Die Gartenlaube (1862)/Heft 21

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 21.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Zwei Welten.
Von Otto Ruppius.


1. Ein Abenteuer in den Alpen.

Es war Mittag, als er auf dem steil aufsteigenden, holprigen Pfade das Ende des Waldes erreichte und sein erster freier Blick auf eine Gruppe von Reisenden und Maulthieren traf, welche, den Berg herabkommend, wie in Erwartung eines Nachfolgenden, Halt gemacht hatten. Ein ältlicher, hagerer Mann mit sorgfältig rasirtem Gesichte war in lebhaftem Gespräche mit zwei Führern begriffen, bald nach der einen, bald nach der andern Seite des zerklüfteten Berges deutend, während ein zweiter, jüngerer von seinem Thiere herab die Gebehrden der Führer zu beobachten schien. Kaum war indessen der aufwärts steigende Wanderer sichtbar geworden, als auch der Aeltere sich rasch von der Gesellschaft wandte und ihm entgegenschritt. „Haben Sie wohl Jemand auf Ihrem Wege herauf getroffen?“ fragte er, leicht seinen Hut berührend, und sein Auge schien in Sorge die Antwort zu erwarten.

„Nicht, seit ich den Weiler am Fuße des Berges verlassen!“ gab der Angeredete bereitwillig zurück, und mit einem rathlosen Kopfschütteln drehte sich der Frager wieder nach seinen Begleitern.

„Es wird schon sein, wie ich gesagt,“ klang jetzt in englischer Sprache die Stimme des Reitenden, während ein deutlicher Zug von Verdruß sich in dem steifen, von einem dünnen Backenbarte umsäumten Gesichte geltend machte; „es wird wieder auf eine Ueberraschung hinauslaufen. Miß hat ihren eigenen Weg hinab gesucht und zuckt höchstens später die Achseln über unsere Besorgnisse.“

Der Aeltere wandte sich zögernd seinem Maulthiere zu, und der Befragte, welcher jetzt für die Reisenden nicht mehr vorhanden zu sein schien, schritt mit einem leichten Zusammenziehen der Brauen an der Gruppe vorüber.

„Der Ungezogenheit nach Engländer!“ brummte er; nach Kurzem indessen glitt ein Zug von Laune über sein Gesicht. „Möchte wohl einmal die potenzirte Arroganz dieser Miß sehen, die jede Sorge der Ihren mit Achselzucken abweist!“

Er schien, still vor sich hinlächelnd, das Bild zu verfolgen, bis er zu einer Höhe gelangt war, wo sich ihm ein freier Blick in das grüne Chamounythal, dem er entstiegen, und auf die wilde Alpenkette mit ihren Häuptern voll ewigen Schnees und blinkenden Eisgipfeln bot. Da ließ er, eine Weile rastend, das Auge rund um laufen.

„All that’s bright must fade!“ begann er mit Burns zu declamiren, „muß verwelken – und meine kurze Lust nur zu geschwind!“ fuhr er mit einem halben Seufzer fort. „Morgen geht’s wieder heimwärts, an den Actentisch, und dann wird’s heißen, ich habe nur eine Modereise gemacht, deren Kosten und Zeit ich wohl zu etwas Besserem hätte verwenden können. – Auch gut!“ nickte er, „der Freudenbecher in dieser Welt soll nun einmal seinen Bodensatz haben; des Menschen Beruf ist selten seine Wahl, und wenn Pflichterfüllung nicht oft schwer würde, wäre sie kaum eine Tugend – wir werden als tugendhafter Mensch wieder treu im alten Joche ziehen. Das Heute aber,“ setzte er, mit hellem Auge den Kopf hebend, hinzu, „gehört noch ungetrübt mir, und darum vorwärts!“

Die stattliche, jugendkräftige Gestalt, wie sie jetzt elastisch die Schwierigkeiten des steilen Bergpfades überwand, bot eine der Erscheinungen, an denen unwillkürlich das Auge des Beschauers haften bleibt. Das Ränzchen mit aufgeschnalltem Plaid, der Stock mit dem Gemshorn und die stark besohlten Schuhe deuteten den Fußreisenden an, während die einfache, aber fehlerlos sitzende Kleidung, die feine Wäsche und die ganze Weise seiner Bewegung den Mann aus der „guten“ Gesellschaft verriethen. Unter dem grauen, niedrigen Filzhute blitzten ein Paar lebendige, jeden Gegenstand mit Bestimmtheit erfassende Augen hervor, und der dunkelblonde, wenn auch noch weiche Schnurrbart gab seinen frischen Zügen einen wohlthuenden Ausdruck von Männlichkeit.

Nach einer halben Stunde kräftigen Aufsteigens begann eben das „Hospiz“, eine als Erfrischungslocal ausgebaute steinerne Hütte, vor seine Augen zu treten, als ein plötzliches donnerähnliches Geprassel aus scheinbar geringer Entfernung, von zahllosen nach und nach verhallenden Schlägen gefolgt, ihn auffahren ließ. Es klang, als breche ein ganzer Berg zusammen und sende seine Felsenmassen in einzelnen riesigen Stücken in’s Thal hinab; es war nicht der Donner der Lawine, es war das ganz bestimmte Geräusch eines massenhaften Einstürzens und Zerschellens, das aber nach kaum zwei Minuten in einzelnen, aus der Ferne herüberklingenden Lauten erstorben war.

Eine kurze Weile noch horchte der Wanderer, aber kein Ton störte mehr die tiefe Stille der Gebirgswelt, und mit einem Kopfschütteln der Verwunderung begann er in bequemerem Schritte den geringen Rest der Höhe zu ersteigen; kaum hatte er aber den Bergrücken neben dem „Hospiz“ erreicht, als auch vor dem ihm werdenden Anblicke die kaum erlebte Ueberraschung vergessen schien. Das sogenannte Eismeer, der ebene, zwei Stunden weit sich erstreckende Gipfel des Bois-Gletschers, lag in seiner ganzen Ausdehnung und wilden Pracht vor ihm. Dunkele riesige Felsenmassen, nur auf ihren Häuptern mit blendend weißem Schnee geschmückt, ummauerten zu zwei Dritttheilen die Eisfläche und boten in ihrer rauhen Nacktheit und zerrissenen Form ein Bild, das durch seine Majestät erhob und in seiner trostlosen Oede zugleich niederdrückte.

[322] Hinter ihnen und durch sie verdeckt liegt der Mont-Blanc, und unwillkürlich füllt sich die Seele bei dem Gedanken daran mit neuen riesigen Vorstellungen, die sich mit dem, was dem Auge geboten ist, zu einem noch gewaltigeren Ganzen vereinen. Nach der Thalseite zu aber fiel der Gletscher wie ein gefrorener Wasserfall in Hunderten der seltensten Formationen, überall von dunkeln Spalten zerrissen, hinab, und über dieser wilderhabenen, erstarrten Natur lag ein Schweigen, in welchem die hier und da aus verborgenen Höhlen aufschießenden Dunstsäulen, die einen Augenblick den Horizont umlagerten und dann in gleicher räthselhafter Schnelle versanken, wie das Auftauchen riesiger Berggeister erschienen.

Der Reisende war in stillem Beschauen langsam vorwärts geschritten und stand jetzt vor dem Pfade, der, zwischen den Hindernissen der Umgebung sich hinwindend, nach der Eisfläche hinüber führt; indessen schien sein langsam umherschweifendes Auge einen andern Punkt für sein nächstes Ziel entdeckt zu haben. Einen zweiten schmalen Fußweg, der sich am Abhange des Berges hinschlängelte, betretend, wandte er sich einer Felsenpartie zu, welche die Möglichkeit für einen noch weitern Rundblick versprach; nach halbstündiger, immer rauher werdender Wanderung indessen blieb er plötzlich stehen und sah überrascht um sich. Unweit von ihm schien der ganze Abhang einer Höhe sich losgelöst, mit den gewaltigen Trümmern seinen Weg verrammelt und Felsenstücke der größten Dimensionen bis weit hinüber nach dem Eise des Gletschers geschleudert zu haben; ringsumher starrte ihm ein Bild wilder Zerstörung entgegen; da aber, wo der Fall augenscheinlich geschehen, erhob sich, alle andern Spitzen überragend, eine wohl fünfhundert Fuß hohe, den Bruch deutlich zeigende Felsenwand, und der junge Mann vermochte jetzt sich das vernommene Geräusch beim Ersteigen des Berges zu erklären. Der Sturz ganzer Felsenmassen, die, von Gebirgswassern unterwaschen, ihren Stützpunkt verloren haben, ist in diesem Theile der Alpen etwas nur Gewöhnliches. Langsam und aufmerksam musterte er die Höhe; nach kurzer Weile aber blitzte sein Auge auf und heftete sich fest auf einen Punkt, wo die Fortsetzung der Gebirgsspitzen sich an die gebrochene Stelle anschloß. Dort oben bewegte sich etwas, aber die Entfernung war zu groß, um die Natur des auffallenden Gegenstandes zu unterscheiden, und rasch hatte der Reisende ein kleines Fernrohr hervorgezogen, bald emsig den wahrgenommenen Punkt aufsuchend. Jetzt hatte er ihn gewonnen – eine weibliche Gestalt, ein weißes Tuch schwingend, stand vor dem Glase, und der Beobachtende meinte die Augen derselben so bestimmt auf sich gerichtet zu sehen, daß er nicht zweifeln konnte, sie habe auch seine Gestalt entdeckt. Ein kleiner runder Strohhut mit wehendem Schleier deckte ihren Kopf, eine leichte Hülle, die ihren Oberkörper geborgen, war von der rechten Schulter geglitten, um dem Arme freie Bewegung zu geben, und dem jungen Manne schoß plötzlich seine kürzliche Begegnung mit den beiden bergab gehenden Reisenden durch den Kopf. Sie hatten um den Verbleib einer jungen Dame gesorgt – dort oben in der schwindelnden Höhe stand diese jedenfalls, entweder verstiegen, oder durch den Bergsturz von ihrem Rückwege abgeschnitten. Er hob beide Hände zum Sprachrohr geformt vor seinen Mund und ahmte den gellenden Ruf der Hirten nach, und wenige Secunden danach kam ein von der Luft halb verwehter Laut, von einem stärkern Schwingen des weißen Tuchs begleitet, als Antwort. Er erkannte schnell genug, daß sie Hülfe von ihm erwarte, damit aber trat auch das Bild, das er sich von dem Wesen der stolzen „achselzuckenden“ Miß entworfen, vor seine Seele, und neben dem einfachen Gebote der Menschlichkeit, ihr beizustehen, fühlte er einen sonderbaren Reiz, die Bekanntschaft eines solchen Charakters in dieser ungewöhnlichen Lage zu machen.

Eine halbe Minute überlegte er, ob er nicht zu größerer Sicherheit nach dem „Hospiz“ zurückkehren und Beistand aufbieten solle. Das Haus aber war von hier wohl eine Stunde Weges entfernt, die Abgeschnittene mochte während seiner langen Abwesenheit, in eigenen Versuchen sich zu helfen, ihren Standpunkt ändern und dann nicht wieder aufzufinden sein, und überdies war es ungewiß, ob das Hospiz augenblickliche Hülfe zu bieten vermöge. In raschem Entschlusse ward er mit sich fertig, das Wagstück allein zu versuchen. Er war kein Neuling im Erklimmen von Felsen; sein Alpenstock und ein in seinem Ranzen befindliches Hanfseil hatten schon verschiedene Male bei seinen oft führerlosen Streifereien der letzten Wochen ihn aus bedenklichen Lagen befreien müssen, und als er jetzt sein Taschentuch an den Stock befestigte, um der Verirrten ein Zeichen seiner Absicht zu geben, fühlte er sein Unternehmen kaum anders als wie ein pikantes Abenteuer auf sich wirken.

Eine geraume Weile indessen ließ er umsonst die Augen an den steil aufstrebenden Felsen umherschweifen, um irgendwo eine Möglichkeit für ein Emporsteigen zu eindecken, bis endlich sein Blick von einer weit oben befindlichen Schlucht auf eine herunterlaufende dunkele Linie fiel und er hier nach mühseligen, Ueberklimmen der seinen Weg versperrenden Steinblöcke einen aufwärts führenden Absatz von kaum sechs bis acht Zoll Breite fand. Ohne Bedenken indessen betrat er, sich hart an den Felsen schmiegend, die gefährliche Bahn, die oft, lehnansteigend, seinem Fuße kaum den nöthigen Halt bot, oft in rauhen Absätzen die volle Muskelsicherheit zur Ersteigung derselben erforderte, und halb erschöpft von der gewaltsamen Anspannung aller seiner Kräfte, aber frischen Geistes erreichte er endlich die Schlucht, in welcher das von den Felsengipfeln herabrinnende Schneewasser wie ein kleiner Bach rieselte. Hier ruhte er eine kurze Minute und begann sich dann sorgfältig zu orientiren. Er stand ein ganzes Stück seitwärts des Punktes, auf welchem er die weibliche Gestalt erblickt, und seine Aufgabe, sobald er sich einen Weg in die höheren Regionen der Felsen geschaffen mußte es sein, sich dem abgeschnittenen Orte von der Seite oder dem Rücken möglichst zu nähern, dort aber erst nach Lage der Umstände über die weitern Schritte zu entscheiden.

Vorsichtig kletterte er in der Schlucht weiter aufwärts; rechts und links erschienen einzelne Felsenstücken so vom Wasser ausgewaschen, daß sich ganze Höhlen gebildet hatten; bald aber brachen die Seitenwände ab, und der Kletternde gelangte auf eine Art schmales Plateau, das nach allen drei Seiten hin in einem Gewirr von gähnenden Abgründen und zerrissenen Granit-Pyramiden endete; nach einem langsamen, scharfen Rundblicke indessen zeigte sich ihm an der Felsenmauer, die er so eben durchschnitten, eine Art natürlicher, aufwärts führender Rinne, und mit Hülfe seines in die Brüche des Gesteins eingehakten Stockes gelang es ihm, die Höhe derselben zu erreichen. Nach einer Weile mühseligen Kletterns erweiterte sich endlich der gewählte Pfad und ward ebener; bald begann er sich aber nach verschiedenen Seiten zu theilen, und der junge Mann sah sich in ein völliges Labyrinth von riesigen Blöcken, aufstrebenden Kegeln und zerklüfteten Steinmassen versetzt, das es ihm zur Unmöglichkeit machte, eine bestimmte Richtung einzuhalten; jetzt schon wußte er nicht mehr, ob er sich nicht von seinem Ziele mehr entferne, als sich ihm nähere, und zweifelnd stand er endlich still, setzte von Neuem die Hände an den Mund und ließ wiederholt einen gellenden Ruf erklingen. Aber so scharf er auch aufhorchte und so sicher er auch überzeugt war, in der ihn umgebenden Todtenstille selbst einen schwachen Antwortlaut vernehmen zu müssen, so drang doch nichts als das vereinzelte Tropfen des schmelzenden Schnees um ihn zu seinem Ohre. Er sah ein, daß er die volle Höhe des Gebirgszugs erreichen müsse, um freien Blick und Sicherheit für seine weitern Schritte zu erlangen, und die nächste Stelle benutzend, welche ihm die Möglichkeit für ein Aufwärtskommen zu bieten schien, begann er mit Hülfe seines Hakenstockes von Absatz zu Absatz in die Höhe zu klimmen. Da sah er plötzlich die von ihm genommene Linie von einer Art Pfad durchschnitten, an welchem hier und da augenscheinlich Menschenhände thätig gewesen, und als er, mit neu erwachter Frische diesem folgend, um eine hervorspringende Ecke bog, erblickte er in kurzer Höhe seitwärts die gesuchte, den Gebirgskamm überragende Felsenwand. Dort endete deutlich erkennbar der Weg auf einem gewaltigen Felsenwürfel; vergebens aber blickte der Emporklimmende nach der Gestalt der Verstiegenen umher, und als er endlich die Höhe der Wand erreicht, ohne daß sein jetzt frei umherschweifender Blick auf irgend etwas Lebendes getroffen, als sein Auge unwillkürlich den verhältnißmäßig bequemen Pfad verfolgte, welcher zu der Spitze herauf führte und der unvergleichlichen Aussicht halber, welche sich von hier über die ganze Ausdehnung des Eismeeres und die benachbarten Gletscher bot, angelegt sein mochte – da kam ihm plötzlich der Gedanke, daß er wohl von einer muthwilligen Reisenden gefoppt worden sei und diese längst ihren sichern Rückzug genommen habe, während er mit Lebensgefahr sich von der Gletscherseite einen Weg zu der Höhe gesucht. Noch einmal ließ er das Auge jeden Theil seiner Umgebung überlaufen, er glaubte mit Sicherheit den Punkt bestimmen zu können, wo das Mädchen gestanden, und ein tiefer Verdruß begann in ihm aufzusteigen. Fast [323] nur um seiner Täuschung völlig sicher zu werden, ließ er den frühern Hirtenruf über die Felsenhäupter klingen – ein zehnfaches Echo antwortete; mitten darunter aber tönte ein so heller Ruf aus geringer Entfernung, daß der junge Mann ein unwillkürliches Aufzucken nicht hindern konnte; umsonst aber flog sein Auge nach der Richtung des Schalles, um den Aufenthalt der Rufenden zu entdecken – überall blickte ihm nur der nackte, ungebrochene Kamm der Felsen, welche jenseits steil hinabfielen, entgegen. Von Neuem klang sein Schrei, von Neuem kam die Antwort, kam deutlich jenseits des Felsenkammes herauf, und mit einem Kopfschütteln der Ueberraschung hielt der Suchende die Augen fest auf die Stelle geheftet, wo die Stimme laut geworden. Mit zehn vorsichtigen Schritten ließ sich der Punkt erreichen, als aber der junge Mann sich der Kante des Felsenzuges genähert, legte er sich platt auf den Boden und schob dann seinen Körper langsam vor, bis er tief unten den von ihm früher verfolgten Fußpfad erblicken konnte. Noch einige Zoll weiter vorgerückt, bemerkte er etwa zehn Fuß unter sich den Beginn eines Absatzes an dem Felsen, welcher mit dem abgelösten Theile der benachbarten Wand in Verbindung gestanden zu haben schien und sich in seiner Fortsetzung verbreiterte. Als er jetzt seine Stimme hören ließ, klang es nur einige Schritt seitwärts in halb gebrochenem, den englischen Accent deutlich verrathendem Französisch herauf: „Hierher, Monsieur, und wenn Sie etwas, das als Seil dienen kann, bei sich haben, so lassen Sie es herab, ich denke mir dann selbst helfen zu können!“

„Nur einen Augenblick Geduld, Miß!“ gab der Angerufene in völlig schulgerechtem Englisch zurück, sich rasch der Gegend des Tones zuwendend, und in der nächsten Secunde war er bereits mit dem Oeffnen seines Ranzens beschäftigt. Das Seil erschien, und im Fluge begann er eine lange Reihe von Knoten hineinzuknüpfen. An den nächsten geeigneten Granitblock befestigte er das entgegengesetzte Ende und ließ dann die Knotenseite nach der Abgeschnittenen hinab. „Versuchen Sie nur, sich heraufzuarbeiten, bis meine Hand Sie erreichen kann,“ rief er, sich wieder platt auf den Boden streckend, und unmittelbar darauf sah er auch das Seil sich anspannen. Mit angehaltenem Athem wartete er; er wagte es nicht, den Kopf weit über den Abgrund zu strecken und damit die eigene feste Lage für die nothwendig werdende Hülfe zu gefährden, obgleich ihm dadurch der Blick in die Tiefe entging – da sah er in seinem Gesichtskreise einen niedergebogenen Kopf voll braunen, goldig schimmernden Haares erscheinen, hinter welchem der zurückgeworfene Strohhut an einem Bande hing, zwei schmale Schultern folgten, und mit fester Hand griff jetzt der junge Mann unter beide Arme der Heraufkommenden. In diesem Augenblicke aber schien es, als werde diese von ihrer Kraft verlassen; mit einer Schwere, welcher der Daliegende kaum gewachsen war, fühlte er plötzlich die ganze Last des Körpers an seinen Händen hängen und in aufsteigender Angst rief er: „Noch eine einzige kurze Anstrengung, Miß, und Sie sind oben; stemmen Sie die Kniee gegen die Felsen; jetzt –!“ eine sichtbare Anstrengung erfolgte, und mit einem kräftigen Zuge riß er den Oberkörper der Gefährdeten über die Felsenkante herauf. Krampfhaft faßte sie hier nach dem am Boden hinlaufenden Seile, in der nächsten Secunde aber war auch Jener auf seinen Füßen, ihr mit einer kurzen Anstrengung zur völligen Erreichung des sichern Grundes verhelfend. Sie erhob sich an seiner Hand langsam von ihren Knieen – und eine hohe, schlanke Gestalt, deren jugendlich volle Formen das eng anliegende, bis zum Halse geschlossene Kleid deutlich abzeichnete, ein bleiches Gesicht mit großen, dunkelbeschatteten Augen traten vor den Blick des Helfers. Sie that zwei Schritte von dem Abgrunde hinweg, dann aber streckte sie im plötzlichen Wanken die Hand nach seiner Schulter aus.

„Warten Sie, Miß, bis Sie sich erholt haben!“ rief er, rasch zu ihrer Unterstützung herantretend, und zwei Secunden lang fühlte er eigenthümlich erregt die schmiegsame Gestalt wie gänzlich machtlos an seinem Körper ruhen; kaum aber mochte sie sich des Drucks seines unterstützenden Armes bewußt werden, als sie mit einem leichten Zucken sich aufrichtete und die Hand gegen die Augen, drückte. „Es ist nur ein augenblicklicher Schwindel,“ sagte sie halblaut, „ich habe heute fast noch nichts genossen!“

„So erlauben Sie mir, daß ich Ihnen anbiete, was ich für derartige Nothfälle bei mir führe,“ versetzte er eifrig, mit den Augen nach einem passenden Orte zum Niedersitzen suchend, „es wird wenigstens das dringendste Bedürfniß befriedigen!“

Ohne Widerstand zu finden, hatte er sie nach dem nächsten niedrigen Steinblock geführt, sein Plaid war rasch gelöst und breitete sich über den kalten Sitz, und als sie sich niedergelassen, zog er aus seinem Ranzen eine Korbflasche mit Kirschwasser und einige Chocoladentafeln. „Nehmen Sie hier einige Tropfen, die jedenfalls Ihre augenblickliche Schwachheit beseitigen werden, und dann essen Sie,“ sagte er, seine Vorräthe in ihren Schooß legend, „ich werde sehen, daß ich Wasser für Sie schaffe! –“

Als er nach fast halbstündiger Abwesenheit mit seinem gefüllten ledernen Becher die Höhe wieder erreichte, stand das Mädchen emporgerichtet, aufmerksam den Horizont musternd, und der junge Mann hielt unter einem plötzlichen Eindrucke, den ihr jetziger Anblick auf ihn machte, einige Secunden lang seinen Schritt an. Der von dem üppigen dunkeln Haar umschlossene Kopf hob sich in eigenthümlicher Sicherheit auf dem weißen, stolzen Halse, während das halb abgewandte Gesicht eine fast classische Reinheit der Linien zeigte; ihre rechte Hand stützte sich auf das Felsenstück, und der leicht zurückgebogene Oberkörper ließ die ganze Schönheit ihrer Formen hervortreten. Es lag etwas wie das Bewußtsein einer hervorstechenden Lebensstellung, wie die Gewohnheit des Gebietend in ihrer Erscheinung, und als er sich unwillkürlich hierzu das kalte, stolze Achselzucken dachte, das er nicht aus dem Sinne bringen konnte, fühlte er, daß ein unvorsichtiges Herz wohl lebenslänglich durch sie elend werden könne. Kaum mochte sie aber die Schritte des Nahenden vernommen haben, als sie auch langsam den Kopf nach ihm wandte, und ein so volles, klares Lächeln breitete sich über ihre Züge aus, daß er in einer seltsamen Empfindung alle bisherigen Vorstellungen von ihrem Wesen in sich zusammenbrechen fühlte. Sie hatte einen raschen Blick über sein ganzes Aeußere geworfen und streckte ihm dann mit einem kaum merkbaren Erröthen die Hand entgegen. „Ich glaube, Sir, Sie haben mich vom Verschmachten errettet,“ sagte sie mit einer Stimme, deren sonore Fülle einer Modulation bis zum tiefen Alt fähig zu sein schien, „aber ich werde mich hier nicht lange bei meinem Danke aufhalten dürfen; dort drüben sind Wolken heraufgekommen, aus denen unsere Führer uns immer Regen im Verlauf der nächsten Stunde prophezeit haben.“

Der Blick des jungen Mannes hatte sich zwar mechanisch in der angedeuteten Richtung gehoben, senkte sich aber eben so unbewußt wieder in die großen Augen vor ihm, die kaum eine bestimmte Farbe zu haben schienen und je nach den wechselnden Seelenregungen bald sich zu einem dunkeln Blau aufhellten, bald zu einem vollen Schwarz sich vertieften; er hatte die weichen Finger des Mädchens mit einem leisen Druck in seiner Hand gefühlt und sie unwillkürlich festgehalten – da trat ein höheres Roth als vorher in ihre Wangen. „Sie haben Wasser hier, es wird mir gut thun,“ sagte sie, ihre Hand leicht befreiend und nach dem Becher greifend, „und nun lassen Sie uns keine Minute länger hier verziehen!“

„Wenn Sie nur schon stark genug für einen beschwerlichen Rückweg sind,“ erwiderte er, schnell zu sich selbst kommend, „selbst der Pfad, der Sie jedenfalls heraufgebracht hat, kann nicht frei von Schwierigkeiten sein –“

Ein rascher Aufblick traf ihn, dann sah sie in die Weite und zuckte kurz und wortlos die Achseln. Da war es! Schon im nächsten Augenblicke aber schien sie die Bewegung zu bereuen und wandte das Gesicht, in dem ein Lächeln mit einer stolzen Regung zu kämpfen schien, nach ihm zurück. „Sie haben mich freilich einen Augenblick schwach gesehen,“ sagte sie, ihren Hut losbindend und ihn wieder auf ihrem Kopfe befestigend, „das ist indessen vorüber, und ich hoffe, Sie nicht wieder daran zu erinnern. Lassen Sie uns die Zeit hier nicht länger verbringen!“

Er hatte schnell genug seine dem Ranzen entnommenen Habseligkeiten an ihren früheren Plätzen geborgen, jenen wieder auf den Rücken geworfen und folgte, den Plaid über dem Arme tragend, dem bereits vorausgeschrittenen Mädchen. Ein prüfender Blick über den Horizont hatte ihn von der raschen Aenderung des Wetters überzeugt, die Luft war fühlbar kälter geworden, und als er einen Blick nach seiner Begleiterin warf, fiel ihm erst deren dünne Bekleidung auf.

„Hatten Sie nicht einen Ueberwurf, Miß, als ich Sie zuerst sah?“ rief er der Voraneilenden zu. Sie wandte kurz den Kopf zurück, ohne ihren Schritt anzuhalten. „Er liegt da, wo Sie mir heraufhalfen,“ erwiderte sie mit leichtem Lachen, „ich konnte ihn [324] bei meiner ersten Matrosen-Uebung nicht brauchen und gehe auch jetzt bequemer ohne ihn!“

Je weiter der von den Niedersteigenden verfolgte Pfad sich in das Gewirr der Felsen hinabwand, je rauher zeigte er sich, und oft ward seine Richtung nur durch eine weiterhin deutlicher hervortretende Stelle erkennbar. Der Himmel aber begann sich mit jeder Minute mehr zu umziehen; wo sich eine Fernsicht zwischen den Felsenhäuptern aufthat, schienen die heraufgestiegenen Wolken sich von der Höhe hernieder zu wälzen, und bald waren die entfernteren Partien der wilden Landschaft völlig von Dunst verhüllt. Der junge Mann indessen hatte kaum zu Zeiten einen flüchtigen Blick für Himmel und Weg; seine Augen hingen unverwandt an den eleganten Formen und leichten Bewegungen der Vorangehenden, die in starker Willenskraft allen Rauhheiten des Gebirgspfades Trotz zu bieten schien und in stets gleichmäßig schnellen Schritten vorwärts eilte. Aber als habe sie seinen Blick gefühlt, blieb sie am Eingange einer Schlucht plötzlich stehen und wandte sich mit einem flüchtigen Erröthen zurück. „Wollen Sie nicht einmal versuchen, das Führeramt zu übernehmen?“ sagte sie, „ich habe nicht die Spur einer Erinnerung von diesen Formationen um uns, und hier scheint von einem Wege gar keine Rede mehr zu sein!“

Er hatte eine kurze Befangenheit zu überwinden, ehe er mit vollem Bewußtsein die Umgebungen zu mustern vermochte, die nirgends in dem rauhen Gestein ein leitendes Merkmal zeigten. „Bleiben Sie einen Augenblick hier, Miß,“ sagte er nach kurzer Beobachtung, „wenn der Felsenboden so gleichmäßig fortläuft, sind wir jedenfalls auf rechtem Wege, sonst müssen wir uns irgendwie einen andern Ausweg suchen!“ Er wandte sich rasch einer nahen Ecke des Gebirgszuges, welche die Aussicht nach vorwärts verdeckte, zu; aber auch hier ward ihm kein freier Blick; auf stets rauher werdendem Boden mußte er sich zwischen rechts und links aufstrebenden Felsen den Durchgang suchen. Immer mehr an der Richtigkeit des Wegs zweifelnd, aber doch auch noch nicht vom Gegentheile überzeugt, wanderte er vorwärts, bis er nach fast zehn Minuten seinen fernern Weg völlig verlegt fand, zugleich aber auch die Luft wie dicken, feuchtwarmen Nebel auf sich eindringen fühlte.

Eilig wanderte er zurück; noch hatte er aber seine Begleiterin nicht völlig erreicht, als auch schon ein leichter Sprühregen sein Gesicht näßte, und zum ersten Male trat ihm die Vorstellung, ein Unwetter mit dem gänzlich ungeschützten Mädchen in dieser Felsenöde verbringen zu müssen, drückend vor die Seele.

Sie stand, wo er sie verlassen, und blickte ihn mit gehobenem Kopfe lächelnd entgegen. „Kann ich nicht gut prophezeien?“ rief sie, mit der Hand die niederrieselnden Tropfen auffangend; er aber hatte bei ihrem Erblicken seinen Plaid auseinander geschlagen und trat damit rasch auf sie zu. „Sie müssen sich schützen, Miß,“ sagte er, ihr die dichte Hülle um die Schultern legend, ohne zuvor ihre Erlaubniß zu erwarten, „Sie sind nicht an kalte Bäder im Freien gewöhnt, wie ein Fußreisender, und ich wünsche nur, daß wir vor dem stärkern Beginn des Wetters einen Ort zum Unterschlüpfen gefunden haben. Lassen Sie uns sehen, was die Schlucht bietet, es ist ohnedies die einzige Richtung, die wir einschlagen können.“

Sie wandte mit einem großen eigenthümlichen Blicke den Kopf nach ihm, ohne das umgeworfene Tuch zu fassen. „Daß uns Frauen doch jeder Regentropfen gleich Gefahr bringen soll!“ sagte sie mit einem leichten Zucken der Oberlippe; „nach dem Geschehenen mögen Sie allerdings das Recht haben, sich auf den Sockel des stärkeren Geschlechts zu stellen –„

„Ich verstehe Sie nicht, Miß,“ erwiderte er befremdet.

„Nun, ich habe die ängstliche Sorge um die Schwäche der Frauen immer nur als eine systematische Demüthigung derselben angesehen, als ein gefälliges Mittel, ihnen die Nothwendigkeit ihrer abhängigen Stellung fortlaufend vor die Augen zu halten!“ erwiderte sie. „Aber mag es denn sein!“ fuhr sie fort, während sich plötzlich ihr früheres Lächeln durch den leichten Zug von Stolz um ihren Mund Bahn brach, „– ich darf wohl Angesichts der Lage, aus der Sie mich befreit, jetzt kaum protestiren, und so mögen Sie Ihre Genugthuung haben!“

Sie zog mit einem kurzen Griffe den Plaid dicht um sich und wandte sich rasch der Schlucht zu; kaum war er ihr aber, mit dem Reize kämpfend, welchen das ganze Wesen des Mädchens auf ihn ausübte, gefolgt, als auch schon ein erster mächtiger Donner durch das Gebirge rollte und der feine Regen plötzlich in einen gewaltigen Guß umschlug, zugleich aber auch die Vorangehende ihren Schritt anhielt.

„Kommen Sie rasch, hier ist Schutz!“ rief sie ihm zu und war im nächsten Augenblicke seitwärts in den Felsenmassen verschwunden. Der Angerufene säumte nicht zu folgen und stand nach zwei Secunden nur leicht benäßt vor einer der eigenthümlichen Grotten, wie sie, vom Gebirgswasser ausgewaschen, sich in diesen Regionen der Alpen so oft finden. Es war nur ein enger Raum, der in seiner Tiefe kaum das Aufrechtstehen erlaubte; aber der Felsen ragte wie ein Dach über dem Eingange vor, und mußte schon hier Schutz vor dem Regen geben.

Das Mädchen schien mit raschem Blicke die Eigenthümlichkeit des zeitweiligen Zufluchtsortes ermittelt zu haben, denn als ihr Begleiter sich in den Eingang flüchtete, sah er sie einen niedrigen glatt gewaschenen Vorsprung des Gesteins, welcher die Tiefe des Raumes schloß, bereits als Sitz mit dem Plaid belegen, aber beim ersten Blicke erkennend, daß neben ihr kaum genügender Platz für ihn sei, nahm er seine Stellung an der innern Oeffnung der Grotte.

Eine Zeitlang stand er hier, dem Tosen des zu voller Macht sich steigernden Unwetters folgend; Schlag auf Schlag dröhnte der Donner, in dem Wiederhall der Berge oft zu einem riesigen Gebrüll anwachsend; in vollen Strömen goß der Regen nieder, und bald war der rinnenförmige Boden der Schlucht zum Bette eines in reißender Schnelle abwärts schießenden Gebirgsbaches geworden; als sich aber das Ohr an den wilden Lärm gewöhnt hatte und er der Sicherheit des Ortes inne geworden war, wandte er seine Aufmerksamkeit fast unbewußt dem dicht hinter ihm sitzenden Mädchen zu. Er hörte das Rauschen ihrer Kleider, als versuche sie, sich eine andere Stellung zu geben, sein inneres Auge meinte die Bewegungen ihrer biegsamen Gestalt zu sehen, und die Einsamkeit des Ortes, die Abgeschlossenheit und das Geborgensein ihrer beiderseitigen Lage durchrieselte ihn mit einem noch kaum gekannten Gefühle. Er sah es nicht, daß das zu seinen Füßen vorüberschießende Wasser immer wilder schäumte und ganze Springfluthen nach ihm sandte, und erst die Stimme seiner Gefährtin rief ihn zur Wirklichkeit zurück.

„Sie werden naß, wo Sie stehen, Sir!“ sagte sie, „es ist Raum hier für uns Beide, wenn wir uns danach einrichten. Legen Sie Ihr Gepäck ab und nehmen Sie Ihren Platz hier!“

(Fortsetzung folgt.)


Indianer auf dem Kriegspfad.
Von Balduin Möllhausen.

„Nehmt dem nordamerikanischen Continent die eingeborenen Jäger und die wandernden Bisonheerden, und er verliert die letzte Poesie, mit welcher ihn die freigebige Natur so reich bedachte und die weder durch Eisenbahnen, noch durch weithin sichtbare Schornsteine von Brennereien und Fabriken, weder durch eine nach manchen Richtungen hin gewissenlose innere Politik, noch durch salbungvolle Lehren fanatischer Priester ersetzt werden kann.“ Diese Ansicht sprach ich in einem frühern Werke aus, als ich des rücksichtslosen Vordringens der Civilisation und des in Folge dessen fast unvermeidlichen Unterganges einer ganzen Menschenrace erwähnte.

Ganz dieselben Worte wiederhole ich hier, indem ich meine Blicke auf die bildliche Darstellung einer Gruppe von Assineboin-Indianern hefte; aus inniger, fester Ueberzeugung wiederhole ich sie, unbekümmert darum, ob der in denselben liegende harte, aber gerechte Vorwurf nur einzelne Individuen oder ganze Nationen trifft. – Oder sind die rothhäutigen Krieger und die zottigen Bisons vielleicht nicht würdig, als die Poesie bezeichnet zu werden, welche die endlosen Wildnisse, die oceanähnliche Prairie wie den undurchdringlichen Urwald, die anmuthigen, reich bewässerten Thäler wie die majestätischen, eisgekrönten Gebirgszüge so entsprechend, so romantisch belebt?

Schon die Erinnerung daran ist gewissermaßen Poesie, denn

[325]

Indianer als Pfadsucher.
Nach der Natur aufgenommen von Fred. Kurz.

[326] wenn ich mich in die Erinnerung an mein unstetes Wanderleben versenke, dann tauchen Bilder und Scenen vor mir auf, so frisch, so lebhaft und geschmückt mit so grellen Farben, als ob die Zeit zwischen dem „Früher“ und dem „Jetzt“ nicht wüchse, gar nicht vorhanden wäre: ich höre das Stampfen von Tausenden von Hufen, die Gras und dürres Erdreich in die feinsten Atome zermalmen; ich sehe die gelbe Staubwolke, die über den mächtigen Heersäulen wandernder Büffel emporwirbelt; ich sehe die Thiere selbst, diese Urgebilde physischer Kraft, wie sie dumpf brüllend sich gegenseitig im Scheingefecht oder im ernstlichen Kampf anfallen, oder mit gemessenen Bewegungen behaglich einherschreiten. Die langen Bärte fegen die Erde, die buschigen Mähnen verbergen fast die kurzen dicken Hörner, und aus den glühenden, halbverschleierten Augen wie aus der ganzen, gleichsam selbstbewußten Haltung leuchtet hervor, dem empfänglichen Gemüth leicht verständlich, der Begriff unbegrenzter, süßer Freiheit. –

Ich sehe, wie die riesenhaften Köpfe sich heben und die schwarzen Nüstern dem Winde entgegenrecken; die kurzen Schweifbüschel richten sich empor, und Alles steht wie gebannt. Die Staubwolke trennt sich von den gekrümmten dunkelbraunen Rücken, doch nur auf Augenblicke, denn schon in der nächsten Minute erneuert sie sich wieder, dichter und undurchdringlicher; die Masse der kolossalen Leiber wirbelt durcheinander, der Erdboden dröhnt und bebt, und donnernd stürmt der mächtige Keil dahin, seine Spuren gleichsam verhüllend in Staub und Flugsand, der noch lange über der betretenen Bahn träge in der stillen Atmosphäre hängt.

Weiter schweifen die Blicke in der Vergangenheit: ich sehe vor mir einen Trupp der stattlichen Wüstenjäger; theils zu Fuß, theils zu Pferde kommen sie daher; ihre Waffen funkeln in den Strahlen der Morgensonne; phantastischer Schmuck umgiebt die schwarz behaarten Häupter und die geschmeidigen Glieder, und farbige Linien und gräßliche Malereien verleihen dem nackten Oberkörper und den finstern Zügen einen furchtbar drohenden Ausdruck. – Ich beobachte sie, wie sie vor dem gestampften Boden anhalten und der fliehenden Heerde theilnahmlos nachschauen. Das ist nicht die Art der Büffeljäger, nicht die Malerei, die zum fröhlichen Jagdzuge der glatten Haut aufgetragen wurde. Kein Büffeljäger ist so schwer bewaffnet, kein Büffeljäger umgiebt sich und sein Pferd mit schönem kriegerischem Schmuck und Zierrathen, die dazu dienen sollen, auf prahlende Weise die Kampflust der Feinde aufzustacheln.

Da trennen sich zwei Reiter von dem Trupp und beschreiben galoppirend, nach verschiedenen Richtungen hin, weite Kreise, während drei Fußgänger die Kreise bedächtig durchschneiden. Erwartungsvoll schauen die Zurückbleibenden den Davoneilenden nach, welche, die Blicke fest auf den Boden geheftet, nach den verwischten feindlichen Spuren forschen.

Dergleichen Scenen, dürfen sie nicht als Poesie betrachtet werden? Was wäre es denn sonst, das der beängstigenden Einsamkeit der Urwildniß einen so eigenthümlichen Reiz verleiht? Steht doch Alles im schönsten Einklang mit einander, die unabsehbare Steppe wie die vereinzelten Baumgruppen auf dem Ufer des nahen Flüßchens, die in der Ferne auftauchenden blauen Gebirgszüge wie die phantastisch geschmückten rothen Krieger und die schwarzen Wogen fliehender Bisons. –

Sacré mille tonnerre! Da gehen sie hin und mit ihnen der fette Büffelhöcker, den wir uns zu Mittag rösten wollten!“ So sagte mein grauköpfiger Jagdgefährte, ein so beweglicher Canadischer Trapper, wie nur je einer sein Gewehr auf den grimmigen Gebirgsbären abfeuerte; „ja, da gehen sie hin, beim heiligen Napoleon! Aber scalpiren will ich mich lassen von einem Ohr bis zum andern und nie wieder das Mark aus dem Beinknochen einer jungen Kuh saugen, wenn das dort drüben nicht eine Kriegsabtheilung der Assineboins ist!“

Mit diesen Worten legte er die Büchse, die er schon zur Hetzjagd in die Hand genommen, quer vor sich auf den Sattel, welchem Beispiel ich mechanisch folgte, und deutete mit seinem langen Reserveladestock auf eine Bande von ungefähr dreißig Indianern, die eben aus dem Bett eines kleinen Nebenarm des Yellow-Stone-Flusses nach der Ebene hinaufgeklettert und geritten waren und offenbar die Büffel verjagt hatten.

„Ja, eine richtige Kriegsabtheilung,“ wiederholte er sinnend. „Die Burschen haben sicherlich die Spuren von Schippewä-Räubern im Sande des Flusses verfolgt, oder wir hätten sie eher bemerken müssen. Aber kommt, es ist oft nicht gerathen, selbst befreundeten Indianern auf dem Kriegspfade zu begegnen; wir thun am besten, ohne sie zu beachten, unseres Wegs zu ziehen.“

Ich machte natürlich keine Einwendungen gegen die Ansichten meines gediegenen Gefährten, drückte meinem Pferde die Sporen in die Weichen und ritt an seine Seite.

Wir hatten noch keine zehn Schritte zurückgelegt, als ein lautes Gellen zu unsern Ohren drang, und indem wir uns umschauten, gewahrten wir einen einzelnen Reiter, der mit größter Eile auf uns zugesprengt kam und zum Zeichen friedlicher Absichten seine flache Hand emporhob.

Der Fremdling, eine echte Matoreh-Gestalt, welche durch den flatternden Federschmuck, durch das weite hellblaue Jagdhemde und durch die mit Glasperlen und Messingnägeln reich verzierten Waffen noch bedeutend gewann, galoppirte dicht vor uns hin und forderte uns, wenn nicht mit feindlichem, doch sehr entschiedenem Wesen auf, vorläufig nicht an die Weiterreise zu denken.

Mein Gefährte, der Sioux-Sprache kundig, richtete einige Fragen an den wilden Krieger, erhielt aber nur sehr kurze Antworten, die noch obendrein mit so viel Stolz und einem solchen Ausdruck von Uebermuth auf den schwarz, gelb, blau und roth marmorirten Zügen, aus welchen über der scharfen Adlernase zwei tiefliegende Augen unheimlich hervorfunkelten, gegeben wurden, daß dem leicht erregbaren Franzosen ein Mal über das andere ein „mille tonnerre“ über die bärtigen Lippen rollte.

„Wenn’s nur sechs oder sieben wären, parbleu!“ grollte er in seinem Eifer, „dann wollten wir ihnen schon zeigen, wer hier zu befehlen hat, aber fünfundzwanzig bis dreißig? Beim heiligen Napoleon, das ist zu viel für uns!“

Ich erklärte abermals, daß ich vollständig seiner Meinung sei, konnte aber doch nicht umhin, eine innere Befriedigung darüber zu empfinden, daß es gerade ihrer dreißig und nicht ein halbes Dutzend waren; denn ich kannte meinen Gefährten zu genau, um nicht befürchten zu müssen, daß er im letzteren Falle, trotz seiner friedfertigen Natur, wenn auch nur aus Laune oder um sich etwas Aufregung zu verschaffen, dem Willen der Indianer gerade zuwider gehandelt hätte, obgleich es lauter Krieger waren, die einzeln, Mann gegen Mann, zu bekämpfen, gewiß nicht zu den leichtesten Aufgaben gehört hätte.

Die zuerst abgeschickten Reiter hatten unterdessen ihren Kreislauf beendigt, ohne auf eine Fortsetzung der von der Büffelheerde vernichteten Fährte gestoßen zu sein; die Pfadsucher waren, scheinbar ohne uns zu beachten, dicht bei uns vorübergeschritten und hatten sich, eine Biegung abschneidend, dem Flüßchen wieder genähert, und noch immer verharrte der Haupttrupp auf seiner alten Stelle.

Da ließen die Späher plötzlich ein jubelndes Gellen vernehmen. Sie hatten die Fortsetzung der Spuren am Abhange des Ufers entdeckt, und augenblicklich schickte sich die ganze Bande an, ihnen zu folgen.

Langsam und ihre noch muthigen Rosse nicht ohne Mühe bändigend, näherten sich die malerischen Gestalten. Sie wollten die Späher offenbar einen Vorsprung gewinnen lassen und hielten deshalb, sobald sie bei uns eingetroffen waren, an.

Der Häuptling, ein noch junger Mann, der sich in seinem Aeußern vorzugsweise durch einen prächtigen Kopfschmuck von den Schweiffedern des Kriegsadlers bemerklich machte, wechselte einige Worte mit dem Krieger, der uns so lange bewacht hatte, und nachdem er meinen Gefährten und mich etwa eine Minute lang aufmerksam betrachtet, wendete er sich zu Ersterem. „Meine weißen Brüder werden mich eine Strecke auf dem Kriegspfad begleiten,“ hob er in der Sioux-Sprache an, „sie werden mich begleiten, bis die Sonne den Rand der Steppe berührt, und dann ihr Pulver mit uns theilen. Wir gebrauchen viel Pulver und Kugeln, wenn wir die Pferde zurück erbeuten wollen, welche die Schippewä-Hunde unsern Weibern raubten. Die Schippewä’s sind feige, sie stehlen die Pferde der Weiber, wagen aber nicht die Hand nach den Rossen von Kriegern auszustrecken.“

„Verdammt!“ rief mein Gefährte lachend auf Französisch aus, „glaube nicht, daß die Schippewä’s es anders machen, als die Assineboins; denke, sie nehmen, wo sie können, ohne zu fragen, von wem es kommt. Pulver sollt Ihr dennoch haben,“ fügte er in der Sioux-Sprache hinzu, die er aber reich mit französischen Ausdrücken vermischte; „werdet uns wohl nicht ohne dem aus den Fingern lassen, Ihr die Hälfte, wir die Hälfte, aber mit Euch [327] ziehen? Sacré tonnerre, nicht einen verdammten Schritt! Glaubt wohl, ich habe nichts Besseres zu thun, als spazieren zu reiten?“

„Meine jungen Leute werden die Pferde der beiden weißen Jäger führen,“ entgegnete der Häuptling stolz, „sie werden die Pferde nicht eher von der Hand lassen, als bis der Schatten eines Büffels eine Tagereise lang ist!“

Dem alten Trapper schwebte eine heftige Antwort auf den Lippen, ich ließ ihn aber nicht beginnen, sondern wendete mich mit der Aufforderung an ihn, den Wünschen der Indianer zu willfahren, indem es vom größten Interesse für mich sei, sie auf ihrem Kriegspfad zu beobachten.

„Wohlan denn, wenn Euch darum zu thun ist, dann ziehen wir mit,“ versetzte er, die kurze Geißel auf sein Pferd fallen lassend und so das Zeichen zum Aufbruch gebend. „Möchte im Grunde auch nicht gerathen sein, Streit mit ihnen anzufangen. Tonnerre! Wenn’s nur ein halbes Dutzend wären, aber dreißig ist doch etwas zu viel.“

So grollte und fluchte der alte, unter Gefahren und Entbehrungen ergraute Canadier ununterbrochen fort, bis wir, zusammen mit der wilden Gesellschaft, die Fortsetzung der Schippewä-Fährten erreicht hatten, wo dann eine andere Art des Reisens begann.

Nachdem wir nämlich angewiesen waren, in gleicher Höhe mit ihnen das Ufer zum Wege zu wählen, begaben sich die Indianer in den seichten, mit Hindernissen mancher Art angefüllten Fluß hinab und folgten dann behutsam dessen Lauf gegen Nordosten. Die Räuber, denen sie nachsetzten, mußten ihre Spuren in dem Wasser zu verbergen, mitunter auch ihre Verfolger durch Umwege irre zu leiten getrachtet haben, denn bald nach den Uferabhängen hinauf, bald quer durch das Flüßchen hindurch sah man die Späher, deren Pferde von ihren Cameraden nachgeführt wurden, eilen, während der Haupttrupp dann immer so lange vorsichtig auf derselben Stelle halten blieb, und nur hin und wieder ein Reiter sich eine kurze Strecke zurück begab, um seine Blicke prüfend über die Uferwände gleiten zu lassen.

Unsere Reise ging daher nur sehr langsam von statten. Mein alter Gefährte, der seinen guten Humor wiedergefunden hatte, erging sich in spöttischen Bemerkungen über den nach seiner Ansicht noch immer nicht vollständig ausgebildeten Scharfsinn der Indianer, oder erzählte mit manchen scherzhaften Ausschmückungen irgend eins seiner zahllosen erlebten Abenteuer; ich selbst dagegen beobachtete mit regster Theilnahme die gewandten Krieger, die sich so gänzlich in die Verfolgung ihrer Feinde vertieft hatten.

In den Bewegungen der Späher, die sich unstreitig großen Ruf als Pfadsucher erworben hatten, lag viel, das an das Wesen guter Schweißhunde erinnerte, nur daß, wie die Thiere einzig ihren feinen Geruchsnerven vertrauen, bei diesen Leuten die ganze Kraft, das ganze Empfindungsvermögen allein in den Augen zu liegen schien. Hierhin und dorthin blitzten die von den Lidern halbverhangenen Pupillen; keine Spur außerhalb des Wassers, und wenn sie noch so leise ausgeprägt war, entging ihnen. Es ist oft wunderbar, wie weit der Scharfsinn und die Combinationsgabe dieser Naturkinder in Beurtheilung der kleinsten Merkmale geht. Ein flüchtiger Feind sucht seine Verfolger oft dadurch irre zu leiten, daß er eine Zeitlang seinen Weg rückwärts gehend verfolgt, so daß der Späher in den Abdrücken der Füße eine ihm entgegenlaufende Spur findet. Aber ein rückwärtsschreitender Mensch tritt anders auf, als ein vorwärtsgehender; der Erstere setzt nothwendigerweise zuerst die Zehen nieder, während der Letztere dies mit der Ferse thut. Und nicht nur im Sande, sondern auch im Grase der Prairie, an jedem gebrochenen oder niedergetretenen Halme erkennt der Indianer die ihm bereitete Täuschung. Einige im Gebüsche abgestreifte grüne Blätter erregen seine Aufmerksamkeit, er sieht die Erscheinung an andern ähnlichen Orten sich wiederholen, und er weiß daraus, zu welchem Stamme der Fliehende gehört – eine Zierrath an der Kleidung des letzteren hat die Spur hervorgebracht. Er vermag aus der Beschaffenheit der Fährte zu beurtheilen, wo der Verfolgte stillgestanden und gelauscht, wo er langsam geschritten oder flüchtig davon geeilt; jede verschiedene Biegung eines Grashalmes erregt Gedanken und Schlüsse in ihm, die fast nie fehlgehen; und so genügten bei den Spähern vor uns meist nur wenige gewechselte Worte, um sich über die wahren Absichten ihrer Feinde einverstanden zu erklären.

Der Häuptling und seine Krieger folgten in kurzer Entfernung, und so groß war das allgemeine Vertrauen auf die Fähigkeit und den Scharfsinn der Späher, daß von keiner Seite eine Frage an sie gerichtet wurde, und nur selten, wenn keine Gefahr vorhanden war, die fremden Spuren durch die der eigenen Pferde zu verwischen, sprengten einzelne heran, um die racheglühenden Blicke kurze Zeit auf den Abdrücken der Schippewä-Mocassins ruhen zu lassen.

Meile auf Meile hatten wir zurückgelegt. Mittag war längst vorüber, und die Geduld schien meinen Gefährten verlassen zu wollen, denn häufiger wurde das „tonnerre“ und kürzer wurden seine Erzählungen. Da plötzlich stieß er ein so lautes Lachen aus, daß die Indianer überrascht zu uns emporschauten, und mehrere sogar über die Uferränder lugten, um sich von der Sicherheit der Umgebung zu überzeugen.

Sacré mille tonnerre!“ rief er fröhlich aus, indem er sich, ohne die drohenden Gebehrden der Indianer einer Beachtung zu würdigen, zu mir wendete. „Jetzt will ich Euch sagen, warum die bunten Einfaltspinsel uns ersucht haben, sie freiwillig zu begleiten! Carajo! wie der Spanier sagt; unterscheidet Ihr dort die Büffelheerde, die in der Nähe des Flüßchens lagert? Gut also; sie sehen ein, daß dieselbe bei ihrer Annäherung die Flucht ergreifen wird. Weil aber nun Schippewä-Späher in der Ebene lauern können, sie selbst aber dort unten unentdeckt bleiben wollen, so soll es den Anschein haben, als wenn wir die Bestien verjagt hätten. Beim heiligen General Washington! Schlau ausgedacht! Ja, ja, nur aus diesem Grunde mußten wir – verdammt! ich wollte sagen, baten sie uns, so breit auf dem Ufer zu reiten.“

„Wie wär’ es, Camerad,“ entgegnete ich, nunmehr vollständig über die Absichten der Indianer beruhigt, „wie wär’ es, wenn wir uns dort einen Büffelhöcker oder auch ein paar Zungen holten; ich muß gestehen, daß ich mehr als gesunden Appetit fühle.“

„Um den Buntspechten, die übrigens ganz gute Jungens sind, einen Gefallen zu erweisen? Nein, nein; schnürt Euern Gurt fester, wenn Euer Magen knurrt, aber heute noch Büffel hetzen? Sacré mille tonnerre! Nimmermehr! Sie können uns zwingen, sie zu begleiten, aber Büffel zu hetzen und ihre Feinde auf diese Weise täuschen zu helfen? Caramba! Nimmermehr. Ist einmal mein Grundsatz, neutral zu bleiben; werden so wie so früh genug vom Erdboden verschwinden, die armen Teufel; habe nicht Lust, ihren Hader zu schüren, wird schon mehr wie zu viel von den weißen klugen Leuten geschürt, um ihnen demnächst das Ihrige rauben zu können.“

Bei den letzten Worten war der treuherzige Canadier ernst geworden, und ich bemerkte, daß ein theilnahmvoller Blick aus seinen von buschigen Brauen beschatteten Augen über die Gruppe der Assineboins hinstreifte. Ich wagte nicht, irgend etwas zu erwidern, aus Achtung vor den eben ausgesprochenen Ansichten. Und so ritten wir denn schweigend dahin, bis nach einer Stunde die Büffel auseinander stoben und der Häuptling uns zu sich herabwinkte, um das Pulver in Empfang zu nehmen.

Mit allen Zeichen der Freundschaft trennten wir uns von der kampflustigen Bande und schlugen den Rückweg nach unserer Lagerstelle ein. Unsere Schatten waren mit der nächtlichen Dunkelheit zusammengefallen, aber lange dauerte es noch, eh’ mein Gefährte wieder in der ihm eigenthümlichen leichtfertigen Weise zu erzählen begann; dafür vernahm ich, daß er mehrfach, wie im Selbstgespräch, vor sich hinmurmelte: „die armen, armen Indianer!“


Rechtskunde für Jedermann.
Von Dr. jur. L. Erdmann.
1. Hausfriedensbruch.

Wenn das Rechtsgefühl – einer der edelsten und besten Hebel des gesunden, tüchtigen Volkslebens – nicht blos ein dunkeles Gefühl bleiben soll, so muß es unterstützt und gefördert werden durch die Rechtskenntniß, d. h. die Kenntniß wenigstens derjenigen allgemeinen gesetzlichen Vorschriften und ihrer Motive, welche im praktischen Leben am häufigsten Anwendung finden und deren Bekanntschaft [328] vor Schaden an Person und Eigenthum schützt; denn Unkenntniß des Strafgesetzes schützt nicht vor der Strafe, und das Bedauern darüber, daß man einen Vermögensverlust durch Unbekanntschaft mit der bezüglichen Rechtsnorm erlitten hat, füllt den geleerten Geldbeutel nicht wieder.

Je mehr Gelegenheit Jedem geboten wird, in das Recht und seine Institutionen auch ohne tieferes Studium der eigentlichen Wissenschaft einzudringen und sich einen Ueberblick zu verschaffen über die Rechtsverhältnisse, in denen der Staat und der Einzelne selbst in diesem besteht, um so mehr wird das Rechtsbewußtsein im Volke Wurzel schlagen, um so vertrauensvoller wird es auf die rechtsprechenden Behörden blicken, in denen es nicht mehr die Gewalthaber, sondern die Vertreter seiner selbst, seiner eigenen Rechte erblickt.

Freier erhebt sich unser Haupt, wenn wir im richtenden Gesetze das rechtlich und sittlich Nothwendige erkennen, und gern unterwerfen wir uns seiner Macht, wenn wir dies aus eigener Erkenntniß vermögen.

Die Zeiten des Gellert’schen Amtmanns, der seine Bauern nur dadurch zur Ordnung bringen konnte, daß er ihnen sagte:

„Hört zu, ich will mein Amt verwalten:
Ihr Ochsen, die Ihr alle seid,
Euch Flegeln geb’ ich den Bescheid etc.“

sind glücklicher Weise vorüber, die deutschen Bauern sind einsichtsvolle Oekonomen geworden, die Amtmänner sind keine unumschränkten Dictatoren mehr. Die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit hat das morsche Mauerwerk der alten Amtsstuben durchbrochen, und in lebhaftem Bilde kann man die Handhabung des Strafrechts dramatisch an sich vorübergehen sehen. In vielen Ländern ist das Volk selbst schon durch die Geschworenen Richter der Vergehungen seiner einzelnen Glieder geworden, während die einzelnen Gesetzgebungen in Folge des deutschen Handelsgesetzbuches fast schon im gesammten Vaterlande dem rechtsgelehrten Richter den Richter aus dem Handelsstande zur Entscheidung der betreffenden Rechtsstreitigkeiten zur Seite gestellt haben.

Darum ist es jetzt doppelt nöthig, die Gesetze zu kennen, unter deren Herrschaft man lebt, und aus diesem Gesichtspunkte werden sich die nachfolgenden Aufsätze rechtfertigen, welche möglichst allgemein in Deutschland Gültiges umfassen sollen. Daß von der Darstellung und Ausführung irgend eines Systemes für unseren Zweck abgesehen werden muß, versteht sich der Natur der Sache nach Wohl von selbst, ebenso daß diese Zeilen nicht den Zweck haben sollen, eine Rechtslehre zu geben, welche die Beiziehung von tüchtigen Fachmännern bei Abschließung schwieriger Rechtsgeschäfte überflüssig machen könnte. – Wir verweisen in Bezug hierauf auf das, was bereits in der Gartenlaube, Jahrgang 1861, S. 411 richtig gesagt ist. – Wir wollen heute mit einem Criminalvergehen beginnen, welches man eben so leicht selbst begehen kann, als es gegen uns begangen werden kann, und das Mancher, wie in dem nachfolgenden, dem Leben entnommenen Beispiele gezeigt wird, aus Unkenntniß gar nicht als solches zu betrachten geneigt ist.

Der eigene Heerd ist uns das Werthvollste, und deshalb erörtern wir zunächst eine Rechtsvorschrift, die uns seine Unverletzbarkeit wahren hilft. Eine Störung des häuslichen Friedens, wenn sie von außen, d. h. von einem unberechtigten Dritten kommt, heißt Hausfriedensbruch, und folgender Fall stellt den Thatbestand dieses Verbrechens dar.

Vor nicht langer Zeit kam ein meiner Familie seit längerer Zeit bekannter Handwerker, ein durchaus ehrenwerther, braver Mann, der mit Gott und aller Welt im Frieden lebt, athemlos zu mir, einen Bestellzettel des Amts „zur Vernehmung“ in der Hand haltend. Nachdem er Athem geschöpft und sich einigermaßen erholt hatte, erzählte er mir, daß er zum Verhör vor Gericht beschieden sei. Er sei sich aber durchaus nichts bewußt, außer daß er vor einigen Tagen einen kleinen Wortwechsel mit seiner Saalnachbarin gehabt habe.

Auf meine Frage: „Sie haben sich dabei wohl eines oder mehrerer Schimpfwort bedient und sind deshalb wegen Beleidigung verklagt worden?“ folgte die Antwort: “

„I bewahre, durchaus nicht. Die Frau hatte hinter dem Rücken meiner Frau schlecht über diese gesprochen. Ich hatte dies erfahren und ging zu ihr in die Küche, um Rechenschaft zu fordern.“

„Gab sie Ihnen diese?“

„Nein, sie zankte, daß ich in ihre Küche gekommen sei, und hieß mir, ich solle mich entfernen, mich packen.“

„Gingen Sie?“

„Nicht gleich, ich wollte doch erst meine verlangte Rechtfertigung haben.“

„Nun ist mir die Sache klar,“ entgegnete ich lächelnd; „lieber Meister, Sie haben ein Criminalverbrechen begangen.“

Der Mann ward todtenblaß, zitterte am ganzen Leibe und sagte: „Ich ein Verbrechen? Wie meinen Sie das? Ich habe ja gar nichts gethan, keine Hand angerührt, nicht geschimpft!“

„Das ist auch gar nicht nöthig; das Verbrechen, welches Sie begangen haben, besteht einfach darin, daß Sie sich nicht sofort aus der Küche Ihrer Nachbarin entfernt haben, als diese es Ihnen befahl.“

Es dauerte lange, ehe mein Freund durch meine Auseinandersetzungen dahin gelangt war, zu begreifen, daß er wirklich gegen das Strafgesetz gesündigt habe. Als er endlich zu dieser Einsicht gelangt war, eilte er auf meinen Rath zu seiner Feindin, die auch ein menschliches Herz hatte, verglich sich mit derselben, so daß diese ihren Strafantrag zurückzog und mein Verbrecher zu seiner großen Freude – denn es wäre zum ersten Male in seinem Leben gewesen – nicht auf das Criminalgericht zu gehen, sondern blos die bis dahin erwachsenen wenigen Gerichtskosten an die Sportelcasse einzuschicken brauchte, was er denn auch herzlich gern that.

Da es nun vielen rechtschaffenen Leuten so gehen könnte, wie meinem Freunde, so daß sie auf einmal zu ihrem Entsetzen vor das Strafgericht gefordert würden, andererseits aber auch wissenswert ist, was man zum Schutze seines Hausrechts vorzunehmen habe, weil das einfache „Hausrechtbrauchen“, d. i. den Störer die Treppe hinunterwerfen, vorausgesetzt daß es physisch möglich ist, doch immer sein Bedenken hat, so wollen wir das fragliche, sehr häufig vorkommende Verbrechen näher in’s Auge fassen.

Der Hausfriedensbruch (Störung des Hausfriedens) besteht nach den neueren deutschen Criminallegislationen darin, daß man entweder in eines Anderen Wohnung, Geschäftslocal oder einen dazu gehörigen geschlossenen Bezirk widerrechtlich, also ohne gesetzliche Befugniß eindringt oder wider den erklärten Willen des Besitzers oder seines Stellvertreters darin verweilt. Das Haus, der Heerd, ist geheiligt bei allen civilisirten und uncivilisirten Nationen, der Friede darin ist das kostbarste Gut, welches der Naturmensch mit den Waffen, der Culturmensch aber mit der Strenge des Gesetzes schützt und vertheidigt. „Jeden Mannes Haus ist seine Burg“, sagt der Engländer und bezeichnet mit dem Ausdrucke castle (Burg, Schloß), daß auch eine Abwehr der Friedensstörung mit Gewalt an sich nicht unerlaubt sei.

Burg in diesem Sinne ist jede Wohnung, und sei sie so klein und so ärmlich als sie wolle. In seinen vier Pfählen ist Jeder Herr, sei er Besitzer, Miether oder Pachter. Unter Burgfrieden im engeren Sinne verstand man früher den besonderen Schutz, dessen die Wohnung des Regenten (die Burg) und die Gerichtsstätte genossen. Schon das bloße Zücken eines Schwertes darin ward als Bruch des Burgfriedens bestraft.

Also die einfache Erklärung des Besitzers, Miethers oder Pachters eines Wohn- oder Geschäftslocales, so wie auch seines Vertreters, gegen einen Dritten: „Entfernen Sie sich,“ und die nicht sofortige Folgeleistung Seiten des Letzteren begründet den Bruch des Hausfriedens und wird, jedoch nur auf Antrag des Gestörten, nach den verschiedenen Gesetzgebungen mit Gefängniß in der Dauer von mehreren Wochen oder mit Geld bis mehr als 100 Thaler bestraft. Wenn Gewalt bei der Störung des Hausfriedens verübt wird, so kann die Strafe bis zu mehrjährigem Arbeitshaus (resp. entsprechender Strafart) ansteigen.

Nach Obigem kann der Hausfriedensbruch auch in einem Geschäftslocale begangen werden. Viele und gebildete Leute glauben nicht, daß es möglich sei, ein Restaurateur z. B. könne jeden, mithin auch sie selbst, aus der Restauration wegweisen, da diese doch ein öffentlicher Ort sei. Dies ist aber wirklich der Fall. Wenn wir uns auch noch so ruhig und anständig in einem Restaurationslocale aufhalten, unser Glas Bier mit der größten Gemüthlichkeit trinken, so ist doch der Wirth berechtigt, ohne irgendwelche Angabe eines Grundes uns hinauszuweisen, und – wir müssen gehorchen, wenn wir uns nicht als Hausfriedensbrecher bestrafen lassen wollen. Freilich wird wohl nur selten ein Wirth sich soweit im Lichte stehen, daß er seine besten Gäste gehen heißt, und wir werden ihn [329] natürlich bestrafen lassen können, wenn er uns in beleidigender Weise, z. B. laut in Gegenwart anderer Gäste und mit ungebührlichen Worten, die Thüre wies.

Selbstverständlich begeht auch der Eigenthümer eines Hauses Hausfriedensbruch, wenn er in die Wohnung seines Abmiethers eindringt oder wider dessen erklärten Willen darin verbleibt, denn durch das Miethverhältniß ist der Miether in Bezug auf das ermiethete Local während der Dauer des Contractes Herr. Mit gesetzlicher Befugniß können nur Diener einer Behörde in eines Andern Wohnung eindringen oder wider dessen Willen darin verweilen, und zwar nur bei Ausübung ihres Amtes, z. B. der Executor bei einer Auspfändung, der Gerichtsdiener bei einer Arretur u. s. f. Haben aber derartige Diener die ihnen aufgetragenen amtlichen Functionen verrichtet, so müssen auch sie der Aufforderung des Inhabers der Wohnung, dieselbe zu verlassen, sofort nachkommen, sonst begehen auch sie Hausfriedensbruch und werden auf Antrag bestraft.




Eine deutsche Bitte für das arme Volk der Esthen.

Von Friedr. Hofmann.

Wir stehen auf dem „russischen Markt“ in Reval, der Hauptstadt von Esthland. Vom Schlosse her, der Wohnung des Gouverneurs dieser russischen Ostseeprovinz, erschallt Trommelschlag. Soldaten, von einer Volksmasse umwogt, rücken näher. Sie führen Gefangene heran, eine lange Reihe esthnischer Bauern. Jetzt schnarrt das Kommando Halt! Was beginnt? Je zwei Soldaten packen je einen der Bauern, reißen ihm die Kleider vom Leibe, werfen, ja schmettern ihn auf das Pflaster nieder, daß vielen die Gesichter zerschlagen werden, ja die Zähne aus dem Munde fallen, und nun setzt sich je ein Soldat rittlings auf den Nacken, der andere auf die Füße des Daliegenden, während ein dritter den entblößten Rücken des Mannes mit durch die Luft pfeifenden Stockschlägen zerfleischt. Das Wehegeheul der Mißhandelten ruft immer mehr Volk herbei, vor Mitleid und Wuth treten den empörten Zuschauern die Thränen in die Augen. Endlich wird der scheußliche Act auch der unbetheiligten Gensd’armerie unerträglich; der Oberst derselben macht ihm durch energisches Einschreiten ein Ende.

Welche Art von Verbrechern unterwarf man einer solchen Züchtigung? – Verbrecher? – Alle diese Männer, es sind sechzig Pächter, wissen von keinem Verbrechen. Sie gehören sämmtlich dem Gute Annia an. Wie in ganz Esthland ist auch in ihrer Kirche der kaiserliche Ukas verlesen worden, welcher durch eine neue Bauern-Ordnung dem gedrückten Landvolk allerlei Erleichterung zusichert, namentlich in Beziehung auf die Frohn oder, wie es in Esthland heißt, den „Gehorch“. Weil aber auch sie, wie alle übrigen Bauern des Landes, lange vergeblich auf die Ausführung des betreffenden Paragraphen des neuen Gesetzbuchs warten und weil sie von dem durch hier schwer wiegende Drohungen eingeschüchterten Gemeinderichter keine Hülfe kommen sehen, so wenden sie sich selbst an ihren Gutsherrn und bitten ihn, die Wohlthaten des neuen Gesetzes ihnen nicht länger vorzuenthalten. Der Edelmann erwidert: „daß er Nichts dagegen habe, wenn es der Gouverneur erlaube. Diesem möchten sie ihre Bitte vortragen, auch er selbst werde sich zu ihm begeben.“ Durch die anscheinliche Bereitwilligkeit ihres Herrn aufgemuntert, vergessen die armen Bauern, daß sie nicht in Masse bitten und klagen dürfen, und machen sich allesammt auf die beschwerliche Reise. Endlich langen sie in Reval an. Einige wohlmeinende Männer warnen und belehren sie hier über die ihnen drohende Gefahr. Das macht sie vorsichtig. Sie senden nur Drei aus ihrer Zahl in das Schloß; die Uebrigen bleiben in der Herberge zurück. Im Schlosse finden die drei Abgeordneten jedoch nicht den Gouverneur, sondern einen andern adeligen Beamten, den er mit seiner Vollmacht betraut hat, und bei ihm auch ihren Herrn. Dieser Beamte war es, der die armen Männer in die Falle lockte. „Wo sind die anderen Bauern?“ fragte er die Abgesandten. „In der Herberge,“ war die ehrliche Antwort. Darauf gebot er ihnen, die Uebrigen zu holen, weil sie ihre Bitte gemeinsam vortragen müßten. Sie gehorchten; vertrauend dem Wort aus solchem Munde begaben sich die sechzig Pächter in den Schloßhof – und waren dadurch zu Verbrechern geworden. Die schon bereit gehaltenen Soldaten umringten sie, und das Werk der Strafe ward vollendet, wie wir es gesehen haben.

Das geschah im Jahre 1858 n. Chr.! –

Wir verwahren uns vor jedem Argwohn, als könne es unsere Absicht sein, der kaiserlichen Regierung Rußlands wegen solcher Vorgänge einen Vorwurf machen zu wollen. Der Verlauf dieser Darlegung wird im Gegentheil ergeben, daß uns bei derselben keine andere Absicht leiten konnte, als die, die wohlwollenden Bestrebungen der Regierung für die esthländische Bevölkerung hervorzuheben, aber dazu auch das Bestreben eines sehr großen Theils des Adels, den Erfolg der Regierungsverfügungen möglichst in das Gegentheil ihres Endzwecks zu verkehren, zur allgemeinen Kunde zu bringen.

Den Strafact in Reval vor Augen kommt wohl Jeder zu der Frage: Giebt es in Esthland kein Recht und keinen Richter für die Bauern? – und es muß ihn die Antwort überraschen: Ja, die Bauern haben nicht nur ihre eigenen Untergerichte, sondern sogar Beisitzer in zwei höheren Instanzen, also, nach dem Wortlaut des Gesetzes, hinlängliche Vertretung und genügenden Schutz. Wie es aber mit der Achtung dieser Gemeinderichter und der Handhabung des Rechts steht, lernen wir aus der folgenden Thatsache kennen, deren Wahrheit uns ebenfalls verbürgt ist.

In demselben Jahre 1858 gehen zwei Gemeindevorsteher (Richter) des Gutes A. zu dem ihnen vorgesetzten adeligen Kirchspielsrichter und bitten ihn demüthig um Erläuterung jenes Paragraphen des neuen Gesetzes, der ihnen 26 Procent Erlaß vom „Gehorch“ verheißt. „Wie?“ fährt dieser sie an. „Ihr seid auch schon von dem Ungehorsam und der Widerspenstigkeit angesteckt, die bei Reval ihr Wesen treibt? Wartet, ich will an Euch ein Beispiel statuiren, ich will Euch zeigen, was mit dem geschieht, der sich wider seinen Herrn setzt!“ – Beide Männer sind nicht Leibeigene, sondern freie Pächter und Familienväter. Aber wie empörte Sclaven und gemeine Verbrecher läßt der adelige Richter sie binden, in die nächste Kreisstadt führen, dort in Ketten schmieden und so nach dem fünfzehn Meilen entfernten Reval transportiren. Hier schmachten sie lange im Gefängniß, hart gehalten und abgesperrt von aller Welt, aber ohne alles Verhör. Endlich scheint die Untersuchung zu beginnen, sie werden vor ein adeliges Gericht gefordert. Das Verfahren ist jedoch kürzer, als sie denken; das Urtheil ist ohne Untersuchung fertig geworden, es dictirt dem einen der beiden Gemeindevorsteher drei, dem anderen, seinem Gehülfen, zwei Jahre Kerkerhaft – „wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt.“ – Beide Männer starben in ihren Gefängnissen zu Riga, wohin sie, 52 Meilen weit, in Ketten geführt worden waren. – Dasselbe Schicksal traf noch einen dritten freien Pächter ganz aus derselben Ursache.

Ja, noch mehr! In diesem selben Jahre 1858 hat ein Herr N. St. in der Hapsal’schen Gegend (ungefähr dreizehn Meilen von Reval), der zugleich Hakenrichter[1]war, entweder erfahren oder es überhaupt nur vorausgesetzt, daß auch die Pächter auf seinem Gute von der im neuen Gesetz verheißenen Ermäßigung des „Gehorchs“ gesprochen hätten. Um ein solches Uebel gleich bei der Wurzel auszureißen, läßt er heimlich aus Reval Militär herbeiholen. Die Soldaten kommen bei Nacht an, dringen in die Bauernwohnungen, ergreifen die erschrockenen, vor Angst zitternden Leute, binden sie wie gemeine Missethäter und schleppen sie in die Guts-Korndarren, wo sie mit Stöcken und Ruthen unbarmherzig zerschlagen und zerschunden werden. Dann entläßt sie der adelige Richter und Gutsherr und ist sicher, daß ihre Ansprüche für lange Zeit befriedigt sind.

So ging es noch 1858 in Esthland zu! – Und die Hoffnung auf eine Besserung dieser Zustände muß seitdem nicht gewachsen sein, denn erst im Herbst vorigen Jahres forderte eine Stimme aus Esthland uns dringend und flehend auf, „für das arme zertretene und verachtete Völklein der Esthen“ ein Wort zu reden, das auch in Petersburg gehört werde.

[330] Da nun gerade jetzt nach des edlen Kaisers Alexander II. Willen nicht nur in ganz Rußland ein selbstständiger Bauernstand geschaffen werden soll, sondern da auch die adeligen Herren wieder Berathungen pflegen, um die bäuerlichen Verhältnisse mit neuen Regeln zu befestigen, so halten wir es für zeitgemäß, an den Zuständen der Bauern in Esthland ein Beispiel zu zeigen, wie die Bauernordnungen nicht sein dürfen, wenn sie nicht dazu bestimmt sein sollen, ein Volk mit Leib und Seele in eine Knechtschaft zu bannen, die härter und verderblicher wirkt, als jede Leibeigenschaft und Sclaverei.

Man wundere sich nicht, daß die russische Presse, die uns seit dem jüngsten Regentenwechsel mit so manchem freien Urtheil überrascht, sich dieses einheimischen Gegenstands nicht bemächtigt habe. Der Freimuth derselben ergeht sich nur über die speciell russischen Interessen. In den Ostseeprovinzen herrschen deutsche Interessen vor, hier gebietet ein deutscher Adel über unterjochte Völker, und ein deutscher Censor über das unterjochte Wort. Wer gegen beide ankämpft, verfällt dem Gericht beider, denn alle Aemter und Stellen, für welche nicht ein Gelehrter, also ein Deutscher, durchaus nothwendig ist, sind vom Adel besetzt, d. h. wieder von Deutschen. Soll demnach den armen Esthen geholfen werden, so kann dies nur durch die Presse ihrer ärgsten Feinde geschehen, durch die deutsche, aber die in Deutschland; und so ist es auch hier die ehrende Aufgabe der freien deutschen Presse, Das möglichst wieder gut zu machen, was ein herrsch- und habsüchtiger deutscher Adel an einem fremden Volke gesündigt hat.

Es würde den feudalen Blättern in Deutschland vielleicht noch lange gelungen sein, die Zustände der esthnischen Bauern vom Gesichtspunkte ihrer Herren aus darzustellen und damit die allgemeine Theilnahme an dem Zustande des unterdrückten Volks zu beseitigen, wenn nicht ein Menschenfreund zuerst nach 60 Jahren (nach G. Merkel[2]) es wieder gewagt hätte, den Schleier vor der Wahrheit hinwegzureißen. Es geschieht dies in dem Buche: „Der Esthe und sein Herr. Zur Beleuchtung der ökonomischen Lage und des Zustandes der Bauern in Esthland. Von Einem, der weder ein Esthe noch dessen Herr ist“ (Berlin 1861)[WS 1]. Der auf Actenstücken und Thatsachen beruhende Inhalt dieser Schrift stimmt mit unseren brieflichen Nachrichten aus Esthland genau überein. Aus beiden theilen wir jedoch nur das Wesentlichste hier mit.

Der Esthe auf seinem Heimathboden ist ein weit traurigeres Bild, als der Jude in Palästina. So tief ist der letzte Rest von Selbstgefühl und Selbstachtung dieses armen Volkes niedergetreten, daß es für den Einzelnen als erste Bedingung für sein Emporstreben aus dem Elende des Bauernstandes gilt, die eigene Nationalität aufzugeben und beharrlichst zu verleugnen. Ist hier doch sogar der Begriff „Bauer“ mit dem Namen „Esthe“ zusammengeschmolzen, denn der Esthe kann nur Bauer und der Bauer nur Esthe sein, dafür haben Diejenigen gesorgt, welche in Esthland allein nicht Esthen sind.

Um aber die Zustände des Esthenvolkes in der Gegenwart zu erklären, müssen wir einen Blick auf seine Vergangenheit werfen.

Unsere Leser wissen, daß Esthland eine vor ungefähr 150 Jahren von Schweden an Rußland gekommene Provinz am finnischen Meerbusen und der Ostsee ist und Livland zum südlichen Nachbar hat.

Die Schwedenkönige hatten dem vorher durch die Adeligen, Priester, Mönche und Kaufleute schwer gedrückten und aller Freiheit beraubten Volke manche Rechte wiedergegeben und manchen Schutz angedeihen lassen, den nachhaltigsten durch die Einführung der sogenannten Wackenbücher, Bücher, in welchen für jedes Gut „die Ländereien der Bauern, so viel diese von den Herren zur Benutzung hatten, taxirt und nach ihrem Werthe die Leistungen der Bauern bestimmt waren.“ Was nicht im Wackenbuche stand, durfte nicht vom Bauer gefordert werden. Als jedoch im Jahre 1710 Esthland an Rußland kam, suchte Peter der Große den neuen Besitz sich dadurch zu sichern, daß er dem Adel alle seine Privilegien bestätigte. Darunter verstanden die Edelleute jedoch nicht die durch die schwedischen Verordnungen beschränkten Rechte, sondern ihre frühere Vollgewalt über Person und Eigenthum der Esthen, und zu diesen griffen sie im vollkommensten collegialischen Einverständniß zurück.

Schon die Kaiserin Katharina II. hatte den schweren Druck des Esthenvolkes und seine Ursachen erkannt, schon sie hatte dem Adel geboten, „dem Bauer volles Eigenthumsrecht an dem Erwerbe seines Fleißes zuzugestehen“, aber – diese kaiserliche Anordnung blieb das Geheimniß des Adels, er machte sie dem Volke nicht bekannt – „aus Furcht vor Mißverständniß“, wie er sagte.

Erst mit Kaiser Alexander I. beginnt die Zeit der sogenannten „Regulative für die Verbesserung des Zustandes der Bauern in Esthland.“ Von dem Drängen der Regierung einerseits, wie von der steigenden Unzufriedenheit der Esthen andrerseits genöthigt, übergab die Adelsversammlung von 1802 dem geduldigen Papiere Beschlüsse, die abermals das von der russischen Regierung Gewünschte zu bezwecken schienen. Es ist aber eine höchst traurige Thatsache, daß gerade von der Zeit an, zu welcher die Sorge der kaiserlichen Regierung immer entschiedener für die Herstellung besserer Ordnung in Esthland hervortrat, sich das Loos der Bauern verschlimmerte, denn nun trat an die Stelle der ehemaligen offenen Gewalt die vor den Augen der Regierung scheue List. Die Fassung der Adelserlasse über die Bauernverhältnisse wurden zwar immer reicher an humanem Anstrich, aber für jeden bauernfreundlichen Satz war das Hinterthürchen sicher, und – der Bauer blieb der niedergetretene, ausgesogene und gepeitschte Sclave, trotz der Regulative von 1802 und der von 1805, durch welche abermalige Mahnungen der kaiserlichen Regierung beschwichtigt werden sollten.

Es ist uns nicht möglich, in die Einzelnheiten der Bestimmungen dieser Regulative wie der Bedrückungen der Bauern einzugehen. Zum Verständniß im Allgemeinen nur Folgendes: Von jeder Tonne (ungef. 2 1/2 Magdeb. Morgen) Aussaat hat ein Bauerngesinde (Bauernhof) dem Gutsbesitzer wöchentlich einen Anspanns- und einen Fußtag[3] zu leisten; wer sechs Tonnen Aussaat zu bestellen hat, auf den kommen 600 Frohntage (in Livland nur 400). Mit solch einer Frohn hält der Adel seine Felder noch nicht für hinlänglich verwerthet, er fordert von jedem Gesinde noch als „Gerechtigkeit“ (was muß das Wort sich gefallen lassen!!) Naturalleistungen an Roggen, Gerste, Hafer, Heu – nicht weniger als den 9. Theil der gesammten Ernte der Bauern, und außerdem muß für den Herrn noch gesponnen und gedroschen werden, Alles nach streng vorgeschriebenem Maße. Diese durch die „Verfassung“ etc. durchaus nicht gerechtfertigte Naturalleistung kann aber der Herr sogar in Arbeitstage verwandeln, und zwar nach seiner Berechnung, und dann hat der Bauer von Glück zu sagen, wenn von den ungünstigsten Zeiten für die Feldarbeiten nur noch etwas für ihn übrig bleibt. Leisten muß er’s, sonst kommen die Stock- und Ruthenschläge der Hauszucht über ihn.

Auch das Regulativ von 1805 fiel vor der Angst des Adels über den abermals drohenden Eingriff der kaiserl. Regierung in die faulen Verhältnisse des Landes, und um vor Allem die speciellen Messungen der Güter (die zur Berichtigung der Wackenbücher und folglich zu Gunsten der Bauern hätte wirken müssen) zu vermeiden, baten die esthnischen Edelleute den Kaiser im Jahre 1811 um gänzliche Aufhebung der Leibeigenschaft, jedoch unter der Hauptbedingung, „daß den Gutsbesitzern das Eigenthum an Grund und Boden verbleibe,“ und der fernern, „daß den der Erbunterthänigkeit entlassenen Bauern eine entsprechende Verfassung ertheilt werde, nach welcher die Ackerbauer für eine gewisse Zeit zum Aufenthalt innerhalb der Grenzen der Provinz verpflichtet blieben.“

Auf diesem Grunde erwuchs das dritte Regulativ oder die Bauern-Verordnung von 1816.

Es war ein Edelmann, welcher den gerade für die Gegenwart Rußlands sehr denkwürdigen Ausspruch that: „Erst mit der Freilassung der Bauern hat der esthländische Adel das Land vollständig erobert.“

Der Bauer war frei von der Leibeigenschaft und der Erbunterthänigkeit, aber man hatte ihm nichts zum Leben gegeben. Er hatte allerlei Rechte durch dieselbe Verordnung erhalten, welche ihm den Genuß derselben unmöglich machte. Der Bauer konnte nicht ohne Land existiren, er mußte es vom Gutsherrn pachten; anstatt daß aber ein Gesetz wenigstens annähernd ein Maß für [331] die Pachtleistungen bestimmte, stand es dem Herrn frei, die Pachtbedingungen nach seinem Belieben zu stellen, während man ihm zugleich die früheren Herrenrechte auch über die nun freien Pächter gelassen hatte. Die Wackenbücher hatten ihre Gültigkeit verloren, es hinderte den Adel nichts mehr, durch gründlichste Aussaugung der Arbeitskraft des „freien Volks“ sich nach esthländischen Adelsbegriffen den Ruf eines „guten Wirthes“ zu erwerben.

Keines seiner neuen Rechte ist für den Bauer ein größeres Unglück geworden, als das der Freizügigkeit von einem Gutsherrn zum andern. Denn da diesem Bauernrechte das Recht der Gutsherren gegenüberstand, dem Bauer den Pacht jederzeit zu kündigen, so mußte selbst der gedrückteste Pächter sich noch weiteren Leistungssteigerungen fügen, wollte er nicht von Haus und Hof verjagt sein, und welche Folgen dies für den Bauer hatte, erkennt Jeder, welcher weiß, „wie eng alle esthländischen Adelsfamilien durch die Verwandtschaft und noch mehr durch das gemeinsame Interesse verbunden sind.“ Dazu kommt noch die unmenschliche Beschränkung, daß der Esthe, als geborner und ewiger Bauer, nur solche Verträge eingehen darf, „die ihn nicht von der Landwirthschaft ablenken, und nur Verträge in Esthland und mit den esthländischen Gutsbesitzern.“ Wagt es ein Bauer, sich aus Esthland zu entfernen, so wird er sofort zum Besten der Gemeinde unter die Rekruten gesteckt.

Und unter solchen Verhältnissen genießt der Esthe auch das Recht, Ländereien und anderes unbewegliches Vermögen zu erwerben! Es klingt wie Hohn. Man hört das adelige Gelächter hinter diesem Paragraphen der Verordnung hervor. Es ist ihm erlaubt, Land zu kaufen, nur ist Niemand da, der es ihm verkaufen will. Und so ist denn „in der That seit 1816 kein einziger esthländischer Bauer zu dem eigenthümlichen Besitz eines Bauerngutes gekommen!

Desto mehr nahm die Zahl der sog. „guten Wirthe“ zu. Seit der Einführung der Freiheit (sagt mein obiger Gewährsmann, S. 33 der Schrift) sind die ohnehin schon armen Bauern zum großen Theil noch ärmer geworden. – Die Speculation des Adels, die Bauern ohne alle Mittel zur Existenz freizulassen und dennoch über sie die Gerichtsbarkeit zu behalten, gelang so gut, daß die Landgüter in Esthland von Jahr zu Jahr theurer wurden, von Jahr zu Jahr oft fast bis ein Dritttheil mehr Einkünfte brachten, – und dies Alles, ohne daß in der Art der Bewirthschaftung die Ursache solcher Werthsteigerung gesucht werden dürfte, sondern durch Vergrößerung der Kornfelder und eben deshalb durch gleichzeitige Erhöhung der Frohne, folglich nur auf der Bauern Kosten.

Zu den erfolgreichsten der bewahrten Herrenrechte gehört die Ausübung der Gutspolizei oder Hauszucht. Kraft dieser kann der Adelige als „Wirth“ seinem Pachter 15 Stockschläge, Weibern und Kindern 30 Ruthenhiebe dictiren; genügt ihm dies nicht, so kann er durch die ihm stets gehorsame Gemeindepolizei die Strafe für den Bauer auf 40 Stockschläge erhöhen lassen. Und will der Bauer Klage erheben, so darf er dies nur mit Erlaubniß des Gutsherrn! – Wird aber auch einmal ein Adeliger wegen Uebertreibung der Hauszuchtstrafen um 10 – 25 R. S. gebüßt, so fällt diese Summe – in die Rittercasse, – „zum Besten der Ritterschaft!“ – der Bauer behält die Prügel allein.

So vollendet schutzlos wußte der Adel den „freien“ Bauer zu machen, daß er ihm sogar verwehren konnte, selbst als Pächter seine Erzeugnisse zu seinem Vortheil zu verkaufen. Er hängt mit Allem, was er hat, vom Gutsherrn ab, steht deshalb bei ihm in beständiger Schuld und hat nicht die geringste Aussicht, trotz der unsäglichsten Anstrengungen, je aus diesem Elend herauszukommen. Und wagt es Einer in der Verzweiflung, heimlich etwas zu verkaufen, so drohen ihm die schwersten Strafen. – Während nach den russischen Gesetzen 80 bis 100 Ruthenstreiche (nicht Stockschläge) einer Gefängnißstrafe von 2 – 3 Jahren, also für ein schon bedeutenderes Verbrechen, gleich gerechnet werden, bestrafte ein esthnischer Hakenrichter einen Bauer mit 80 Stockschlägen, weil er ein Fuder von seinem eigenen Heu in der Stadt verkauft hatte!

(Schluß folgt.)     


Wilhelm Bauer’s Taucherkammer.

Nach schriftlichen und mündlichen Mittheilungen und dem englischen Patent des Erfinders.

Alles Neue, das im Dienste der Menschheit einen Fortschritt erstrebt, hat eine Zeit des Kampfes zu bestehen. Es mag dies in der Natur des Menschengeistes begründet, mag eine weise Einrichtung desselben sein, weil wir gerade im Kampf vieles Tüchtige sich läutern und durch den Kampf groß werden sahen. Zu beklagen war aber von je das Eine, daß namentlich bei Erfindungen, welche eine Umwälzung in vieles Altgewohnte bringen mußten, jener Kampf nicht selten die Lebenszeit der Erfinder überdauerte; sie hatten rastlos und mühevoll gesäet, mußten ihr Saatfeld von Vorurtheil, Eigensinn und Kurzsichtigkeit zerstampft sehen, und erst für spätere Generationen brachen die Halme der Ernte aus dem Boden. Ein Denkmal auf’s Grab war im glücklichsten Falle ihr einziger Lohn.

Die Zeit so langandauernder Kämpfe sollte endlich vorüber sein, die Geschichte unsrer Kultur sollte wenigstens so viel bewirken, daß ihre Lehren den Männern von erprobten Erfindungen selbst zu Gute kommen.

Eine solche erprobte Erfindung ist Wilhelm Bauer’s unterseeische Schifffahrt. Man werfe nicht ein, daß der Gedanke an sie schon lange vor ihm da war und vielfache Versuche dem Bauer’schen vorausgingen: nicht der Gedanke, sondern die technische Ausführung desselben ist die Erfindung, und in ihr steht Wilhelm Bauer einzig da, denn er ist der Erste, welcher das unterseeische Schiff unabhängig machte von der Hülfe von oben, welcher im luftdicht verschlossenen Raume sein Fahrzeug in der Tiefe beherrscht, welcher der Submarine eine eigene Seele giebt und das Meer für bedeutende Tiefen frei macht für des Menschen Streben und Forschen, soweit eben Menschenkraft die eigene Macht des Meeres zu bewältigen vermag. Gegen Zweifler und Spötter braucht eine große und kühne Erfindung, nachdem Locomotiven über und unter der Erde dahinbrausen und der Telegraphendraht über Land und Meer geht, keine besondere Rüstung mehr: hat doch selbst ein Thiers noch 1830 die Eisenbahnen, deren erste er in England sah, nur zu kurzen Lustfahrten für ausführbar erklären können. Das Beispiel genügt.

Die jetzt noch unberechenbare Wichtigkeit der Bauer’schen Erfindungen ist aus dem Nachfolgenden wenigstens soweit zu erkennen, daß unser beharrliches Bemühen für die Verbreitung der Kenntniß und für die Ausführung derselben Jedermann als gerechtfertigt erscheinen muß.

Bauer’s erste Erfindung war, wie unseren Lesern aus Nr. 41 des vorigen und aus Nr. 4 dieses Jahrgangs der Gartenl. bekannt ist, der Brandtaucher.[4] Einen solchen erbaute er zuerst in Kiel, wo er, nach zehn kleinen gelungenen Probefahrten, bei der elften den bekannten Untergang erlebte; mit einem zweiten, auf Kosten der russischen Regierung erbauten, machte Bauer 134 Fahrten. Dieser Brandtaucher ist noch im Besitz der russischen Regierung.

Die Erfahrungen, welche Bauer mit seinen Brandtauchern gemacht hatte, leiteten ihn bei der Ausführung der Taucherkammer. Blieben nämlich auch alle Mittel zur Beherrschung des Fahrzeugs dieselben, so mußte doch die ganze Gestalt eine andere werden. Die Aufgabe des Brandtauchers war es, unterm Wasser seinen Feind auf dem Wasser aufzusuchen und sich ihm, oft weit in die See hinaus, unbemerkt zu nähern; dazu war möglichst rasche Vorwärtsbewegung ein Haupterforderniß, und deshalb mußte dieses submarine Fahrzeug die langgestreckte Gestalt eines Seehunds annehmen. Die Taucherkammer stellt sich andere Aufgaben, die als ihr Haupterforderniß möglichst bestimmte Lenksamkeit bedingen; sie muß auf ganz kurze Entfernungen von wenigen Fußen, ja Zollen, seitlich sicher bewegt werden können und darf, weil ihr nächster Beruf, zum Schiffheben, sie oft zu Schiffskörpern mit lose herumhängendem Tauwerk führt, möglichst wenig Anlaß zur Verstrickung in dasselbe bieten. Endlich soll die Taucherkammer bis zu Tiefen von 500 Fuß vordringen, muß also einem ungeheueren Wasserdruck Widerstand leisten können. Dies Alles bewog unsern W. Bauer, [332] für diesen Arbeits- und Forschungstaucher die Cylindergestalt vorzuziehen.

Unsere Abbildung zeigt uns die Taucherkammer zwei Mal, das eine Mal, wie sie zur Schiffhebung, sowie zu Bau- und Kriegszwecken verwendet wird, das andere Mal in ihrer Ausrüstung zu Perlen-, Korallen- etc. Fischerei, sowie für Zwecke der Naturforschung. Die Taucherkammer selbst bleibt aber in ihrer innern und äußern Construction dieselbe. – Wir sehen sie, für beiderlei Anwendung, gebaut aus starken Eisenplatten, die im Innern von hohen Rippen unterstützt werden, um sie zum Widerstand gegen den Druck einer Wassersäule von 500 und mehr Fuß zu befähigen. Auch hier kann durch Hähne Wasser in Wassercylinder eingelassen, durch Forcepumpen wieder ausgepreßt und dadurch nach dem Willen des Führers erzwungen werden, daß der Apparat, ganz nach dem jeweiligen Erforderniß, sinke, steige oder auf der Stelle verharre. Die Fortbewegung desselben wird je nach Bedarf durch comprimirte Luft, welche auf Pistons in Treibcylindern, oder durch Menschenkraft, die auf Schraubenpropeller wirkt, erzeugt, und die Steuerung in beliebiger Geschwindigkeit, sowie die Drehung der Taucherkamer um die durch ihre Cylinderform gedachte Achse durch die kleine Steuerschraube erreicht, welche zur Seite der großen Propellerschraube angebracht ist. Die Beobachtung der Gegenstände außerhalb des Apparats, sowie die Beleuchtung nach innen ist durch 6 Zoll dicke Krystallgläser in entsprechender Anzahl nach allen Richtungen geboten. Für den Fall, daß der Apparat nöthig hätte, möglichst eilig die Höhe zu suchen und das Niveau zu gewinnen, befindet sich am untern Verschluß ein von drehbaren Haken getragener Ballast, der sofort abgeworfen werden kann. Die Einsteigluke ist im obern Deckel angebracht.

Sehen wir somit den gesammten Mechanismus des Taucherschiffs oder Brandtauchers in der Taucherkammer auf engstem Raume (12 Fuß Höhe zu 9 Fuß Durchmesser) vereinigt und sind wir zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Kraft, welche bei fast anderthalbhundert unterseeischen Fahrten allen Anforderungen entsprach, auch hier dasselbe leisten werde, so stellten die verschiedenen neuen Zwecke dieses submarinen Apparats auch für die Technik neue Aufgaben, die ihre Lösung verlangten. Wir geben Aufgabe und Lösung bei den einzelnen Verwendungsweisen der Taucherkammer.

Anwendung der Taucherkammer zur Schiffhebung. Dem Taucher ist ein gesunkenes Schiff angezeigt, er fährt mittelst der Taucherkammer in die Tiefe und hat es gefunden. In Tiefen, in welchen der Taucher noch unterm Taucherhelm aushält, also höchstens bis 100 Fuß, ließen sich, wie am Brandtaucher, mittelst eines Guttapertschaarms außerhalb des Apparats Arbeiten bis auf eine Entfernung von Menschenarmlänge verrichten. Da aber die Taucherkammer auch für Tiefen bestimmt ist, in welchen der Druck der Wasserlast die Anbringung eines solchen Armes ebenso unthunlich, als den Gebrauch der Hand unmöglich macht, so mußte W. Bauer die Eisenwände seines Fahrzeugs nach allen Seiten hermetisch geschlossen halten und, da von dem Apparat aus gleichwohl alle Arbeiten des Tauchers an dem gesunkenen Schiff verrichtet werden müssen, sich eine künstliche Hand von Eisen schaffen, d. h. durch technische Mittel die Stelle der Handarbeit ersetzen. Obwohl wir in unserer Abbildung die Taucherkammer nicht auch in ihrer Thätigkeit bei der Schiffhebung dargestellt haben (wir beziehen uns für diese Verrichtung derselben auf unsern Holzschnitt zum Artikel „Die unterseeischen Kameele“, S. 60, Nr. 4 dieses Jahrgangs der Gartenlaube, wo die Taucherkammer, freilich etwas zu klein und ein wenig undeutlich, gegeben ist), so wird doch unseren Lesern die sinnige technische Vorrichtung, durch welche Bauer seine Ausgabe löste, mit wenigen Worten anschaulich zu machen sein. An der Taucherkammer auf der rechten Seite unseres Bildes sehen wir aus der Wand zwei eiserne Lappen hervorstehen, welche seitlich durchlöchert sind. Durch diese Löcher kann von innen mittelst einer Kurbel ein Zahnschlüssel geführt werden, wodurch alsdann jeder zwischen die Lappen gesteckte Gegenstand an den Apparat befestigt ist. Soll nun z. B. ein Querarm in ein Fenster des zu hebenden Schiffs eingeschoben werden, um später den Hebeballon daran zu befestigen, so nimmt die Taucherkammer denselben am Niveau in diese Vorrichtung auf und fährt mit ihm in die Tiefe, stößt ihn hier in ein Fenster hinein, läßt ihn dann durch Zurückdrehen des Zahnschlüssels los, und der Querarm wird in der Regel sperrend im Fenster oder in der Luke liegen, wo er eingebracht worden ist. Hierauf steigt die Taucherkammer wieder an die Oberfläche der See oder des Sees oder Stromes, nimmt hier ebenso den Haken oder Ring, an welchen das Hebekameel mit dem mit der Luftpumpe auf dem Hülfsdampfer in Verbindung stehenden Schlauch befestigt ist, zwischen die erwähnten Lappen, hält ihn durch Vordrehen des Zahnschlüssels fest und fährt in die Tiefe, um ihn dem eingebrachten Querarm anzuhängen; sobald dies gelungen ist, giebt der Führer durch einen Telegraphendraht die Ordre zum Pumpen und hebt durch Zurückdrehen des Zahnschlüssels die Verbindung des Hebeballons mit der Taucherkammer wieder auf. Ist der Ballon gefüllt, so wird der Schlauch ausgezogen, der Apparat steigt an’s Niveau, nimmt einen andern Hebeballon mit dem Schlauche in seine Eisenhand und fährt auf diese Weise fort, bis durch die Zahl der Ballons die Kraft erreicht ist, welche das gesunkene Schiff emporzieht.

An Schiffen, welche weder Fenster noch Kanonenluken zur Einführung von Querarmen haben, müssen Haltepunkte für die Ballons hergestellt werden. Um diese Aufgabe zu lösen, gab Bauer der Taucherkammer mehrere lange Stopfbüchsen, in deren Bohrung von innen heraus ein Stahldorn beweglich ist, an welchen von innen mittelst großer Charnierhämmer geschlagen werden kann. Weil aber in diese Stopfbüchse von außen ein entsprechender Dorn oder Meißel eingesetzt ist, so treibt jeder Schlag auf den innern Dorn den äußern hinaus, und weil sich die Taucherkammer an der gewählten Stelle bei dem auf dem Grunde liegenden Schiffe ebenfalls auf den Grund setzt, so treibt sich ganz einfach dieser Dorn in die Schiffswand hinein, und so stellt man an jeder beliebigen Stelle des Schiffs die nothwendigen Angriffspunkte für die Ballons her. Die Lappen mit dem Zahnschlüssel sind übrigens noch für viele andere nöthige Werkzeuge, als Zangen, Haken, Sperren, Teufelsklauen etc. zu gebrauchen, sie repräsentiren in jeder Weise die Hand des Apparats.

Anwendung der Taucherkammer zu Bauzwecken. Hier treffen wir diese Eisenhand gleich in einer neuen Thätigkeit. Sollen submarine Bauten, wie Mauern, Wellenbrecher etc., von großen Tiefen bis zum Niveau aufgeführt werden, so tragen diese Lappen mit dem Zahnschlüssel das Baumaterial an die angewiesene Stelle. Unser Bild zeigt uns die Taucherkammer, wie sie einen Stein zum Bau führt. Getragen wird der Stein von einer hohlen, mit Luft gefüllten Metallkugel von entsprechender Größe; die Tragkraft dieser Kugel wird, je nach der Schwere des Steins oder sonstigen Baumaterials, geregelt durch Einlassen oder Auspressen von Wasser. Sobald die Kugel den Stein unterm Wasser trägt, so übernimmt die Taucherkammer das Ganze, um es nach dem Plan des Baumeisters zu verwenden. Da aber dabei ein erhöhter Widerstand zu überwinden, der Stein mit Gewalt an der tragenden Kugel niederzuführen ist, so muß hierbei als Motor für die Schraube comprimirte Luft angewendet werden, weil Menschenkraft allein dazu nicht ausreichen würde und andere Naturkräfte, wie z. B. elektromagnetische, noch nicht anwendbar sind. Eine Zahnstange mit Triebwerk macht es der Taucherkammer möglich, die betreffenden Baustücke sehr genau aneinander zu fügen. So wird durch die Taucherkammer ein ganz anderes submarines Bauen möglich, als es bis jetzt unter dem beschränkten Raum der Taucherglocke oder durch die von jeder Seebewegung abhängigen Helmtaucher geleistet werden konnte.

Anwendung der Taucherkammer zur Perl-, Korallen- und Goldfischerei, sowie für Zwecke der Naturforschung. Wir kommen jetzt zum andern Bilde unsers Apparates, der mit einer Art von Rädern ausgerüstet ist. Zu der eben bezeichneten Anwendung desselben ist ein fortwährendes Dahinwandeln auf dem Meeresgrunde erforderlich. Da aber dieser Grund oft sehr uneben ist, oft plötzlich an schroffe Abgründe und eben so oft an steile Felswände führt, so hat Bauer jenen Rädern mit Flügeln eine solche Einrichtung gegeben, daß er durch sie alle Bewegungen seiner Taucherkammer beherrscht. Zum Fortschreiten auf dem Grunde benutzt er die gerieften Radreifen, und weil der Apparat immer nahezu specifisch schwer erhalten bleibt, so dienen die Flügel, welche sich um ihre Radspeichen selbst drehen und durch einen Spurgang so selbst steuern, daß immer nur drei derselben auf das Wasser drücken, während alle übrigen sich durch das Wasserschneiden, auch zum Fortbewegen in der schwebenden Lage, zum Sinken, Steigen, Rückwärts- und Vorwärtsfahren, sobald der Spurgang durch ein Zahnrad versetzt wird, wozu nur eine Kurbel nach jedem Rade greift und von innen gehandhabt wird.

Soll nun die Taucherkammer arbeiten, d. h. Gegenstände (Perlen,

[333]

Anwendung zur Perlen- etc. Fischerei.  Bauer’s Taucherkammer.  Anwendung zu Bauzwecken.

[334] Pflanzen und auch kleine Thiere) vom Meeresgrunde aufheben und im Apparate bergen, so ist zu diesem Behufe an der Außenwand eine Trogzange so angebracht, daß, wenn die sie regierende Kurbel im Innern in Bewegung gesetzt wird, eine Schraube sammt der Trogzange sich zum Grunde hinabsenkt. Der Apparat fährt nun auf dem Boden hin und nimmt die betreffenden Gegenstände, Muscheln etc. ein. Hierauf schließt die Kurbel den Deckel und ergreift so die gesuchten Gegenstände, worauf durch die Zurückbewegung der Kurbel die Trogzange sich wieder erhebt bis zu ihrer Ausgangsstelle. Hier tritt, durch eine Schraube im Innern geführt, ein Schubladen aus der Hülle der Taucherkammer hinaus, die Trogzange öffnet sich, entleert ihren Inhalt in die Schublade (wie unser Bild es darstellt), und nachdem diese wieder zurückgezogen ist, beginnt dieselbe Arbeit von Neuem. Es ist einleuchtend, daß auf diese Weise in der Perlenfischerei allein binnen 6–8 Stunden mehr gefördert werden kann, als mit der bisherigen Methode in eben so viel Tagen oder gar Wochen. – Für naturwissenschaftliche Arbeiten sind wieder andere Werkzeuge, als Zangen, Schaufeln, Draht- und Glaskörbe nöthig, um Pflanzen, Thiere und sonst transportable Gegenstände möglichst unbeschädigt vom Boden zu trennen und an das Niveau zu tragen. Eine eingehende Beschreibung derselben und ihrer Anwendung müssen wir hier unterlassen; es kann sich Jeder selbst leicht ein Bild davon machen, wenn ihm die Einfachheit der Handhabung der hier beschriebenen Instrumente klar geworden ist.

Schließlich kann die Taucherkammer auch zu Kriegszwecken verwendet werden. Wie sie bedeutend schwere Lasten von Steinen in der Tiefe regiert, eben so kann sie auch Petarden tragen, die mit 500 bis 1000 Pfd. Pulver und Bomben gefüllt und so ausgerüstet sind, daß sie mittelst einer Art Fuchsfallen oder durch pneumatische Sauger an den feindlichen Fahrzeugen, Hafenthoren und dergl. befestigt und auf elektrogalvanischem Wege oder durch Percussions- oder Zeitzünder entzündet werden. „Daß gegen die Wirkung von 500–1000 Pfd. Pulver und 5–12 Bomben (so schreibt der auch im Artilleriefache gründlichst erfahrene Erfinder) keine durch Menschenhände zusammengefügten Bauten zu stehen vermögen, dürfte Jedermann außer Zweifel sein. Aber auch angenommen, es widerstände eine noch zu erfindende Eisenwandstärke einem solchen Stoß, so ist doch klar, daß der plötzliche Ruck auf eine Wasserhose von 200 Fuß Höhe das Schiff, die Armirung und die Mannschaft dermaßen durcheinander werfen müßte, daß kaum noch ein lebendes Wesen sich auf demselben erhalten dürfte, abgesehen von der Wirkung des nun aus solcher Höhe herabstürzenden riesigen Wasserstrahls. – Zunächst wünschte ich jedoch die industrielle Ausbeute dieser unterseeischen Fahrzeuge gefördert zu sehen, denn dann werden unsere Küstenstaats-Regierungen sicherlich Gelegenheit nehmen, zu ermitteln, ob und wie weit sie es in ihren staatlichen Interessen finden, solche hyponautische Apparate für Kriegszwecke besonders construiren und ausführen zu lassen, da diese industriellen Taucherkammern ihrer cylindrischen Form wegen eben nur zur Vertheidigung von Küsten und Häfen, keineswegs aber zum Verfolgen des Feindes und zu entfernteren Angriffen auf denselben geeignet sind.“

Ueber die Anwendung und technische Ausrüstung der Taucherkammer zur Untersuchung und Reparatur der unterseeischen Telegraphenkabel will Herr W. Bauer selbst der Gartenlaube einen besondern Artikel liefern, in welchem er dann zugleich eine zweckmäßige Art der Legung dieser Kabel entwickeln und auf seinen in England patentirten Kabelcutter Bezug nehmen wird.

Auch diesen Artikel können wir nicht schließen, ohne unsere Leser und die gesammte deutsche Nation dringend zu mahnen, sich an den Sammlungen von Beisteuern zur Ausführung dieser großartigsten Erfindung der Gegenwart ebenso rege als rasch zu betheiligen, damit unserem Vaterlande die Ehre wie die Beute derselben nicht abermals vom Auslande entrissen werde.

Fr. Hofmann.




Zweimal gelebt.

Einer wahren Begebenheit nacherzählt
von Günther von Freiberg.
(Fortsetzung und Schluß.)


Der Abend des zweiten Tages, an welchem Douglas Oliver’s Gastfreundschaft genoß, war angebrochen. Der Lord, von der aufopfernden Pflege seines Wohlthäters unterstützt, hatte sich vom Lager erheben können und saß am offnen Fenster, von wo aus er den reizendsten Anblick über die Guta gewann. Er war allein. Oliver erging sich im Garten. Draußen auf der Schwelle des Krankenzimmers lag der Kurde, einem Cerberus gleich den Eingang versperrend.

Der Genesende saß da wie ein Gefangener, der Pläne schmiedet, wie er seine Ketten brechen und die Freiheit erringen kann.

„Schon zwei Tage unter einem Dache mit ihr,“ seufzte er vor sich hin, „und keinen Schritt weiter? Ob ich sie auch wiedersehe? Ach, mich hat nur ein Traum geneckt, wie es seitdem so häufig der Fall gewesen! Dennoch – der Stich drang zu tief in mein Herz, und eher risse ich es mir aus der Brust, als ohne Aufklärung von dannen zu gehen!“

Oben auf der Blumenterrasse lehnte Dolorida unter den Fächerpalmen. Messaouda hatte nichts gespart, ihre Neugier in Betreff des schönen Fremden zu reizen; denn folgte sie auch der That nach ihres Herrn Befehl, den Worten nach war sie doppelt ungehorsam. Warum preßte Dolorida die kalten, weißen Magnolienrosen an ihre brennenden Lippen, daß die zarten Kelche unter ihrem sengenden Kusse vom Stengel fielen? Welch einen Sturm in ihrem Busen galt es zu beschwören? Da stiegen leise, hingehauchte Töne eines Liedes zu ihr empor, wie ein Klang aus der Heimath, dem Verbannten von Freundeslippen vorgesungen.

Dolorida lauscht mit vorgebogenem Halse – – Weiter singt es, immer weiter, es ist die Melodie eines irischen Volksliedes: „Letzte Rose!“ klingt es zu ihr empor. Es sind die Worte von Thomas Moore, – wer in England kennt nicht die „letzte Rose“? Und als überfluthe Dolorida ein Strom von Rosenblättern, so, in fassungsloser Ekstase, die Arme zum Himmel empor geworfen, das Auge in den Wolken irrend, brach sie in die Kniee zusammen.

Jetzt schwieg der Gesang. Todesangst überkam Dolorida, – beide Hände führte sie an ihre Schläfen, – – die Mandoline fällt ihr in die Augen, ihre Blicke glänzen, und im nächsten Augenblick greifen ihre Finger jauchzend in die Saiten: sie antwortet in derselben Melodie, aber schon nach den ersten Takten schwimmt es ihr vor den Augen, ihre Kräfte verlassen sie, noch haucht sie einen wilden Kuß auf die Mandoline, dann greift sie in die leere Lust, als wollte sie ein Phantom festhalten, um sich daran zu klammern, und in tiefer Ohnmacht sinkt sie auf die Porcellanfliese der Terrasse.

Leidenschaftlich zieht ein Arm sie empor. Ist es ein Liebender oder ein Rasender, der die Erstarrte so gewaltsam liebkost, durch so stürmische Küsse sie erwecken will? – Lord Douglas ist es, der die Antwort auf sein Lied vernommen, der an Elias vorüber den Weg nach der Terrasse gefunden hat, Douglas, der mit tobtenblassen Lippen schluchzt: „Ellen, Ellen! Du!! – Ist Dein Herz gebrochen? O erwache ein zweites Mal für mich vom Tode, – höre mich!“

Der Verband hat sich von seinem linken Arm gelöst, er fühlt es nicht. Stürzte der Himmel ein, er ließe Dolorida nicht los, er ließe sich mit ihr von den zermalmenden Blitzen zur Untiefe schleudern, ehe er seine Lippen von den ihrigen löste. Allmählich theilte sich der Feuerstrom seiner Leidenschaft der Bewußtlosen mit; sie schlug die Augen auf, und ohne Verwunderung, aber mit tiefster Ueberzeugung, schmelzendster Zärtlichkeit flüsterte sie: „Bist Du es endlich? Was ließest Du mich so lang in seiner Gewalt? Laß uns fliehen, bevor er wiederkehrt!“

„Ellen! Mich faßt ein Wahnsinn! Was ist geschehen? Wandeln wir noch auf Erden, sind wir Beide hinübergegangen? Was ist Tod – was ist Leben? Gott, Gott, ich weiß es nicht mehr!“

Keine Antwort wartete er ab, keine Antwort gab sie, in überschwenglich seligem Schweigen starb jedes Wort hin –

„Dolorida!“ tönte eine Donnerstimme. Oliver stand neben den Beiden; er vernahm ihre sinnverwirrenden Liebesworte, er sah ihre Küsse sich begegnen. „Ihr Gatte!“ gellte es dröhnend durch sein Inneres – wüthend warf er sich zwischen sie und riß Dolorida aus Douglas’ Armen. Dolorida’s trostlosen Hülferuf erstickte Oliver, [335] indem er ihr krampfhaft ein Tuch auf den Mund preßte. Außer sich stürzte Douglas auf den Arzt, ihm Dolorida zu entringen.

„Hinweg!“ stöhnte Oliver und knirschte mit den Zahnen.

„Sie ist mein Eigenthum! Sie ist mein Weib! Ellen, her zu mir, in meine Arme!“ So rief der junge Lord, der plötzlich alle Fassung wiedergefunden hatte. Er stand Olivern gegenüber, kühn den Kopf erhebend, gebietend wie ein Gott. „Sie ist mein Weib, so wahr mir Gott helfe!“ Und er ergriff Dolorida’s herabhängende Hand. Aber Oliver schleuderte ihn fort, trat mit der Ohnmächtigen an den Rand der Terrasse, unten brauste der Baradâ vorbei, und hoch in beiden Armen hielt er Dolorida über der schwindelnden Tiefe empor – „Noch einen Schritt, noch ein Wort, einen Blick – und sie liegt drunten in der Fluth!“

Vernichtet wankte Douglas zurück, schwindelnd that er einige Schritte gegen den Ausgang; doch die Füße trugen ihn nicht, er fiel zu Boden. Wie der Geier die Fittiche über seine Beute zusammenschlägt, so schlug Oliver den Mantel um die Unglückliche und verschwand mit ihr hinter dem Vorhang der Balconthür.



4.

Jählings bricht im Süden die Finsterniß herein; keine allmählich zunehmende Dämmerung geht der Nacht vorauf, heftig und rasch sind die Uebergänge. So plötzlich, in nachtschwarzes Dunkel getaucht, lagen vor Oliver Gegenwart und Zukunft, ebenso wie die Vergangenheit. Schob er auch triumphirend den Riegel vor Dolorida’s Gemach, nur zu bald verlor sich seine ohnmächtige Siegesgewißheit, sie wich der nagendsten Eifersucht und Gewissenspein. „Ein Blick auf ihn genügte, sie mir in Ewigkeit zu entreißen!“ so brannte es in der Seele des Mannes, der aus Liebe zum Verbrecher geworden war. Schaudernd trieb es ihn von Dolorida hinweg; entsetzt vernahm er, wie sie nach dem Gatten rief, wie ihre ganze Vergangenheit plötzlich aus dem Chaos langer Verworrenheit hellglänzend emporstieg. Er mußte hören, wie sie ihr erstes Begegnen mit Douglas beschrieb, ihre beiderseitige Liebe unter den Tropenblumen von Ceylon – – – Und rief Oliver verzweifelt „Dolorida!“ dazwischen, so entgegnete sie mit Abscheu:

„O nicht diesen Namen mehr! Wohl konntest Du mich Dolorida, die Schmerzensreiche, nennen, er aber nennt mich Ellen! Diesen Namen hat ein Seraph an meiner Wiege gesungen! Ellen heiß’ ich! Gieb ihn, gieb mir meinen Gatten wieder!“ flehte sie zu seinen Füßen und umschlang seine Kniee.

„Dolorida, ich kann Dich nicht lassen!“

„Nicht Mann – nicht? Nun denn, so fluch’ ich Dir!“

Von diesem Fluch bis in’s Innerste durchzuckt, stürzte Oliver auf die Terrasse zurück, um Douglas zu suchen. Die Terrasse war leer ... Eine Blutspur schimmerte auf den Porcellanfliesen ... Es überlief Oliver eiskalt ... Da regte sich’s hinter ihm ... eine schwarze Hand ließ einen Brief in seinen Schooß fallen. Oliver las: „Sir! Hier liegt ein entsetzliches Geheimniß, ein Verbrechen vor; doch vielleicht sind Sie ebenso unschuldig wie ich! Im Namen der göttlichen Barmherzigkeit beschwöre ich Sie, mir zu antworten. Ich bin kein Ehrloser, kein Wahnsinniger, der mit dem ersten Blick auf seines Nächsten Weib in eine sinnlose Leidenschaft verfällt.

Hören Sie meine Geschichte und dann richten Sie. In meinen, zwanzigsten Jahre verheiratete ich mich mit Ellen, Miß Dudley, einem Wunder von Schönheit, o mein Herr, und zum Verwechseln mit jener Dame, die Sie Ihre Gattin nennen. Diese gleicht der Verstorbenen Zug für Zug; nur blühender, voller war Lady Douglas, als ich mich vor zwei Jahren von ihr trennte. Das Klima von Ceylon – ihr Vater war daselbst Gouverneur – wirkte nachteilig auf ihre Gesundheit; ich mußte sie in Begleitung meiner Schwester und eines treuergebenen Dieners nach England schicken; niemals hätte ich sie allein ziehen lassen, wenn meine persönliche Gegenwart in Ceylon eines wichtigen Processes wegen nicht unerläßlich, und wenn es nicht bestimmt gewesen wäre, daß ich ihr in drei Wochen folgen sollte. So geschah es; bereits nach vierzehn Tagen zog mich die Sehnsucht ihr nach. Doch trieb ich während eines Monates auf der See umher, – in London fand ich nur – ihr Grab. Sinnlos warf ich mich auf den Rasenhügel und riß Blumen und Gras aus der frischen Erde; man trug mich für todt aus dem Friedhof. In wilder Verzweiflung habe ich seitdem – Linderung meiner Schmerzen suchend – die Länder durchirrt; so bin ich hierhergekommen. Und hier erblickte ich Ellen, denn es ist ihr Auge, ihr Haar, es sind ihre Lippen! Einmal dieses süße Wesen geschaut, und man muß sterben vor Sehnsucht oder es besitzen. – Mich warf die Allgewalt dieser Aehnlichkeit, der Umstand, die Todte lebend zu finden, zu Boden. Sie retteten, pflegten mich! Gott weiß, ob ich gerührt davon bin! Vergeben Sie, daß ich nicht widerstand, als ich die Klänge der Cither hörte, die meinem Liede antworteten. Ich folgte der Melodie, ich fand Ellen, mein Weib, meine Todtgeglaubte! Sie selbst wissen, daß sie entseelt vor Entzücken mir um den Hals gesunken ist – – –

So weit mein offenes Geständniß. Sein Sie eben so wahr und offen! War Ellen scheintodt und wurde sie durch Ihre Kunst in’s Leben zurückgerufen? Lockten Sie sie durch Magnetismus an sich? Spielte eine höllische Intrigue, eine dämonische Macht diese Frau in Ihre Hände? Reden Sie, ich komme nicht zu richten.

Reden Sie, wo nicht, hab’ ich keinen andern Ausweg aus diesem Labyrinth, als den Selbstmord.

Ich harre Ihrer Antwort in dem Hause an der Fontaine.

Percy Douglas.“

„Will das Schicksal mich mit mir selbst versöhnen, indem es mir das Mittel bietet, meine Schuld zu sühnen? – Werden die Beiden, die ich getrennt, mich segnen, wenn ich ihre Hände von Neuem ineinander lege?“ Bittere Thränen rangen sich aus Oliver’s fieberheißen Augen. Er trat an die offene Thür; die ersten schweren Tropfen eines Gewitterregens fielen auf die Terrasse; balsamisch dufteten Blumen und Pflanzen zu ihm empor; – er breitete beide Arme nach dem Garten aus, als wolle er noch einmal alle seligen Stunden, die er dort genossen, an sein Herz ziehen; der Todesschmerz eines furchtbaren Abschieds zerwühlte seine Brust. Einem übermenschlichen Kampf zum Raube biß er sich auf die Lippen, daß das helle Blut heraussprang; – convulsivisch griff er nach einem seidnen Gürtel der Geliebten, der am Boden lag, er preßte das goldene Band an den Mund, und dann, wie der sterbende Gladiator sich noch einmal emporrichtet, riß er sich in die Höhe, eine stolze Gestalt, hochaufgerichtet, wie in Erz gegossen.

Aber wie hoch sie sich auch emporraffen, wie erhaben sie auch scheinbar überwinden, die Sieger des blutigen oder des geistigen Kampfes, glaubt ihnen nicht, die ihr sie so unerschüttert stehen seht; – der tödtliche Stoß hat getroffen; – der Fechter verblutet an seiner Wunde, der Andere an seinem Opfer. – Langsam zog Oliver eine kleine krystallene Phiole aus der Brusttasche, ähnlich den platten Rosenölflacons. Er hielt die Flüssigkeit, die durch das Glas schimmerte, gegen das Licht. Ein schmerzlicher Hohn zuckte in scharfer Linie um seinen Mund.

Darum also wäre ich bis auf die höchste Staffel meiner Wissenschaft gestiegen? Darum hätte ich geschaut, was Andern verborgen blieb, um hiermit zu enden?“ Er steckte das Gift wieder zu sich und ging dem Hause zu, wo Douglas auf ihn wartete.

„Junges Blut,“ sprach er unterwegs vor sich hin, „wie schwer Du auch leidest bei Deinen vierundzwanzig Jahren, glaube mir, der Vierzigjährige ist doch elender als Du!“

So kam er, eine Hölle von Schmerz im Busen, bis an das Haus neben dem Brunnen, ein dunkles, einsam stehendes Gebäude, welches der Lord seit dem Tage, da er Dolorida von weitem erblickte, gemiethet, und wo er oft die Nacht zugebracht hatte. Wenige Schritte vor diesem Hause trat Lord Douglas Oliver entgegen.

„Sir,“ begann Percy Douglas, den Arzt am Arme fassend, „nehmen Sie mein Leben, nur noch einmal lassen Sie mich sie sehen – von weitem – wie es sei –“ Die Stimme versagte dem Flehenden; er fiel Oliver zu Füßen mitten auf dem Wege.

„Sie werden sie sehen!“ sprach Oliver und zog ihn empor; Hand in Hand kehrten Beide in die Villa zurück. Sie traten in des Arztes Arbeitszimmer. Die Lampe, mit duftendem Oel genährt, beleuchtete hell die geisterbleichen Gesichter der beiden Männer.

„Mylord,“ begann Oliver nach einer Pause, „vor zwei Jahren lebte ich in London. Mir wurde zur Nachtzeit – wie öfters von bestochenen Todtengräbern – eine Leiche zum Seciren in’s Haus gebracht. – Diese Leiche lebte auf. – Dieselbe Leidenschaft, die Sie für Lady Douglas fühlten, ergriff mich; – ich ward zum Leichenräuber; – ich entfloh mit ihr. Dolorida ist Ellen!“

Dem ersten Impulse folgend, stürzte Douglas auf Oliver und packte ihn, als wolle er ihn zerreißen, als gäbe es keine andere Erwiderung auf das Geständniß des Arztes. Doch Oliver hielt mit herculischer Kraft Percy von sich zurück, und der Lord stöhnte, [336] auf einen Sitz niedersinkend: „Widerrufen Sie das schreckliche Wort, denn, bei Gott, der Gedanke läßt sich nicht fassen!“

Oliver schwieg.

„Sie konnten es über’s Herz bringen, verbrecherisch in das Rad des Schicksals einzugreifen? – O, o – mir schaudert vor Ihnen; – es kann nicht sein!“ rief Percy entsetzt.

Oliver antwortete nicht.

„Vampyr, Du hast das Grab geöffnet, Du hast Ellen’s Herzblut getrunken? So fließe auch Dein Herzblut! O, wie klein, wie winzig ist diese Rache für zwei elend im Delirium hingeschleppte Jahre eines solchen Gebens! Wehe Dir, Elender!“

„Wohlan, gehen Sie zum Consul, klagen Sie mich an; was liegt daran, daß ich gebrandmarkt werde, da man sie von mir zurückfordert –“

„Nicht den Gerichten gönne ich die Rache – ich selbst will Dich zerfleischen mit diesen Händen. – Es gilt einen Kampf auf Tod und Leben, rüste Dich!“

Oliver, der seine Schuld freiwillig bekannt, der bereits das Opfer der Entsagung gebracht hatte, ihn empörte diese blinde Wuth. In fiebernder Erregung hatte er zwei Pistolen von der Wand gerissen. Douglas ergriff die eine. Da erschien Dolorida auf der Schwelle des Zimmers.

„Percy, mein lieber Percy! Ich bin Ellen, Deine Ellen! – Deine Gattin!“

Douglas ließ die Waffe sinken und, der Sinne nicht mehr mächtig, riß er die Gattin an sich.

„O, nimm sie hin,“ so bebten Oliver’s Lippen, „nimm sie hin, Seligster dieser Erde! Ich überliefere mich selbst dem Gericht, ich will, daß meine Schuld bekannt werde, denn,“ schrie er Douglas in’s Ohr, – „ich will, daß die Welt erfahre: Lady Douglas war die Geliebte Oliver’s’, war freiwillig seine Geliebte!“

„Bube!“ donnerte der Lord ihm zu, „sage, Ellen, daß er lügt, oder –“

Er erhob die eine Pistole, Oliver griff unwillkürlich nach der andern. … Aufschreiend warf sich Dolorida zwischen die Feinde und hielt ihres Gatten Arm fest. Douglas, längst betäubt und verwirrt von dem grauenvollen Auftritt, mißverstand in seiner Raserei Dolorida’s Absicht, die nur ihn schützen wollte, und stieß mit steigender Hast Frage um Frage aus:

„Spräche er Wahrheit? Wußtest Du, was Du thatest? Gingst Du in seine Höllenpläne ein? Besiegte der Mann mit magnetischem Blick die Erinnerung an mich? Siegte er über den unerfahrenen Jüngling, der nur lieben, nicht bestricken konnte?“

Dolorida hing sich flehend an ihn; er drückte sie wild von sich.

„Geh, geh – nicht diese schmelzenden Blicke! Man glaubt solchen Augen und ist betrogen.“

„Percy, mein Geist war umnachtet! Ich war ein willenloses Geschöpf – ohne Erinnerung des Vergangenen.“

„Geh, ich habe Dich nie gekannt, nie an Deinen Lippen gehangen, nie meine Stirn gebadet in diesen Lockenwellen – – ich verleugne Dich!“

Er stürzte aus dem Zimmer. Oliver war auf einen Stuhl gesunken. Dolorida stand mit verstörtem Gesicht, mit aufgelösten Haaren, mit gesunkenem Haupte vor ihm.

„Oliver,“ hauchte sie endlich mit Anstrengung, „Oliver, höre mich! Entweder tödte mich oder laß mich ihm nachfolgen – ihm gehöre ich an – ohne ihn kann ich nicht länger leben.“

Oliver richtete sich empor, stand auf und ging, ohne die Lady anzusehen, nach der Thür. Er öffnete dieselbe und sagte kalt: „Zieh hin – ich habe ferner keine Macht über Dich. Du wirst den Weg finden. Die Allee hinab, wo das Licht schimmert an der Cisterne, jenes Haus – dort findest Du ihn!“

Noch hoffte er, Dolorida würde nicht den Muth haben, in die finstere Nacht hinauszugehen. Er täuschte sich. Sie knieete vor ihm nieder, nahm seine Hand, drückte sie an ihr Herz und flüsterte: „Ich gehe, Oliver – Du oder Percy, Einer muß verzweifeln. Du hast mich heiß geliebt, ich weiß es; nur aus Liebe sündigtest Du. Gott wird Dir vergeben.“ Sie drückte einen brennenden Kuß auf Oliver’s Hand. Er fühlte es nicht mehr. –

„Du thust nur, was recht ist,“ sprach er mit starrer Verzweiflung, „Du gehst zu Deinem rechtmäßigen Gatten, Du stößest den Räuber von Dir – vollende Dein Werk, liefere mich der Gerechtigkeit aus.“

„O Gott im Himmel,“ rief die Jammernde, „nicht diesen Hohn! Nein, nein, so klein, so erbärmlich denkst Du nicht von mir! Du hast mein Herz beherrscht mit Deinem Genie, mit Deiner Güte – bis er kam und mit ihm die alte Liebe – – wie konnte ich anders, Oliver.“ –

Sie erhob sich und schritt dem Ausgange zu. Doch einmal noch kehrte sie zurück, beugte sich angstvollen Blickes zu Oliver und breitete die Hände über die Pistolen auf dem Tische. Worte hervorzubringen vermochte sie nicht mehr.

„Sei ruhig!“ erwiderte er sanft. Daß die Scheidende um ihn bangte, beseligte ihn noch in jenem Augenblick. Er trat an das Fenster und feuerte beide Pistolen in die Dunkelheit ab.

„Dir bleibt Deine Wissenschaft, ein Leben voller Erhabenheit,“ schluchzte sie mit überfließender Seele, „kehre zur Heimath, zu altem Ruhme und neuem Wirken zurück; – wir haben nur unsere Liebe, – gönne sie uns!“

Umsonst harrte sie einer Entgegnung, eines Trostwortes, eines Händedrucks – Oliver war wie empfindungslos. Sie ging aus der Villa. ... Und er blieb allein. ... Ihr leichter Schritt war nicht verhallt, als Oliver die Phiole hervorzog und ihren Inhalt in raschen, gierigen Zügen trank. –

Das Gewitter hatte sich in einen Wolkenbruch aufgelöst, der die ganze Guta unter Wasser setzte. Eisiger Wind blies von Norden her; – ängstlich zogen sich die Damascener in ihre festverschlossenen Häuser zurück; – es war ein Unwetter, als solle die Welt untergehen. Erst gegen Tagesanbruch legte sich der Orkan; erst gegen Tagesanbruch kehrte Douglas in sein Haus zurück; verzweifelt war er in Regen und Sturm hinausgestürzt und während der ganzen Nacht umhergeirrt.

Auf der Schwelle seines Hauses fand er Dolorida todt hingestreckt. Sie hatte die Thür verschlossen gefunden und nicht eintreten können. „Lieber sterben, als zu Oliver zurück!“ war ihr letzter Hauch gewesen. Kälte und Regen, nach einer Aufregung, die ihr Blut in einen Feuerstrom verwandelt hatte, gaben ihr den Tod. – Douglas verlor sie zum zweiten Male.



Einige Zeit später sah man hinter den zartbelaubten Zweigen der durchsichtigen Blätterwand jenes Parks ein räthselhaftes Bild.

Mitten unter prangendem Blumenbeeten eines modernen Gartens erhoben sich auf sammetgrünem Rasen zwei Grabhügel, beide mit weißen Marmorkreuzen geschmückt, von frischen Kränzen und Guirlanden überschüttet; zwischen diesen beiden Gräbern zeigte sich eine offene Grube mit Granit ausgelegt, die auf den Sarg zu warten schien. Am Rande dieser Grube saß ein bildschöner, junger Mann in weißer Kutte und braunem Burnus, nicht anders, als harre er auf den Augenblick des Todes, um in dem dritten Grabe seinen Platz einzunehmen. Es war Douglas.

Unfähig, sich von der Stätte, wo er sie gefunden und abermals verloren, zu trennen, schloß der Lord sich in der Besitzung Oliver’s vor der Welt gänzlich ab, nur der Pflege beider Gräber hingegeben, in deren Mitte er eigenhändig ein kühles Bett für sich gegraben hat. Ohne jemals mit einem Menschen zu sprechen, anscheinend stumpf und theilnahmlos, verwendet er sein großes Vermögen auf die Unterstützung armer Pilger von Mekka und Jericho, auf die Krankenpflege und gottgefällige Werke, um den Damascenern einigermaßen den schweren Verlust des berühmten Arztes, des abgeschiedenen Oliver, zu ersetzen. Oft, im Mondschein, hält er halbvernehmliche Gespräche mit den Geistern der Verstorbenen; wer seine Geschichte nicht weiß, könnte ihn für glücklich halten, so verklärt ist dann sein Antlitz. Aber er schwindet zusehends dahin, und bald wird er den ersehnten Platz unter dem Rasen einnehmen.

Wer denkt hier nicht an Shakespeares Worte:

Sich härmend und in bleicher, welker Schwermuth,
Saß er, wie die Geduld auf einem Grab,
Dem Grame lächelnd.“




Für W. Bauer’s „Deutsches Taucherwerk“

sind ferner (bis zum 10. Mai) eingegangen: 151 Thlr. 29 Ngr. 9 Pf – 22 fl. rhein. und 7 fl. 20 Nkr. österr. Währung, worüber wir in nächster Nummer ausführlich quittiren.


  1. Der Vorsitzer des Kirchspiel-Polizeigerichts, das über der Gutspolizei (die der Herr des Guts ausübt) steht. Die Bauern-Verordnung von 1816 beschränkte das Strafrecht desselben so weit, daß er die seiner Landespolizei Unterworfenen höchstens zu 8 Külmit Roggen oder zu 80 Stockschlägen oder zu 10 Bund Ruthen (zu je 10 Schlägen mit jedem Bund, also 100 Ruthenhieben) oder zu 4 mal 24 Stunden Arrest verurtheilen könne! Wenn Prügel den Menschen besserten, welche Engel müßten in Esthland wohnen!
  2. Garlieb Merkel, ein geborener Livländer, der 1850 in Livland 74 Jahre alt starb, schrieb: „Die Letten“, „die Vorzeit Livlands“ und „Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben“, auch gab er 1803 in Berlin (mit Kotzebue) den „Freimüthigen“ heraus.
  3. Die Frohn zerfällt in Fuß- oder Handtage, d. i. die Tagesfrohn eines Menschen blos mit seiner Kraft, und in Anspannstage, Gespann- oder Pferdetage, d. i. die Tagesarbeit eines Menschen zusammen mit einem Pferde oder zwei Ochsen.
  4. Fachmänner und Techniker, welche eine eingehendere Beschreibung desselben suchen, finden diese in einer Broschüre von L. Hauff, „Die unterseeische Schifffahrt etc.“ (Bamberg, Büchner 1859) und in Payne’s Panorama des Wissens und der Gewerbe, wo ich ihr (Bd. I. S. 207 u. S. 369) zwei durch einen Stahlstich illustrirte Artikel widmete. Bei der geringen Verbreitung beider Werke mußte mein damaliger Aufruf für Bauer und seine Erfindung nutzlos verhallen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Autor: Wassili Timofejewitsch Blagoweschtschenski