Die Gartenlaube (1861)/Heft 2
Im hohen Hause.
„Das Schlafzimmer Schenk’s lag auf der äußersten rechten Seite des Hauses und war nur durch das daneben liegende Wohn- und Arbeitszimmer zugänglich. Links lagen noch zwei weitere Stuben, die nur bei einer der Herrengesellschaften, welche Schenk zuweilen gab, benutzt wurden, und in deren vorderster auch die Bücher aufgestellt waren, deren der Ermordete sich nur selten bediente. Beide Stuben waren von innen verschlossen, und die Schlüssel steckten noch in den Schlössern, so daß der Mörder hier weder herein noch hinaus gelangt sein konnte. Die Thür des Arbeitszimmers war, wie ihr schon wißt, heut gleichfalls verschlossen gewesen, etwas das sonst nie geschah. Schenk war im Ganzen sehr sorglos, und überdies wurde Abends die Hausthür stets zeitig verschlossen, auch wohnte jetzt, damit er stets bei der Hand, ein Gerichtsdiener in einem Parterrezimmer und versah gewissermaßen Portierdienste, so daß es wenigstens nicht leicht war, das Haus zu betreten, ohne von ihm gesehen zu werden.
„Der Schlüssel des Arbeitszimmers steckte nicht im Schloß, sondern fand sich nach Eröffnung der Thür auf dem nächsten Stuhl liegend und war, während einige andere Gegenstände, die der Mörder berührt, blutige Fingerspuren zeigten, vollkommen sauber, ebenso wie die Thürklinke, obgleich dieselbe nothwendig berührt und geöffnet sein mußte, um den Schlüssel, der stets draußen steckte, hereinholen zu können. Dies erklärte sich jedoch dadurch, daß der Thäter vor seinem Weggange sich die Hände gewaschen hatte, wie das blutige Wasser im Waschbecken und Spuren am Handtuch bewiesen.
„Daß der Mörder durch die Thür hinausgegangen, mußte man nothwendig annehmen, obgleich es nicht erklärlich war, weshalb er sich die Mühe gemacht, sie hinter sich durch einen Nachschlüssel abzusperren. Hierin offenbarte sich zugleich eine Unbekanntschaft mit einer der Gewohnheiten seines Opfers, die um so mehr auffallen mußte, da er alle übrigen sichtbar nur zu gut gekannt hatte. Und man hätte doch annehmen sollen, daß die Eigenheit Schenk’s, sein Zimmer Nachts nicht zu verschließen und den Schlüssel draußen stecken zu lassen, gerade am allermeisten in die Augen fallen mußte.
„Der Mörder hatte, wie es fast schien, seinen Weg verbergen wollen; darauf deuteten wenigstens die geöffneten Doppelfenster des Schlafzimmers hin. Doch konnte sich niemand dadurch täuschen lassen, denn da die Stockwerke des Hauses sehr hoch waren und Schenk, wie gesagt, im dritten wohnte – ich rechne das Parterre mit – so war das Fenster mindestens vierzig Fuß über dem Pflaster des Hofes, in einer fast ganz glatten Mauer, deren saubere Fläche überdies nicht die geringste Spur zeigte, daß ein Mensch hier auf irgend eine Weise hinauf oder hinab gelangt sei. Ein Seil hätte solche Spuren hinterlassen müssen und nachdem es zum Hinuntersteigen benutzt, sich oben ohne fremde Hülfe nicht mehr ablösen lassen. Eine Leiter, wäre eine so lange auch in der Nähe vorhanden gewesen, ließ sich nicht ohne Geräusch und auch schwerlich von einem Menschen allein aufrichten. Alles wies aber nur auf einen Thäter hin, und die Mutter Schenk’s hatte, obgleich sie, wie häufig, auch in dieser Nacht viel gewacht, nichts Ungewöhnliches vernommen. Sie hatte aber freilich auch nicht gehört, daß jemand die Treppe passirte, obschon ihr Gehör sonst noch gut und ihr Schlafzimmer unmittelbar neben der Treppe lag.
„Daher erwog die Behörde auch so genau, ob der Mörder einen andern Zugang als die Thür überhaupt habe benutzen können. Denn es war fast unmöglich, daß die ängstliche alte Frau einen Schritt auf der Treppe, das Schließen der oberen oder einer andern Thür nicht vernommen haben sollte, zumal es nachweisbar war, daß sie gerade während der Ausübung des Verbrechens gewacht haben mußte.
„Es gibt kein wahreres Sprüchwort als: es ist nichts so fein gesponnen, es kommt ans Licht der Sonnen, – und es bleibt eine gewissermaßen beruhigende Thatsache, daß nicht ein Verbrechen schlau genug eingeleitet oder vollbracht wird, um nicht durch irgend etwas, und wäre es auch anscheinend das Allerunbedeutendste und Gleichgültigste, ein Licht auf den Thäter und sein Thun fallen zu lassen. Ein solches Etwas fand sich auch hier.
„Es stand im Schlafzimmer ein altes Schränkchen, ein Ding wie ein kleiner Secretair – über vier hohen, spindeldürren Beinen eine Schublade, darüber der mit der niederzuschlagenden Klappe verschlossene Raum für allerlei Fächer, Schublädchen und so weiter. Diese Klappe war geöffnet worden – Schenk hatte in dem Möbel seine wichtigsten Papiere, alten Familienschmuck und Erbstücke und was dergleichen mehr ist – und da sie, wie ich von dem Freunde selber gehört hatte und den andern beiden Herren mittheilen konnte, neuerdings seltsamer Weise gequollen war und sehr schwer aufging, so mußte das ganze alte wackelige Möbel, vollends wenn ein Uneingeweihter die Oeffnung versuchte, stark erschüttert werden. Durch diese Erschütterung war eine alterthümliche Uhr, gleichfalls ein Erbstück, die oben auf der Platte stand, umgeworfen worden – das Glas über dem Zifferblatt war zerbrochen, und die polirte Platte zeigte nicht nur ein paar Schrammen, sondern es fanden sich dort
[18] auch noch kleine Glassplitter. Der Mörder hatte sie wieder aufgerichtet und den Perpendikel natürlich doch wohl angestoßen. Derselbe war aber gleich oder bald darauf dennoch stehen geblieben, die Uhr zeigte ein Viertel nach Drei, und gerade von vor Drei bis nach Vier hatte Schenk’s Mutter gewacht; sie hatte alle Glockenschläge gehört.
„Schenk war durch zwei tiefe Messerstiche in der Brust, die aber beide das Herz verfehlt hatten, tödtlich verwundet worden, hatte aber jedenfalls noch mit dem Mörder gerungen, wie der Zustand des Bettes und seine blutigen, zerschnittenen Hände bewiesen. Ein Schlag auf den Kopf hatte den Schädelknochen durchbrochen und dem Leben des Armen vermuthlich ein schnelles Ende gemacht. Das Mordinstrument – oder waren es mehrere? – war nicht zu finden, überhaupt nichts, was mit der Person des Mörders in Verbindung gewesen oder auf dieselbe hindeutete, als ein mit Erde oder Staub beschmutzter Handschuh, der zusammengedrückt in dem Winkel zwischen Bett und Secretair gefunden wurde. Er war fein, wenig gebraucht und von dunkelbrauner Farbe, unten auch mit Knöpfchen zu schließen, was damals noch keineswegs gewöhnlich. In E. wenigstens fanden sich schwerlich bei den Händlern solche Paare vorräthig. – Endlich waren aus dem Schränkchen anscheinend mehrere Papiere und Kostbarkeiten verschwunden – nach Angabe der Mutter von bedeutendem Werth und doch für den Räuber ziemlich nutzlos oder gefährlich, da es nur Gegenstände von alterthümlicher Façon sein sollten, meistens von den Groß- und Urgroßeltern Schenk’s herstammend, und daher nach einigermaßen deutlicher Beschreibung augenblicklich wieder zu erkennen. – Das war alles.
„Auch im Hause hatte sich nichts weiter gefunden – darüber werde ich aber noch zu sprechen haben. – Die Hausthür war Morgens verschlossen gewesen, und von dem Riegel der Hofthür behauptet das Mädchen, welches um 6 1/2 Uhr zum Brunnen gegangen, das Gleiche. Dies blieb aber unwahrscheinlich, da es dem Thäter diesen Weg, den einzigen anscheinend möglichen, versperrt hätte. Die Thür in der Stadtmauer dagegen war verschlossen; der Schlüssel hing unberührt im Zimmer Schenk’s. Aber man konnte vom Hofe auch ohnedies in den Nachbarhof, und wenn man denselben passirt hatte, auf einen unbebauten Fleck an der Mauer und auf die Straße gelangen.
„Es ist nur seltsam,“ schloß unser Berichterstatter seine lange Mittheilung, „daß auch die weißgetünchte Grenzmauer des Schenk’schen Hofes keine Spur von einem angestemmten Fuß oder einer angelegten Leiter zeigt, daß im Mittelsteige des Hauptgartens zwei oder drei sehr sichtbare Abdrücke eines feinen Stiefels, aber nur bis zu dem kleinen Rondel mit dem Bassin zu verfolgen sind.“
„Dies Letztere kann auch ich nicht erklären – ich muß das Terrain und die Spuren wenigstens erst sehen,“ sagte ich jetzt nach einer Pause, und das Herz klopfte mir, als sei ich ein blöder Schuljunge, der zum ersten Mal den Muth faßt, eine allgemeine Frage zu beantworten. – „Es wäre immerhin nicht unmöglich, daß der alte Jäger etwas fände, was ihr übersehen, und am besten würde der Garten überhaupt bis zu näherer Untersuchung noch verschlossen gehalten.“
„Das geschieht auch,“ versetzte der Assessor halb pikirt, halb verwundert. „Wo aber wollen Sie hinaus, Herr Hauptmann? Ich seh’s, Sie haben noch etwas Anderes.“
„Allerdings,“ erwiderte ich. „Der Mörder ist nicht über die Hofmauer, sondern durch den Garten entflohen. Ueber den Altan – haben Sie da schon nachgesucht? – kann man meines Wissens ziemlich leicht hinab, vielleicht dort auch hinauf kommen. Ich möchte darauf schwören, daß ich den Thäter auf seinem Rückwege gesehen habe. – Brauche ich es euch zu sagen, wie die Beiden auffuhren, mich anstarrten? Wie sie lauschten, als ich jetzt das anscheinend so unbedeutende, in Wirklichkeit vielleicht so überaus bedeutungsvolle Begegniß in der vergangenen Nacht mittheilte?
„In der That,“ sprach der Assessor, als ich geendet, „ich fange an, an Ahnungen und Instinkte im Menschen zu glauben! Es war mir widerwärtig, heut Abend noch mit jemand, selbst mir Ihnen Beiden, meine Herren, zu reden, und doch trieb mich etwas dazu; mir war als müsse ich irgend eine Aufklärung erhalten. Und nun dies, die erste Stufe, auf der man wirklich Fuß fassen kann! Nicht wahr, Hauptmann – die Nachtposten an den Thoren stehn bis nach vier Uhr? Der Mensch muß also gesehen worden sein.“
„Ich zuckte die Achseln. „Ja,“ sagte ich, „die Posten stehn sogar jetzt noch bis sechs Uhr, allein ob sie trotzdem den Burschen gesehen haben, ist eine andere Frage, ich möchte wenigstens nicht darauf schwören. Und überdies – wer sagt uns, daß der Mensch in die Stadt gegangen? – Doch das können wir alles morgen früh sogleich erfahren. Ich verspreche Ihnen bis neun Uhr die genaueste Nachricht, da meine eigene Compagnie die betreffenden Posten gestellt hat.“ – Und nachdem wir noch eine Weile fortgeredet, gaben wir uns für alle Fälle und selbst, wenn auch nichts Wichtiges erkundet würde, ein Rendezvous im Trauerhause bis neun Uhr und trennten uns dann. Ich begleitete auf meinem Wege den Rath Huber noch eine kurze Strecke weit. Wir blieben Beide einsylbig.
„Als wir auf der Ecke am Markt uns zum Abschied die Hände reichten, fragte er gedämpft und gleichsam nachdenklich: „Haben Sie jemals von irgend einem Feinde Schenk’s gehört, Hauptmann? Hat er Ihnen nie eine Andeutung von dergleichen gemacht?“
„Nie!“ versetzte ich der Wahrheit gemäß und mit Bestimmtheit. „Im Gegentheil, er hat nur bei Gelegenheit wohl einmal sein Glück und seine Zufriedenheit gerühmt, daß er mit aller Welt, mit Groß und Klein im Frieden lebe, daß selbst die Verbrecher, die er zu strafen gehabt, ihm fast immer unverkennbare Zeichen der Zuneigung, des Zutrauens gegeben. Es versöhne ihn das, meinte er dabei, mit mehr als einer, seiner Stellung anklebenden Härte und zeige ihm, daß er im Ganzen auf dem richtigen Wege sei.“
„Und haben Sie auch nie bemerkt, ob er jetzt oder früher einmal in irgend einem intimeren Verhältniß mit – irgend einem weiblichen Wesen gestanden?“ fragte Huber nach einer Pause wieder.
„Nie, Herr Rath!“ entgegnen ich ebenso bestimmt. „Im Gegentheil sag’ ich auch hier – von einem legalen Verhältniß war, wir wir ja alle wissen, keine Rede, und von einem andern, meine ich, noch viel weniger. Aber was denken Sie, Herr Rath?“
„Nichts, nichts,“ erwiderte er mit einer ablehnenden Handbewegung. „Ich möchte eben nur eine Todfeindschaft ahnen oder für möglich halten können, die zu solchem Resultat führte. Hat er auch nie von seinem Tode zu Ihnen geredet? Man hat Beispiele –“
„Nicht doch, Herr Rath,“ fiel ich ihm ins Wort, da ich seinen Gedankengang ohne Mühe verfolgen konnte. „Schenk hatte keine Sorge, nicht einmal die Ahnung, daß er jemals, vielleicht bald, schnell sterben könnte. Wenigstens sprach er es gegen mich niemals aus. – Mit einem Wort – ich habe niemals bemerkt, daß er überhaupt irgend ein Geheimniß habe, daß in seinem frühern oder gegenwärtigen Leben etwas sei, was er hätte verbergen mögen.“
„Es ist seltsam,“ murmelte Huber kopfschüttelnd, „ich weiß das ja so gut wie Sie, aber ich kann mich von dem Gedanken nicht los machen, daß doch etwas dagewesen sein muß, was er uns Allen verbarg. Was sind das für Papiere, die der Mörder geraubt? Staatspapiere? – Doch genug!“ brach er dann ab und schüttelte nochmals meine Hand; „morgen ist ja auch ein Tag! Gute Nacht, lieber Hauptmann.“
„So schieden wir, und ich ging in einer eigenthümlichen Stimmung nach Hause. Es war meine feste Ueberzeugung gewesen, die ich in allen Punkten gegen den Rath ausgesprochen, und die Weise, der Inhalt seiner Fragen, seiner Antworten ließen mich jetzt fast zweifeln, ob jene Ueberzeugung wirklich, eine völlige, feste, richtige sei, machten mich peinlich unsicher und erfüllten mich mit noch peinlicheren Gedanken. Ich hatte eine unbehagliche, fast schlaflose Nacht, und mir wurde erst wieder besser, als ich am folgenden Morgen zum Handeln kam und meinen Feldwebel wegen der Nachtposten ins Gebet nehmen konnte. Es machte sich alles schneller als ich gehofft; er wußte zufällig den Namen des Mannes, der bis vier Uhr an meinem Thore gestanden. Es war noch dazu einer der intelligentesten und tüchtigsten Leute der Compagnie und wohnte so nahe, daß mein Bursche ihn gleich herbeiholen konnte. Ich hatte mich in der Annahme, daß ich grade von diesem Mann etwas erfahren könnte, nicht getäuscht.
„Kaum hatte ich gefragt: „ist Ihnen auf Ihrem Posten zwischen zwei und vier Uhr nichts Besonderes begegnet, Sinefsky?“ – so erwiderte er: „zu Befehl, Herr Hauptmann – nichts Besonderes grade, aber doch was mir auffiel. Ich habe nach der Ablösung auch auf der Wache davon geredet. Um drei Viertel auf Vier kam vom Wall herunter, wo gleich hernach auch der Herr Hauptmann herausspazierten, ein großer Mensch in Hut und Mantel auf’s Thor zu und strich durch die kleine Pforte so hart an mir vorüber, daß er mich zur Seite drängte und ich ihm mein Hollah [19] nachrief. Er ging gleich links in die Thorstraße hinein, aber so schnell, daß er mir alsbald aus den Augen war.“
„Sie erkannten ihn nicht, Sinefsky?“
„Zu Befehl, nein, Herr Hauptmann. Er hatte sich fest eingemummt, so daß ich vom Gesicht nicht einen Schimmer sah – es war auch zu finster. Wenn ich aber Gang und Gestalt bedenke, glaub’ ich kaum, daß es ein Hiesiger; ich müßt’ ihn d’ran erkannt haben. Es hat mich hinterdrein schon geärgert, daß ich ihn nicht angehalten. Grund dazu hätt’ ich gehabt; da er mich streifte, spürt’ ich’s, daß er unter dem linken Arm irgend etwas Hartes tragen müsse. Aber ich konnte doch auch nicht glauben, daß ein solcher Herr – so sah er aus – contrebandire. Doch habe ich auf der Wache gesagt, er sei mir wie Einer mit einem schlechten Gewissen vorgekommen, und seit ich heut Morgen von der Mordgeschichte im „hohen Hause“ erfahren, bin ich schon der Meinung gewesen, ich solle zum Herrn Hauptmann gehn und meine Meldung machen. Der Herr Hauptmann waren ja gut Freund mit dem Rath Schenk und können glauben – der Nachtvogel war der Mörder. Er kam grade daher, wo er herkommen mußte.“
„Wie meinen Sie das, Sinefsky?“ fragte ich betroffen durch seine Sicherheit.
„Herr Hauptmann, ich bin oft genug auf dem Walle, grade vor des Raths Garten stehen geblieben,“ entgegnete der Mann, „und habe mir meine Gedanken gemacht, wozu man doch – der Herr Hauptmann halten zu Gnaden – Wachtposten an die Thore stelle, da kein Contrebandeur Narr genug sein würde, durchs Thor zu laufen, während ihm überall anderwärts bessere Wege frei sind. Sehn der Herr Hauptmann sich einmal den Altan auf der Mauer an; es ist draußen ein Strebepfeiler abgebröckelt, daß ein leidlich gewandter Mensch dran wie auf der bequemsten Treppe auf- und absteigen kann. In den Garten hinab zu kommen ist ja pure Kinderei. Und solche Punkte giebt’s rund um das alte Nest noch mehrere, wenn auch nicht ganz so bequeme. Verlassen sich der Hauptmann darauf, da ist der Mordbube aus- und eingegangen. – Ich weiß sogar,“ setzte er zögernd hinzu, „daß der Weg schon sonst benutzt wurde. Ich will keinen Cameraden angeben, Herr Hauptmann, und bitte mich den Namen verschweigen zu lassen – aber es ist ein Jäger dort mehrmals Nachts zu dem kleinen Mädel geschlichen, das im „hohen Hause“ dient.“
„Ich dachte einen Augenblick nach, bevor ich sagte: „ich will nichts von ihm wissen, Sinefsky; Sie sind ein wackerer Mensch. Aber eins müssen Sie – und zwar mit Vorsicht – herausbringen: ob der Mann stets nur auf Verabredung zu dem Mädchen gegangen ist oder so oft und wann er mochte.“
„Der Herr Hauptmann meinen wohl, ob der Riegel an der Hinterthür für gewöhnlich geschlossen war oder zurückgeschoben?“ fragte er mit einem schlauen Blick. „Das weiß ich schon. Mein Camerad hat oft genug darüber gejammert, daß die Dirne ihn stets selber herein- und hinauslassen wolle, weil sie so ängstlich mit dem Riegel sei.“
„Es ist gut, mein Freund,“ sprach ich nach einer Weile. „Gehen Sie jetzt, reden Sie nichts über das, was wir gesprochen, geben Sie aber fleißig Achtung, ob Ihnen in der Stadt nicht doch jemand begegnet, der Sie an jene Nachterscheinung erinnert. Melden Sie mir alles sogleich.“ Und nachdem ich ihn so entlassen, nahm auch ich Degen und Mütze, um in’s Trauerhaus hinüber zu gehen und dort die Anderen zu treffen.
„Neues gab es nichts als das, was ich mitbrachte, und wir schritten daher zur Untersuchung des Hofes und Gartens. Die Hofmauer zeigte wirklich keine Spur, daß jemand übergestiegen; im Garten waren allerdings ein paar sehr ausgetretene Fußstapfen bis zum kleinen Bassin in der Mitte, während jenseits bis zur Mauer und zum Altan nichts mehr zu sehn war. Das schien jedoch leicht erklärlich. Der Garten fiel von der Mitte gegen den Hof zu stark ab, so daß sich alle Feuchtigkeit aus dem obern Theile hieher zog und den Boden trotz des Kiessandes in den Steigen so erweichte, daß ein Fuß sich abdrücken mußte. – Droben war der Kies dagegen trocken und nahm, wie wir an unseren eigenen Schritten beobachten konnten, keinen bemerkbaren Eindruck an. Auf der Altantreppe fanden sich aber wieder Spuren – d. h. Kiessand, den der feuchte Stiefel mitgenommen. Oben zeigten sich statt dessen Stückchen von der schweren schwarzen Erde, die man drüben in dem großen Garten fand, und eben solche Spuren sah man auf den Vorsprüngen, die den abgebröckelten Pfeiler wirklich zu einer ganz bequemen Treppe machten. So konnte über den Weg des Mörders kein Zweifel sein – man sah ihn herein und hinaus.
„Während wir so beschäftigt waren, machte einer der in Haus und Hof umherspürenden Polizeidiener eine neue, eigenthümliche Entdeckung. Unmittelbar neben der Hofthür kam eine blecherne Rinne vom Dach herunter und endete in einer großen Wassertonne. Im Winkel zwischen Tonne und Mauer sah der Mann einen großen sogenannten Bodenlumpen zusammengedrückt, und als er ihn ausbreitete, fand er darin Spuren von Erde, Sand und Kies und überdies ein paar schwärzlich gefärbte Stellen. Der Mörder hatte also den Lumpen, den das Mädchen nach seiner Angabe am Dienstag-Nachmittag zum Trocknen auf die Garten-Staketen gehängt und seitdem vermißt haben wollte, dort gefunden und schlau genug zum Abwischen der feuchten und beschmutzten Stiefel benutzt, damit Sand und Kies auf den Treppenstufen kein Geräusch machen möchten. Und bei dieser Gelegenheit bekannte denn auch die Dirne unter Jammer und Thränen, daß sie am Morgen nicht nur den Riegel zurückgeschoben, sondern auch die Thür selbst angelehnt gefunden. Sie habe jedoch nur an einen etwaigen Diebstahl gedacht und mit Todesangst, aber vergeblich alles durchsucht, ob irgend etwas fehle. Damit schlossen sich für jetzt die Entdeckungen.
„Andere Spuren verschwanden sogar wieder. In Schenk’s Schlafzimmer fanden sich nämlich in einer Ecke ein paar Convolute Briefe, welche nach Angabe seiner Mutter in dem kleinen Secretair aufbewahrt worden waren, und die der Mörder als für ihn werthlos oder hindernd bei der Durchsuchung der Papiere ungeduldig zur Seite geworfen zu haben schien. Dann entdeckte man in einem Nebenfach von Schenk’s Schreibtisch ein genaues Verzeichniß alles dessen – der Papiere so gut wie des Schmucks und der Erbstücke – was von ihm im Schränkchen niedergelegt worden war – er war trotz mancher anscheinend abweichenden Züge sehr ordentlich und pünktlich in Verwahrung und Verwaltung seines Eigenthums.
„Eine Vergleichung dieses Verzeichnisses mit dem Inhalt des Schränkchens ergab nun das überraschende Resultat, daß von den Papieren, obgleich sie sichtbar eifrig durchsucht worden, anscheinend nicht ein einziges Stück fehlte. Von den Werthsachen dagegen waren die Brillant-Trauringe seiner väterlichen Großeltern, eine eben daher stammende, mit Brillanten besetzte Uhr, vor allem aber ein sehr werthvolles chirurgisches Besteck, an dem mit Ausnahme der Klingen alles von Gold, und eine ziemlich große Cassette mit drei prachtvollen silbernen Pokalen verschwunden – beide letzteren Stücke Geschenke zu dem Amtsjubiläum seines Großvaters von den Collegen und der Familie. Die Cassette war es denn wohl gewesen, die meinen Sinefsky in der Unglücksnacht gestreift hatte. Unerklärlich blieb aber, daß der Verbrecher nur Gegenstände mitgenommen hatte, die, wie ich schon gesagt und wie ihr jetzt begreifen werdet, auf das Genaueste zu beschreiben waren und augenblicklich wieder erkannt werden mußten, wenn sie jemals zum Verkauf ausgeboten wurden oder überhaupt jemand zu Gesicht kamen.
„Während dieser Untersuchung, bei der Huber und ich zugegen waren, machte ich an mir eine Erfahrung, von der ich bisher wohl gehört, an die ich aber nie geglaubt hatte – daß der Mensch nämlich zuweilen plötzlichen – sagt: Einflüssen, Eindrücken, Regungen, Ahnungen, kurz wie ihr wollt – unterworfen ist, über welche er sich in keiner Beziehung Rechenschaft zu geben vermag. In dem Augenblick nämlich, als der das Protokoll führende Referendar von dem Verzeichniß ablas: „14., ein chirurgisches Besteck meines Großvaters, ihm von seinen Collegen zum Jubiläum geschenkt, die Griffe von fein ciselirtem Gold,“ – und als Sterning, der selbst die Untersuchung des Schränkchens übernommen hatte, nach einer Weile sagte: „fehlt!“ – mußte ich plötzlich unwillkürlich an einen Arzt des Städtchens denken, den Doctor Helmreich, einen angenehmen, feingebildeten und beliebten Mann meines Alters, der sich besonders als Chirurg eines großen Rufs erfreute. Er hatte sich neuerdings häufig aus der Gesellschaft zurückgezogen, ich war bisher selten mit ihm zusammen getroffen und kannte ihn eigentlich nur vom Ansehen. Und es war seltsam – ich dachte auch an die Nachterscheinung, und Größe und Bewegung derselben konnten allerdings an die Person des Arztes erinnern. Ich sag’ es offen, ich hatte Mühe dieser dummen Gedanken mich zu entschlagen, die anscheinend so gänzlich bezuglos waren und durch nichts gerechtfertigt wurden. Natürlich sagte ich auch keine Sylbe davon.
„Mittlerweile war es Zeit zum Appell geworden, ich ging nach dem Markt, wo derselbe abgehalten wurde, und als ich zu den [20] Cameraden trat, fand ich sie im Gespräch mit dem Doctor Helmreich, der einigen von uns ziemlich befreundet war. Er hatte eben erst von dem Morde erfahren, da er seit gestern über Land gewesen, und sah sehr ergriffen aus, obgleich er zu Schenk in keinem näheren Verhältniß gestanden. „Lieber Gott,“ sagte er eben, „das muß mich wohl um so mehr berühren, da ich, bis mein Onkel starb, fast mehr in dem „hohen Hause“ als in dem meiner Eltern gewesen bin, und jeden Winkel darin – kannte, muß ich wohl sagen, denn Schenk soll ja vieles verändert haben. Wo ist das Verbrechen geschehen?“
„In Schenk’s Schlafzimmer,“ versetzte ich – ich hatte seither den Arzt unwillkürlich auf meine früheren Gedanken hin gemustert, und es war mir fast eine Beruhigung, als ich mir sagen mußte, daß jener Nachtgänger anscheinend bedeutend größer gewesen – „in dem rechts gelegenen Eckzimmer des obersten Stocks.“
„Er sah überrascht aus. „Das ist seltsam,“ sprach er mit einer raschen Handbewegung, und dabei bemerkte ich, daß seine Handschuhe mit Knöpfen verschlossen waren. „Das ist dasselbe Zimmer, in welchem meine Tante so überraschend schnell gestorben sein soll, und das mein Onkel nie wieder von jemand betreten ließ. Ich bin zum ersten Mal hineingekommen, als meine Mutter nach des Alten Tode es öffnete, um die für die Auction bestimmten Sachen aufzulesen, und ich erinnere mich noch heut, nach fast vierundzwanzig Jahren des unheimlichen Eindrucks, den das lange verschlossene Gemach auf den muntern Knaben machte.“
„So redeten wir noch eine Weile weiter, bis der Commandeur um die Ecke kam und wir uns daher von dem Doctor abwenden mußten. Dann zog die Wachparade auf, der Appell wurde abgehalten, und als ich eben fortgehen wollte, sagte mir der Feldwebel, daß Sinefsky mir etwas zu melden habe. Und was meint ihr, daß es war? – „Herr Hauptmann,“ sprach er ernst, „wenn der Doctor Helmreich der vorhin mit den Herren Officieren redete, einen Mantel umhat, muß er dem Mann in der Nacht gleichen. Und wie er, als der Herr Oberstwachtmeister kam, davon und über den Markt strich, das hat mich auch an jenen erinnert. Es war derselbe ausgreifende Gang.“
„Dummes Zeug, Jäger,“ versetzte ich verdrießlich über diesen mit dem meinen übereinstimmenden Einfall, „und kein Wort mehr davon! Geben Sie Achtung, aber denken Sie sich nichts aus!“ Und ich ging wieder zum Trauerhause, um endlich die arme, alte Mutter zu sehen, die meinen Besuch um diese Zeit gewünscht hatte. Ich war – ich wiederhole es – verdrießlich über des Menschen Rede, über meine eigenen Gedanken, aber los ward ich beides darum doch nicht. Im Gegentheil, es beherrschte mich so, daß ich, als der Arzt mir unterwegs wieder begegnete, unwillkürlich den Kopf nach ihm umwandte und ihm prüfend nachschaute. Es war Thorheit, nichts als Thorheit!
„Von dem, was ich in der nächsten Stunde mit der trostlosen alten Frau gesprochen, gelitten und – weßhalb sagt’ ich’s nicht? – geweint, davon hab’ ich nicht zu reden. Das gehört zu meinen allertrübsten Erinnerungen. Trost wußte ich ihr nicht zu geben, als meine tiefe schmerzliche Theilnahme, und was konnte ihr die am Ende nützen! Der Sohn ward dadurch auch nicht wieder lebendig.
„Es währte eine geraume Zeit, bis wir zum einigermaßen ruhigeren Sprechen kamen, und auch dann brach noch jeden Augenblick ihr Schmerz heiß hervor, so auch, als sie von den Fragen und Nachforschungen des Untersuchungsrichters sagte, obgleich sie begriff, daß man ihr dieselben nicht ersparen konnte, und daß man andrerseits alle mögliche Schonung gegen sie beobachtete. „Ueber Roberts häusliches und ganzes Privatleben, wo ja der Grund dieser furchtbaren That eben so gut zu suchen sein dürfte als in seiner amtlichen Wirksamkeit, können sie freilich von niemand so viel Auskunft erhalten, wie von mir,“ meinte sie. „Ich bin auch so offen gewesen wie möglich. Aber daß sie mir meinen reinen, unschuldigen, ehrbaren Sohn mit ihren bohrenden Fragen verdächtigen, als habe er auf schlechten Wegen gehen und sein können, wie so mancher Andere, der wider Moral und Gesetz und Religion handelt und nichts heilig achtet – das möge ihnen Gott verzeihen,“ setzte sie weinend und doch zürnend hinzu: „ich kann es jetzt noch nicht, sie haben mich zu tief dadurch verletzt.“
„Aber ich verstehe das nicht,“ sprach ich kopfschüttelnd. „Wer kann denn so taktlos gewesen sein, jetzt bei Ihnen nach Roberts Privatleben zu forschen, zumal gar nichts Geheimes darin ist? Wir alle wußten ja, wie er lebte!“
„Mein theurer Hauptmann,“ erwiderte sie, die Augen trocknend, „ich sehe auch wohl ein, daß es halb sein mußte, halb nichts weniger als böse gemeint war. Aber es hat mir weh – bitter weh gethan, besonders als ich merken mußte, daß der Assessor durch meine Antworten nicht befriedigt wurde – ich weiß nicht, ob er noch irgend etwas auf dem Herzen hatte, was er mir nicht zu sagen wagte.“
„Er wollte also wissen, ob der Rath irgend eine Verbindung gehabt hätte, die ihn in Ungelegenheit hätte bringen können?“ forschte ich wieder kopfschüttelnd. Mir fielen Huber’s Worte vom vergangenen Abend ein.
„Ja,“ versetzte sie, nur über das feine und blasse Gesicht der bejahrten Dame flog eine lichte Röthe. „Ob er in Verbindung mit einer Frau gestanden, lieber Hauptmann, in einer geheimen, also in einer unerlaubten! Sagen Sie selbst, kann es für eine Mutter peinlichere Fragen geben? Und wie Sie vorhin, spreche auch ich es jetzt aus: wir alle wissen, wie er lebte. Nie hat es einen häuslicheren Menschen gegeben, und wenn er nicht hin und wieder spazieren oder einmal Abends in eine Gesellschaft ging, konnten früher besonders Wochen vergehen, ohne daß er aus dem Hause kam – in der Residenz so gut wie auch hier, ich wohne jetzt schon seit acht Jahren wieder mit ihm zusammen, wir liebten uns so zärtlich, und er wollte nie etwas von der Begründung einer eigenen Familie hören. – Ja, er lebte so häuslich,“ fuhr sie fort, „daß es mir dabei oft für seine Gesundheit, seine Geistesfrische bange wurde, und daß ich auf’s Eifrigste zuredete, als er im vergangenen Herbst anfing, jeden Abend regelmäßig ein paar Stunden in der Harmonie zuzubringen, wenn er nicht mit Ihnen oder einem andern Freunde zusammen war. Er brauchte Erholung, und um neun Uhr war er ja auch fast immer wieder daheim, so daß mein Opfer nicht so groß. Er gab sich dann stets so heiter und innig, und wir hatten die schönsten Stunden,“ schloß sie mit überfließenden Augen.
„Diese Erklärung bestürzte mich, obschon ich nicht um die Welt der alten Frau hätte zeigen mögen, was in mir vorging. Da ich, gerade meiner eingezogenen Lebensweise wegen, wenn ich nicht bei Schenk oder er bei mir war, fast ausnahmslos jeden Abend von vor acht bis gegen zehn oder elf Uhr auf der Harmonie verbrachte, so konnte es niemand besser wissen als ich, daß der Freund nichts weniger als ein regelmäßiger Besucher des Vereinslocals gewesen war. Im Gegentheil, er erschien, auf längere Zeit und zu Abend, so selten wie kaum ein Anderer. Ich hatte bisher geglaubt, er wäre häufig um sechs Uhr etwa in’s Lesezimmer gekommen, um eine halbe Stunde lang die Zeitungen durchzusehn, dann aber wieder nach Hause und an die Arbeit gegangen, bis er um acht Uhr Feierabend für die Seinen und einen Freund oder für eine Gesellschaft machte. So hatte ich es von ihm selbst gehört, und nun erfuhr ich nicht nur etwas weit Anderes, sondern es fiel mir jetzt auch ein, daß er niemals vor halb neun Uhr zu mir gekommen war und daß er ebenso auch meinen Besuch niemals vor derselben Zeit erbeten hatte. Was hieß denn das? zeigte sich hier dennoch plötzlich ein Geheimniß? Mir kamen wieder Huber’s Worte und Andeutungen in den Sinn und seine besondere Weise dabei. Ich nahm mir vor nochmals mit ihm zu reden, Achtung zu geben oder auch geradezu zu fragen, wie es am besten scheinen mußte. Ich verabschiedete mich hierauf bald von der Mutter des Freundes.
Deutsche Spielhöllen.
Es ist eine hohe, heilige Pflicht der deutschen Presse, die unseligen Zustände, an denen unser Vaterland trotz aller und aller patriotischer Mahnungen noch immer leidet, unausgesetzt vor dem Tribunale der öffentlichen Meinung zu besprechen, um hier eine gründliche Abhülfe zu erzielen, da diese leider von den betreffenden deutschen Regierungen unter den jetzigen Verhältnissen kaum zu erwarten sein dürfte. Bereits zu wiederholten Malen haben zwar vaterländisch gesinnte Männer in deutschen Volkskammern wie
[21][22] durch das mächtige Organ der Presse daran gemahnt, daß es endlich an der Zeit sei, den deutschen Spielbanken ein Ende zu machen, die unter der Schutz- und Schirmherrschaft deutscher Regierungen, namentlich in den südwestdeutschen Bädern, ihr Wesen treiben und alljährlich in grausiger Hast ihre Opfer verschlingen. Vielleicht ist es auch ein vergebliches Werk, wenn es das weitest verbreitete Wochenblatt Deutschlands unternimmt, dem ehrlosen, tiefverächtlichen Treiben der deutschen Spielhöllen entgegen zu treten; immer und immer mag aber darauf zurückgekommen werden, bis endlich das ganze deutsche Volk sein gewaltiges Nein! spricht, und vor diesem Donnerworte die kleinen Diebeshehler erbeben, die sich jetzt, wie weiland die Stegreifritter des Mittelalters, in die schmählich erworbene Beute theilen.
Die alten Römer hatten ein Rechtssprüchwort: auctor intellectualis aeque puniendus ac physicus, das wir leicht in unser gutes Deutsch mit dem annähernden Sprüchwort übertragen könnten: „der Hehler ist so gut wie der Stehler!“ Wir wollen jedoch, um nicht bitter zu werden, von diesen Sprüchwörtern absehen und einfach die Frage stellen: wie mögen deutsche Regierungen, denen doch das Wohl ihrer Bürger am Herzen liegen soll und muß, es über sich bringen, wegen eines kleinen, gemeinen Vortheils das Glück und den Wohlstand ihrer Angehörigen auf das Spiel zu setzen? Wie mag ein die Spielbanken beschützender Minister es beantworten, wenn der schlichteste Mann des Volkes vor ihn tritt und zu ihm sagt: „Du regierst das Land mit dem Sündengelde, das Du, oder was dasselbe ist, Deine Dich bezahlenden Helfershelfer dem Volke abgegaunert und abgelistet haben! An jedem Thaler, den Du ausgiebst, hängt der Seufzer einer unglücklichen Familie, hängt das Blut eines Selbstmörders, den Du dazu gemacht hast! Mit eiserner Hand fassen Deine Diener und Schergen nach Jedem im Volke, der, vielleicht in heiterer, weinerregter Laune, es wagt, an einem kleinen Hazardspiel Theil zu nehmen, und Du duldest im eigenen Lande jenes große Spiel, das, ein nimmersattes Ungeheuer, fast täglich seine Opfer verschlingt und für die Ueberlebenden nichts zurückläßt, als den bittersten Schmerz und die herbsten Thränen!“
Könnte unsere Empörung gegen alle diese Nichtswürdigkeiten noch gesteigert werden, so wäre das nur möglich durch das Bild des geistvollen Malers Rustige[1] in Stuttgart, das uns in eine deutsche Spielhölle führt, an deren grünem Tisch in meisterhafter Gruppirung eine Anzahl Gauner versammelt sitzen. Es ist dies keine Erfindung, es ist ein Stück grausiger Wahrheit aus einem deutschen Bade, dessen Name hier nichts zur Sache thut und das uns die kunstgeübte Hand des Meisters hier vor Augen führt.
Ein Pächter vom Lande, der sich kümmerlich und im Schweiße seines Angesichts den Zins seines Pachtgutes verdient und zu seinem Unglück in die Spielhölle jenes bekannten süddeutschen Bades gerathen ist, hat sein letztes Geld verspielt und will mit gebrochenem Herzen, ein armer ruinirter Mann, die traurige Stätte verlassen, in welche der Teufel des Spiels ihn trügerisch verlockt hat. In diesem Augenblicke, wo düstere, selbstmörderische Gedanken seine Seele umnachten, tritt die Gefährtin seines Lebens, sein treues Weib, an der Seite den blühenden Knaben und geleitet vom liebenden Bruder herein. Mit erschütternder Wahrheit hat der Künstler diesen Moment aufgefaßt. Die Angehörigen des Unglücklichen, von banger Ahnung getrieben, stürzen, trotz der Abmahnungen des dicken Portiers, mit schmerzerfüllten Gebehrden in den Saal. Ein Blick auf die Jammergestalt des Mannes, auf die leere Geldtasche, die er mechanisch noch immer in der schlaffen Hand hält, auf die zitternden Lippen des Davoneilenden sagt ihnen, daß ihre Ahnung eine richtige war. Mit gefalteten Händen stürzt das unglückliche Weib dem Gatten entgegen, mit gebrochner Stimme die Worte hervorstoßend: „Mann! Um Gottes Willen, was hast Du gethan!“
Wer vermag es, sich das Furchtbare dieses Augenblickes und dessen nächste Folgen auszumalen? Wer zählt überhaupt die Seufzer, wer die Thränen, die Verwünschungen und Flüche, welche diese Spielhöllen schon hervorgerufen? Wer nennt die Opfer alle, die sie alljährlich fordern? von denen vielleicht nur die Hälfte zur öffentlichen Kunde gelangt, während ein stilles Grab die Uebrigen deckt, die den Ort der Schande gemieden, um fern davon eigenmächtig mit frevelnder Hand den Faden ihres Lebens zu zerschneiden. Noch vor wenigen Wochen lasen wir, wie ein junger Mann, der mehrere Jahre hindurch zur Zufriedenheit seines Principals dessen auswärtige Angelegenheiten besorgte, sich berücken ließ, dem Glücke des Spiels zu vertrauen, die eingezogenen Gelder an einem unseligen Tage verlor und, um nun der zweiten Schande zu entgehen, seinem Leben durch eine Kugel ein Ende machte. Wenige Tage darauf brachten die Blätter schon eine neue, noch schrecklichere Kunde, wie das ganze Glück einer Familie, die sich vor allen Schlägen des Schicksals geschirmt wähnte, urplötzlich in einer Spielhölle zu Grunde ging, in welcher der sonst so wackere Versorger, ein *scher Cassenbeamter, vom Dämon des Gewinnstes verblendet, sein ganzes Vermögen und die ihm anvertrauten Cassengelder an die trügerischen Karten verlor. Auch hier glaubte der Unselige, durch selbstgewählten Tod der Schmach zu entgehen, in welche er sich und die Seinigen gestürzt hatte. Und heute läuft schon wieder durch alle Zeitungen die Nachricht von dem Selbstmorde des preußischen Rittergutsbesitzer, der in H. in wenigen Stunden sein ganzes Vermögen an jene Räuber vergeudete. Wir verschweigen weitere Namen und specielle Erzählungen, um nicht von Neuem die Wunden aufzureißen, an denen noch so manches Herz im deutschen Vaterlande blutet. Aber es hat sicher noch kein Jahr gegeben, in welchem die Zeitungen nicht mehrere der grausigsten, durch die Spielhöllen herbeigeführten Unglücksfälle veröffentlicht hätten!
Die beiden Großstaaten Deutschlands haben längst dem schnöden Gewinn entsagt, den nur noch wenige Staaten oder Staatchen im Südwesten zu nehmen sich nicht entblöden. Dem Unwesen der Barbaresken ist im Laufe der Jahre gesteuert worden; die modernen Raubstaaten Deutschlands fristen aber noch immer ihr armseliges Leben durch die Blutsteuer, welche sie alljährlich den Wahnwitzigen abdrängen, die in ihre Netze fallen. Allein auch ihre Stunde wird schlagen! Schon längst hat die öffentliche Meinung in Deutschland den Stab über sie gebrochen, schon längst hat sie die Namen der Spielhöllen-Fürsten, mit denen uns zumeist unser französisches Nachbarland beglückt, mit Schmach und Schande gebrandmarkt; und bald wird es vielleicht dahin kommen, daß jeder Bankhalter einer deutschen Spielhölle im Volke dieselbe wohlverdiente Verachtung genießt, die nur dem Verworfensten der Gesellschaft zu Theil wird. Dann werden sich auch die wenigen deutschen Fürsten, die sich jetzt noch von jenen berüchtigten Bankhaltern einen Sündensold zahlen lassen, schämen, eine Concession zu ertheilen, an welcher das Blutgeld tausend thörichter Opfer haftet, die sie auf dem Gewissen haben. Das deutsche Volk aber möge immer und immer auf allen ihm zu Gebote stehenden Wegen gegen ein fluchwürdiges Institut protestiren, das in der That kein ehrlicher Mann vertheidigen kann, ein Institut, das allerorten im deutschen Vaterlande die gerechteste Entrüstung und die tiefste Verachtung des Auslandes verfolgt. Möge ein baldiger Tod sein schmachvolles Leben zur Ehre Deutschlands beendigen!
- ↑ Professor Rustige in Stuttgart, dessen Oelbild in den letzten Monaten auf den deutschen Ausstellungen so großes Aufsehen erregte, hat uns freundlichst die Nachbildung seines Kunstwerks für die Gartenlaube erlaubt, wofür wir ihm nachträglich noch unsern wiederholten Dank abstatten. Das Original ist augenblicklich, so viel wir wissen, in Frankfurt, also in nächster Nähe verschiedener Spielhöllen ausgestellt. Der bekannte Künstler, welcher die Studien zu diesem Bilde an Ort und Stelle, d. h. in Baden, Homburg und Wiesbaden machte, hat uns seit langen Jahren mit so vielen ansprechenden und ergreifenden Genrebildern beschenkt, welche allgemeine Anerkennung auch in der Presse fanden, und durch Nachbildung allgemein bekannt wurden, daß eine nochmalige Besprechung seiner Leistungen und Aufführung seiner geistvollen Schöpfungen wohl überflüssig erscheinen dürfte. Wir nennen unter den vielen nur „das kranke Kind“, „die junge Wittwe“, „Scene aus dem Tyroler Kriege“, vor Allen aber „die Heimkehr des Spielers“, welches letztere Bild Bettina als das ergreifendste und poetischste erklärte, das sie je gesehen. Mehrere seiner Bilder, wie „der Genesende am Sonntag-Morgen“, „der Invalide an der Wiege seines Enkels“ wurden auf Kunstausstellungen mit den ersten Preisen gekrönt, der Künstler selbst, jetzt Professor an der Kunstschule in Stuttgart, ist vom König von Württemberg mit dem Friedrichsorden und vom König von Baiern mit dem Verdienstorden des St. Michel decorirt. Rustige ist übrigens auch Dichter, und mehrere seiner dramatischen Schöpfungen sind mit vielem Beifall über die Bühne gegangen. D. Red.
Die Spiritualisten und die Wissenschaft.
Zu jener Zeit, als die erste Nachricht vom Tischrücken durch die Zeitungen lief, befand ich mich in der kleinen Stadt B. Die Bewohner derselben gehörten ihrer eigenen Meinung nach durchaus zu den Aufgeklärten des neunzehnten Jahrhunderts, und jene Zeitungsnotiz wurde daher schlechtweg als ein „Unsinn“ und „Humbug“ belächelt und vergessen. Als aber bald darauf die Augsburger Allgemeine mittheilte, daß schon in X. zu wiederholten Malen schwere Tische von nur wenigen Personen gedreht worden wären, kam die Sache wieder in Erinnerung, und Einige, worunter ich gehörte, entschlossen sich, dem Gelächter zum Trotz, das genau beschriebene Experiment nachzumachen. Wir hatten uns gegenseitig verpflichtet, auf den Tisch keinerlei Kraft auszuüben. Trotzdem aber setzte er sich nach einiger Zeit in eine Bewegung, die bald rascher und rascher wurde, so daß wir endlich mit einer solchen Geschwindigkeit in der Stube umherliefen, daß Einer aus dem Kreise heraussprang und der Tisch dadurch auf die Seite geschleudert wurde. Dies ging in Gegenwart einer ziemlich großen Gesellschaft vor; und die Kunde davon verbreitete sich bald in der ganzen Stadt. Das Tischdrehen wurde in allen Familien versucht, und da es auch überall gelang, so entstand eine wahre Manie, alle leblosen oder belebten Körper auf die „neue Kraft“, womit man das Phänomen kurzweg erklärte, zu untersuchen. Man legte die Hände auf Teller, Hüte, Fässer, Papier, ja auf Menschen – und Alles drehte sich. Ich wurde mit all diesen Variationen bekannt, und ich erwähne dies hauptsächlich, um mir den spätern Einwand fern zu halten, als wäre ich mit der Technik des Tischrückens nicht vollständig vertraut. Ich war ein ganz braver Tischrücker so lange, bis es mir möglich war, die Erklärung aller Erscheinungen, die hier in Frage kommen können, aus einfachen, unbestreitbaren, natürlichen Gesetzen abzuleiten.
Den Lesern der Gartenlaube sie mitzutheilen, ist mein Zweck; ich muß aber zuvor bemerken, daß das, was ich sagen werde, durchaus nichts Anderes ist, als was die Wissenschaft, und als einer der Ersten der neulich von England aus in diesem Blatte verdächtigte Faraday, gesagt hat. Daß diese eine Wahrheit, die es eben nur giebt, früher ignorirt worden ist, ist die Schuld des Volkes und seiner Lust am Verhüllten, nicht die der Gelehrten.
So wie in B. breitete sich die Tischrückwuth überall aus. Erst lachte man über die Mittheilungen davon, hierauf sah man mit eigenen Augen, man drehte selbst, und durch das Gelingen dieses Versuches wurde der früher ungläubige Saulus zum fanatischsten Paulus gesotten, der sich gegen jede Belehrung mit Händen und Füßen sträubte. „Ich habe es früher auch nicht geglaubt, aber seit ich es selbst probirt habe, bin ich belehrt“; – daß Wissen etwas ganz Anderes sei, als Glauben, ist leider einem großen Theile der Gebildeten etwas noch Unbekanntes. Daß sich der Tisch dreht, leugnen wir nicht, wir wollen diese Drehung nur als nothwendig, als natürlich erklären.
Wir setzen voraus, daß unsre Leser mit der Art und Weise, wie die Kette gebildet wird, bekannt seien; denn obwohl gar nichts darauf ankommt, daß die kleinen Finger dabei aufeinander liegen, so ist es doch wichtig, daß beide Hände etwas entfernt vom Körper aufgelegt werden.
In dem Artikel über den Ring im Glase haben wir vorbereitungsweise erörtert, wie nach und nach, wenn unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt gerichtet ist, die Muskeln, ohne daß wir es bemerken, in den Zustand des Zitterns gerathen und kleine Stöße in regelmäßiger Aufeinanderfolge auf den darunter liegenden Gegenstand ausüben. Auf die Platte des Tisches wirken diese als ein Druck, der sich, je mehr im Verlauf der Zeit der Geist die Controle über die afficirten Muskeln verliert, mehr und mehr verstärkt. Es hilft gar nichts, daß alle Menschen betheuern, von ihren Händen ginge kein Druck aus. Ihr lieben Leute wißt das nicht! – eben so wenig, wie ich es, ehe ich mich davon überzeugte, geglaubt habe. Legt nur unter die Finger und unter den Ballen der Hand eine Lage weichen Teiges (etwa ½ Zoll dick), so wird es, wenn Ihr Euch die Augen verbinden wollt, damit Ihr unbefangen bleibt, nicht lange dauern: die Finger drücken sich in die weiche Masse ein, je länger, je tiefer; ebenso quetscht der Ballen der Hand den Teig auseinander. Oder bestreut den Tisch mit einer feinen Schicht Hexenmehles und bildet die Kette. Bei einer völlig ruhigen Lage der Hände darf das zarte Pulver nur an den von den Fingerspitzen berührten Theilen der Tischfläche verwischt werden; allein nach kurzer Zeit schon, noch lange bevor der Tisch sich dreht, macht es sich durch die Verwischung des Hexenmehles bemerklich, daß sich größere Berührungsflächen gebildet haben, weil sich der Druck, mit dem sich die Finger auflegen, vergrößert hat. Oder aber auch: man stelle auf den Tisch einen Teller, dessen Boden mit einer Schicht Quecksilber bedeckt ist. Bleibt der Tisch ruhig, so wird der klare Spiegel des Metalles keine Wellenringe zeigen; beim Tischrücken aber bleiben dieselben nie aus, im Gegentheil geräth dabei das Quecksilber häufig in solche Erschütterungen, daß es über den Rand des Tellers herausspritzt.
In den Fällen, in denen man durch diese Mittel einen Druck der Hände nicht angezeigt bekommt, bewegt sich der Tisch nie. Da man diese Erfahrung früher schon gemacht hat, ist man ihr auch schon aus dem Lager der Dreher begegnet. Teig und Hexenmehl sollte man nicht zwischen Tisch und Hand bringen, weil die Ueberleitung der Kraft, die durch die Kette erzeugt würde, dadurch gehindert sei. Auch gut – man ließ die Hände direct auf den Tisch legen, aber so, daß der Ballen auf einer rings um den Tisch laufenden, feststehenden Leiste ruhte, welche den Druck aufnehmen mußte, – so daß nur die Spitzen der Finger die Tischplatte berührten. Trotz der vollkommenen Leitung, die auf diese Weise hergestellt war, bewegte sich der Tisch nicht; und wir glauben in dem Angeführten genug Beweise gegeben zu haben, daß ein Druck von den Händen unwillkürlich ausgeübt wird, und daß dieser Druck die Ursache der Bewegung des Tisches ist, denn wo er wegfällt, oder wo er keinen Angriff findet, wie wenn man einen feinpolirten Tisch mit Oel begießt und darauf die Hände legt, da steht auch der Tisch still.
Wollen wir aber uns darüber klar werden, auf welche Weise aus den verschiedenen von jeder Hand ausgeübten Drucken die Drehung des Tisches hervorgeht, so müssen wir uns zuvor zweier Gesetze aus der Mechanik erinnern. (Die liebenswürdigen Leserinnen mögen das Folgende getrost überschlagen.) 1. Wenn zwei Kräfte gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen auf einen frei beweglichen Körper wirken, so ist ihre Wirkung, als ob auf denselben Körper nur eine einzige Kraft von der Größe und Richtung der Diagonale desjenigen Parallelogramms wirke, welches sich aus den beiden Kräften construiren läßt, wenn wir ihre Größe und Richtung durch Linien uns versinnlichen.
Drücken in Fig. 1 also P und Q zwei solche Kräfte aus, die auf einen in ihrem Durchschnittspunkt befindlichen Körper wirken, so sucht sich dieser in der Richtung von R und mit einer der Länge von R entsprechenden Geschwindigkeit fortzubewegen. Wenn auf einen Kahn gleichzeitig die Kraft des Windes und die Strömung des Wassers wirkt, so wird der Weg, den derselbe einschlagen will, weder in der Richtung des einen noch in der des andern liegen, sondern zwischen beiden. Der Schiffer, welcher über einen rasch fließenden Strom setzen will, segelt deshalb auch nicht gerade auf den Landungsplatz zu, sondern so, als ob er weiter oberhalb anlegen wollte. Die Richtung, die sein Kahn durch den Wind erhält, setzt sich mit der, die ihm das Wasser giebt, erst zu derjenigen zusammen, die ihn an den gewünschten Punkt bringt. Die aus zwei oder mehreren Kräften entstehende Mittelkraft nennt man die Resultirende und das betreffende Gesetz das Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte.[24] 2. Wenn eine Kraft auf einen Körper wirkt, so kann unbeschadet ihrer Wirkung der Angriffspunkt der Kraft nach irgend einem andern Punkte, falls dieser nur in der Kraftrichtung liegt, verlegt werden. Es bleibt sich gleich, ob, wenn an einem Seile mit einem gewissen Kraftaufwande gezogen wird, man diese Kraft in einer Entfernung wirken läßt, daß 3 Ellen Seillänge zwischen Kraft und Last liegen oder so, daß 10 Ellen dazwischen liegen. Genau so ist es mit dem Druck, man darf sich statt des Seiles nur eine Stange denken, in deren Längsrichtung der Druck ausgeübt wird. –
Um diese beiden Gesetze auf das Tischdrehen anzuwenden, haben wir in Fig. 2 zur Erläuterung eine Kette von zwei Händepaaren dargestellt. Die Hände, von welchen die Linien P und R ausgehen, gehören der Person an, die uns den Rücken zudreht, die andern beiden der ihr gegenübersitzenden. Durch diese Linien P und R einerseits und durch Q und S andererseits haben wir die von diesen Händen ausgeübten Druckkräfte sowohl nach ihrer Größe als nach ihrer Richtung bezeichnet. Um die Resultirende, durch welche die Wirkung je zweier solcher Kräfte ausgedrückt wird, zu finden, müssen wir das Parallelogramm zeichnen, zu diesem Behufe aber vorher die Kräfte in ihrer Richtung so verlegen, daß wir den gemeinschaftlichen Durchschnittspunkt als Angriffspunkt annehmen. Wir machen also AD = 1’ und AB = Q, ziehen wir nun aus D und B Parallelen zu Q und P, so wird durch den Durchschnittspunkt E der Endpunkt der Diagonale, welche die Resultirende bedeutet, bezeichnet. Die Kräfte P und Q wirken zusammen auf den Tisch genau so viel, als die Kraft AE allein wirken würde. Ganz analog, verfahren wir mit den beiden andern Kräften R und S und erhalten da eine ähnliche Resultirende FJ.
Diese beiden Resultirenden verhalten sich aber zum Tische gerade wie der Wind und die Strömung des Wassers zum Kahne. Sie vereinigen sich auch, trotzdem sie selbst schon jede für sich das Product zweier Kräfte sind, eben so zu einer einzigen, die wir wieder finden, wenn wir ihre Richtungen bis zum Durchschnittspunkt verlängern, an diesem Punkte die Kräfte auftragen, also KL = AE und KM = FJ machen, das Parallelogramm verzeichnen und in diesem die Diagonale ziehen. Durch die letztere wird die Gesammt-Wirkung aller vier Kräfte (P, Q, R, und S auf den Tisch ausgedrückt. Diese Gesammtwirkung ist genau so groß, als ob in K eine einzige Kraft von der Größe KN ihren Angriff hätte. In der Richtung KN hat der Tisch also das Bestreben, sich zu bewegen. Da aber der Angriffspunkt der Kraft nicht mit dem Mittelpunkte des Tisches zusammenfällt, so wird sich diese Bewegung einerseits als eine Drehung, andererseits aber, da auch die Richtung nicht mit der jedesmaligen Tangente an den Radius zusammenfällt, wie es bei einer lediglich auf Drehung wirkenden Kraft der Fall sein müßte, auch als eine gleichzeitige Fortschiebung zu erkennen geben.
Wollen wir das Verhältniß der Größe der Drehkraft zur Größe der Fortschiebungskraft bestimmen, so haben wir, umgekehrt wie früher, jetzt nur nöthig, aus der Diagonale das Parallelogramm zu construiren, die Resultirende also in zwei Kräfte zu zerlegen, von denen die eine in der Richtung der Tangente, die andere in der Richtung des Radius wirkt. Verlängern wir nämlich KN über K hinaus, und lassen die Kraft in irgend einem Punkte dieser Richtung angreifen, z. Exmpl. in T; ziehen wir von diesem Punkte, an welchem also Tu = –KN wirkt, den Radius und construiren wir, indem wir die Richtung der Tangente senkrecht auf den Radius in T errichten und aus u als dem Endpunkte der Diagonale eine Parallele zu dem Radius ziehen, das Parallelogramm, so haben wir in den Seiten desselben die Größen der Drehkraft sowie der Fortschiebungskraft an diesem Punkte. Die erstere w versucht den Tisch um den Mittelpunkt zu drehen in der durch den Pfeil angedeuteten Richtung, die letztere v ihn in der Richtung des Radius fortzuschieben.
Daß diese beiden Kräfte thatsächlich zur Wirkung gelangen, beweist die bei jedem Tischrücken zu beobachtende Erscheinung, daß der Tisch sich nicht blos um seinen Mittelpunkt bewegt, sondern ähnlich wie die Erde um die Sonne neben dieser rotatorischen Bewegung auch noch einer fortschreitenden Bewegung – dem sogenannten Wandern – unterworfen ist. Die einzige Bedingung des Eintretens der Bewegung ist die, daß die Kräfte der verschiedenen Hände nicht gerade von solcher Richtung und Intensität sind, daß sie sich gegenseitig in ihren Wirkungen afheben, wie etwa wenn zwei gleich starke Männer an einem Seile nach entgegengesetzten Seiten ziehen. Bei der Verschiedenheit der Temperamente aber, der Ungleichheit, mit der die rechte und die linke Hand aufgelegt werden, ferner bei dem Einfluß, den die Lage der Angriffspunkte der Kräfte in Bezug auf den Mittelpunkt hat, kann der Fall der Wirkungslosigkeit fast nie eintreten, weil nie alle Bedingungen zu gleicher Zeit entsprechend erfüllt werden.
An diesem Endpunkte des Beweises, daß der Bewegung des Tisches nicht eine neue Kraft, sondern nur der unwillkürlich von den erschlaffenden Muskeln ausgeübte Druck zu Grunde liegt, angelangt, bitten wir zunächst unsere Leser um Verzeihung, daß wir sie so lange mit abstracten, mathematischen Begriffen tractiren mußten. Es konnte uns aber nicht darauf ankommen, da, wo es unsere Aufgabe war, dem Cultus des Aberglaubens und der Unklarheit ein Ende zu machen, leicht mit flunkerndem Witz unterhalten zu wollen, sondern vielmehr, durch unumstößliche Beweise der einfachen Wahrheit Geltung zu verschaffen. Dazu ist es aber nöthig, daß man bis auf die letzten Gründe zurückgeht.
Das, was noch an dem Tischdrehen hängt, ist mit wenig Worten abgethan. – Zunächst wird Jeder einsehen, daß, wie sich die Kräfte zweier Händepaare schließlich zu einer einzigen, den Tisch bewegen wollenden Kraft zusammensetzen, dies auch der Fall sein wird, wenn die Kette von mehr als zwei Personen gebildet wird. Ferner daß auf die gegenseitige Lage der Finger gar nichts ankommt: daß, je sensitiver die am Tische Sitzenden sind (das heißt je unruhiger und faselhafter, um so eher die Kräfte zur Wirkung gelangen werden. Ebenso, daß sich die anfänglich nur geringen Kraftquanta nach und nach so summiren können, daß endlich dadurch ziemlich große Tische in Bewegung gesetzt werden können. Ist diese Bewegung einmal eingetreten, so sorgt die Hastigkeit, mit welcher alle Betheiligten daran Theil nehmen, schon dafür, daß sie nicht nur nicht aufhört, sondern sogar immer mehr beschleunigt wird.
Wir haben es bis jetzt nur mit dem rein Mechanischen des [25] Tischdrehens zu thun gehabt. Es ist aber dabei noch eine andere Seite zu berücksichtigen, die uns von selbst auf die Tischklopferei und die Psychographie überleitet.
Wie wir gesehen haben, ist die Drehung des Tisches eine festbestimmte durch das Uebergewicht, welches die Druckkräfte der Hände nach dieser Seite hin ausübten. Allein es tritt doch der Fall ein, daß unter gewissen Verhältnissen der Tisch sich plötzlich in entgegengesetzter Richtung bewegt, und dies scheint unserer ganzen Erklärung schnurstracks zuwider zu laufen – denn die Kräfte wirken ja nach einer bestimmten Richtung, für die kein Grund vorhanden zu sein scheint, sich so plötzlich umzukehren. Allerdings ist dieser Grund vorhanden, und er liegt in dem unbewußt eingreifenden Willen der Betheiligten. Nur wenn diese die Ansicht hatten, der Tisch werde sich nach der entgegengesetzten Seite hin drehen, tritt jener Fall wirklich ein, – mochte diese Ansicht, der unbestimmte Wunsch, nun hervorgerufen sein durch den Glauben an eine veränderte Wirkung der Kette, wie sie z. B. hervorgebracht werden sollte durch eine Veränderung der gegenseitigen Lage der kleinen Finger, oder durch ein anderes Vorurtheil. Von solch einer Absicht, über die sich die Dreher selbst keine Rechenschaft geben, geleitet, beginnen die Hände plötzlich und unbewußt nach der bestimmten Richtung hinzuarbeiten, und der Erfolg dieser Einwirkung des Willens ist ein so unfehlbarer und sicher eintretender, daß sich bald Regeln bildeten, wie für die Bewegungen des Ringes im Glase.
Es war nur eine ganz unwesentliche Abänderung, daß man den Tisch klopfen ließ; denn sobald die Krankheit in das Stadium getreten war, wo es den Leuten nur darauf ankam, bald den gewünschten Effect zu sehen, wartete man nicht mehr ab, bis sich der Tisch allmählich in Bewegung setzte, sondern das Schieben und Drängen begann schon, ehe die Erschlaffung der Muskeln eintrat. Von hier hat die Erklärung es auch nicht mehr mit Physikalischem, sondern lediglich mit Psychologischen, zu thun. Es ist charakteristisch, daß der Tisch so lange nicht klopfte, als man überhaupt vom Klopfen noch nichts wußte. Nachdem aber dieser Ton einmal angeschlagen war, fand man keinen Tisch mehr, der sich nach seiner frühern Art mit einer bescheidenen Wanderung durch die Stube begnügt hätte. Sie wollten auf einmal alle Propheten sein. Warum? Weil die Daranstehenden es wünschten, denn es war bei weitem unterhaltender, von einem hölzernen Geräthe vernünftige Antworten zu erhalten, als mit demselben im Zimmer herumzuturniren und sich von seinem Hintermann auf die Hacken treten zu lassen. Die Antworten, die der klopfende Tisch gab, wurden dirigirt, wie diejenigen die der Ring im Glase gab, entweder von Allen zugleich, wenn die Antwort eine bekannte war, oder nur von Einzelnen. Wenn Fragen gestellt wurden, auf die Niemand antworten konnte, so half zwar der Tisch immer noch aus der Noth, aber was er sagte, war jederzeit Unsinn.
Wohl zu unterscheiden von dem Tischklopfen ist der amerikanische Humbug, welchem zufolge sich Geister aus Schränken, Tischen etc. heraus durch Klopfen mit den „Medien“ unterhielten. Die Medien dieser Art waren Gauner, die das Klopfen durch eigenthümliche Bewegungen der Sehnen und Bänder ihrer Beine hervorbrachten. Sie sind bereits früher in der Gartenlaube nach Gebühr behandelt worden.
Das eigentliche Tischklopfen besteht in einem abwechselnden Kippen des Tisches nach einer Seite, das durch irgend eine Ungleichheit des Druckes hervorgerufen und durch die Nachgiebigkeit aller Hände unterstützt und fortgesetzt wird. Es ist das Mittel, wodurch die Spiritualisten, sofern sie nicht gemeine Betrüger sind, sondern nur urtheilslose Menschen, die sich selbst täuschen, in direkten Verkehr mit einer Geisterwelt treten zu können glauben. Da es für diese Leute durchaus nicht darauf ankommt, daß Vernunft in der Antwort sei, so befriedigt sie jede, und je blödsinniger der Ausspruch des Orakels uns erscheint, um so höher und verehrungswürdiger halten sie ihn. Andere lassen die Tische schreiben, das bedeutet, sie haben einem kleinen tischähnlichen Dreifuß an das eine Bein einen Bleistift gebunden, welcher, wenn der Tisch sich auf einem Stück Papier hin- und herbewegt, erkennbare Züge auf seiner Unterlage hinterläßt. Indem nun die „Medien“ eine Kette bilden, bewirken sie bald eine Bewegung des Tisches und Zeichnungen, welche schriftähnliche Züge, deren Enträthselung dem einen Gliede der Kette immer sehr leicht gelingt, vorstellen. Ob der Tisch fünfmal oder zehnmal zum Klopfen veranlaßt wird, oder ob er ein e oder ein k zu schreiben dirigirt wird, das bleibt sich, denken wir, gleich. Die Psychographen, so heißen die schreibenden Tische, sind nichts Anderes, als vom unbewußten Willen der Medien regierte Geräthschaften. Im Uebrigen glaube man von allem, was über die Wunder des Klopfens und Schreibens erzählt wird, nur, was man selbst gesehen hat, denn nebenbei sind jene Phantasten immer die größten Lügensäcke, die man unter der Sonne finden kann. Alles zur Verherrlichung ihres Glaubens.
Es ist traurig, daß es heut zu Tage noch auf dem Boden des Geistes und Gemüthes Winkel giebt, in denen sich die pure Dummheit, der Blödsinn und die Unsittlichkeit theils gegenseitig verwirren, theils von der Gaunerei sich die spärlichen Verstandesöffnungen noch vollends vernageln lassen. Unter den ersten Titel gehören die an und für sich unschädlichen Geistercitationen, die bald mit der Herzogin von Berry, bald mit einem Kirchenvater, bald mit dem frommen Schinderhanns sanfte Seelenaustauschungen pflegen. Unter den zweiten rangiren aber alle diejenigen redlichen Freunde, welche durch allerhand Taschenspielerwerke, zu denen selbst eine oberflächliche Bekanntschaft mit der experimentalen Physik so leicht die Mittel findet, den Zauber zu erhöhen wissen, und die es mehr auf Geld, als auf Gemüth und Gesinnung absehen. Solch Einer ist Ehren-Home, dessen Werke mit denen Cagliostro’s zusammengebunden werden müssen. So wenig man von uns eine genaue Erklärung aller Bosco’schen Kunststücke verlangen würde, – so gern wird man uns ein näheres Eingehen auf solche Praktiken erlassen, die nicht anders zu beurtheilen sind als die Werke der bekannten „ägyptischen“ und „indischen Magie.“
Ein Wildschützen-Stücklein.
Was den von Passau am linken Donauufer sich hinziehenden sogenannten böhmisch-bairischen Wald besonders charakterisirt, ist die tiefe Wildniß. In anderen Gebirgen findet man nur selten einen Platz, wo nicht die Thätigkeit des Menschen bemerkbar wird; in den Thälern klappert das Mühlrad, in dem Walde raucht der Meiler, und auf den Höhen tönt der Schlag der Aexte und das Kreischen der Sägen. Aber wer von diesen Höhen niederschaut, sieht unten nichts als einen endlosen, dunklen Wald, ruhig und ernst, und die tiefe Stille wird nur unterbrochen vom Klopfen des Spechts oder von dem heisern Krächzen der Raben. Lange wird dieses Bild nicht mehr dauern, bereits dringt man von allen Seiten in das Innerste dieser Waldungen, und Hunderte von Mühlen verarbeiten Millionen von Stämmen zu jenen kleinen, zum Schiffsbau bestimmten Bretern, die nach Regensburg und von da weg auf dem Canale nach Holland geführt werden.
Nachdem ich bereits den Arber, den König des Waldes, mit seinen beiden gefeiten Seen, wovon der größere auf seinem Grunde goldene Fischlein mit diamantenen Augen birgt, von denen jedes ein Königreich werth ist, und den finstern Rachel mit seinem düstern See besucht hatte, beschloß ich den Lusen zu besteigen, von dessen wunderlicher geognostischer Bildung ich viel Anziehendes gehört hatte. Ich begab mich deshalb nach H …, wo ich an dem dortigen Revierförster einen alten Bekannten hatte, dessen Beistandes ich versichert war.
Es war an einem schönen Augustmorgen, als wir mit dem ersten Grauen des Tages den interessanten Marsch antraten. Während der Nacht hatte sich trotzdem, daß der vorhergehende Abend wenig daran denken ließ, ein starkes Gewitter von heftigem Regen begleitet entladen. Der Boden war weich, und die aus den Thälern entsteigenden Dünste verhüllten die Höhen, aber die Lust war rein und frisch, und wir griffen wacker aus.
Als wir den Wald betraten, umgab uns noch keine Waldeinsamkeit; denn eine große Anzahl Arbeiter war hier auf einer langen Strecke beschäftigt, eine Straße den Berg hinauf zu führen, und das Krachen fallender Bäume und das Sprengen der Felsen donnerte uns entgegen. Es war ein Bild der Entweihung, und [26] ich bedauerte den schönen Wald in seiner Jungfräulichkeit, daß auch er den Angriffen einer geldgierigen materiellen Welt nicht widerstehen konnte. Bald wird deine Poesie vorbei sein!
Aber weiter und weiter stiegen wir, und immer wilder und unwegsamer ward die Gegend. Der Boden war stellenweise sumpfig, große Felsstücke lagen uns im Wege, die wir umgehen, oder halbvermoderte Bäume, über die wir hinwegklettern mußten. Das Kraut der Heidelbeeren reichte bis über unsere Kniee und netzte uns, während ihre schwarzen Früchte uns labten.
Es war 8 Uhr, als wir an einem kleinen Hochplateau ankamen, das die Wäldler wegen seiner starren wilden Eigenthümlichkeit sehr charakteristisch den „Eisbären“ nennen. Die Kälte verbunden mit den scharfen Winden, die den größten Theil des Jahres hier herrscht, ist der Grund, daß die abgestorbenen Stämme weniger bald faulen und stürzen. Wie man ihre Brüder tief unten, dahingestreckt auf ein weiches Blätterbett oder sanftes Moos, Baumleichen nennt, so könnte man diese, welche die Kälte vor Verwesung schützt, mit vollem Rechte die Mumien des Waldes nennen. Ihr Aussehen hat ganz das Kalte und Starre des Todes.
Als wir auf die freie Stelle hinaustraten, bot sich mir ein überraschender Anblick dar. Vor mir lag die Kuppe des Lusen, vielleicht die einzige ihrer Art. Man denke sich einen ziemlich hohen Berg aus lauter Steinplatten, die der Zufall über einandergeworfen hat, so sieht der Lusen aus. Zwischendurch am Fuß der Kuppe kriecht die Krummholzkiefer, während der bei weitem größere Theil ganz kahl ist. Eine feine dünne Flechtenart giebt dem ganzen Steinhaufen eine eigene metallische Färbung und verleiht diesem sonst so kahlen und öden Platze eine sonderbare Stimmung. Als wir die Kuppe bestiegen, sah ich, daß die übereinanderliegenden Platten fast ohne Unterschied einander gleich waren. Sie mochten anderthalb bis zwei Fuß dick und fünf bis sechs Fuß lang und fast ebenso breit sein, und deutlich konnte man durch die Klüfte hindurch die darunter liegenden sehen, sie waren sich alle gleich. Das Steigen selbst war gerade nicht gefährlich zu nennen, doch erforderte es Aufmerksamkeit, denn ein unvorsichtiger Tritt konnte leicht einen Beinbruch oder eine Verrenkung zur Folge haben. Von der Spitze aus hat man eine prächtige Umsicht sowohl auf die untenliegende große Waldmasse, als auch hinein in’s Böhmerland, aber der Wind, der von dorther bläst, ist kein guter, er schneidet schier den Leib durch und dringt bis in’s Mark, so daß wir bald Abschied nehmen mußten. Unten wieder angekommen, nahm ich mein Skizzenbuch und zeichnete mir den sonderbaren Gesellen, den ich kaum wieder sehen werde, in flüchtigen Umrissen, um mich manchmal an seinem unwirschen Aussehen ergötzen zu können.
Wir wandten uns nun zum Rückwege und bogen links ab. Je höher die Sonne emporstieg, desto beschwerlicher ward unser Marsch. Die Kühle des Morgens war verschwunden, und unter den Bäumen herrschte eine warme, dunstige Luft, die uns in Schweiß versetzte und ermattete. Dessenohngeachtet aber nahm mein Interesse für den mich umgebenden Wald nicht ab, und ich betrachtete mit wahrem Entzücken diese Waldriesen. Mein Freund führte mich auf den sogenannten Tummelplatz, einen großen mit Palissaden eingeschlossenen Raum, in dessen Mitte früher eine Diensthütte gestanden hatte, die aber niedergebrannt und von der nichts mehr zu sehen war als ein hoher Kamin, der trauernd auf die verbrannte Stätte niedersah. Wilddiebe hätten sie angezündet, erzählte mein Begleiter und sprach dabei von der Schönheit des Gebäudes und von den Annehmlichkeiten, die sie den Forstleuten bot, deren Revier so ausgedehnt und beschwerlich sei wie dieses hier. Was die Vortheile betraf, die sie gewährt hatte, so war ich weit entfernt, dieselben in Frage zu stellen, und was die Schönheit anbelangt, so mußte ich gestehen, daß sie in ihrer Zerstörung auch kein übles Bild darbot. Der wilde weite Wald ringsum, schwarz und finster, der von Palissaden umschlossene öde Raum, geräumig genug eine ganze Viehheerde bequem aufnehmen zu können, die niedergebrannte Hütte, von der blos die Grundmauern noch sichtbar waren, der rauchgeschwärzte Kamin und die halbverbrannten und verkohlten Balken ringsum – wahrlich, es gehörte wenig Phantasie dazu, um sich eine von blutdürstigen Wilden zerstörte Wohnung eines Ansiedlers in den Urwäldern Amerika’s zu denken. Und während mir dergleichen Gedanken durch den Sinn zogen, sah wirklich das Gesicht eines Wilden zur Umzäunung herein, kupferfarben und mordlustig vielleicht. Mit einem Ausrufe der Ueberraschung zeigte ich darauf hin.
„Das ist mein Waldaufseher“ sagte mein Freund, „ich habe ihn mit den Hunden und ein paar Treibern hieher bestellt; wir wollen sehen, ob uns da unten an der Seebacher Aue nicht ein Bock anspringt.“
Nickl, so, glaube ich, hieß der Mann, war, wenn auch kein Hurone aus den Urwäldern Amerika’s, doch jedenfalls ein gezähmter Wilder aus dem bairischen Walde. Er war nicht groß von Gestalt, aber die breite Brust, die sehnigen Arme und stämmigen Beine zeigten von einer körperlichen Kraft, die allen Widerwärtigkeiten, mochten sie von den Launen des Wetters oder von den Tücken der Menschen kommen, Trotz bieten konnte. Das Gesicht war fast kupferfarben roth und ebenso die von Haaren bedeckte Brust, die das offene Hemd schauen ließ. Uebrigens war sein Blick freundlich und sein Auge grau und hell, aber unruhig, immer suchend und spähend. Den eisengrauen Locken nach zu schließen, die unter dem dicken Filzhute hervorguckten, mußte er die Fünfziger bereits stark angetreten haben.
Er betheiligte sich sogleich an dem Gespräche und indem er auf die Brandstätte wies, sagte er: „Da haben uns die Strauchdiebe eine schöne Bescheerung angerichtet. Das schöne Haus! Das hätten Sie sehen sollen, wie wohnlich und ruhesam es da war. Es ist es ein wahres Kreuz: jetzt, wo das Wild wieder mehr wird, treiben auch die Wilddiebe wieder ihr Handwerk.“
„Wild und Wilderer,“ sagte der Förster, sind unzertrennlich; aber neuerdings wird die Sache wieder recht ernstlich. Vor ohngefähr vierzehn Tagen wurden ein College von mir und sein Waldaufseher, als sie unvermuthet auf eine solche Bande stießen, ohne Weiters niedergeschossen, und es steht sehr in Frage, ob sie noch aufkommen. Sie sind Beide Familienväter, und letzterer hat neun Kinder. Ein Anderer, da drüben,“ und dabei wies er mit dem Daumen über die Achsel zurück und nannte den Ort, „trägt noch das gehackte Blei mit sich herum, und sein Gehülfe hat einen Schuß im Schenkel. Zwar schoß dieser auch einen nieder, allein man konnte trotz des starken Schweißes den Kerl nicht ausfindig machen.“
„Ja, und diesen Morgen hat mir der Rottmeister da unten am Steinbrückel erzählt, daß letzten Sonntag drüben in Schönau die beiden Fuchsgruber, Vater und Sohn, geschossen heimgebracht wurden. Die haben’s lang verdient, aber der Krug geht so lang zum Brunnen bis er bricht.“
„Das ist ja ein förmlicher Krieg, den Ihr da führt,“ rief ich entsetzt aus, „läßt sich denn dem Unwesen nicht steuern durch fleißiges Begehen der Orte, wo diese Frevler ihr Unwesen treiben, und durch genügende Vermehrung des Forstschutzpersonales?
„Nicht möglich,“ erwiderte mein Freund. ”Wenn diese Diebe von hiesiger Gegend wären, so dürfte das am Ende nicht schwer sein, aber so sind es meist Bursche ganz unten herauf aus dem Wegscheid’schen oder aus dem obern bairischen Wald, die sich zusammenthun, vierzehn Tage eine ganze Waldstrecke, Staats- und Privat-Waldungen durchjagen, was sie bekommen können, mitnehmen und dann monatelang nichts mehr von sich hören lassen.“
„Da hilft nichts als so schnell als möglich der Erste am Drücker zu sein,“ sagte Nickl, indem er den Hahn überzog und ihn wieder in die Ruhe zurückfallen ließ. Und dabei hatte er wirklich etwas von indianischer Mordlust im Gesichte.
„Ihr würdet also,“ erwiderte ich, „einen Menschen niederschießen, auch wenn Ihr es ungesehen von ihm thun könntet, also ohne eigentliche Nothwehr?“
„Ob ich es thun würde!“ sagte Nickl ganz erstaunt ob meiner Frage, „ganz gewiß werde ich ihn niederschießen, wenn er sich bewaffnet in unserm Reviere blicken läßt. Und was die Nothwehr betrifft, so ist meinen Begriffen nach unser Einer immer im Zustande der Nothwehr.“
„Nickl hat Recht,“ sagte mein Freund, „denke Dir zum Beispiel da oben am Lusen einen verwundeten Menschen, ob der wohl nach Hause käme? Ich glaube nicht; überdies kann Nickl ein Lied davon singen.“
„Ein garstiges Lied das, es hat mir lange in den Ohren geklungen,“ erwiderte der Andere.
„Halt, Alter,“ sagte ich, „heraus mit dem Liede.“ Und Nickl, ohne sich weiter bitten zu lassen, erzählte: „Als die Geschichte, die ich erzählen will, sich zutrug, war ich als Waldaufseher da draußen, weiter der Donau zu. Wir hatten nebst einem prächtigen Wildstand in unserm Reviere auch einige Bergbäche mit den herrlichsten Forellen, die ich theilweise [27] gepachtet hatte und aus denen ich ziemlich Erkleckliches löste. Um so verdrießlicher war es mir, als ich seit einiger Zeit Spuren von Ottern bemerkte. Es wird Ihnen bekannt sein, welch’ erheblichen Schaden so ein Räuber anzurichten im Stande ist. Ich hatte deshalb fleißig die Eisen gelegt und ging regelmäßig des Morgens hinaus, um nachzusehen.
„Eines Morgens bemerkte ich denn, daß eines derselben fehlte. Die Stelle, auf der ich es gelegt hatte, war ringsum zerwühlt und aufgerissen, die freilich etwas alte Kette war abgesprengt und der zurückgebliebene Theil derselben um eine ganz zerzauste Weidenstaude geschlungen. Augenscheinlich hatte sich das Thier schlecht gefangen, die Kette abgesprengt und war, um sich seines vermeintlichen Feindes zu entledigen, seinem natürlichen Elemente zugeflüchtet.
Aber da das Eisen schwer war, mußte es ersaufen. So dachte ich, als ich alles übersah. Ich legte deshalb Gewehr und Tasche weg, stieg in das Wasser hinab, das hier etwas tiefer war und einen kleinen Tümpel bildete, und suchte mit dem langen Stocke nach dem Thiere. Umsonst, ich konnte nichts entdecken. Ich ging darauf eine Strecke weiter hinauf, in der Vermuthung, daß es aus dem Grunde weiter gelaufen sein möchte. Plötzlich hörte ich in einer kleinen Einbuchtung ein starkes Geräusch, das in einem Schnauben und in dem eigenthümlichen Pfeifen bestand, welches die Otter ausstößt, sobald sie gereizt wird oder verwundet ist. Ich stieg sofort aus dem Bache und ging etwa noch fünfzehn Schritte seitwärts an einem sogenannten Altwasser hinauf, und erblickte denn auch alsbald eine gewaltige Otter, die größte die ich je sah, wie sie um sich schlug und wühlte und sich wie toll gebehrdete. Mit leichter Mühe schlug ich sie todt. Das Eisen hatte augenscheinlich, als sie Verrath witternd aufspringen wollte, sie unglücklicker Weise noch mit der Ruthe gefangen, das Thier hatte sich, wie ich vermuthet hatte, in das Wasser geflüchtet und, als es merkte, daß es, vom schweren Eisen zu Boden gezogen, ersaufen müßte, auf dem Grunde fortlaufend sich wieder dem Lande zugewendet und war in dieser „Altern,“ wie wir es nennen, wieder herausgekommen, wo es sich des Eisens zu entledigen suchte. Die Ruthe war beinahe abgedreht, und wäre ich nur um eine halbe Viertelstunde später gekommen, so wäre das Thier entwischt. Wie gesagt, der Bursche war der größte, den ich je gesehen hatte; er maß von der Schnauze bis zur Schwanzspitze 5 Fuß, und ich schätzte sein Gewicht auf 20 Pfund.
„Den Prachtkerl auf die Schulter nehmend, wollte ich nunmehr Gewehr und Tasche holen, allein wer beschreibt mein Erstaunen, als Beides verschwunden war! Daß sie gestohlen waren, unterlag keinem Zweifel, ich sah die Fußtritte der Diebe im thauigen Grase und ward ganz wüthend, wenn ich an den Spott dachte, der mir zu Theil werden würde, wenn ich ohne Gewehr nach Hause käme. Ohne weiter an das Gefährliche meines Beginnens zu denken, folgte ich rasch der Fährte. Umsonst, auf dem abgefallenen Laube im Walde war jede Spur bald verloren. Nun eilte ich einen kleinen Hügel hinan, der, mit einigen Bäumen bewachsen, niederes Buschholz hatte, um von dort aus den kecken Dieb zu erspähen. Kaum war ich jedoch auf der Höhe angelangt und in das Gebüsch eingetreten, als es rechts und links neben mir knackte und ich mit einem Ruck zu Boden gerissen war. Mein Rufen war vergebens, ich hatte nichts als meine Fäuste, denn selbst das Messer steckte in der gestohlenen Waidtasche, und meine Gegner waren sechs starke Männer. Man band mir die Hände auf den Rücken zusammen und schlang die Leine um einen nahen Baum, so daß ich mit dem Rücken an dem Stamm lehnen mußte.
„Während ich so dastand, hatten sich die Burschen etwas weiter zurückgezogen und berathschlagten, was sie mit mir anfangen sollten. Einer derselben, der Haupträdelsführer wie es schien, und derselbe, der sich meines Gewehrs und meiner Tasche bemächtigt hatte, flüsterte leise den Uebrigen etwas zu, worauf das Corps in ein schallendes Gelächter ausbrach. Sie ließen mich nicht lange über den Grund ihrer Heiterkeit im Ungewissen. Vorne am Hügel, wo ein Felsen senkrecht abwärts fiel in das Thal, standen zwei ziemlich starke Birken nahe aneinander. Auf jede derselben stieg nun einer der Burschen, und indem sie sich an einem der oberen Zweige anhaltend herabließen, bogen sie mit Hülfe der Untenstehenden beide Bäume herab fast bis auf den Boden. Dann schnitt man mich vom Baume los, zog mich unter die beiden Birken hinein und band mich mit je einem Arm und Fuß an die herabgebogenen Aeste. Als ich gehörig befestigt war, ließen sie beide Bäume, unter einem schrecklichen Jubelgeschrei in die Höhe schnellen. Ich glaubte gegen den Himmel hinauf geworfen zu werden, und die Prellung, die im Augenblicke erfolgte und mir fast alle Gelenke zerriß, preßte mir einen furchtbaren Schmerzensschrei aus. Denken Sie sich meine Lage. Da hing ich zwischen Himmel und Erde, an immer schwankenden Aesten über einem Abgrund von gewiß fünfzig Fuß Tiefe. Ich rief aus Leibeskräften, aber meiner Stimme antworteten anfangs nur die Spottreden meiner abziehenden Feinde und dann blos noch das höhnende Echo. Der Schmerz an den Gelenken war furchtbar.
„Als der Abend herankam, zog ein Wetter am Himmel herauf, der Wind blies aus vollen Backen, ich flog auf und nieder, die Bäume bogen sich, und ich hoffte jede Minute, daß sie brechen möchten, denn ich hatte vor Schmerz nur den einen Wunsch zu sterben, und ich wäre damals froh gewesen, wenn mich der Sturm in die Tiefe hinabgeschleudert hätte. Je dunkler es wurde, desto heftiger wüthete der Sturm, der Regen goß in Strömen nieder, der Donner brüllte und blendende Blitze fuhren um mich her. Endlich erbarmte sich eine mitleidige Ohnmacht meiner.
„Als ich wieder zu mir kam, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, Alles war frisch und grün und glänzend, aber ich schwebte, wie eine arme Seele zwischen Seligkeit und Verdammniß, zwischen Himmel und Erde. Je weiter die Sonne emporstieg, desto gräßlicher ward meine Lage. Ihren glühenden Strahlen ausgesetzt, glaubte ich verbrennen zu müssen, mein Gehirn kochte und das Blut, das in meinen Adern tobte, drohte mir den Kopf zu zersprengen. Lange konnte dieser Zustand nicht mehr dauern, und in den lichten Augenblicken, die anfingen immer seltener zu werden, suchte ich so gut wie möglich meine Gedanken zu sammeln, um als guter Christ aus der Welt zu scheiden.
„Da tönte mit einem Male ein helles Pfeifen an mein Ohr, so fröhlich als nur je eines aus der Brust eines herumlungernden Strolches hervorkam. Ich strengte mich mit aller Gewalt an zu sehen, woher diese Töne kamen. Nicht lange, so erschien unter den Bäumen da unten das Menschenkind, und ich erkannte in ihm einen unserer ärgsten Holzdiebe, den ich schon einige Dutzend Male zur Anzeige gebracht und öfters eigenhändig abgestraft hatte. Es war der Gabelmacher Lenz wie er leibte und lebte, mit seiner Pelzkappe, die Hände tief in den Taschen seiner blauen, zwilchenen Hosen. Augenscheinlich lungerte der Kerl da oben herum in der Absicht, sich ein Stück Holz auszusuchen, das er bei nächster Gelegenheit holen konnte, und mochte dabei wohl nicht ahnen, daß er so genau beobachtet werde. Sonst war mir der Kerl, wenn er mir auf der Landstraße begegnete, ein Dorn im Auge, aber jetzt erschien er mir als rettender Engel. – – Ich versuchte zu rufen, aber ein neuer Schrecken durchbebte mich, ich konnte mit aller Anstrengung keinen Laut hervorbringen, der Hals war mir wie zugeschnürt.
Schon begann sich der Gabelmacher in immer weitern Kreisen von mir zu entfernen, in wenigen Augenblicken vielleicht war er verschwunden und ich war rettungslos verloren. Da strengte ich alle meine Kräfte an und stieß ein heiseres Gebrüll aus. Ich konnte gerade noch erkennen, wie der Lenz unten erschrocken bei Seite sprang und wie er dann zu mir heraufsah, dann schwanden meine Sinne und ein heftiger Blutsturz war die Folge dieser Anstrengung. Der Gabelmacher wäre, wie er mir nachher erzählte, beinahe vor Schrecken davongelaufen, wie er da oben einen Menschen hängen sah, und dann wäre ich wohl sicher verloren gewesen. Aber er hatte sich rasch besonnen und war zu einigen Holzhauern hinabgeeilt, die eine Stunde weiter unten beschäftigt waren, und hatte diese heraufgeholt, worauf sie mich dann so gut als möglich aus meiner Lage erlösten und in’s Dorf hinunterbrachten. Der herbeigerufene Arzt erklärte es für ein wahres Wunder, daß ich so lange dieser Qual hatte widerstehen können, und behauptete, daß ich, wenn dieser Blutsturz nicht eingetreten wäre, ohnfehlbar hätte ersticken müssen. Zeitlebens ein Krüppel würde ich aber wohl bleiben, meinte er. Und wirklich war mein Zustand schlimm genug. Mein linker Arm war ganz aus der Achselhöhle gerissen und an den beiden Handgelenken das Fleisch bis aus die Knochen durchschnitten; hier sehen Sie noch die Narbe davon. Gegen alles Erwarten gelang aber meine Heilung, und mit allem Respecte vor dem Doctor, der sein Möglichstes that, mich wieder herzustellen, so sehen Sie doch, wie ihn seine Weisheit diesmal im Stiche ließ.“ Damit machte Nickl einen Kreuzsprung, der einem Jongleur Ehre gemacht hätte. „Und da jetzt meine Geschichte zu Ende ist,“ fuhr er fort, „dächte ich, ich ginge mit meiner Mannschaft da links [28] hinab, die beiden Herren können sich dann im Thannet da unten anstellen.“ Mit diesen Worten entfernte er sich.
„Und ist die Geschichte wirklich wahr?“ sagte ich, als Nickl fort war, „und war es den Gerichten nicht möglich, eine Spur von den Thätern aufzufinden?“
„Was die Wahrheit der Geschichte betrifft, so ist darüber kein Zweifel. Uebrigens ist Nickl nicht der Mann dazu, die Gerichte viel mit seinen Angelegenheiten zu plagen. Er ist oder war wenigstens, wie man sagt, Kläger, Richter und Vollstrecker des Urtheils in eigener Person. Von allen denen, die damals beisammen waren, ist keiner mehr übrig, um über die Geschichte zu lachen.“
„Du wirst doch nicht sagen wollen, daß er alle erschossen habe?“ sagte ich ganz entsetzt.
„Das sage ich auch nicht,“ sagte mein Gefährte, indem er zweideutig die Achsel zuckte. „Genug, es ist eben keiner mehr da! Doch halt, da bleib stehen, hier kannst Du am ersten zum Schusse kommen, wenn Du überhaupt noch Dein altes Glück hast.“
Ich lächelte bei dieser Anspielung auf unsere früheren gemeinschaftlichen Jagden, und wie er vorausgesagt hatte, schoß ich bald darauf einen schönen Sechserbock. Gleich darauf knallte weiter unten ebenfalls ein Schuß.
Während Nickl, der inzwischen einen Rundgang gemacht, den Bock aufbrach, erzählte er, daß ihm unten beim Durchgehen ein kleiner fremder Hund angesprungen sei, der so eifrig jagte, daß er ihn nicht eher gewahrte, bis er ihn anrief.
„Das ist wieder einer von den Böhmischen drüben,“ sagte mein Freund, „wir müssen ihnen doch noch einige wegschießen, sie jagen gar zu oft herüber. Hättest ihn schießen sollen.“
„Ja, ich wollte das auch und war schon mit dem Gewehre aufgefahren, aber es war so ein nettes, gelbes Hündchen, und wie er dastand, einen Vorderfuß in die Höhe und den Kopf etwas bei Seite geneigt, und mir gar so treuherzig in die Augen sah, als wollte er sagen: „Nun sei nur nicht böse, es ist ja weiter nichts als ein bloßer Irrthum, daß ich da bin,“ da konnte ich es nicht über’s Herz bringen zu schießen. Und als ich das Gewehr wieder absetzte, sprang es wieder zurück, und jetzt bin ich froh, daß ich es nicht gethan habe.“
Ich kann’s nicht leugnen, ich hatte eine Art Abneigung gegen Nickl gefaßt, weil ich ihn für einen Menschen ohne Gefühl hielt. Dieser kleine Zug seiner Gutmüthigkeit machte Alles wieder gut. Der Mensch hatte wirklich ein Herz.
Nun betraten wir die Seebacher Aue. Ein drei Viertelstunden langer Pfad, der so schmal war, daß nicht Zwei nebeneinander gehen konnten, führte durch dieselbe. Links und rechts steht undurchdringliches Gebüsche, stachliges Brombeergesträuch und Dornhecken machen ein Eindringen in dasselbe unmöglich und sperren jeden Luftzug. Die dem sumpfigen Boden entsteigende Feuchtigkeit bei einer Hitze von 24° R. machte diesen Weg zu einer anstrengenden Wanderung, um so mehr, als bereits Mittag vorüber und wir seit drei Uhr Morgens auf den Füßen waren. Ich glaubte wahrhaftig neugeboren zu sein, als ich diese Hölle hinter mir hatte und wieder den schattigen freien Hochwald betrat.
Noch eine Stunde Wanderns, und dann sahen wir wieder Culturland. Da standen braune, schindelgedeckte Häuser in der Mitte grünender Wiesen zwischen schattigen Obstbäumen, und von der Höhe jenes kegelförmigen Berges blickt freundlich das Dörfchen Kreuzberg hernieder und gewährt mit seinem spitzen Kirchthurm einen gar lieblichen Anblick, während links unterhalb die Schönbrunner Glashütte mit ihren langen, braunen Gebäuden zu beiden Seiten des schloßartig aussehenden Wohnhauses sichtbar wird. Hier wird ein ausgezeichnetes Bier gebraut.
Erst spät, als der Vollmond hoch am Himmel stand, dachte ich an den Heimweg und trennte mich von meinem Freunde und Nickl, dem Huronen, der inzwischen dem Gerstensafte tüchtig zugesprochen hatte, und mir unter kräftigem Handschütteln versicherte, er würde, wenn es darauf ankäme, mir zu Liebe noch ein Maß trinken.
Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher.
Je mehr in neuerer Zeit auf dem kirchlichen Gebiete und besonders innerhalb des Protestantismus eine dem Geiste desselben widersprechende Hierarchie sich geltend macht, Bildung und Fortschritt für Abfall vom Glauben, Toleranz und Duldung für mattherzige Schwäche gehalten, die Umkehr der Wissenschaft und ein beschränkter Pietismus offen und laut gepriesen und gelehrt wird, um so nothwendiger dürfte die Erinnerung an einen Mann und Theologen sein, dessen ganzes Leben und Wirken ein herrliches Zeugniß dafür ablegt, daß Humanität und Wissen mit der wahren Religion stets Hand in Hand geht, daß das Christenthum sich mit echter Bildung nicht nur verträgt, sondern Beide sich gegenseitig heben und unterstützen, daß der Protestantismus Verfolgungssucht und jede Inquisition ausschließt, wenn er nicht seinem Ursprung und seiner innersten Natur zuwiderhandeln und somit sich selbst aufheben und vernichten will.
Dieser wahre Bekenner des Evangeliums war der berühmte Schleiermacher, gleich groß als akademischer Lehrer, als protestantischer Theolog, als christlicher Redner, als geistreicher Schriftsteller und bedeutender Mensch. Er wurde am 21. November 1768 zu Breslau geboren, wo sein Vater als reformirter Feldprediger lebte. Seine Mutter war die jüngste Tochter des Hofpredigers Stubenrauch, eine überaus fromme Frau, der er bei den vielen Abhaltungen seines Vaters die erste Jugenderziehung verdankte. Schon mit fünf Jahren besuchte das frühreife Kind die unter der Direktion des Hofpredigers Heinz stehende Friedrichs-Schule, wo er sich durch sein leichtes Gedächtniß vor den meisten Schülern auszeichnete. Die daraus entstehende Eitelkeit und eine gewisse Heftigkeit des Temperaments bekämpfte die zärtliche Mutter hauptsächlich durch religiöse Vorstellungen, eine planmäßige Gleichmüthigkeit und einleuchtende Gerechtigkeit. Noch mehr wurde sein Stolz durch eigene Erfahrung gedemüthigt, indem er bald die Mangelhaftigkeit seines eigenen Wissens einsehen lernte und an der gepriesenen Größe seiner natürlichen Fähigkeiten zweifelte, weil er sich die einfachsten Dinge, wie das Wasser kocht oder friert, nicht zu erklären vermochte. Seitdem schwebte er in fortwährender Angst, daß auch Andere die Entdeckung seiner Unwissenheit machen würden.
Unterdeß wurden Schleiermacher’s Eltern nach Pleß in Oberschlesien und von da nach der in der Nähe befindlichen Colonie Anhalt versetzt. Hier genoß er einen nur mangelhaften Unterricht; je geringer aber seine wissenschaftlichen und besonders seine Sprachkenntnisse waren, einen desto reicheren Schatz von Sachkenntnissen sammelte er dagegen auf dem Lande durch die Bemühungen seiner Mutter ein. Schließlich aber fand auch der zwölfjährige Knabe den geeigneten Lehrer in einem Schüler Ernesti’s, der sich große Verdienste um seinen Zögling erwarb. Er belebte und weckte Schleiermacher’s Eifer für die gelehrten Sprachen und übte ihn zuerst in der Kunst, über einen Gegenstand ordentlich nachzudenken und das Gedachte zu Papiere zu bringen. Für die Selbstständigkeit und Originalität seines Geistes legte der Umstand Zeugniß ab, daß er lange Zeit all die alten Schriftsteller für untergeschoben hielt, ohne jedoch diesen Skepticismus laut werden zu lassen, da der Zwiespalt zwischen seinem Ruf eines guten Kopfes und dem Gefühle seiner eigenen Befähigkeit ihn äußerst verschlossen machte.
Während dieser Zeit hatten die Eltern auf einer Reise die Erziehungsanstalt der Herrnhutergemeinde in Niesky in der Oberlausitz kennen gelernt und beschlossen, Schleiermacher und seinen jüngeren Bruder derselben anzuvertrauen. Der Vater hatte ihm schon öfters von rein sittlichen Verderben der meisten großen Schulen und den gefährlichen Bekanntschaften auf denselben erzählt, dagegen die unschuldige Frömmigkeit und die weise Mischung von Unterricht und gemeinsamer Erholung in dem Brüderinstitut in so lachenden Farben gemalt, daß der Knabe mit Ungeduld dem Tage seiner Abreise entgegensah. Dieser verzögerte sich viel zu lange für seine Ungeduld, da die Einwilligung der Vorsteher nicht so leicht zu erlangen war, und außerdem, wie bei allen großen und kleinen Angelegenheiten der Herrnhuter, erst die Entscheidung durch das Loos stattzufinden hatte.
Bis zu dieser Entscheidung hielt er sich mit seinen Eltern in einer andern Brüdercolonie zu Gnadenfrei auf, wo der Grund zu einer Herrschaft der Phantasie in Sachen der Religion für ihn gelegt wurde. Schon in seinem elften Jahre kostete es dem lebhaften [29] Knaben schlaflose Nächte, daß er bei Berechnung des Verhältnisses zwischen den Leiden Christi und der Strafe, deren Stelle dieselben vertreten sollen, kein beruhigendes Facit finden konnte. Hier in Gnadenfrei wurden durch die Vorträge der Brüder, denen er beiwohnte, neue Qualen in seiner Seele hervorgerufen. So lernte er aus eigener Erfahrung die Gefahren eines schwärmerischen Pietismus und den angstvollen Zustand des Zweifels kennen, den er durch eigene Kraft siegreich überwand. – Vorläufig aber faßte er eine solche Vorliebe für die Brüdergemeinde, daß er ihr unter jeder Bedingung angehören und lieber in ihr als ehrsamer Handwerker leben, als außerhalb derselben den Weg zum gelehrten Ruhm betreten wollte, für den ihn sein früherer Lehrer in Pleß so zu enthusiasmiren gewußt hatte.
In solcher Verfassung erfüllte ihn die Gewährung seines Herzenswunsches mit unendlicher Freude; er wurde im Jahre 1783 in das Pädagogium zu Niesky und später in das Seminarium zu Barby aufgenommen, um sich zum Geistlichen der Gemeinde auszubilden. Mit großem Fleiße widmete er sich in Gemeinschaft mit seinem talentvollen Freunde Albertini, dem nachmaligen Bischof der Brüder, dem Studium der griechischen Sprache. Trotz ihrer mangelhaften Vorkenntnisse lasen, oder verschlangen vielmehr die Jünglinge die ewigen Dichtungen eines Homer, Hesiod, Theokrit, Sophokles, Euripides und Pindar. So legte Schleiermacher hier den Grund zu seiner classischen Bildung, zu der wunderbaren Verschmelzung des christlichen Lebensinhalts mit hellenischem Schönheitssinn in seiner vielseitigen, reichbegabten Natur. – Aber zugleich entwickelte das tiefere Studium des Alterthums und die damit verbundenen Fortschritte in seiner Seele einen heftigen Gährungsproceß. Je mehr er über sich nachdachte und seine Umgebung beobachtete, desto klarer wurde ihm der Zwiespalt zwischen seiner inneren Ueberzeugung und der zwar frommen, aber beschränkten Weltanschauung und Lebensordnung der Brüdergemeinde, bis er endlich zu dem Entschlusse gelangte, dieselbe zu verlassen. Er schrieb zu diesem Zwecke an seinen Vater, dem er offen den Zustand seiner Seele darlegte.
„Ach, bester Vater,“ sagte er unter Anderm in diesem charakteristischen Briefe, „wenn Sie glauben, daß ohne den Glauben, den Sie als ein Regale der Gottheit bezeichnen, keine, wenigstens nicht die Seligkeit in jenem, nicht die Ruhe in diesem Leben ist, als bei demselben, und das glauben Sie ja, o, so bitten Sie Gott, daß er mir ihn schenke, denn für mich ist er verloren. Ich kann nicht glauben, daß der ewiger wahrer Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte; ich kann nicht glauben, daß sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nöthig gewesen; denn Gott kann die Menschen, die er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind. Ach, bester Vater, der tiefe durchdringende Schmerz, den ich beim Schreiben dieses Briefes empfinde, hindert mich, Ihnen die Geschichte meiner Seele in Absicht auf meine Meinungen und alle starken Gründe für dieselbe umständlich zu erzählen, aber ich bitte Sie inständig, halten Sie sie nicht für vorübergehende, nicht tief wurzelnde Gedanken; fast ein Jahr lang haften sie bei mir, und ein langes, angestrengtes Nachdenken hat mich dazu bestimmt.“ – Zugleich bat der Sohn um die Erlaubniß, die Universität Halle besuchen zu dürfen, wo ein Bruder seiner indeß verstorbenen Mutter Professor der Theologie war. Mit tiefem Schmerz, aber weit entfernt von fanatischem Zorn empfing der gläubige Vater das Bekenntniß des von Zweifeln heimgesuchten Jünglings, das er von seinem Standpunkte aus zu widerlegen versuchte. – „Und nun, mein Sohn,“ schließt der nicht minder charakteristische Brief, „den ich mit Thränen an mein Herz drücke, ach! mit herzschneidender Wehmuth entlass’ ich Dich, und entlassen muß ich Dich – da Du den Gott Deines Vaters nicht mehr anbetest – nicht mehr vor einem Altar mit ihm kniest – aber noch einmal, mein Sohn, ehe wir von einander scheiden – ach, sage mir doch: was hat denn der arme, sanftmüthige und von Herzen demüthige Jesus Dir gethan, daß Du nun seiner Erquickung, seinem Gottes-Frieden entsagest? war Dir denn nicht wohl bei Ihm, wenn Du Deine Noth, den Jammer Deines Herzens Ihm klagtest? Und nun willst Du für Gottes Langmuth und Geduld, mit der Er Dich trug, Ihn verleugnen? den Schwur brechen, den Du so oft vor Ihm thatest: bei Dir Jesu will ich bleiben? – warum willst Du von Ihm gehn – hast Du keine Lebensworte bei Ihm vernommen?“ – Nachdem er die Erlaubniß seines Vaters endlich erlangt, schied Schleiermacher aus der Brüdergemeinde, um die Universität Halle unter keineswegs günstigen Umständen zu beziehn. Er selbst fertigte über seine Ausgaben folgendes interessante Rechnungsschema an von dem, was ein Student in Halle damals brauchte: Holz jährlich 12 Gulden. Miethe und Aufwartung 24 Gld. Mittagstisch 40 Gld., Frühstück und Abendbrot 48 Gld., wovon er, da er keinen Kaffee trank und des Abends nicht viel aß, die Hälfte noch zu „retranchiren“ hoffte; Friseur 8 Gld., ditto Stiefelputzer und ditto Wäscherin. Dazu kamen noch Collegiengelder und Kleidungsstücke, mit denen er, wie er klagte, sehr schlecht versehn war. Zum Glück fand er an dem Bruder seiner Mutter sowohl eine leibliche wie auch eine geistige Stütze. Durch diesen wackern Verwandten und gelehrten Theologen kam auch eine gewisse Ordnung in sein lückenhaftes Wissen. Schleiermacher war eigentlich ein Autodidakt und theilte die Fehler und Vorzüge dieser Menschenrasse, einen gewissen Eigendünkel, den er erst später ablegte, aber auch eine gewisse geistige Selbstständigkeit, indem er aus der Universität meist nur Thatsachen und Data kennen lernen wollte, um daran seine eigenen Reflexionen anzureihen. Mit besonderer Vorliebe wandte er sich der Geschichte zu und zwar, was sich eigentlich als sein höchstes Bedürfniß zeigte, der Geschichte der menschlichen Meinungen. [30] Dadurch wurde er vor einer einseitigen theologischen Auffassung behütet, indem er das Walten der Gottheit in den großen historischen Ereignissen erfaßte.
Nur zwei Jahre war es ihm vergönnt, die Universität zu besuchen; nach Beendigung seiner Studien folgte er dem Oheim Stubenrauch, der seine Professur mit einer Predigerstelle zu Drossen in der Neumark vertauscht hatte, um sich unter dessen specieller Leitung für sein Examen vorzubereiten. Durch Empfehlung des Hofpredigers Sack erhielt er zunächst eine Hofmeisterstelle bei dem Grafen Dohna zu Schlobitten in Preußen, wo er drittehalb recht glückliche Jahre verlebte und sich die Achtung und Liebe dieser hochgestellten und gebildeten Familie erwarb. Im Jahre 1793 eröffnete sich ihm eine neue Laufbahn; er wurde Mitglied des Seminars für gelehrte Schulen, das unter der Leitung des aufgeklärten Ober-Consistorialrathes Gedicke stand, und zugleich interimistisch als Lehrer an dem Kornmesserschen Waisenhause in Berlin angestellt. Ein halbes Jahr verweilte er in diesen Verhältnissen, als der Prediger Schumann zu Landsberg an der Warthe, ein naher Verwandter Schleiermacher’s, wegen fortdauernder Kränklichkeit ihn zum Gehülfen in seiner Amtsthätigkeit wünschte. Er folgte diesem Rufe um so lieber, da er auch die praktische Seite seines Standes kennen lernen wollte. Aber schon nach kurzer Zeit kehrte er nach Berlin wieder zurück, wohin er einen Ruf als Prediger an der Charité erhalten hatte. Hier in der Hauptstadt entfaltete sich sein großes Talent als Redner, seine ausgezeichneten Predigten machten ihn zunächst bekannt und erwarben ihm zahlreiche Verehrer und Freunde. Hochgebildete Frauen und Männer suchten seinen Umgang und gaben ihm Gelegenheit, sein gesellschaftliches Talent zu entwickeln, seine Kenntnisse und Anschauungen zu erweitern. In jenen Zeitraum fällt zunächst seine nähere Verbindung mit dem berühmten Dichter und Aesthetiker Friedrich Schlegel, mit dem er in Berlin zusammenwohnte, seiner mit der geistreichen Jüdin Henriette Herz, der Gattin des bekannten Arztes. Beide übten einen großen Einfluß auf Schleiermacher aus, durch Schlegel wurde er veranlaßt, sich an der Literatur zu betheiligen. Schon früher hatte er auf Anrathen des Bischofs Sack die Predigten von Blair und Fawcett aus dem Englischen übersetzt; jetzt trat er selbständig mit seinen durch Kühnheit der Gedanken und Vollendung der Form ausgezeichneten „Reden über Religion“ auf, die er an die „Gebildeten unter ihren Verächtern“ richtete. Groß war das Aufsehn dieses Buches, da man eine solche Sprache von einem Geistlichen nicht kannte.
In diesen Reden entwickelte Schleiermacher seine Ansichten über das Christenthum, gleich weit entfernt von einer beschränkten Orthodoxie, wie von einer seichten Aufklärung; überall weht uns daraus der Geist der Freiheit und des Fortschritts wie ein reinerer Lebensodem an. „Nie hat“, so lautet Schleiermacher’s Ueberzeugung, „auch Christus die religiösen Ansichten und Gefühle, die er selbst mittheilen konnte, für den ganzen Umfang der Religion ausgegeben, welche von seinem Grundgefühle ausgehn sollte; er hat immer auf die lebendige Wahrheit hingewiesen, die nach ihm kommen würde, wenn auch nur von dem Seinigen nehmend. So auch seine Schüler. Nie haben sie dem heiligen Geiste Grenzen gesetzt, seine unbeschränkte Freiheit und die durchgängige Einheit seiner Offenbarungen ist überall von ihnen anerkannt worden; und wenn späterhin, als die erste Zeit der Blüthe vorüber war, und er auszuruhen schien von seinen Werken, diese Werke, so viel davon in den heiligen Schriften enthalten war, für einen geschlossenen Codex der Religion unbefugter Weise erklärt wurden, geschah das nur von denen, welche den Schlummer des Geistes für seinen Tod hielten, für welche die Religion selbst gestorben war; aber alle, die ihr Leben noch in sich fühlten oder es in Andern wahrnahmen, haben sich immer gegen dies unchristliche Beginnen erklärt. Die heiligen Schriften sind Bibeln geworden aus eigner Kraft, aber sie verbieten keinem andern Buche, auch Bibel zu sein oder zu werden; und was mit gleicher Kraft wäre, würden sie sich gern beigesellen lassen; vielmehr soll sich alles, was als Ausspruch der gesammten Kirche und also des göttlichen Geistes auch später erscheint, getrost an sie anschließen, wenn auch ihnen als den Erstlingen des Geistes eine besondere Heiligkeit und Würde unaustilgbar beiwohnt.“
Nicht minder freisinnig und echt protestantisch lautete der Ausspruch: – „Wer von demselben Hauptpunkt mit seiner Religion ausgeht, ist ein Christ ohne Rücksicht auf die Schule, er mag seine Religion historisch aus sich selbst oder von irgend einem Andern ableiten; denn das wird sich von selbst ergeben, daß, wenn ihm dann Christus mit seiner ganzen Wirksamkeit gezeigt wird, er ihn auch anerkennen muß als den, der aller Vermittlung Mittelpunkt geworden ist, der wahrhaft Erlösung und Versöhnung gestiftet hat.“ – Wahrhaft christlich mild und duldsam erscheint Schleiermacher gegen Andersgläubige, fern von dem geistlichen Hochmuth und der Verfolgungssucht moderner Pietisten, indem er über diesen Gegenstand sich folgendermaßen vernehmen ließ: „Wenn es nun immer Christen geben wird, soll deswegen das Christenthum auch in seiner allgemeinen Verbreitung unbegrenzt und als die einzige Gestalt der Religion in der Menschheit allein herrschend sein? Es verschmäht diese beschränkende Alleinherrschaft; es ehrt jedes seiner Elemente genug, um es gern als den Mittelpunkt eines eigenen Ganzen anzuschauen; es will nicht nur Mannigfaltigkeit bis ins Unendliche erzeugen, sondern möchte außer sich alle anschauen, die es aus sich selbst nicht herausbilden kann. Nie vergessend, daß es den besten Beweis seiner Ewigkeit in seiner eigenen Verderblichkeit, in seiner eigenen oft traurigen Geschichte hat, und immer wartend einer Erlösung aus der Unvollkommenheit, von der es eben gedrückt wird, sähe es gern außerhalb dieses Verderbens andere und jüngere, wo möglich kräftigere und schönere Gestalten der Religion hervorgehn dicht neben sich aus allen Punkten, auch von jenen Gegenden her, die ihm als die äußersten und zweifelhaften Grenzen der Religion überhaupt erscheinen. Die Religion der Religionen kann nicht Stoff genug sammeln für ihre reine Neigung zu allem Menschlichen; und so wie nichts irreligiöser ist als Einförmigkeit zu fordern in der Menscheit überhaupt, so ist nichts unchristlicher als Einförmigkeit zu suchen in der Religion.“
Von Brehm.
II. Die Vogelberge.
(Schluß.)
Ich belauschte die brütenden Vögel bei allen ihren Beschäftigungen. Aus einer Höhle sah ich viel Staub herausfliegen und vermuthete natürlich sogleich, daß sich in ihr ein mit Graben beschäftigter Lund befinden möchte. Ich näherte mich mit großer Vorsicht, und konnte auch unseren Vogel arbeiten sehen. Ob er mit dem Schnabel die Höhle ausmeißelte, konnte ich nicht entdecken, daß er aber die Erde aus derselben mit seinen breiten Schaufelfüßen kräftig heraus warf, sah ich deutlich. Beim Brüten saßen die Thiere ganz ruhig, sobald sie sahen, daß ihnen der Ausgang versperrt war, und schauten, ich möchte sagen, ohne eine Miene zu verziehen, still und ernst auf ihre Störer. Wurden sie aber ergriffen, dann wußten sie von ihrem scharfen und schneidenden Schnabel einen ausgedehnten Gebrauch zu machen und bissen und kratzten mit solcher Wuth, wie ich es vorher noch bei keinem Vogel beobachtet hatte. Sie waren höchst gewandt und sicher und verwundeten mich trotz dicker Handschuhe so empfindlich, daß meine Hand erst nach etwa vierzehn Tagen geheilt ward. Ich nahm mehrere Gefangene mit nach Hause, um sie zu beobachten. Der Alk fiel mir auf wegen seines erstaunlichen Luftfüllungsvermögens, er konnte sich zwischen Fleisch und Haut eine dicke Luftschicht einpumpen, so daß die ganze Haut ringsum bis auf einige Stellen von dem innern Körper gelös’t zu sein schien. Die Lummen und Lunde waren dessen nur in geringerem Grade fähig. Ich band dem Alk einen Faden an die Füße und ließ ihn tauchen, um sein [31] Rudern in dem klaren Meere gehörig beobachten zu können. Er stieg augenblicklich senkrecht in die Tiefe hinab und kam erst dann wieder herauf, wenn ich die abgelaufene Schnur nach der Oberfläche zurückzog. Als wir mit dem Boote still hielten, blieb er ziemlich lange unter dem Wasser, doch keineswegs so lange, als gewöhnlich gefabelt wird, und höchstens 2½ Minuten. Den Lund nahm ich mit in unser Haus, band ihm die Flügel und ließ ihn frei. Er suchte sich sogleich einen dunkeln Winkel und flog auch später immer dahin zurück. Wir brachten einen Hund herein, hetzten ihn auf den Vogel und sahen mit Vergnügen, daß dieser dem Vierfüßler gewachsen war. Er biß nach der Nase des Hundes und zwar mit so viel Geschick, Sicherheit und Kraft, daß der Hund laut aufheulend wie toll gegen das Thier rannte und später nie wieder zu bewegen war, sich dem erbosten kleinen Vogel zu nahen. Auch ich sah bald ein, daß mit dem wirklich rasenden Meerbewohner keine sonderlichen Beobachtungen angestellt werden konnten, und beschloß deshalb, ihn wieder frei zu lassen. Ich brachte ihn hinter unser Haus und setzte ihn dort auf eine Wiese nieder, erwartend, daß er dem Meere zueilen würde. Vergeblich, er blieb ruhig sitzen, oder trippelte vielmehr nach einem Verstecke umher, stellte sich aber augenblicklich zur Wehre, sobald wir uns näherten, und seine ungeheuere Wuth zeigte sich dabei im grellsten Lichte. Da er nicht floh, warf ich ihn in die Luft; er flatterte aber sofort wieder auf die Erde herab. Ich wiederholte den Versuch wohl zehn Mal, und erhielt immer dasselbe Ergebniß. Endlich trug ich ihn nach dem Meere und warf ihn nach demselben hin. Er erreichte es, tauchte unter und schwamm auf und unter der Oberfläche weiter und weiter in das hohe Meer hinaus. Ein junger Lund, welchen wir ebenfalls aus einer Höhle gezogen hatten, war übrigens ganz das Gegentheil seines Herrn Vaters. Er war sanft und wirklich liebenswürdig. Wir fütterten ihn mehrere Tage, konnten ihn aber leider nicht durchbringen.
Unsere erste Jagd auf den Bergen hatte bis nach Mitternacht gewährt und konnte so lange währen, weil ja damals kaum ein Unterschied zwischen Tag und Nacht bemerklich wurde. Die Mitternachtssonne stand noch groß und still und ziemlich hoch über den von ihr vergoldeten Fluthen, als wir heimfuhren. Nun hatte man uns aber gesagt, daß wir den Berg am Morgen besuchen müßten, und deshalb brachen wir nach wenigen Stunden der Ruhe wieder auf, um eine zweite Jagd dort zu machen. Als wir den Berg erreichten, hatten wir ein ganz neues Schauspiel vor uns. Das Meer war leer von Vögeln, sie saßen jetzt auf dem Berge, Zehn bei Zehnen, Hundert bei Hunderten, Tausend bei Tausenden, der ganze Berg glich einem über und über weiß betüpfelten Kegel. Von unten bis oben hinauf zeigte sich ein weißer Strich an dem andern. Das waren die Vögel, welche nicht brüteten, also kaum die Hälfte. Ein Schuß, welchen ich abfeuerte, brachte eine ungeheure Wirkung hervor. Hunderttausende stürzten sich mit einem Male zur See hinab. Es schwärmte um uns, daß es fast wie Donner klang, „Arr, Err, Quarr, Querr“ schrien die Alken, „Err“ (leiser) die Lunde, laut aufkreischten die Möven. Tausende saßen und Tausende flogen um uns herum. Wenn sie so zum Meere hinabstürzten, sah es aus, als sei von dem Berge herab eine Dachung zum Meere gelegt worden; denn die fliegenden Massen schienen nur eine ununterbrochene Linie zu bilden. Ich stieg aus, um zu schießen. Man hatte mir gesagt, daß die Alken und Lunde Anfangs fehlen würden, und wirklich Recht gehabt. Drei, vier, sechs, acht Schüsse blieben erfolglos, bis ich doch dahinter kam und nun einen der Burschen nach dem andern herabdonnerte. Ich mußte eine Elle vorhalten, wenn ich treffen wollte. Natürlich lagen wir wieder den ganzen Tag auf den Bergen. Dabei konnte ich nun beobachten, daß die Vögel zu gewissen Zeiten, nämlich Vor- und Nachmittags ohne eine mir erklärliche Ursache zu schwärmen begannen und wohl eine Stunde lang den Berg in eine Wolke hüllten, während sie sonst den übrigen Tag und die Nacht hindurch sich still verhielten. Oft hatten sie wirklich keinen Grund zum Fliegen und waren doch nicht einen Augenblick ruhig. Dann wieder saßen sie wie festgebannt lange Zeit an einer Stelle. Ein Jagdedelfalke hatte sich, wie ich im Voraus vermuthet hatte, irgendwo in der Nähe der Vogelberge angesiedelt. So oft er erschien, verursachte er einen entsetzlichen Schrecken und räumte regelmäßig den ganzen Berg ab; dann sah man eine schwarze, überaus bewegliche Wolke pfeilschnell nach dem Meere schießen und in ihm plötzlich verschwinden. Es waren die Alken und Lunde, welche sich kopfunterst hinabstürzten, um sich vor dem gefährlichen Gegner in den sicheren Fluthen zu verbergen. Er hatte die Vögel so beunruhigt, daß sie selbst durch die Möven in Aufruhr kamen, sobald diese selbst gewisse Flugstellungen annahmen und hierdurch den Falken gewissermaßen ähnlich wurden. Es war leicht einzusehen, daß der gewandte Räuber sich ohne Mühe die für ihn und seine Jungen nöthige Nahrung aus diesen Schwärmen holte.
Von den Besitzern der Berge erfuhr ich, daß die Lunde und Alken im Winter sich nur höchst selten sehen lassen. In den ersten Tagen des April stellen sie sich ein, erst einzeln, später in immer stärkeren und stärkeren Schaaren, und schon eine Woche nach dem Eintreffen der ersten Vorboten ist der Berg bedeckt. Um Pfingsten herum haben sie Eier. Bis Ende August verweilen sie in der Nähe der Brutplätze, dann wird es still und todt auf dem Berge und während des Winters sieht man auf dem beschneiten Kegel kaum einen einzigen Vogel, höchstens dann und wann eine Möve. Man stört die brütenden Vögel niemals durch Schießen, um sie nicht zu vertreiben, ja man glaubt, daß Denjenigen sicherem Unglück treffen würde, welcher mit einem Feuergewehr zur Jagd der Thiere auszieht.
Das wären nun ungefähr die Beobachtungen, welche ich in den zwei Tagen machen konnte. Sie können weiter Nichts als einen oberflächlichen Begriff der Wirklichkeit geben und sind, wie ich am besten selbst einsehe, im höchsten Grade mangel- und lückenhaft.
Unsere Herberge im Bauerhofe ließ Manches zu wünschen übrig. Man hatte uns zwar das gute Häuschen des Hofes eingeräumt und den Fußboden mit Sand bestreut, die Decke aber mit grünen Zweigen geschmückt. Allein die Thüren waren so niedrig, daß wir uns fast regelmäßig beim Durchgehen an den Kopf stießen, weil wir nicht, wie die übrigens riesenhaften Bewohner des Hauses, daran gewöhnt waren, uns vorher jedesmal zu bücken. Zum Schlafraum, dem Boden, führte eine wahre Hühnersteige. Die Betten waren mit Lundfedern, denn hierzu benutzte man die Federn aller Seevögel, die Decken mit Eiderdaunen gefüllt. Die Innelte ließen jedoch so viel von ihrem Inhalte durch, daß wir am Morgen jedesmal Papagenos waren. Schlicht und sehr schmutzig war das Essen. Ich fügte mich, durch Erinnerungen aus Afrika gestählt, mit der Gelassenheit eines Weltweisen in das Unvermeidliche: meinem Gefährten aber ging der erzväterliche Schmutz denn roch zu weit. Dabei hatte man eigenthümliche Ansichten von der Benutzung der Geschirre. Man brachte uns z. B. das Essen im Waschbecken, das Waschwasser aber in Eßschüsseln. Als die gute Hausfrau bemerkte, daß wir von den schönen Eiern weiter Nichts benutzten als die Schale, machte sie uns den ehrlichen Vorschlag, den ausgeblasenen Inhalt, welcher nothwendiger Weise mit Speichel, ja sogar mit dem Speichel unserer tabakskauenden Gefährten und andern nicht eben appetitlichen Sachen vermengt war, doch ja sorgfältig aufzuheben, weil sie uns daraus Eierkuchen bereiten wollte. Diese beiden Angaben mögen genügen, um die Annehmlichkeiten unserer Herberge zu schildern.
Am andern Tage brach Sturm los und brachte Regenwetter mit sich. Das Meer ging sogleich sehr hoch und machte uns jede Landung an den steilen Bergen unmöglich. Auch am folgenden Tage hielt dieses Unwetter an. Da wir jedoch mit Ausbalgen der Vögel und Ausblasen der Eier vollkommen zu thun hatten, hinderte uns dies im Ganzen wenig. Anders war es am dritten Tage. Wir wollten fort, allein es regnete und stürmte, und die Bootsleute erklärten, nicht in See gehen zu können. Endlich schienen sich die Verhältnisse etwas günstiger zu gestalten. Wir gingen in See; aber ich muß gestehen, daß es mir leid that, dies gethan zu haben. Wer niemals das Eismeer bei Sturm und die Menge der Schären an der Küste Norwegens kennen gelernt hat, kann sich unmöglich einen Begriff machen von der Fahrt, welche wir jetzt hatten. Daß das Boot sich in Wellenlinien bewegte, deren größte Höhe etwa um zwanzig Fuß über der tiefsten Tiefe lag, ließ uns ziemlich gleichgültig, denn weder ich noch mein Gefährte wurden seekrank; allein daß wir, wenn wir uns auf der Höhe einer Welle befanden, sehen mußten, wie rings um uns herum die Brandung toste und schäumte, so daß die Furcht rege wurde, im nächsten Augenblicke auf dieser oder jener Klippe zu zerschellen: – das machte doch die Fahrt nicht nur sehr ungemüthlich, sondern wirklich gefährlich. Ein Seehund, welcher ab und zu neben dem Boote sich zeigte, schien auch wirklich Mitleid mit uns, die wir außerdem noch durch den kalten Wind und Regen gepeitscht wurden, [32] zu empfinden, wenigstens sah er uns mit seinen klugen Augen recht treuherzig bedauernd in das Gesicht. Unsere Bootsmänner aber meinten, daß dies doch eigentlich noch gar nichts wäre und sie im Winter noch ganz andere Fahrten ausführen müßten.
Außer der Reise über die Katarakten des Nil hatte ich entschieden niemals eine solch’ gefährliche Fahrt gemacht, und es war deshalb wohl zu entschuldigen, daß wir, nachdem wir uns drei Stunden lang von dem wüthenden Meere hatten herumwerfen lassen, in einer der nächsten Bucht einbogen und von dort aus zu Fuß nach Stene gingen. Zu meiner Schande muß ich noch gestehen, daß die Normänner sich augenblicklich wieder aufmachten und kurz nach uns frisch und wohlbehalten, ja sogar mit gutem Winde in der Bucht von Stene einliefen.
Das Brüderpaar Hughes. Zu den edelsten Namen, welche die Annalen der Menschheit aufzuweisen haben, werden stets die obengenannten gezählt werden. Es sind die Namen zweier Pfarrer in Wales, welche bei dem furchtbaren Unglück, das sich am 20. October 1859 bei Llanallgo, ohnweit Morlfen, Anglesey, ihrem Wohnorte, zutrug, – wir meinen den Schiffbruch des von Australien kommenden Schiffes, The Royal Charter, wobei 500 Menschen ihren Tod fanden, – eine seltene vielleicht beispiellose Uneigennützigkeit, Selbstverleugnung und Aufopferung an den Tag legten.
Es muß Jedem, der solche Tugenden zu würdigen versteht, eine Genugthuung gewähren, daß ein so talentvoller Dichter wie Dickens, dessen Schriften so lange werden gelesen werden, als man die englische Sprache spricht, es sich zur Pflicht gemacht hat, diesem edlen Brüderpaar in seiner allgemein gelesenen Zeitschrift All round the Year ein bleibendes Denkmal zu setzen und wir glauben den Lesern der Gartenlaube keinen schlechten Dienst zu erweisen, wenn wir seiner Schilderung einige Züge entlehnen.
Einhundert und fünfundvierzig Leichname waren an den Strand geworfen worden. Sie wurden vorerst in der Dorfkirche untergebracht und hier, unter dem Weinen und Wehklagen der Verwandten und Freunde der Verunglückten, war der ehrwürdige Stephen Rosse Hughes, der Pfarrer zu Llanallgo, stundenlang damit beschäftigt, zerfetzte Kleider zu untersuchen, Knöpfe, Haare, Wäschzeichen, irgend Etwas abzuschneiden, das zu einer späteren Identificirung führen könnte, Gesichtszüge zu prüfen, eine Schmarre aufzusuchen, einen gebogenen Finger, eine gekrümmte Zehe herauszufinden und Briefe, die man ihm zugeschickt hatte, mit der Zerstörung um ihn herum zu vergleichen. „Mein theuerster Bruder hatte helle, graue Augen und ein anmuthiges Lächeln,“ schrieb eine Schwester. „Wohl Dir,“ ruft Dickens aus, „daß Du fern von ihm bist und das als Deine letzte Erinnerung an ihn aufbewahrst!“
Auch der weibliche Theil der Familie des Pfarrers, seine Gattin und zwei Schwägerinnen, besuchten die Leichname oft. Es war das ihr Lebensgeschäft geworden. Jede neue Ankunft eines unglücklichen Weibes, das einen der Ihrigen unter den Todten suchte, erregte von neuem ihr Mitleid und bewog sie, die mitgebrachte Beschreibung mit der schrecklichen Wirklichkeit zu vergleichen. Zuweilen konnten sie zurückgehen und sagen: „Ich habe ihn gefunden,“ oder: „Ich glaube, sie liegt dort.“ Die Trauernden, nicht im Stande den gräßlichen Anblick alles dessen, was in der Kirche lag, zu ertragen, ließen sich zuweilen mit verbundenen Augen hineinführen. So wurde z. B. eine Mutter unter vielen mitleidsvollen Worten zur betreffenden Stelle geleitet, und nachdem man ihr Muth zugesprochen, hinzublicken, rief sie mit einem durchdringenden Schrei aus: „Das ist mein Sohn!“ und fiel bewußtlos auf die bewußtlose Gestalt.
Die Leichname, welche nicht identificirt worden waren, hatte der Pfarrer zu Vieren in einem Grabe beerdigt. Er hatte jeden einzeln in ein Register eingetragen und ihn beschrieben und dann eine entsprechende Nummer auf jeden Sarg und über jedes Grab angebracht. Identificirte Leichname hatte er einzeln, an besondern Gräbern, in einem andern Theile des Kirchhofs, beerdigt. Mehrere waren wieder aus einem gemeinschaftlichen Grabe ausgegraben worden, nachdem Verwandte aus weiter Ferne angekommen waren und das Register verglichen hatten, und nachdem sie erkannt worden, hatte der Pfarrer ihnen wieder besondere Gräber angewiesen, damit die Leidtragenden besondere Denksteine darauf errichten könnten. In allen solchen Fällen hatte er das Leichengebet ein zweites Mai verrichtet, und die Frauen hatten der Feierlichkeit beigewohnt. Um die so plötzlich nöthig gewordene große Anzahl von Särgen zu beschaffen, hatte er alle Handwerker aus der Umgegend herbeigerufen und sie den ganzen Tag lang, Sonntag nicht ausgenommen, arbeiten lassen. Die Särge waren alle sauber gearbeitet. Die Gräber waren ebenfalls sorgfältig gegraben worden, und kaum war noch eine freie Stelle für die armen Dorfbewohner übrig geblieben, um einst neben ihren Vorfahren beerdigt zu werden. Der heitere Ernst dieses guten christlichen Pfarrers war eben so trostspendend, wie die Umstände, unter denen er sich zeigte, traurig waren. Er und die Seinigen redeten von all ihren Strapatzen mit der größten, echtesten Anspruchslosigkeit, wie von einer einfachen Pflicht, die sie ruhig erfüllt und beendet hatten. Sie waren lediglich von Mitleid für die, welche der Tod ihrer Theuersten beraubt hatte, erfüllt, machten aber kein Aufheben von ihren eigenen schweren Leistungen in jenen ermüdenden Tagen, und erwähnten nur die vielen Freunde, die sie sich erworben, und die vielen rührenden Ausdrücke der Dankbarkeit, mit welchen sie überschüttet worden waren.
Des Pfarrers Bruder, der ehrwürdige Hugh Robert Hughes, zu Penrhos Allgwy, selbst Pfarrer der beiden angrenzenden Kirchsprengel, welcher 34 Leichname auf seinem Gottesacker beerdigt hatte und mit diesen eben so verfahren war, wie sein Bruder mit der größeren Zahl, muß als in der Familie mit inbegriffen betrachtet werden. Er war da mit seinem wohlgeordneten Verzeichniß und sprach eben so wenig von seiner Mühe wie die Uebrigen.
Der Erstere hatte in jener Zeit allein 1075 Briefe an Verwandte und Freunde der Verunglückten geschrieben. Nur vermittelst zartgestellter Fragen hatte Dickens alle diese Einzelnheiten von ihm erfahren. So sagte ihm der Pfarrer beiläufig, ohne die geringste Veränderung seiner Heiterkeit, und nur nach seinen wiederholten Aeußerungen über die Schwierigkeit, einen so schrecklichen Anblick des Todes zu ertragen, „es wäre ihm in der That eine Zeit lang unmöglich gewesen, mehr als eine Tasse Kaffee und ein Stück Brod zu genießen.“ Wie verdient sich dieser Mann um die Todten und die Lebenden bei der traurigen Gelegenheit gemacht hat, wird der Leser indessen am deutlichsten aus den Briefen ersehen, die von allen Seiten an ihn gerichtet worden waren und wovon wir nur einige in treuer Uebersetzung mittheilen wollen.
Ein Gatte schreibt:
„Mein theurer, gütiger Herr! Wollen Sie mich gefälligst benachrichtigen, ob der Ring und die Uhrkette, die Sie nach dem Bericht des „Standard“ vom vorigen Dienstag gefunden haben, mit Buchstaben versehen ist? Glauben Sie mir, mein theurer Herr, wenn ich Ihnen sage, daß ich meine tiefe Dankbarkeit für Ihre Freundlichkeit gegen mich an jenem furchtbaren und entsetzlichen Tage nicht hinlänglich in Worten auszudrücken vermag. Wollen Sie mir sagen, was ich für Sie thun kann, und wollen Sie mir einen tröstenden Brief schreiben, damit ich nicht wahnsinnig werde?“
Eine Wittwe schreibt:
„Ich habe Ihren Brief diesen Morgen empfangen und danke Ihnen innigst für die Theilnahme, die Sie meinem theuren Gatten geschenkt, ebenso wohl wie für die Gesinnungen, die Sie ausdrücken. Es sind dies die eines Christen, welcher ein Mitgefühl hat für die, welche gleich mir vom Kummer niedergebeugt sind. Möge Gott Sie und alle die Ihrigen segnen und erhalten in dieser großen Prüfung. Die Zeit mag dahin gleiten und alle ihre Söhne mit sich fortreißen, aber Ihr Name wird als der eines uneigennützigen Mannes in der Geschichte glänzen, und wie die Jahre nacheinander vergehen, wird manche Wittwe an Ihre edle Handlungsweise denken, und die Thränen der Dankbarkeit werden manche Wange benetzen, als Tribut eines dankbaren Herzens, wenn andere Dinge für immer vergessen sein werden.“
Von denen, die in des Pfarrers Haus gastliche Aufnahme fanden, schreibt einer so:
„Theure und nie zu vergessende Freunde! Ich bin gestern Morgen ohne Unfall hier angekommen und bin auf dem Punkte, auf der Eisenbahn meine Reise nach meiner Heimath fortzusetzen. Es überwältigt mich, wenn ich an Sie und Ihr gastfreundliches Haus denke. Keine Worte vermöchten eine meinem Herzen angemessene Sprache zu sprechen. Ich schweige. Gott lohne Ihnen mit demselben Maße, das Sie gemessen haben! Ich zähle keine Namen auf, sondern umarme Sie Alle!“
„Hätte ich,“ so schließt Dickens seinen Bericht, „im Wrack des Roval Charter den Freund meines Lebens verloren; hätte ich meine mir Angelobte, die mir noch theurer als der Freund meines Lebens, verloren; hätte ich meine jungfräuliche Tochter, meinen hoffnungsvollen Knaben, mein kleines Kind verloren, ich würde die Hände küssen, die so geschäftig und so sanft in der Kirche gearbeitet haben, und sagen: „Niemand hätte zarter mit der sterblichen Hülle umgehen können, selbst wenn sie in der Heimath gelegen hätte.“ Ich könnte dessen gewiß, ich könnte dankbar dafür sein. Ich könnte mich damit zufrieden geben, das Grab neben dem Hause zu lassen, wo die gute Familie jeden Tag ein- und ausgeht, ungestört, in dem kleinen Kirchhof, wo so Viele so seltsam zusammengebracht worden sind.“
Unechte Perlen. Wie es den Franzosen bereits vor längerer Zeit gelungen ist, auf chemischem Wege Diamanten herzustellen, die ohne genaue Untersuchung selbst von Sachverständigen für echte Steine gehalten werden können, so fabricirt man jetzt in Frankreich auch unechte Perlen, die sich im Ansehen von den echten kaum unterscheiden lassen. Paris allein exportirt jährlich für mehr als 600,000 Fr. solcher Perlen, die hauptsächlich nach den Colonien gehen, und der Verbrauch im Inlande ist noch bei weitem bedeutender. Zur Herstellung dieser Perlen bedient man sich der sogenannten Essenz de l’Orient, eines Materials, das ein bis dahin nicht besonders beachteter Weißfisch liefert, welcher sich in allen Gewässern und besonders im See von Lindres (Departement de la Meurthe) in ungeheurer Menge findet. Der Fisch wird in Masse gefangen und mit stumpfen Messern seiner Schuppen entledigt, die mehrmals mit frischem Wasser gewaschen, auf dem Boden der dazu gebrauchten Gefäße einen perlenartig schimmernden Bodensatz, die Essenz de l’Orient, zurücklassen. Mlt dieser Masse werden nun kleine eigends dazu verfertigte Glaskugeln von der unregelmäßigen Form der echten Perlen, inwendig belegt. Dann gießt man den noch vorhandenen leeren Raum mit weißem Wachs aus und die Perle ist fertig.