
Das Polizei-Präsidium unterläßt nicht, das Publicum vor dieser Art des Betrugs hiermit zu warnen!
Berlin, den 1. October 1860.“

Einen anderen Warnungsruf erlassen wir hiermit als Anhängsel, namentlich für junge, frisch etablirte Kaufleute. Sie mögen sich hüten vor Annoncen, etwa wie folgende: „Das Geschäft So und So (gewöhnlich eine Collectivfirma oder eine besondere Comptoirfirma, meist französische, und fast stets in London!), welches gegenwärtig eine besondere Agentur in Hongkong (Valparaiso, Buenos Ayres, Sidney, Shanghai etc.) errichtet hat, welche die Verbindung des europäischen Handelsstandes mit jenen fernen Gegenden erleichtern und verbessern soll, und dessen Capital sich gegenwärtig auf 20, 30, 40 Millionen Francs (10 Millionen auf oder ab, darauf kommt es nicht so genau an!) beläuft, gibt hiermit bekannt, daß seine Agenten sich vor acht Wochen eingeschifft haben. Es erlaubt sich dasselbe daher, den Herren Kaufleuten mitzutheilen, daß es in der angenehmen Lage ist, ihnen direct und zu den günstigsten Bedingungen jeden Credit zu eröffnen, dessen sie zu Zahlungen von dort eingeführten Producten nöthig haben!“ – Wer solche Ankündigungen erläßt, der ruft mit vernehmlicher Stimme: „Aufgepaßt!“

Und zum Schluß die letzte Warnung, vorzugsweise an junge thätige Geschäftsleute mit geringem Capital, welche schnell reich werden wollen. Diese entlehnen wir der trefflichen sächsischen Industriezeitung von Rob. Binder in Chemnitz; es ist nothwendig und nützlich, in dieser Zeit des Schwindels solche ernste Worte weiter zu predigen: „Der gefährlichste Absatzweg ist das Consigniren der Waaren in andere Welttheile, wo häufig 40-60 Procent, oft auch Alles verloren geht. Junge unerfahrene Fabrikanten lassen sich von einem Londoner, leider oft auch von einem Hamburger oder Bremer Hause verleiten, unter den glänzendsten Vorspiegelungen Aussendungen nach Valparaiso etc. etc. zu machen, und die Verlockung dazu ist um so leichter, als der Londoner, Hamburger oder Bremer Commissonair Vorschüsse auf die consignirten Waaren macht. – Wenn nun die Waare einmal in Valparaiso etc. ist, dann mag sich der Aussender nur Geduld anschaffen, denn es gibt Fälle, wo 3 bis 4 Jahre verfließen, ehe nur eine Verkaufsrechnung kommt, und dann dauert es oft noch ein Jahr, ehe die Rimessen – durch die Verkaufsrechnungen der Herren Commissionaire natürlich beschnitten, bis auf eben angeführte Procentsätze - endlich eintreffen. Derartige Geschäfte sind für wenig bemittelte und überdies noch unerfahrene Geschäftsleute meist der Ruin, und wir haben Beispiele genug, wo das Consigniren Häuser bankerott gemacht hat, die heute noch bestehen würden, wenn sie der Verführung, mit fremden Welttheilen zu arbeiten, widerstanden hätten. Consignations- und Exportgeschäfte muß man, der Natur der Sache nach, Capitalisten von Geist und Geld überlassen, für Andere sind derartige Geschäfte nicht nur höchst unpassend, sondern auch frevelhaft.


Zeichen und Wunder aus Böhmen. (In der Jakobskirche zu Prag.) Die Jakobskirche in der Altstadt, in der Nähe des Theinhofes und der Fleischschramme, ist die längste aller Prager Kirchen, dabei hoch, aber schmal und düster. Sie macht einen unheimlichen Eindruck, wie das anstoßende Minoriten-Kloster, zu welchem dieselbe gehört. Das Volk weiß von beiden unheimliche Geschichten. Einst war das Kloster sehr reich; König Wenzel I., welcher 1228 gekrönt ward, hatte es gestiftet und mit glänzenden Einkünften versehen; jetzt ist das Kloster verarmt, nur wenige Mönche leben darin und haben ihre großen Refectorien, den Bibliotheksaal und eine Reihe anderer Gemächer als Speicher und Waarenniederlagen an Juden vermiethet. In den gothischen Kreuzgängen weht es uns feucht und dumpfig an, eine große Darstellung des bethlehemitischen Kindermords und seltsame alte Bilder blicken von den Wänden herab, und auf dem Steinpflaster liegen hier und dort Waarenballen umher. Nähern wir uns dem Kirchengang, so begrüßt uns ein düsteres memento mori: eine vergilbte Tafel ob einem Betpult, auf welcher die Namen der verstorbenen Klosterbrüder in langen Reihen aufgezeichnet sind. Zu Anfang dieses Jahrhunderts füllte sich diese Sterbetafel rasch mit neuen Namen: ein junger Mönch vergiftete den Guardian und sieben Ordensbrüder, weil er auf diese Art zur Stelle eines Klostervorstandes zu gelangen meinte. Er wurde des Mönchgewandes entkleidet und gleich einem andern gemeinen Verbrecher gerichtet. Seine Helfershelferin, eine Küchenmagd, saß zwanzig Jahre auf dem Spielberge, wurde später begnadigt und ging jahrelang als Hausirerin in den Straßen Prags umher; in der Juniwoche 1848 soll dieselbe als das Opfer einer Lynchjustiz gefallen sein. Ein altes Weib wurde damals vom Volk gesteinigt, weil man bei ihr Patronen fand und meinte, sie trage dieselben dem Militär zu; in der Todten wollen die Leichenbesorger die Giftmischerin von St. Jakob erkannt haben.

Als im Jahre 1689 französische Mordbrenner, von den Ministern Ludwig’s XIV. entsendet, in Prag an mehreren Orten Feuer anlegten, litt auch die Jakobskirche durch den Brand, ihr Gewölbe stürzte ein und mußte neu gebaut werden. Nach der Wiederherstellung malte Sebastian Zeiler, ein junger Prager Künstler, im Jahre 1713 während einer furchtbaren Pest in dieser Kirche und wurde von der Seuche bis zum letzten Pinselstrich am Hochaltarblatt von St. Jakob verschont; kaum aber war dieses fertig geworden, erkrankte der Maler und wurde zwei Tage später auf den Pestkirchhof zu Wolschan hinausgeführt[5].

Links vom Hochaltar erhebt sich ein prachtvolles Mausoleum, ein Meisterwerk, das J. Ferdinand Brolow nach einem Entwurf des genialen Fischer von Erlach[WS 2] ausführte. Auf einem Sarg, über welchem ein kolossaler Ruhmesengel schwebt, wird ein stattlicher Mann in voller Ritterrüstung und den Insignien des Malteserordens, eine Allonge auf dem Haupte, von der allegorischen Figur der Religion gestützt. Der verdienstvolle Todte, den dieses Denkmal feiert, war der böhmische Kanzler und Großprior des Malteserordens in Böhmen, Johann Wenzel Graf Wratislaw von Mitrowic († 1712), unter drei Kaisern erster Staatsminister und der Gründer der böhmischen Hofkanzlei in Wien. Die Freude an diesem schönen Denkmal verkümmert uns der Gedanke an die Sage, der Kanzler Wratislaw sei scheintodt begraben worden, in der Gruft bei St. Jakob wiedererwacht und unten entsetzlich zu Grunde gegangen. Man hörte in der Kirche ein Poltern, ein Aechzen und Stöhnen, leider aber lag der Gedanke an Gespenster jenen finsteren Zeiten näher, als der an einen möglichen Scheintod; anstatt die Gruft zu öffnen, begnügte man sich, den Gruftstein mit Weihwasser zu besprengen. Als geraume Zeit nachher das Erbbegräbniß eine neue Leiche aufnehmen sollte, fand man, nach der Sage, den Sarg des Oberstkanzlers gesprengt und dessen Gerippe auf dem Steinpflaster liegen!

Im Kirchenschiff, gleich rechts vom Haupteingang, hängt an einem Pfeiler an einer kurzen Kette eine widerlich vertrocknete Menschenhand, braun und zusammengeschrumpft, ein höchst unangenehm überraschender Anblick. Ehe wir uns bei dem Küster nach der Bedeutung dieses seltsamen Kirchenschmucks erkundigen, erblicken wir am nächsten Pfeiler ein stark nachgedunkeltes Bild, dessen Unterschrift in drei Sprachen, in der deutschen, der böhmischen und der lateinischen, nähere Nachrichten über jene Todtenhand enthält. In einer haarsträubenden Orthographie sind da folgende Zeilen zu lesen: „Anno 1400 bei Lebzeiten des Bonifaz, Pabsten, dieses Namens Neuntens, bei Regierung des Königs Wenzeslaus und des Wolframs, Erzbischofs zu Prag, die Mutter Gottes, Jungfrau Maria in ihrem Vesperbild, welches allhier in der Kirche zu derselben Zeit bei einem abseitigen Pfeiler unweit vom Altar des hl. Erasmi gesetzet und sehr andächtig verehret, von einem Gottlosen Räuber, welcher die Kleinodien von erwähntem Bild berauben wollen, bei der Hand nehmend, bis er offenbaret worden, gehalten, die seinige Hand vermittelst des Gerichtes ist ihm abgehauen worden und bis heutigen Tag allhier aufgehängter sich befindet.“ Das Bild stellt eine weite gothische Kirchenhalle vor, an einem Pfeiler sieht man den Erasmusaltar und den Marienaltar. Auf dem letzteren steht die wilde Gestalt des kirchenräubers, der eben nach dem Schmuck desselben gefaßt hat und vom Marienbilde festgehalten wird. Durch die Kirche eilen einige Minoritenmönche herbei, mit grellen Gebehrden des Staunens und Entsetzens. In der zweiten Abtheilung sieht man die Bestrafung des Räubers, dem vor der Jakobskirche die rechte Hand abgehauen wird.

Das Marienbild, welches in dieser Wundergeschichte eine Rolle spielt, steht jetzt, in bunte Flitter gekleidet, auf dem Hauptaltar der Jakobskirche, in welcher noch im vorigen Jahrhundert ein ganz eigenthümliches lateinisches Oratorium aufgeführt zu werden pflegte. Es feierte die „Geschichte“ vom Jahre 1400. Das Marienbild und der Kirchenräuber sangen die Hauptpartieen darin, zuerst Solonummern, dann ein Duetto, in welchem das Bild den ruchlosen Attentäter abmahnt und zu bessern sucht, hierauf trat ein Chor der Häscher ein etc.

Kaiser Joseph II., bekanntlich kein Freund von Wundern, Wunderbildern, Processionen u. dergl., befahl im Jahre 1784 die vertrocknete Hand des Kirchenräubers aus der Kirche zu entfernen, und man that nach seinem Geheiß. Wohl siebzig Jahre mag die Kette, welche jene Hand trug, leer an der Wand gehaftet haben; seit einiger Zeit tauchte die Hand des Kirchenräubers wieder auf und hängt als ein scheußliches Exempel an ihrer alten Stelle, jetzt, da man schreibt „im Jahre des Heils 1860.“
F. v. S.




Aus der Natur. Der heutigen Nummer unserer Zeitschrift liegt die Anzeige einer Zeitschrift bei, auf die wir unsere Leser noch besonders aufmerksam machen. „Aus der Natur“, wie sich die jetzige Wochenschrift nennt, erschien früher in geschlossenen Bänden und bringt namentlich die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiete der Naturwissenschaften.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Spiel: Schwanz.
  2. Ständer: Füße.
  3. In Leipzig beim Bandagist Reichel zu haben.
  4. Siehe Nr. 40: „Das unter- und überirdische London.“
  5. Sebastian Zeiler’s Grabmal ist noch in Wolschan zu sehen. In seiner Grabinschrift heißt es u. A.: „Sebastian Zeiler, ein Maler war er und wußte das Licht von dem Schatten zu unterscheiden. Anjetzo ist er selbst ein Schatten worden.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: furchbares
  2. Vorlage: Tischer von Erlach