Die Gartenlaube (1863)/Heft 21
Frau von Werner, als Präsidentin des Frauenclubs für hülfsbedürftige Kinder und verschämte Arme, hatte bereits vor Wochen ihren alljährlichen Aufruf zur Beisteuer milder Beiträge zum Besten eines Weihnachtsbaums ergehen lassen. Sie war zu diesem Behufe nicht allein selbst sehr thätig gewesen, viel in die Häuser reicher Bekannter gegangen, wo sie um milde Gaben gebeten, sondern sie hatte es selbst nicht an Theekränzchen, Lotterien und dergleichen fehlen lassen; so daß wirklich ein Bedeutendes zu genanntem Zwecke eingekommen war, von dem man sich eine reiche Weihnachtsfreude armer Kinder glaubte versprechen zu können – wenn die böse Welt auch meinte, daß die Frau Präsidentin keinen Deut zu dem Ganzen beigesteuert habe. – Mag dies auch der Fall gewesen sein, so mußte man doch den Eifer, die Ausdauer dankend anerkennen, mit der sie sich der Sache gewidmet hatte.
Heute am Tage vor dem heiligen Abend war nun endlich der Tag der Bescheerung, der Vertheilung der Geschenke und milden Gaben an die Kinder herangekommen. Es hatte eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft sich in dem Saal eingefunden, elegante Damen, wie auch eine Anzahl junger Männer. Erstere waren ungemein thätig, hie und da an dem Weihnachtsbaum, der mitten im Saale auf einem großen Tische stand, auf welchem zugleich die einzelnen Geschenke für die im Vorzimmer harrenden Kinder lagen, Dies und Jenes noch zu ordnen, hier ein Lichtlein gerade zu rücken oder dort einen abgefallenen Aepfel wieder anzubinden; während dessen dieser oder jener der jüngeren Herren sich die ausgelegten Geschenke besah, wobei er nicht unterließ, der nahestehenden Dame, um deren willen er vielleicht nur anwesend war, spöttische Bemerkungen in Bezug des Ausliegenden zuzuflüstern. Genug, man schien zusammengekommen zu sein, um ein Stündchen, statt durch Concert oder Schauspiel, auf andere Weise einmal hinzubringen, bis endlich Frau von Werner, als Präsidentin, dem allgemeinen Scherzen, dem Frohsein freundlich lächelnd ein Ende machte, indem sie sagte: „Bitte, meine werthen Damen, wir werden beginnen müssen. Die Kinderchen zügeln nicht länger ihre Ungeduld; die Freude, die Erwartung in ihnen ist zu groß. O mein Gott, wie schön ist doch solch ein Fest! Welche Freude liegt im Geben! Können wir anfangen?“
Und als nach diesen Worten die Anwesenden sich lächelnd und scherzend auf die eine Seite des Saales zurückzogen, wurden auf den Wink der Präsidentin rasch die Lichter des Baumes angezündet, worauf von einem der Herren die Thür geöffnet wurde und die Schaar der Kinder, Knaben und Mädchen, scheu, schüchtern eintrat. Kein froher, heiterer Kinderjubel machte sich bemerkbar; kein freudiges „Ach!“ ertönte von ihren Lippen; die Hände gefaltet, standen sie mit niedergeschlagenen Augen, eng gedrückt vor dem Tische.
Ein geistliches Lied wurde gesungen, dann hielt Frau Präsidentin Werner eine Rede, in der viel von Barmherzigkeit, Güte, Liebe und Milde die Rede war, während andererseits der kindlichen Dankbarkeit ein weites Feld eröffnet wurde.
Und nun endlich begann die eigentliche Vertheilung der Gaben an die betreffenden Kinder. Es wurden deren Namen nach und nach aufgerufen, worauf die zugehörige Bescheerung von einer der jüngeren Damen verabreicht wurde. Es ging hier zu, wie es bei den meisten Vertheilungen der Art zugeht: die Kinder traten vor, empfingen ihre Gaben, wobei sie mehr auf diejenigen sahen, die Andere erhalten hatten, als auf die eigenen – und traten, Dank stotternd, in den Kreis zurück.
So war es auch hier. Die Kinder empfanden, gegenseitig sich und die empfangenen Gaben anschauend, mehr Neid als Freude, und eine innige Zufriedenheit war bei den Wenigsten zu bemerken.
Jetzt aber wurde der Name eines Mädchens gerufen, ohne daß die Gerufene Miene machte vorzutreten; und als nach nochmaligem Aufruf die zunächststehenden Kinder die Betreffende hervor zu zerren und zu stoßen begannen, schrie das Mädchen, ein etwa fünfjähriges, hübsches, blondgelocktes Kind, hervorstürzend und sich die Hände, wie im tiefsten inneren beschämt und verletzt, vor das Gesicht haltend: „Ach Gott! ach Gott! so sind wir also doch so arm; nun werden wir auch noch in’s Armenhaus kommen!“ Und mit diesen Worten hub das Kind so recht jämmerlich zu weinen und zu schluchzen an, daß selbst die andern Kinder scheu und befangen auf das Mädchen blickten und nicht wagten, es noch weiter vor bis an den Tisch zu stoßen.
Frau Präsident Werner jedoch empfand diese unzeitige Störung sehr übel. Sie gab der zunächst stehenden jungen Dame einen Wink und sagte: „Bitte, Fräulein Waldow, geben Sie der kleinen Närrin ihre für sie bestimmte Jacke und dann lassen Sie den Trotzkopf laufen! Man muß solchen rohen, ungebildeten Kindern Manches zu Gute halten.“
Ehe dieser Befehl indeß zur Ausführung gebracht werden konnte, und ehe noch Fräulein Waldow oder eine der andern jungen Damen in unzeitigem Pflichteifer sich dem Kinde zu nähern vermochte, trat einer der anwesenden jüngeren Männer vor, hob das Mädchen rasch empor und legte sein Köpfchen sanft auf seine Schulter; rasch mit ihm zur Thüre hinauseilend sagte er. „Komm, Kind! komm, Marie! wir wollen zur Mutter gehen.“
Es geschah dies Alles so rasch und mit solcher Entschiedenheit, [322] daß an Einspruch von irgend einer Seite nicht zu denken war. Als die Thür hinter dem jungen Manne sich geschlossen, rümpfte Frau Präsident Werner freilich die Nase und sagte spöttisch, sich zu ihrer Nachbarin wendend. „Herr Assessor Nordheim ist immer etwas rasch und absonderlich in seinem Thun und Handeln! Aber lassen wir uns in unserm guten, Gott gefälligen Werke nicht stören. Fahren wir fort!“ Und den Namen des nächsten Kindes aufrufend, begann die Vertheilung der Christgaben auf’s Neue.
Der junge Mann war mit seinem kleinen Schützling auf die Straße getreten. Es war kalt, der Schnee knarrte unter seinem Tritt. Das Kind, dünn und leicht für die Jahreszeit gekleidet, zitterte und fror. Er wickelte es dichter in seinen Ueberzieher und schritt rasch dahin, es dabei zugleich nach seiner Mutter und deren Wohnung fragend.
Das Kind, das bald ruhiger und durch die Güte und Milde des Tragenden zutraulich geworden war, erzählte kindlich verständig, wie es daheim bei der Mutter sei und was die große Schwester mache.
So erfuhr der junge Mann mehr, als es der Mutter und Schwester vielleicht lieb sein mochte. Er ersah aus dem Geplauder des Kindes, daß die Eltern früher bessere Tage gesehen und seit dem Tode des Vaters zurückgekommen sein mußten. Er fühlte es aus den Worten des Mädchens heraus, daß die Mutter eine gebildete Frau sein müsse, daß die große Schwester zeichne, wohl gar male, und daß tiefes, plötzliches Unglück die Familie in Noth und Armuth gebracht habe. Sie wohnten seit Kurzem erst im Ort.
Dies Alles erkennend und erwägend, fühlte Nordheim um so mehr innere Genugthuung und Befriedigung, das Kind von der mehr beschämenden, als erfreuenden Schaustellung im Saale errettet zu haben; er fühlte aber auch zugleich, daß er das Kiud höchstens bis zum Hause, bis zur Thüre der Wohnung bringen dürfe, um Mutter und Schwester durch sein Kommen nicht noch mehr niederzubeugen, als dies durch die ganze Weihnachtsbescheerung schon geschehen sein mochte. Wie man Marie überhaupt zu derselben hatte senden können, blieb ihm ein Räthsel. Als er aber mit seiner kleinen Last so durch die belebten und erleuchteten Straßen der großen Stadt dahin schritt und Marie zuletzt freudig aufjauchzte, als sie an dem großen Schaufenster eines erleuchteten Ladens die kostbar schönen Puppen stehen sah, trat er rasch mit ihr in das Magazin, wo er den Kaufmann ersuchte, ihm eine Pnppe für das Kind herüber zu reichen.
Die Augen Marie’s strahlten vor innerer Glückseligkeit; aber dennoch erfaßte sie zugleich eine momentane Scheu; das Glück, die Puppe zu besitzen, erschien ihr doch gar zu groß – und nur mühsam brachte sie die Worte heraus: „Soll das meine sein?“
Und als der Assessor dies lächelnd bejahete, hinzusetzend, daß der Weihnachtsmann sie gebracht habe, hörte und sah das Kind nichts mehr, sondern nahm in Hast seine Puppe in den Arm, ergriff seine Hand und sagte, ihn zur Thüre ziehend: „Mama wartet!“
Er mußte schon folgen, wenn er anders seinen kleinen Schützling nicht verlieren wollte, der von nun ab für weiter nichts Sinn und Augen hatte, als für seine Puppe, Jetzt war alle Kälte, aller Schmerz vergessen, und nur mit Mühe vermochte er noch sie in einen Laden zu ziehen, um ihr einige Pfefferkuchen und anderes Naschwerk zu kaufen. Gleich darauf war die Wohnung der Kleinen erreicht. Und das Kind, hoch seine Puppe haltend, lief vorauf – und der Assessor hörte noch, wie es bereits schon im Flur rief und schrie: „Mutter, Mutter! eine Puppe!“
Mehr hörte und vernahm er nicht. Rasch, als fürchte er von einem der Angehörigen der kleinen Marie entdeckt zu werden, eilte er davon.
Andern Tages aber, als Kinder und Erwachsene in freudiger Erregtheit durch die Straßen liefen und sich im Stillen wunderten, daß die Stunden, trotz aller Hast und Eile, doch so langsam dahin schlichen, daß es nicht Abend werden wollte, saß Alexandrine, die einzige Tochter des verstorbenen Kreisgerichtsraths Waldow, wehmüthig, verstimmt am Tisch. Sie hatte ihre Weihnachtsarbeiten längst vollendet, sie lagen eingewickelt und geordnet in der Kommode und konnten in jeder Minute an die Betreffenden ausgetheilt werden, aber die Freude, die sie beim Arbeiten empfunden hatte, war seit gestern, seit der Christbescheerung der armen Kinder, wo sie auch thätig gewesen war und der Frau Präsident Werner hülfreiche Hand geleistet hatte, merklich gewichen. Die Handlungsweise des Assessor Nordheim, die sie im Grunde des Herzens nicht tadeln konnte, hatte doch ein zu großes Aufsehen erregt, als daß nicht mannigfache Anspielungen und Tadel hätten laut werden sollen, die auch sie verletzen mußten. Nordheim war schon bei Lebzeiten des Vaters vielfach in ihrem Hause gewesen; der Verstorbene hatte den talentvollen jungen Mann, der gleichsam unter seinen Augen, als der Sohn eines früh verstorbenen Freundes, aufgewachsen war, geschätzt und geliebt, und so war es auch natürlich, daß Alexandrine sich ihm nähern mußte, zumal auch die Mutter, nach dem Tode des Gatten, ihn nicht ungern in ihrer Nähe sah. Es hatte sich dadurch ein eigenthümliches, fast geschwisterhaftes Verhältniß zwischen ihnen gebildet, und wenn die Welt sie natürlich auch bereits als Verlobte und Versprochene betrachtete, so war doch von dem Assessor so wenig wie von Alexandrinen jemals ein Wort gefallen, das ein Verhältniß der Art bestätigen konnte.
Jetzt aber, heut zum ersten Male regte sich in der Brust des jungen Mädchens ein eigenthümliches Gefühl, das sie ehedem nicht gekannt, oder das ihr doch nicht so klar vor Augen gelegen hatte, als eben jetzt. Die Stichelreden der Damen hatten seit gestern doch einen eigenen Sturm in ihrer Brust hervorgebracht; es war ihr klar geworden, daß man sie als die Braut des Assessors bestimmt betrachtete – und sie, sie mußte es sich gestehen, daß derselbe ihr doch mehr sei, als sie bislang selbst geglaubt hatte; während sie doch auch wieder mit sich im Zwiespalt lag, ob sein gestriges Verhalten sie mehr erfreuen oder betrüben sollte. Er schien so herzenswarm, so nach dem Rechten gehandelt zu haben, und doch – –! Aber es war nicht Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen; der Assessor trat soeben ein.
Alexandrine erschrak ein wenig. Sie vermochte nicht, ihm in gewohnter Unbefangenheit entgegen zu gehen, und Nordheim, dies bemerkend, lachte und rief: „Hat Frau Präsident von Werner mich so abgekanzelt, daß auch Sie an mir irre geworden sind?“
Und als er sah, daß sie erröthend schwieg, fuhr er, nicht ohne einige Bitterkeit, fort und sagte: „Daß die Welt in ihrem Egoismus sich doch niemals in die Lage Anderer versetzen kann! Glauben Sie es denn wirklich, daß die Kinder es nicht fühlen, daß sie blos zur Schaustellung für die Erwachsenen dorthin beordert sind, daß die Welt mit ihrer Barmherzigkeit sich brüsten will? Das reine Kindesgefühl wird durch solches Bloßstellen abgestumpft, der Neid der Kinder wird gegenseitig erregt, das Verschämtsein der Armen vernichtet, die bettelnde Frechheit der Liederlichen sanctionirt und permanent gemacht. – O Alexandrine, war der tiefschmerzliche Nothschrei des kleinen Mädchens nicht die einschneidendste Kritik der ganzen Bescheerung? Ich weiß nicht, wer die Eltern des Kindes sind, wenn ich auch den Namen der Mutter weiß, das aber hat mich sein Schrei gelehrt, daß sie einst bessere Tage gesehen und es ein Fehler war, dies Kind zur Weihnachtsbescheerung hinzuzuziehen!“
Er sprach nicht weiter, er fühlte, daß er in seiner Erregtheit zu weit gehen möchte, und so lachte er gezwungen und sagte, dem jungen Mädchen die Hand hinreichend: „Hier, Alexandrine, meine Hand! Mag die Art und Weise meines Einschreitens nicht die richtige gewesen sein, das aber weiß ich, daß die Freude, die ich dem Kinde bereitet habe, mir den Zorn der Frau Präsident von Werner tausendfach aufwiegt. Und nun kommen Sie, Alexandrine, nehmen Sie Hut und Mantel und lassen Sie uns einige Straßen und Weihnachtsausstellungen durchwandern. Es will Abend werden, und durch die Fenster in den Stuben angezündete Weihnachtsbäume brennen zu sehen, ist für mich ein eigener Genuß. Man wird mit den fröhlichen Kindern zum Kinde wieder. Kommen Sie! Ihre Frau Mutter, die ich bereits sprach, hat ihre Einwilligung gegeben!“
Wenige Augenblicke darauf schritten sie Arm in Arm durch die hell erleuchteten, buntbewegten Straßen dahin, und wer sie so gehen sah, Arm in Arm, fröhlich plaudernd, hier und dort das Schaufenster eines reichgeschmückten Ladens bewundernd, dort eintretend, Kleinigkeiten kaufend, der mochte dem pfiffig dreinschauenden Jungen nicht Unrecht geben, als er seinen Hampelmann Alexandrinen zum Kauf anbot und keck hinrief: „Kaufen Sie, schönes Fräulein, den besten Hampelmann für den gnädigen Bräutigam!“
Jetzt standen sie vor dem Local des Kunsthändlers, in dessen permanenter Ausstellung sich gerade einige der bedeutendsten Schöpfungen berühmter Maler vorfanden, und der Assessor, den Arm seiner Begleiterin fester anfassend, sagte: „Lassen Sie uns einen Augenblick eintreten. Ich meine, man kann den heutigen Abend nicht besser [323] beginnen, als wenn man die genialen Schöpfungen der Kunst betrachtet. Bitte, kommen Sie, Alexandrine!“
Und ohne eine Antwort oder Gegenrede abzuwarten, trat er in das Haus und öffnete die Thür zur Ausstellung. Dieselbe war besuchter, als man am heutigen Tage hätte erwarten sollen. Lessing hatte eine seiner prächtigen Landschaften ausgestellt, während J. Schrader seinen König Karl I. von England gesendet hatte.
Alexandrine fühlte mit dem Eintritt in die Ausstellung ihre Befangenheit, in die der Ausruf des Knaben sie versetzt hatte, mehr und mehr weichen. Nordheim, als tüchtiger Kunstkritiker dem Besitzer des Locals, wie auch den meisten Künstlern der Stadt bekannt, sprach so klar und gediegen, daß ihr Blick sich mehr und mehr erweiterte, sie ein innigeres, tieferes Verständniß der Bilder gewann und ihre Herzensfreude und Sicherheit bedeutend zunahm.
Die Anwesenden standen in einzelnen Gruppen bald vor diesem, bald vor jenem Bilde.
Nordheim, von einigen der Anwesenden erkannt und freundlich begrüßt, ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, bis er plötzlich am Ende desselben den Kunsthändler traf, der prüfend ein kleines Gemälde betrachtete, während eine junge Dame an seiner Seite mit erwartungsvoll ängstlichem Auge seines Ausspruchs zu harren schien. Die Dame war sauber, aber nicht elegant gekleidet, ihr Anzug zeigte, daß derselbe hin und wieder nur mühsam einige durchbrechende Schäden zu verdecken vermocht hatte – und so vermuthete Nordheim gewiß nicht mit Unrecht in ihr die Verkäuferin, wo nicht gar die Malerin des Bildes. Von Neugier oder Theilnahme ergriffen, ging er den beiden sich unbemerkt Glaubenden zu. Alexandrine, mit einer Freundin plaudernd, die sie zufällig getroffen, war zurückgeblieben. Jetzt war er dem Kunsthändler nahe, und er hörte, wie derselbe sich zu dem jungen Mädchen wendend sagte: „Schon gut, ganz gut! Wäre das Bild nur acht, vierzehn Tage früher eingeliefert worden, hätte ich Hoffnung haben können, es in der Masse, die zum Fest gekauft wird, loszuschlagen. Wer aber kauft jetzt noch eine Copie und zumal von der Hand einer gänzlich Unbekannten?“
Nordheim, der mit einem Blick die Güte und Feinheit des Bildes erkannt hatte, aber auch zugleich den Schmerz, die Hoffnungslosigkeit auf dem Gesicht des jungen Mädchens bemerkte, sagte rasch, entschieden vortretend: „Sieh da, Herr Sohr, welch’ eine prächtige Copie des François Navez haben Sie hier?“
Der Kunsthändler, durch die Worte des Assessors sichtlich verlegen gemacht, entgegnete zögernd: „Halten Sie diese Copie wirklich für gelungen?“
„Nun wohl!“ lachte Nordheim sarkastisch, „ein Meisterwerk erster Classe ist sie nicht, man sieht derselben vielmehr einzelne kleine Fehler an, die eine Anfängerin als Verfertigerin vermuthen lassen; aber das ganze Gemälde bekundet auch zugleich ein so entschieden festes jugendliches Talent, daß ich mich wundere, daß Sie dem Bilde nicht bereits einen Platz in Ihrem Saale gegeben haben. Hier, dächte ich, wäre der Ort, jugendliche Talente zu ermuntern.“
Und ehe der Kunsthändler noch Einzelnes zu entgegnen vermochte, fuhr er fort, nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit, indem sein Auge die Gestalt des jungen Mädchens gestreift, das mit gesenkem Blick erröthend stand und doch zugleich in fieberhafter Erregung seiner ferneren Worte zu lauschen und zu harren schien: „Ich weiß, was Sie sagen wollen: Copie! Maler unbekannt! Als ob, wie gesagt, nicht eben diese Ausstellung dazu angethan wäre, junge, strebsame Talente in die Oeffentlichkeit einzuführen. Oder sind Sie vielleicht auch der Ansicht, nur die Noth, die Hemmniß, die Zurücksetzung erzeuge den Künstler? Anerkennung, lieber Sohr, ist das Brod des Geistes. Sehen Sie hier, wie schön, wie treu, wie wahr betet die Mutter zur Madonna, vor deren Standbild sie ihr todtkrankes Kind niedergelegt hat, während sie selbst sich auf die blühend schöne, erwachsene Tochter zur Seite stützt! Hier, namentlich in der Tochter, ist mehr als bloße Copie. Erlauben Sie mir das Bild dort drüben aufhängen zu dürfen, wo noch bis vor Kurzem die schlechte Landschaft eines sonst nicht unberühmten Mannes hing.“
Mit diesen Worten ergriff Nordheim das Bild und trug es selbst nach der bezeichneten Stelle hin, während daß die junge Dame mit leuchtendem, verklärtem Blick seiner Rede gelauscht hatte. Der Kunsthändler jedoch, wie es schien wenig erbaut von den Worten des Assessors, aber als bekannten Kritiker ihn fürchtend, wandte sich zu der Künstlerin und sagte, rasch zur Nebentür hinausschreitend: „Bitte, folgen Sie mir, Fräulein! Wir werden unser Geschäft hier ruhiger abmachen konnen.“
Und ehe Nordheim, das Bild aufhängend, noch einen Blick rückwärts wenden konnte, waren Beide aus dem Saal verschwunden. In diesem Augenblicke trat auch Alexandrine zu ihm, der mehrere der Anwesenden folgten, so daß er das Verschwundensein des Kunsthändlers mit der jungen Dame nicht sogleich bemerkte. Ohne Auskunft über die Künstlerin erhalten zu haben, mußte er die Ausstellung verlassen. Nordheim that’s in sichtbarer Verstimmung und Zerstreutheit, die beide erst wichen, als er hie und da einen brennenden Weihnachtsbaum erblickte und, durch die erleuchteten Scheiben die Lust und Freude der Kinder schauend, selbst der Jugend gedenkend, froh und heiter wurde.
Alexandrine jedoch war stiller und ernster geworden; sie wußte selber nicht woher es kam, aber es wollte ihr bedünken, als habe eine unzeitige Hand den schönen bunten Schmetterlingsstaub von den Flügeln ihrer Freude, ihres Glücks gestreift. Mechanisch trat sie am Arm ihres Begleiters zur Mutter ein. Und als sie hier auf dem Tisch, von der sorgenden Hand der Mutter, ihre Weihnachtsgaben vorfand und unter diesen auch ein prächtiges Murillo-Album, von der Hand Nordheim’s dargebracht, war es ihr, als müsse sie, statt aufzujauchzen vor tiefer innerer Freude, gemischt mit namenlosem Schmerze, weinen und immer wieder weinen. Mit Mühe nur vermochte sie ein Wort des Dankes zu sagen und ihre Thränen zu verbergen. Was hatte sie nur so trüb gemacht?
Die Tage darauf war es rauh und kalt.
Die kleine Marie hatte in das mit Eisblumen überzogene Fenster sich ein Gucklöchelchen gehaucht, durch das sie glückselig zufrieden nach der Straße schaute. Sie lachte hell auf ob ihrer Kunst und Wagniß, während sie zugleich ihr Blauauge an die gehauchte Oeffnung brachte. Jeden Vorübergehenden rapportirte sie treulich der Mutter, die still gedrückt nicht fern vom Ofen saß. Erst ging ein Knabe vorbei, Nachbars Fritz, dann kam sein Pudel; auch die Köchin des gegenüberstehenden Hauses trat heraus und holte Wasser. Alles Gegenstände von Wichtigkeit.
Jetzt aber lugte sie wieder heraus, und es war, als ob sie mit ihrem kleinen Guckauge die Scheibe durchbrechen wollte, so legte sie es an die Oeffnung, die sie vorher noch rasch sich klar gehaucht; dann aber war sie auch mit einem Satz vom Stuhl herab und lief zur Thür hinaus, ehe noch die Mutter sie halten und erinnern konnte, indem sie laut jubelnd schrie: „Der Puppenmann kommt! Der Puppenmann kommt!“
Und sie hatte sich nicht geirrt. Nordheim ging vorüber. Er hatte wohl nicht daran gedacht, daß hier sein kleiner Schützling wohne, wenigstens fuhr er, wie aus tiefen Gedanken geweckt, auf, als die kleine Marie plötzlich an seiner Seite war und ihm jubelnd die Hände entgegenstreckte. Er hob sie auf, küßte sie auf den Mund und wollte seinen Fuß dann weiter setzen. Doch in diesem Augenblick trat auch die Mutter aus der Thür und bat ihn mit gewinnendem Anstande, näher zu treten.
„Sie haben,“ sprach sie, „meinem keinen Quälgeiste eine so innige Freude bereitet, daß Sie es der Mutter nicht verargen werden, wenn sie sich darnach sehnt, dem Geber des Geschenks auch ihren Dank abzustatten. Darf ich bitten?“
Nordheim, wenn er nicht als unhöflich erscheinen wollte, mußte der Einladung folgen; und was ein Blick auf die Frau ihm gezeigt, fand er im Innern der Wohnung bestätiget: die Dame gehörte den gebildeteren Ständen an und war, wie es schien, nur durch Unglücksfälle in eine Lage gekommen, die ihrer früheren entgegengesetzt war.
Wie sah es so traut, so heimisch, trotz aller Aermlichkeit in dem Stübchen aus! Die kleine Marie hatte ihm ihre Puppe und Spielsachen gebracht, und wurde nicht müde zu plappern und zu plaudern. Die Mutter aber, die einen Augenblick ernst und sinnend geworden war, gleichsam als kämpfe sie mit sich selbst, sagte endlich, wie zu einem Entschluß gekommen: „Ich freue mich, daß mir Gelegenheit wird Ihnen danken zu können; nicht so wohl für das, was Sie meinem Kinde gethan haben, sondern für das, was Sie verhindert haben.“ Und als sie sah, wie Nordheim bei diesen Worten aufschaute und sie einen Augenblick wie prüfend ansah, sprach sie: „Mein Kind, das seit wenigen Wochen erst nach der Schule ging, kam glückselig mit der Nachricht nach Hause, daß der [324] Lehrer und eine Dame, die nach der Schule gekommen sei, sie bestimmt habe, an jenem Abende auch zu erscheinen. Das Kind in seiner Unschuld hatte gemeint, es käme ihr diese Auszeichnung für ihren Fleiß zu, denn der Lehrer hatte sie einige Mal gelobt; und wir, die wir keine Ahnung von der eigentlichen Sachlage hatten, glaubten, es solle dem Kinde vielleicht ein gedrucktes Weihnachtssprüchlein gegeben werden, wie dies in einzelnen Schulen Sitte ist. Wie konnte ich ahnen, daß man mein Kind in Folge seines dünnen Röckchens oder wegen seines bleichen Gesichtchens herabzuwürdigen gedachte – ihr – – O, lassen Sie es mich nicht weiter aussprechen. Annette von Droste spricht in einem ihrer Gedichte von dem Mißgeschick, das der guten Freunde übergroßer Eifer zumeist anrichte. Hier könnte man von Aehnlichem reden, von den Wunden, die solch zur Schau gestelltes Wohlthun schlage, wenn man nicht eben wüßte, daß das Ganze zumeist nicht der Armen wegen gethan wird, sondern der Leute wegen, die sie ob ihres Wohlthuns preisen sollen! O über die Menschen, die nie fühlen und empfinden wollen, daß keine Gabe den Armen tiefer kränkt, als solche öffentlich zur Schau gestellte. Diese Bälle, diese Vergnügungen zum Besten der Armen, was sind sie Anderes, als schneidende Messer, die den Bettler in das Fleisch schneiden und Bitterkeit in seine Wunde träufeln, denn die Ballmusik erklingt ihm in seinem Schmerz und seiner Einsamkeit wie bitterer Spott und Hohn. Glauben Sie mir, diese prunkende Wohlthätigkeit ist ein Krebsschaden unserer Zeit!“
Mit einiger Bitterkeit fuhr sie fort: „Sie sehen mich an und meinen, woher diese Weisheit mir komme; aber wer, wie ich, ehedem selber vermögend war – und nun arm und gedrückt dasteht, der empfindet Manches tiefer, als er es vielleicht aussprechen sollte.“
„O, sagen Sie nicht: arm geworden,“ fiel Nordheim, der aufgestanden war, mit Wärme ein. „Ich will mich nicht in Ihre Verhältnisse drängen, der Zufall hat mich Ihnen näher gebracht; aber unmöglich können Sie von Armuth und Entbehrung sprechen, beim Anblick Ihres Kindes!“
Die Mutter lächelte schmerzlich und nahm ihren kleinen Liebling auf den Arm. „Sagen Sie Kinder!“ sprach sie ernst. „Ich habe zwei Töchter! – aber liegt nicht eben im Anblick der Kinder für mich der tiefste Schmerz? – Mein Gatte wurde in Folge seiner Betheiligung am Aufstand in Baden zu einer Zuchthausstrafe verurtheilt. Er entzog sich derselben durch die Flucht. Ich folgte ihm. Wir lebten als Verbannte in der Schweiz. Sagt das nicht genug? Mein Gatte, als früherer Fabrikbesitzer, der redlich nach Kräften für seine Arbeiter gesorgt hatte, der ihnen ein milder Herr, ein Freund, ein Helfer in der Noth gewesen war, glaubte, es würde ihm auch in der Fremde glücken. Es sollte nicht sein! Ein schleichendes Fieber erfaßte ihn; er blieb jahrelang krank. Wir würden gedarbt, gehungert haben, hätte meine älteste Tochter, meine Elise, nicht ihr Talent, das sie in der Jugend zum Vergnügen, zur Freude spielend geübt, verwertet. Sie war es, die das Brod im Exil uns schaffte, die es auch gegenwärtig hier gethan. Mein Mann starb, fern der Heimat, ich kehrte zurück um den letzten Rest meines Vermögens zu retten. Es gelang mir nicht. Ein falscher Freund, ein pflichtwidriger Kaufmann, betrog mich um das Letzte. Arm, gemieden von frühern Bekannten, zog ich hierher. Sie wissen, daß man in einer großen Stadt am leichtesten einsam und unbemerkt nach seiner Decke sich strecken kann. Ueberdies lag die einzige Hoffnung vor, daß Elise hier sich weiter ausbilden – und ihr Talent zur Anerkennung gelangen werde. – Aber auch hierin sollten wir bittere Erfahrungen machen. Auch dem Künstler muß ein Glücksstern leuchten, wenn er sich über die Menge hervor arbeiten soll. Auch hier ist die Armuth eine Fessel, die die schönsten Blüthen knickt. Doch ich bin wohl ungerecht und undankbar! war Marie doch so glücklich – sie ist im Exil geboren – und Elise – –“
Nordheim, der bis hierher die Redende durch keine störende, unzeitige Frage unterbrochen hatte, der den Schmerz ehrte, der aus und in den Worten sichtbar wurde, konnte sich nicht länger halten, eine bisher in seiner Brust schlummernde Ahnung schien in ihm nun zur Gewißheit geworden, freudig rief er. „Ihre Tochter ist Malerin. Ich habe vielleicht ihr Bild – –“
Er konnte nicht weiter sprechen. Die Thüre ging auf, und herein trat jenes junge Mädchen, das er im Saal des Kunsthändlers gesehen – und dessen Erscheinen einen so nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hatte, und dessen Bild so bedeutende Spuren wirklichen Talents verrieth.
Die Mutter, in sichtbarer Freude und mit mütterlichem Stolz die Eintretende bemerkend, rief, sie vorstellend. „Meine Tochter Elise!“ während sie zugleich, zu Letzterer sich wendend, lächelnd sprach: „Unsere Marie hat den Herrn zu uns geführt. Es ist –“
Aber sie sprach nicht aus, was sie sagen wollte, denn die Tochter hatte bereits dem jungen Mann freundlich, unbefangen die Hand gereicht. „Von ganzem Herzen willkommen!“ rief sie freudig. „Ich sehe, Sie haben nicht meine Schwester allein zu Ihrem Schützling erkoren; auch ich bin Ihnen bereits zu Dank verpflichtet.“ Und sich zur Mutter wendend, sprach sie: „Herr Nordheim war es, der sich meiner bei Herrn Sohr annahm. Ihm verdanken wir es, daß mein Bild gekauft wurde!“ Und sich wieder zu dem Assessor wendend, rief sie, seinen Worten, die er entgegnen wollte, zuvorkommend. „Ich weiß, was Sie freundlich sagen wollen. Aber es war nicht das Geld, welches ich für meine Copie erhielt, was mich erfreute, obschon es trostlos gewesen wäre, wenn ich nichts erhalten hätte; Ihr Kommen befreite mich aus drückender Lage. Und dafür sei Ihnen herzlich gedankt. – Es ist trostlos, wenn man wegen eines Werks, das man mit Lust und Liebe geschaffen, feilschen und markten muß!“
Nordheim, der die Schönheit des jungen Mädchens erst jetzt zu bemerken Gelegenheit hatte, der aber zugleich auch den Schmerz gewahrte, der in den Worten lag, suchte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Er ging rasch auf einige andere Kunstgegenstände über, betrachtete ihre angefangenen und ausgeführten Skizzen und Studien und brachte es auf diese Weise dahin, daß Elise ihres Schmerzes vergaß und ihre Ansichten, Ideen und Hoffnungen offen darlegte. Wie gediegen, klar durchgebildet fand er das junge Mädchen auch hier! – Der Augenblick, den er zu bleiben gedachte, dehnte sich auf diese Weise unbewußt zu einer Stunde aus. Die kleine Marie, die im Anfange an seinem Knie gelehnt gestanden und ihn mit ihren großen Augen angesehen hatte, war endlich zu ihren Spielsachen gegangen und hatte dort, unbekümmert um die Anwesenheit eines Fremden, eifrig, harmlos fort gespielt. Jetzt kam sie, und zu dem Assessor hinantretend, sagte sie, ihm ihr Weihnachtsgeschenk hinhaltend: „Es ist schon spät, meine Puppe will Dir Gute Nacht sagen; sie ist müde.“
Nordheim erröthete bei diesen kindlichen Worten unwillkürlich, sie mahnten ihn daran, daß es Zeit sei, sich zu verabschieden. Hastig stand er daher auf und sagte lächelnd, dem Kinde die dargereichte und angenommene Puppe wiedergebend: „Leg’ sie nur zur Ruh’!“ Und sich zu der Mutter und Elisen wendend, sagte er entschuldigend: „Verzeihen Sie mein ungebührlich langes Bleiben!“
Mit diesen Worten wandte er sich zur Thür, doch hier angekommen, wendete er sich nochmals. „Werden Sie mich für zudringlich erachten,“ sagte er, „wenn ich Sie bitte, mir den Namen des Banquier zu nennen, durch den Sie Ihr Geld verloren? Vielleicht gestatten Sie mir auch eine Einsicht in die betreffenden Papiere. Ich bin Jurist.“
Die Angeredete lächelte schmerzlich. „Sie wollen eine leise Hoffnung in meiner Brust aufkommen lassen!“ sagte sie. „Ich hoffe nichts! Banquier Wallbot hat fallirt – und Hamburg verlassen!“
„Wallbot! Wallbot!“ rief der Assessor hoch aufhorchend. „Und er hat früher in Hamburg gewohnt? – O bitte, zeigen Sie mir die Documente. Wallbot macht gegenwärtig hier eins der anständigsten, besten Häuser.“
Hastig ergriff er die ihm zitternd dargereichten Papiere, und dieselben ernst, rasch, aber umsichtig prüfend, gab er sie endlich zurück. „Lassen Sie uns hoffen!“ sagte er, der Mutter die Hand zum Abschiede reichend. „Vielleicht gelingt es mir. Ihnen schon nach einigen Tagen Gutes mittheilen zu können. Ich glaube mich nicht zu irren, Wallbot ist kein schlechter Charakter!“ Mit diesen Worten empfahl er sich und ließ Mutter und Tochter in nicht geringer Aufregung zurück.
Als ich mich vor Jahren durch das anhaltend schöne Herbstwetter hatte verlocken lassen, noch in der letzten Hälfte des Octobers das sächsische Erzgebirge zu besuchen, um dort einsame Waldnatur und Jagd zu genießen, schlug ich mein Domicil in der Nähe
der böhmischen Grenze bei einem mir befreundeten Forstmann auf. Obgleich der Wildbestand auf dessen Reviere durch mancherlei Umstände ein ziemlich zerstörter war und sich deshalb das Waidwerk meist nur auf Abschießung von Wechselwild, das zuweilen von Böhmen herübertrat, beschränkte, so lag doch gerade in dieser Art von Jagdbetrieb ein gewisser Reiz, weil doppelte Aufmerksamkeit und Mühwaltung dazu gehörte, wollte man seine Bestrebungen auf diesem Felde möglicherweise mit Erfolg gekrönt sehen. Da galt es denn unverdrossen hinaus auf den Anstand und Pirschgang zu gehen, auf ersterem aber, trat man des Abends an, bis zum Finsterwerden auszuhalten; ja, war Mondschein und man erwartete Hochwild, durfte man sich nicht scheuen, gleich die Nacht hindurch auf seinem Posten auszuharren, weil das Wild höchst unzuverlässig und nur spät Abends oder in der Nacht über die Grenze auf die daranstoßenden dürftigen Felder trat, die es aber schon in dämmernder Frühe wieder verließ, um sich die übrige Zeit fast ausschließlich in den Dickungen Böhmens zu verhalten. Deshalb blieben Versuche, am Tage dem Wilde durch Treibjagden oder mit dem Hunde Abbruch zu thun, fast immer vergebliche. Die nächtlichen Ausflüge aber boten mir gerade einen besonderen Genuß, weshalb ich sie denn auch während der mir vergönnten Zeit geflissentlich pflegte, und obgleich ich nicht ein einziges Mal dabei das Glück hatte zu Schuß zu kommen, so knüpfen sich doch nichtsdestoweniger liebe Erinnerungen an diese einsamen Gänge; denn welch herrliche Natureindrücke empfing dabei das Herz!
War ich geraume Zeit vor Sonnenuntergang, um durch späteres Kommen nichts rege zu machen, hinausgeschritten an die Grenze, um mich dort anzustellen, so blieb mir volle Muße – bei aller Vorsicht für etwa eintretende Eventualitäten – mich der Betrachtung der mich umgebenden herrlichen Natur hingeben zu können; denn so lange es nicht so dunkel wurde, daß man nur noch zur Noth soviel Büchsenlicht hatte um möglicherweise dabei schießen zu können, durfte ich doch nicht darauf rechnen. Wild zu Gesicht zu bekommen. Wie oft und mit welchem Genuß betrachtete [326] ich dann die scheidende Sonne, wenn sie, wie ein glühender Ball in der purpurgefärbten Atmosphäre schwimmend, tiefer und tiefer dem Horizont zuneigte, bis sie scheinbar in das lichtübergossene Waldmeer, das sich vor meinen Blicken ausbreitete, hinabsank! Oder es stiegen vorher noch am Saume der Gebirgslinien phantastisch geformte Wolkenmassen, die dem Herbste ja so eigen sind, empor, welche die sich dahinter bergende Sonne mit goldenen Säumen schmückte, während die in höheren Regionen hinziehenden Luftgebilde von ihr mit rosigem Schimmer übergossen wurden. War aber mit dem Heimgange der Lichtspenderin auch an dem dahineilenden Gewölk der erborgte Glanz verblichen und es zog leise die Dämmerung herauf, dann stellten die weißen Nebel sich ein, die den Tiefen entstiegen und den alten Tannen die dunkeln Häupter umwallten. Tiefe Ruhe begleitete solche Momente, in denen dann selbst die letzten leisen Stimmen der Vogelwelt verstummten, und nur des Baches Rauschen aus der Thaltiefe traf das gespannte Ohr und trug hauptsächlich dazu bei, die heilige Stille des Waldes dem Menschen so recht vollbewußt werden zu lassen. Mit welcher Aufregung lauschte man aber dann, wenn dieselbe plötzlich noch einmal durch den rauschenden Flügelschlag eines Auerhahnes, der seinen Stand in dem Wipfel einer Fichte wählte, unterbrochen wurde! Schwer, als müsse der Gewaltige das Geäst seines nächtlichen Ruhesitzes herabbrechen, trat der urige Vogel auf, daß es weit hin den schweigsamen Forst durchhallte. Dann wurde es todtenstill – nicht ein Lufthauch rührte an solchen Abenden das dichte Gezweig der Tannen und Fichten, während die Finsterniß mit dunkeln Fittigen mehr und mehr den einsamen Wald umspannte. Diese trieb mich dann – erwartete ich keinen Mondschein – entweder nach Hause oder, was oft geschah, in die Baracke einer nahegelegenen Kohlenstatt, um in diesem Asyl zu übernachten und frühzeitig wieder auf dem Platze sein zu können. Manch’ heimliche Stunde hörte ich hier dem „Meilerfried“, so nannte man den Köhler, zu, wenn er mir die Begegnisse seines Waldlebens erzählte, wobei er besonders lebhaft wurde, kam er dabei auf die Vogelwelt zu sprechen; denn er war nicht nur leidenschaftlicher Liebhaber der kleinen gefiederten Sänger, sondern auch der eifrigste Fänger derselben, was mir alle Jäger der Umgegend bezeugten, ihm aber dafür nicht eben „grün“ waren. Hierbei will ich nicht unterlassen, wenigstens eine Geschichte aus dessen Leben wiederzugeben, die ihn so recht als „Vogel-Tobias“ charakterisirt.
Es war an einem jener Abende, wo düstere Wolken den Mond derart verhüllten, daß längeres Ausharren auf meinem Anstandsposten Thorheit gewesen wäre, als ich spät noch in Meilerfriedens Hütte trat. Ich glaubte ihn bereits schlafend auf seinem ärmlichen Lager zu finden, aber noch war er wach, und zwar saß er beim trüben Schein eines Lämpchens und erbaute sich aus einem alten Gebetbuche. Als Buchzeichen aber diente ihm, wie ich beim Herantreten sah, die Schwanzfeder eines Vögelchens, und an diese knüpfte er, als ich lächelnd und darüber scherzend dieses originelle Merkmal betrachtete, folgende Geschichte.
„Das war ein Fink’, von dem das Federchen ist – ein Fink’, für den ich’s Leben gelassen hätt’! Und bald war ich auch um seinetwillen darum gekommen,“ fügte er hinzu. Nachdem er das Buch, in das er sein theures Erinnerungszeichen sorgfältig barg, zugeklappt hatte, fuhr er fort: „’s war als mein selige Frau noch lebte, aber schon krank war und ich mit meiner Familie noch droben im Dorfe wohnte, daß ich an einem Gründonnerstage mit meinem ältesten Buben, der den vorhergegangenen Palmsonntag confirmirt worden war, nach dem nächsten Kirchdorf, das zwei Stunden von meinem Heimathorte liegt, zum heiligen Abendmahl gehen wollte. Da’s gar so schön und sonnig an jenem Tage war, so schlugen wir mitsammen einen Seitenpfad, der durch den Busch führte, ein; denn obgleich er nicht gerade der nächste war, so führte er doch auch nicht eben gar viel um, und man hörte doch dabei jedenfalls ein Bissel Vogelgesang; denn’s Wetter war, wie schon gesagt, so gar prächtig, daß es der liebe Gott nicht schöner machen konnt’, weshalb das liebe Viehzeug auch wirklich vor lauter Lust ganz des Teufels war. Da stieg wirbelnd die Baumlerch’ quer auf in die Luft und trillerte dazu wie auf einer Flöt’, bis sie wieder niederstieg und auf den Wipfel einer dürren Tanne auffiel, dabei ihr zia, zia, zia! lockend, während die Zippen ihr „David“ pfiffen. Es war eine Lust, und die Seel’ im Leibe lachte vor Freude mit über all das Gesing’ und Gepfeif’. Aber auf einmal höre ich ein Stück im Holze d’rin einen Reitzugfinken[1] schlagen – so glockenrein wie pures Silber. Himmelskreuzschnabel! wie fuhr mir das in die Glieder! Ich dachte gleich der Kuckuck sollte mich holen! Aber bald kam ich wieder zu Sinnen.
Höre Jung’, sagt ich zu meinem Fürchtegott, den Finken müssen wir haben! Du hast’n kleines Stündel daheim; lauf was Du kannst und bring mir meinen Lockfinken zur Stell und auch den Leim, denn da hilft kein Bedenken, soll uns der Reitzug nicht in die Fichten gehen. Ich bleibe hier und lasse, bis Du wiederkömmst, den Burschen nicht aus dem Aug’, weshalb Du nur, kehrst Du zurück und siehst mich nicht gleich, zu pfeifen brauchst; denn weit weg – will’s Gott! – bin ich nicht. Mein Jung’ der war nicht faul – im Trabe lief er heim, und keine anderthalb Stunden dauerte es, da war er wieder zur Stell’. Freud und Angst hatten mich derweil bald umgebracht, denn so’n Schlag, wie der Vogel im Leibe hatte, war mir noch gar nicht vorgekommen, und daher fürchtete ich jeden Augenblick, daß ein zweiter Hahn kommen könne und mir meinen Herzensfink fortstreiten möcht’. Doch er hielt ungestört aus, so daß, als mein Bube zurückkam, er seinen Stand noch um keine hundert Schritt geändert hatte. Geschwind waren nun die Leimruthen geschmiert und meinem Hauptlocker kreuzweis auf den Rücken geheftet. Herr mein Gott! nun hätten Sie ausschauen sollen, wie ich den Laufer[2] auf den Boden gesetzt hatte und der sein helles Pink, Pink! erhob. Wie eine Sternschnuppe kam auf diesen Ruf der Standfink’, das herrliche Beest, von seiner Buche, worauf er saß, ’runtergeschossen und auf meinen Locker drauf, daß er schon im nächsten Augenblick fest an ihm hing. Ich natürlich wie eine Katz’ drauf hin – da kommt der Teufelskerl los von dem Leim und flattert, weil noch die Ruthe an ihm haften geblieben, tief über den Haideboden hin einem jähen Hange zu.
In toller Hetze rennen wir, ich und mein Jung’, hinter dem Ausreißer her, und eben will ich ihn greifen, da huscht er mir unter der Hand wieder fort und über die Berglehne ’nunter. In der Hast fahre ich nach und komme dabei auf Geröll, das unter mir weicht, daß ich wie im Fluge eine Streck’ abwärts kollere, ehe ich mich wieder erraffen kann. Endlich gelang mir’s doch, und natürlich war’s mein Erstes, daß ich nach dem Fink’ ausschaut’. Zum Glück hatte ihn der Jung’ mit den Augen verfolgt und sagte mir, er habe den Vogel zuletzt gar nicht weit, ein Stück unterhalb von mir gesehen. Ich kraxe ’nunter, denn gebrochen oder sonst großen Schaden gelitten hatt’ ich nicht, obgleich’s nicht weit vom Halsbrechen gewesen war, suche und o heiliger Teufelsbolzen! – erwische den Schwerenöther richtig wieder. Na, diese Freud’! Als ich meine Beut’ im Schnupftüchel vor’m Entfliegen gesichert hatt’, ging’s den Berg wieder in die Höh’. Bald war ich oben bei meinem zurückgebliebenen Jungen, der unterdessen den Läufer in den Gebauer gethan hatte, und verschnaufte ein wenig. „Vater, wie siehst Du aber aus?!“ rief mich nun mein Fürchtegott an, und in der That verwunderte er sich nicht umsonst, denn mein gott’sbester Sonntagsrock hing voller Streu und Boden und hatte ein großes Loch, daß ich aussah, als läg’ ich in der Mauser. Meinen Hut aber hatte ich schon vor dem Hauptsturz vom Kopfe verloren, und das war gut, denn wäre er den Hang hinuntergepurzelt, so wäre er wahrscheinlich in die unten fließende Grünitzbach gekommen, wie’s mit meinem Beichtbuche geschehen war, das aber der „Schindermüller“ unten am Wehre wieder ’rausgefischt und mir später zurückgebracht hat. Doch was geschehen war, war geschehen, und ich hatte doch den Vogel! Freilich zur heiligen Communion konnten wir nicht mehr gehen, denn da war weder mehr Zeit dazu übrig, noch konnte ich doch in meinem verflixten Habit vor Gott’s Tisch erscheinen.“
Den Finken aber hatte der originelle Vogelfänger, wie er mich versicherte, jahrelang besessen, obgleich er ihn oftmals theuer hätte verkaufen können. „Aber,“ behauptete er, „ich konnt’ mich nicht freiwillig von meinem Staatsschläger trennen, bis er endlich eines Morgens todt im Futterkästel lag. Da hab’ ich mir zum Angedenken noch ein paar Schwanzfedern von ihm ausgerissen und dann das arme Beest im Gürtel unter die Linde begraben.“
[327] Doch kehren wir zurück zu unserer eigenen abgebrochenen Schilderung. Verwandte ich die Morgen und Abende, sowie theilweise ja auch die Nächte auf Erreichung meines jägerlichen Zieles, so gab ich mich den Tag über ausschließlich den stillbeglückenden Einflüssen der herrlichen Herbstnatur hin. Stunden lang konnte ich dann unter den dunkeln Tannen auf weichem Moose oder im verblühenden Haidekraute an einer Berglehne liegen und die Blicke über die Waldhänge und unter mir liegenden baumumrauschten Felsengruppen und über die Thäler hinstreifen lassen, bis sie an den jenseits emporsteigenden blauduftig übergossenen Höhenzügen hangen blieben. Oder das Auge ruhte mit Wonne auf der zunächstliegenden Umgebung, die unter der sonnendurchwärmten zitternden Luft ein reizendes Bild des farbenprangenden Herbstes bot; denn hier glühten in purpurner Pracht die Beerenbüschel der zartgefiederten Eberesche, die in Genossenschaft silberstämmiger und goldlaubiger Birken den mit mächtigen Steinblöcken besäeten Vordergrund überragten, während den Boden wogende goldene Schmälen und andere Grasarten, wilder Thymian und Eriken bedeckten. Dazu lauschte das Ohr den Locktönen auf dem Zuge begriffener Drosseln, die sich an solcher Stelle vom Anblick ihrer Lieblingsspeise, der Ebischbeeren, und von der schmeichelnden Sonne gern bestimmen ließen, kurze Zeit zu rasten.
Doch nicht lange mehr sollte es so bleiben; das Herz hatte Recht mit seinen Ahnungen – die Herrschaft des goldenen Herbstes erreichte ihr Ende! Die ersten Tage im November brachten düster bewölkte, rauhe Tage, an denen noch dazu heulender Sturm mit unwiderstehlicher Gewalt die Forsten durchwüthete und manch machtvollen Baumrecken zersplitterte oder entwurzelt zu Boden warf. Welch einen Gegensatz bot nun der sturmgepeitschte Wald zu seiner früheren elegischen Stille! Das brauste und stöhnte, ächzte und dröhnte, wenn der rasende Orkan die Kronen der wettertrotzenden Tannen zusammenschlug und ihre gewaltigen Schäfte mit schrillem Ton aneinander drängte, daß es wie ein Wehruf durch die Luft wimmerte; oder es erklang durch all dieses Toben das helle Knattern der berstenden Stämme und der dumpfe Fall aus dem Boden gerissener Bäume, die dem entfesselten Element zum Opfer fielen! Endlich aber legte sich das wilde Tosen, nur noch in dem Wipfelchaos alter Bestände ertönte ein hohles Rauschen, als murrten die hohen Häupter der vom Sturm durchwühlten Tannen über die ihnen geschehene Unbill, bis auch da Schweigen eintrat und der Wald wieder stumm und regungslos ward. Aber in düsterer Hoheit lag er nun vor uns; kein goldener Sonnenschein durchleuchtete und erwärmte ihn – nur graue schneeverkündende Wolken jagten über ihn hin, und eisige Luft strich von Norden her über die Höhenzüge hinweg.
Eines Morgens aber, beim Erwachen, überraschte mich der herrliche Anblick blendenden Schneefalls. Wie freute ich mich darüber! Denn nicht nur, daß mir dadurch der Genuß wurde, die großartige Gebirgs- und Waldlandschaft in so eigenthümlicher Schönheit betrachten zu können, sondern auch dem Jagdteufel in mir sagte diese Erscheinung gewaltig zu, denn nun gabs ja einen Spurschnee, mit dessen Hülfe doch eher ein Geschäft auf die böhmischen „Großjacken“[3] zu machen war; also welch hoffnungsreiche Aussicht! Und wie gewünscht, nachdem es den Tag über ununterbrochen fortgestöbert hatte, hörte es gegen Mitternacht mit Schneien auf und wurde klar und kalt, so daß des andern Morgens eine kostbare „Neue“ lag, die zu benutzen mein freundlicher Wirth nicht einen Augenblick anstand. Bald waren wir, der Förster und ich, dazu gerüstet und auf dem Wege nach der Grenze, um vor allen Dingen zuerst diese abzuspüren. Nachdem wir dort gefunden, daß Hochwild herübergetreten war, fingen wir an, die Dickungen, in die Fährten führten, einzukreisen; doch überall war das Wild nur durchgezogen, ohne sich „gesteckt“ zu haben. Schon glaubten wir deshalb die Hoffnung auf glücklichen Erfolg aufgeben zu müssen, denn nur noch ein schmaler Streifen ungefähr zehnjähriger Fichtenschonung blieb uns übrig zu umgehen, worin sich möglicherweise – aber kaum voraussichtlich – Wild geborgen haben konnte. Da das Dickicht nach der Grenzseite zu an ein Gehau stieß, dessen gegenüberliegender Rand schon Nachbarland berührte, so blieb es – selbst im glücklichen Falle, daß wir das Gesuchte antrafen und einer von uns zu Schuß kam – immerhin eine mißliche Jagd, schon um der nahen Grenze willen, wohin dann jedenfalls das beunruhigte Wild floh, so daß, wurde auch eins davon angeschossen, doch zu erwarten stand, das Opfer werde auf fremdem Boden verenden und uns also verloren gehen. Deshalb schritten wir auch ziemlich kleinmüthig zu unserem letzten Versuche. Die Grenzseite abzuspüren übernahm der Förster, wogegen ich mich unterzog, auf einem alten Wege, der die entgegengesetzte Seite des Dickichts umschloß, dasselbe zu thun.
Zu meiner freudigen Ueberraschung fand ich bald die Fährten zweier Hirsche, eines sehr starken und eines schwächeren, die in das Dickicht hineinführten, ohne daß ich sie auf meiner Strecke noch einmal herausspürte. Freilich stand noch die Wahrscheinlichkeit bevor, daß die Hirsche auf der andern Seite, Böhmen zu, hinausgezogen und über die Grenze gegangen waren, was ja mein Jagdherr auf seinem Pfade bald inne werden mußte. Deshalb erwartete ich mit Ungeduld das Zusammentreffen mit ihm, um ein sicheres Resultat zu erfahren. Bald sollte mir solches werden. Lautlos kam der Waidmann im molligen Schnee dahergeschritten, das Auge aufmerksam auf den Boden geheftet, bis wir aneinander waren. Mit leiser Stimme stattete ich ihm Bericht von dem Befund meines Kreisens ab, worauf er vergnügt erwiderte: „So bekommen wir die Burschen in’s Feuer, denn bei mir ist keiner derselben hinaus!“ Also jetzt war Aussicht, von der Büchse noch Gebrauch machen zu können; ob mit Erfolg? das war eine andere Frage, die, meiner Ansicht nach, nicht eben hoffnungsvoll zu beantworten war, denn der Umstand, daß wir nur ihrer zwei und ohne Hund waren, schien mir, der Sachlage zufolge, ein entschieden ungünstiger, da das Dickicht, worin die Hirsche steckten, zwar schmal, aber seiner Länge wegen schwer nach allen Seiten hin zu beschießen war. Dazu mußte nothwendiger Weise Einer von uns die Dickung durchgehen, während der Andere sich vorstellte. Vielleicht konnten da aber die Hirsche zu entfernt vom Schützen ausbrechen und unbelästigt über die Grenze entkommen. Doch der Förster glaubte darauf rechnen zu können, daß die böhmischen Ueberläufer ihren Wechsel, den er genau zu kennen behauptete, inne halten würden, besonders da der Wind vortrefflich stand; er theilte also mein Bedenken nicht.
Aber ein anderer Punkt führte zu Erörterungen, und zwar der: wer von uns Beiden vortreten sollte. Jeder lehnte für seine Person ab, um den Andern nicht um die Ehre des Schusses bringen zu wollen, bis wir das Loos entscheiden ließen. Eine Büchsenkugel und eine Poste gaben die Würfel des Schicksals ab; die Kugel galt dem Schützen, die Poste aber bestimmte das Treiberamt, welches letztere – mir zu Theil wurde. Bei allem Leid, welches ich empfand, daß ich nachstehen mußte, fiel mir doch – ich gestehe es offen – dadurch gleichsam ein Stein vom Herzen; denn hätte mich Diana durch den andern Posten begünstigt und ich hätte dann in der Hitze gefehlt – ich wäre meines Lebens nicht wieder froh geworden! – Und wie leicht konnte das passiren! – Deshalb übernahm ich wohlgemuth meine Stelle, die auch mit Geschick betrieben sein wollte. Ruhig verhielt ich mich so lange an der Stelle, wo die Hirsche in das Dickicht gezogen waren, bis ich mit Sicherheit vernehmen konnte, daß der Förster seinen Stand bereits eingenommen hatte. Dann drang ich sachte auf der Fährte in die Dickung ein. Es war ein beschwerliches Fortkommen d’rin, denn in Massen lag der frischgefallene Schnee auf dem dichten Gezweig der enggeschlossenen Fichten. Dabei mußte ich das Gewehr, das ich zur Vorsorge schußfertig – im Fall ich die Hirsche passend zu Gesicht bekommen hätte – im Arme trug, vor Schnee und Losgehen bewahren und doch auch die ganze Aufmerksamkeit auf die Fährten richten, die sich manchmal trennten, aber immer wieder zusammen kamen. Ohne Lärm, jedoch absichtlich nicht völlig geräuschlos – etwa wie ein schlechtpirschender Sonntagsjäger – zog ich, immer die Fährte des starken Hirsches annehmend, darauf fort und kam darauf bald zu den frisch verlassenen Betten; die beiden Cumpane waren also bereits vor mir flüchtig, doch, wie die weitergehende Fährte zeigte, nur langsam weiter gezogen; ja, oft waren sie wieder stehen geblieben, sicherlich um zu lauschen, woher die Gefahr komme. Da ich noch keinen Schuß vernommen, auch sonst nicht gehört, daß die Hirsche bereits das Dickicht verlassen hatten, so folgte ich stetig ihrem Wechsel, auf dem sie manchen Wiedergang gethan, als ich den schneedumpfklingenden Schuß meines Cameraden hörte und gleich darauf auch dröhnendes Geräusch vernahm, das von den fliehenden Hirschen herrührte, die mit gestählten Läuften den Schnee bis auf den harten Boden durchgriffen.
Nun gab ich meinen Schleichgang auf, und nachdem ich den [328] Hahn meiner Büchse in Ruh’ gesetzt, brach ich gleich einem flüchtigen Stück Wilde durch den Rest der Schonung durch, um nöthigenfalls mit der geladenen Büchse auf dem Wahlplatze von Nutzen sein zu können; aber nichts als den Förster, der eben mit Laden seiner Büchse fertig war, erblickte mein Auge. Beim Näherzusehen bemerkte ich wohl die sich im Schnee scharf kennzeichnenden Fährten beider Hirsche, die über die Blöße der Grenze zuführten. Als der Förster an mich herankam, versicherte er mich, daß er auf den starken Hirsch, den er als einen capitalen, hochgeweihten Burschen beschrieb, vortrefflich abgekommen sei und denselben auch gezeichnet habe. Und richtig, als wir auf den Anschuß kamen, lagen Schnitthaare da, und nicht weit durften wir auf der Fährte, die sich auch bald von der des schwächeren trennte, fortgehen, als wir Schweiß fanden.[4]
Natürlich folgten wir bis an die Grenze, wo wir leider vorerst Halt machen mußten, da wir die Nachfolge nicht hatten. Doch schob sich gerade an der Stelle, wo der Hirsch das Nachbarrevier betreten hatte, dasselbe nur als ein Keil in das meines Freundes herein, so daß möglicherweise, war der Hirsch nur noch fünfzig Schritt geradeaus weiter gekommen, er wieder meines Geleitsmannes Terrain erreicht haben mußte; deshalb zog ich, das Gewehr dem Förster übergebend, um als harmloser Spaziergänger auf fremdem Boden erscheinen zu können, auf der Fährte nach. Daß wir aber den Hirsch nicht erst krank werden ließen, lag in den Grenzverhältnissen, weil, befand er sich noch auf Nachbarrevier und war noch nicht verendet, er durch mein langsames Nachziehen rege werden mußte und dann jedenfalls auf das unsere, vor ihm liegende Terrain übertrat, wo wir ihm dann schon Ruhe gegönnt haben würden. Aber nicht lange brauchte ich zu suchen, denn kaum, daß ich die Zunge böhmischen Landes überschritten hatte und fünfundzwanzig Schritt weiter auf wieder heimischem Boden vorgedrungen war, erblickte mein Auge hinter Fichtenanflug die hingestreckte dunkle Gestalt des Hirsches. Wie flog ich auf den Gefällten zu und, nachdem ich die Enden des capitalen Vierzehnenders gezählt, nach meinem Freund Grünrock zurück, ihm die frohe Botschaft zu bringen! Bald waren wir nun Beide, das fremde Gebiet vermeidend, auf einem kleinen Umwege bei des Försters wohlerworbener Beute angelangt, deren Anblick den sonst ernsten Waidmann doch zu einem enthusiastischen Freudenruf hinriß. Da lag der stattliche Recke, der in seinem dunkeln Winterkleide, mit zottiger Halsmähne und dem weitausgelegten Schmuck seines Kopfes so recht ein Bild der Urwüchsigkeit bot. Hoch ragten die schwarzen, knorrigen Stangen mit ihrer respectablen Endenzahl aus dem blendenden Schnee empor, daß der Anblick dieser Trophäen wohl im Stande war, eines Jägers Herz vor Wonne hochauf schlagen zu lassen. Mit freudigem Stolze betrachtete deshalb der Erleger seine Beute, während ich ihm sein Jagdglück von Herzen gönnte, wenn auch nicht ganz ohne Beimischung eines etwas wehmüthigem Gefühles, dabei leer ausgegangen zu sein.
Da der Hirsch dicht an der Grenze Böhmens lag, wo man schon erwarten durfte, daß Unberufene darüber kommen könnten, so bat mich der Förster, der zuvor die Haken zu sich gesteckt hatte, so lange am Orte bleiben zu wollen, bis er Fuhrwerk aus einem nahen Dorfe requirirt haben werde, um den Hirsch nach dem Forsthause schaffen zu lassen. Gern übernahm ich die Wache, wobei ich mich auf die fast noch warme Beute setzte. Aber nicht lange durfte ich mich auf meinem originellen Divan einsamen Betrachtungen hingeben, denn bald erschien ein Bauer mit seinem Fuhrwerk, einem Schlitten, auf dem Platze. Nachdem der königliche Todte auf die Schleife gebunden worden war und der Fuhrmann sich vorn aufgesetzt hatte, ging die Fahrt dahin. Höchst malerisch, weshalb ich auch diese Scene bildlich beigegeben, gestaltete sich der Zug, als er durch einen Hohlweg in den heimlichen, schneebelasteten Hochwald einzog. Mit Energie schnaubte der zottige Braune vor seiner Last daher, daß den weitgeöffneten Nüstern der dampfendheiße Odem entströmte und in leichten Wölkchen dahinzog. Sein origineller Lenker aber, der gemächlich mit hereingezogener Mütze, dickem Pelze und plumpen Aufschlagstiefeln vorn auf dem Schlitten saß, repräsentirte so recht den Typus des biedern Erzgebirgers. Dabei war er – wie aus seinen Aeußerungen hervorging – eine von jenen Bauernaturen, welche die Jagd, wenn auch nicht selbst betreiben, doch über Alles lieben und sich gern – natürlich nur für Geld und gute Worte – zu Dienstleistungen bei derselben verwenden lassen. Diese Liebhaberei bewährte unser „Pelzbauer“, wie man ihn im Dorfe nannte, auch dadurch, daß er sich einen recht hübschen Schweißhund hielt, den er jung von einem Jäger bekommen hatte, und der das winterliche Jagdbild, die Abfuhr des Hirsches, nicht unwesentlich vervollständigte, indem er dem Zuge folgte.
Kaum hörbar glitt der Schlitten durch den weichen, tiefen Schnee, während des Rosses Hufe mit dumpfem Schall den Boden stampften. Massig entluden die schneebelasteten, niederhängenden Aeste der Tannen und Fichten ihren Schmuck, indem das Pferd sie beim Vorwärtsschreiten mit dem Kopfe streifte; oder der lose Winterflaum bröckelte aus höheren Zweigen hernieder, wenn Goldhähnchen und Meisen sich lustig darauf herumschaukelten. Aber bald hatte der kleine Jagdtroß den tiefen Wald hinter sich und zog, seine Beute zu bergen, ein in das erreichte Forsthaus, das mit seinen hirschgeweihgeschmückten Giebeln unter den verschneiten Linden höchst anmuthend vor uns lag.
Denselben Abend noch duftete gar würzig die gebratene Leber des erlegten Hirsches auf dem Tische meines freundlichen und fröhlichen Wirthes. Mir wurde das schmackhafte Gericht zum Abschiedsmahl, denn des andern Morgens folgte ich dem gebieterischen Muß – und eilte meiner Heimath zu.
Wozu, Ihr Fürsten, Eure Heere,
Zu wessen Dienst sind sie geweiht,
Wenn träg bei Fuß noch die Gewehre,
Indeß das Volk längst marschbereit?
Läßt es die deutsche Ehre morden,
Des Volkes Stimme ruft Euch zu:
„Wann, wann marschiren wir gen Norden?“
Wann, wann marschiren wir gen Norden?
Kein Krieg um Titel oder Orden,
Ein Kampf für uns’res Rechtes Sieg,
Für das, was heilig in der Welt,
Zu enden jenen alten Hader,
Des deutschen Volkes Zornesader!
Fragt nicht: wer hat die Schmach verschuldet,
Ihr, die Ihr thatenlos geträumt,
Wir, die wir Euren Traum erduldet?
Jetzt schreit zum Himmel uns’re Noth,
Sie triebe Lämmer aus den Horden,
Jetzt wird die Frage zum Gebot:
Wann, wann marschiren wir gen Norden?
Das Grab, drin uns’re Ehre ruht,
Ein rächend Sühneopfer fließen
Des dän’schen Büttels trotzig Blut?
Wann wird durchweht vom Freiheitshauch
Um ihren Stamm nach deutschem Brauch
Das Volk dem deutschen Liede lauschen?
Wozu, Ihr Fürsten, Eure Heere?
Behaltet sie um Euch geschaart,
Vom deutschen Volke selbst gewahrt!
Blickt auf, wir stehen Mann an Mann,
Zum Jüngling ist der Greis geworden,
Und Deutschland selber führt uns an –
Zwischen Reisen und Wandern ist ein großer Unterschied, und dieser wird täglich größer. Der Reisende wird jetzt meistens durch die Kraft des Dampfes befördert, der Wanderer ist auf den Dienst seiner Füße angewiesen und benutzt ausnahmsweise eine „Gelegenheit“ zum Weiterkommen. Der Reisende hat keine Mühe, als die des Aus- und Einsteigens, der Wanderer hat die Mühe, die jede körperliche Anstrengung verursacht. Der Reisende durchfliegt die Welt, der Wanderer durchschreitet sie.
Und doch ist, wenn man das Reisen und Wandern gegen einander abwägt, der Vortheil mehr auf der Seite des Letzteren. Es ist wahr, der Reisende durcheilt mühelos in unglaublich kurzer Zeit fast ganz Europa, während der Wanderer sich mit kurzen Strecken begnügen muß, die er kennen lernt. Allein was sieht der Reisende? Im Fluge durch die schönsten Gegenden eilend, von denen er nie einen bleibenden Eindruck erhält, sieht er die großen Städte und ihre todten Merkwürdigkeiten. Menschen lernt er nicht kennen, mit Ausnahme der Gastwirthe und Kellner, der Schaffner und Packträger, die in ganz Europa einander auffallend ähnlich sind.
Der Wanderer dagegen schaut mit bewundernden Augen, wie herrlich der alte Gott seine schöne Welt ausgeputzt hat mit Bergen und Thälern, mit Flüssen und Seen, mit Haide und Wald. Seiner Mühe Belohnung ist die Freude an der Herrlichkeit der Natur. Und mehr noch, er lernt Menschen kennen. Der Reisende kommt wohl hier und da mit der sogenannten guten Gesellschaft zusammen, aber nicht mit dem Volke. Die gute Gesellschaft hat aber in allen europäischen Ländern ziemlich dasselbe Aussehen. Die gute Gesellschaft ist wirklich unter einen Hut gebracht, wenn es auch leider der Pariser Cylinder ist, die gute Gesellschaft hat es wirklich zu der Verwischung des Volksthümlichen gebracht, von der einige „Kosmopoliten“ träumten, wenn auch die erlangte Gleichmäßigkeit nur im französischen Frack und der Crinoline besteht.
Aber das Volk, das der Wanderer kennen lernt, hat die allgemeine Uniform noch nicht angelegt. Das Volk bewahrt noch immer die Eigenthümlichkeiten des Volksthums, mit deren Verlust ein Volk aufhört ein Volk zu sein. Ist doch von jeher die Wiedergeburt der Staaten, der in sittlicher Fäulniß versunkenen Zeiten vom Volke ausgegangen. Man liebt es in gewissen Kreisen, die Wörter Volk und Pöbel für gleichbedeutend zu halten. Das aber ist der schmählichste Irrthum. Der Pöbel erstreckt sich durch alle Classen der Gesellschaft und ist in den höchsten oft am meisten vertreten. Denn Unsittlichkeit und Gemeinheit sind die unterscheidenden Kennzeichen des Pöbels. Ich bin ein alter Wanderer und liebe das Volk, und namentlich unser Volk, weil ich es kennen gelernt habe. Die Tugenden, die in höhern Kreisen nicht immer zu Hause sind, beim Volke habe ich sie oft gefunden. Und doch wie wenig wird das Volk gewürdigt, ja nur beachtet! Die Geschichte selbst kennt nur Massen, aus denen einzelne Geister hervorragen, Geister, die durch eigne Kraft oder durch geistige Stellung bedeutend sind. Die Geschichte kann nicht anders. Der Einzelne verschwindet eben in der Menge. Auch die Dichter liebten es vordem, die Großen der Erde durch ihre Dichtung zu verherrlichen, wie die andern Künste auch. Erst in neuerer Zeit hat man angefangen, dem Volke Beachtung zu schenken, und wie die Malerei immer mehr Genrebilder liefert, so steigen die Dichter auch in die Hütten der Armuth, um dort ihre darzustellenden Figuren zu holen. Und das mit Recht. Je weniger in der Geschichte der Einzelne beachtet werden kann, je mehr im Leben der Einzelne in der Menge verschwindet, desto mehr soll die Kunst dem Einzelnen zu der verdienten Geltung verhelfen.
Denn jeder Einzelne ist ein Mensch, der gelitten und sich gefreut hat, der des Lebens Noth und Lust gekostet, der gekämpft und gesiegt hat oder im vergeblichen Ringen untergegangen ist. Jedes Grab auf dem Kirchhofe deckt ein Herz, in dem Liebe und Haß, Hoffnung und Schmerz, Gutes und Böses gewohnt hat, das in freudigen Schlägen und in schmerzlicher Verzagtheit geklopft hat. Unaufhörlich dreht sich die Erde um die Sonne, die Zeit steht nicht still, unaufhörlich folgt Geschlecht auf Geschlecht, die Menschheit ist unsterblich. Der Einzelne aber stirbt, wird begraben und vergessen. Und doch habe ich viele Einzelne gekannt, die nicht vergessen zu werden verdienten. Ich will etwas von Diesem und Jenem aufschreiben – zu meiner eigenen Erinnerung oder für Freunde, denen meine Aufzeichnungen vielleicht einmal in die Hände fallen können.
Zu dichterischer Gestaltung wird sich nicht eignen, was ich aufschreibe. Es sind eben Eindrücke, die ich auf meinen vielfachen Wanderungen erhalten, Thatsachen, die ich erfahren habe. Darnach beurtheilt meine Aufzeichnungen, Ihr Freunde, wenn sie Euch jemals zu Gesichte kommen sollten. Vergeßt aber nicht, daß alles Thatsächliche, was Ihr finden werdet, wahr und selbst erlebt ist. Es wird meistens traurig sein, was ich aufschreibe. Giebt es so viel Trauer in der Welt, oder habe ich mich immer vorzugsweise zu den Leidenden hingezogen gefühlt? ich will es nicht untersuchen. So viel weiß ich, daß der Eindruck, den ein Leidender macht, tiefer und nachhaltiger ist, vielleicht schon darum, weil man über die Ursachen des Leidens nachdenkt, weil man sich klar zu werden sucht, wie viel der Leidende selbst verschuldet hat, oder wie viel die äußern Umstände die Ursache des Leidens sind.
Mein Weg führte mich einst in eine der größern deutschen Hauptstädte. Man hatte mir dort ein Weinhaus gerühmt, in dem man ein Glas echten unverfälschten Getränks und deshalb viel und muntere Gesellschaft fände. Ich ging dahin. Neben einem größeren Zimmer waren zwei kleinere. Da das größere voll von Gästen war, suchte ich mir einen Platz in einem der kleinern. Hier mochte sich wohl jeden Abend eine bestimmte Gesellschaft versammeln, weshalb die übrigen Gäste dasselbe vermieden, wie sich in vielen Wirthshäusern für Stammgäste solche Bedingungen wie von selbst machen. Jeder der nach mir Eintretenden musterte mich mit einem befremdeten Blick, als wollte er sagen: Was machst du denn hier? Ich ließ mich aber nicht stören. Der Wein war wirklich gut, und ich betrachtete mir, da ich von meinem Platze das größere Zimmer bequem überschauen konnte, die einzelnen Trinker und ihre verschiedenen Manieren, was immer sehr ergötzlich für mich gewesen ist. Nach und nach füllte sich das Zimmer, in dem ich saß, und ich bemerkte bald, daß sich hier wirklich eine besondere, gewähltere Gesellschaft zu versammeln pflegte. Es wurde nicht blos getrunken, sondern auch gesprochen und gut gesprochen. Die Ereignisse des Tages in Kunst, Literatur, Politik wurden berührt, und manch treffendes Urtheil, manch gutes Witzwort kam dabei zum Vorschein. Offenbar hatte ich es hier mit künstlerisch und wissenschaftlich gebildeten Männern zu thun, und ich lauschte immer aufmerksamer auf die treffenden Bemerkungen, die von allen Seiten fielen.
Mittlerweile war die Zeit vorgerückt, die „Bürgerglocke“, wie man sagt, hatte geschlagen, das größere Zimmer war nach und nach ziemlich leer geworden. Da trat plötzlich noch ein später Gast ein, der mir sogleich merkwürdig auffiel. Er war ziemlich groß von Gestalt, seine breiten Schultern, seine hoch gewölbte Brust verriethen einen kräftigen Körper. Seinen großen Kopf umwallte dichtes, langes, etwas in Locken fallendes Haar, das man mit einer Löwenmähne vergleichen konnte. Sein Gesicht war groß, von scharf ausgeprägten Zügen, mit lebendigem Mienenspiel. Seine großen Augen waren unruhig und feurig, die hohe Stirn, die starke, etwas gebogene Nase verriethen geistige Bedeutung. Bald erfuhr ich, wer der Ankömmling war, ein berühmter Schauspieler, den ich Egidius nennen will.
Rasch trat er ein, schritt auf das kleinere Zimmer zu und rief guten Abend. Ein lebhaftes Willkommen tönte ihm von allen Seiten entgegen. „Franz,“ rief er dem Kellner, „ein Dutzend Flaschen Chambertin!“
„Was giebt’s, was giebt’s?“ rief einer der Anwesenden, „wenn Sie gleich mit einem Dutzend anfangen, werden wir wohl mit einem Eimer aufhören!“
„Wenn wir einen Eimer bewältigen können,“ rief Egidius, „ich gebe ihn zum Besten.“
Ich kam mir jetzt wie ein Eindringling in diesem Zimmer vor und wollte mich entfernen. Allein Egidius hielt mich bei den [330] Schultern fest, drückte mich auf meinen Sitz nieder und sagte: „Dageblieben, edler Unbekannter! Sie sehen aus wie ein anständiger Mensch und als ob Sie ein Glas Guten nicht verschmähten. Ich aber habe einen Trinkspruch auszubringen, und Sie müssen mithalten.“ Es lag so viel Gutmüthigkeit in den lachenden Zügen des Sprechenden, daß ich die etwas derbe Art, zurückgehalten zu werden, nicht übel nehmen konnte und blieb.
Der Kellner brachte den bestellten Wein, die Gläser wurden gefüllt, und Egidius hob das seinige empor, indem er rief: „Angestoßen, Kinder, der König soll leben!“ Man trank, hier und da verwundert, zögernd, doch Egidius rief: „Wieder eingeschenkt und schaut mich nicht so dumm an. Ihr möchtet wissen, wie ich darauf komme, diesen Trinkspruch auszubringen. Ich bemerke an Einigen von Euch leises Kopfschütteln, ich weiß auch, daß Einige von Euch demokratische und republikanische Gelüste hegen, aber „ich werde nächstens unter Euch treten und fürchterlich Musterung halten.““ Die letzten bekannten Worte Karl Moor’s sprach er mit blitzenden Augen, mit drohendem Gesichte und mit solcher Donnerstimme, daß ich unwillkürlich zusammenfuhr. Lautes Gelächter antwortete ihm von der andern Gesellschaft. „Wer lacht da?“ rief Egidius im Tone des Odoardo Galotti, „ich glaube, ich war es selbst.“ Die letztern Worte sprach er mit so eigenthümlichem innern Schauder, daß Alle einen Augenblick still wurden, dann fuhr er fort: „ich bringe es auch noch ein Mal, der König soll leben, denn –“ fuhr er mit einem eigenthümlich schaurigen Geflüster fort: „Se. Majestät haben heute zum zweiten Male geruht – meine Schulden zu bezahlen.“
Ein donnerndes Gelächter, ein lustiges Hochrufen folgte diesen Worten. „Es mag ein anständiges Sümmchen gewesen sein.“ rief neckend ein alter Herr mit weißem Kopfe.
„Hm, hm,“ sagte Egidius, „hinten standen drei Nullen, die vordere Zahl habe ich vergessen, geht Euch auch nichts an.“
„War nicht eine kleine Strafpredigt bei der guten Nachricht?“ sagte der alte Herr.
Egidius schüttelte seine wilden Locken, daß sie nach hinten fielen und das Gesicht ganz frei ließen, er kroch in sich zusammen, seine Mienen nahmen einen unübertrefflichen Ausdruck von Dummheit und Hochmuth an, und mit feinem Tone lispelte er: „Mein lieber Egidius, Se. Majestät wollen noch ein Mal Sie aus Ihrer betrübten Lage reißen, lassen Sie aber auffordern, von Ihrer Verschwendung abzustehen, denn wenn Sie wieder in Schulden geriethen, würden Sie sich die allerhöchste Ungnade Sr. Majestät zuziehen.“
Alles lachte, und ich erstaunte, denn Egidius hatte einen bekannten Kammerherrn des Königs auf das täuschendste nachgeahmt. Ein Anderer aus der Gesellschaft nahm das Wort und sagte: „Das war Hülfe in der Noth, nicht wahr, Egidius?“
Dieser erwiderte: „Hülfe? Ja! Noth? Nein!“
„Keine Noth?“ fragte der Andere, „ich weiß doch, daß Sie bis über die Ohren d’rin steckten, daß Wechsel auf Sie liefen und Ihnen der Schuldthurm drohte. Was hätten Sie thun wollen, wenn der König nicht half?“
„Durchgehen,“ sagte Egidius ruhig, „„ein jeder Wechsel schreckt den Glücklichen,“ und mich hätte er von hier weggeschreckt. Es giebt noch viele Theater in Deutschland, und Egidius ist überall willkommen, „die Blinden in Genua kennen meine Tritte.““
„Die Gläubiger würden Sie überall verfolgt haben,“ sagte ein Dritter.
„Verfolgt, aber nicht erwischt,“ sagte Egidius. „Ehe man mich anderwärts hätte fassen können, mußten eine Menge Formalitäten erfüllt werden, Requisitionen von einem souveränen Staate zu dem andern, daß ich Zeit genug hatte, an einem andern Orte ein Jährchen zu bleiben – und im schlimmsten Fall wieder durchzugehen. Ehe man in Deutschland nur überall herumkommt, hat man sein Leben vollendet – und dem letzten Wechselarrest sechs Fuß tief unter der Erde entgeht doch kein Mensch.“
„Was schwatzt ihr so obenhin über die mögliche Entfernung des Egidius?“ sprach ernst ein junger Mann mit blondem Lockenhaar, „sein Verlust wäre unersetzlich für die ganze Stadt und für uns in’s Besondere. Also zum dritten Male ein Hoch dem Könige, der ihn uns erhalten hat!“
Man stieß an, es wurden neue Flaschen gebracht, die Männer wurden erregter, das Gespräch immer lebendiger, Anekdoten wurden erzählt, witzige, geistreiche Bemerkungen flogen hin und her, die Seele der ganzen Gesellschaft aber war Egidius. Dinge, die so unbedeutend sind, daß ein Anderer sie gar nicht mittheilen würde, erzählte er mit einem Ausdruck in Ton und Mienen, daß sie lautes Gelächter oder auch Schauder erregten. Er wußte Jeden zu necken und auf keine Neckerei die Antwort schuldig zu bleiben, er traf mit jeder Bemerkung den Nagel auf den Kopf. Mit einem Worte, er sprühte von Geist und Leben. Endlich brachen wir auf. Es war fünf Uhr Morgens. Ich kann mich nicht besinnen, daß mir jemals die Stunden so verflogen sind. –
Neun Jahre später weilte ich einige Tage in einer kleinen Residenzstadt Thüringens. Es war großer Markt in dem Orte und während desselben regelmäßig Theater. Eine reisende Gesellschaft, die die großen Städte der umliegenden Länder besuchte, spielte in der Residenz und wurde vom Fürsten immer ansehnlich unterstützt. Die Gesellschaft war gut, sie hatte tüchtige Kräfte und leistete mehr als manches stehende Theater. An ihrer Spitze stand ein in der Geschichte des deutschen Theaters rühmlich bekannter Mann. Das ganze Unternehmen war ein durchaus anständiges, nicht zu vergleichen mit den kleinen reisenden Truppen, die zuletzt in Dörfern die Kunst mißhandeln.
Auf dem Theaterzettel fand ich den Namen Egidius. Ich erstaunte und fragte meinen Wirth, ob das derselbe Egidius sei, der früher an den großen Hoftheatern zu D., B., W. und K. gewesen. Es war derselbe. Mich überschlich ein eigenthümliches Bedauern. Den Mann, den ich in D. im sprudelndsten Lebensgenuß kennen gelernt hatte, der Liebling von Fürsten und dem Publicum der größten Städte – war ein wandernder Schauspieler geworden! Und war diese Gesellschaft auch eine anständige, so konnte eine Stellung bei ihr doch keinen Vergleich aushalten mit einer bei großen stehenden Theatern. Das Einkommen eines Schauspielers bei einer kleinen Gesellschaft erreicht nicht den vierten Theil von dem eines Hofschauspielers. Egidius war an reichen Lebensgenuß gewöhnt, wie mochte er sich fühlen, da ihm die Mittel dazu entzogen waren!
Er spielte an dem Abend. Ich sah ihn, ich sah ihn noch zwei Mal. Unvergeßlich wird mir der Eindruck seiner Vorstellungen bleiben. Er war ein Meister im vollsten Sinne des Wortes. Niemals war er Egidius, der schön spielte, er war immer die Person, die er darstellte. Man kannte ihn in den verschiedenen Rollen kaum wieder. Jeder Ausdruck des Mienenspiels stand ihm zu Gebote, jedes Ausdrucks durch das Wort in Stimme und Tonfarbe war er Herr. Er rührte bis zu Thränen und erregte das brausendste Gelächter. Dabei besaß sein Spiel eine Feinheit, eine Schicklichkeit, wie man sie selten sieht. Niemals ging er über die Grenze, welche die künstlerische Schönheit vorschreibt, niemals übertrieb er. Der Mann, den ich zuerst in toller, ausgelassenster Laune gesehen hatte, war auf der Bühne der feinste, anständigste Schauspieler.
Ich traf nicht mit ihm zusammen während meines Aufenthalts in R–, geradezu aufsuchen mochte ich ihn nicht. Meine Bekanntschaft in D. mit ihm war ja nur eine flüchtige gewesen, ich konnte kaum vermuthen, daß er mich wieder erkenne. Am Abend vor meiner Abreise kam ich bei dem Nachtessen mit einem Manne in’s Gespräch, der viel vom Theater redete und mit Allem, was dasselbe betraf, genau bekant war. Ich fragte ihn nach Egidius, von dem er mit begeistertem Lobe gesprochen hatte, und nach dessen Verhältnissen. Er erzählte mir, was ich halb und halb wußte, daß Egidius bei mehreren der ersten Hoftheater angestellt gewesen, daß mehrmals für ihn Schulden bezahlt worden waren, daß er aber fortwährend neue gemacht habe, bis die Last derselben ihn fortgetrieben. So war er von einem Theater zum andern gekommen, von größeren zu kleineren, und überall von Gläubigern verfolgt, endlich zu dieser reisenden Gesellschaft. „Es ist merkwürdig,“ schloß der Mann seine. Mittheilungen, „Egidius ist eigentlich kein Wüstling im schlimmsten Sinne des Worts. Er liebt den Wein, ohne ein Trinker zu sein, man sieht ihn nicht leicht betrunken. Er spielt, ohne ein Spieler zu sein, denn er sucht das Spiel nie, geht ihm aber nicht aus dem Wege, wenn er es findet, weil ihm die Aufregung Vergnügen macht. Er ist kein Cato in der Liebe, aber doch auch kein Ausschweifling. Ich glaube, er hat nie ein weibliches Wesen unglücklich gemacht, außer seine Frau, die, schon wenige Jahre nach ihrer Verheirathung von ihm geschieden, seit Jahren bei ihren Verwandten lebt. Zu einem Ehemann, der doch wenigstens etwas häuslichen Sinn besitzen muß, sei es noch so wenig, paßt er [331] allerdings nicht. Was Egidius liebt, ist die Aufregung lustiger Gesellschaft, wie sie bei Wein und Spiel sich zusammenfindet. Vielleicht ist ihm diese Aufregung unentbehrlich geworden. In seinem Kopfe sprudelt und gährt es von Einfällen, Witz, Laune, dafür sucht er einen Ableiter, ihm ist Mittheilung Bedürfniß. Die Welt urtheilt hart über ihn. Man nennt ihn liederlich, unsittlich. Ob dieses Urtheil ganz gerechtfertigt ist, mag ich nicht untersuchen. Schlecht ist Egidius nicht, denn er thut Niemandem Böses. Gut kann man ihn auch nicht nennen, denn er lebt nur für sich, ohne sich um das Wohl Anderer zu bekümmern. Daß er gutmüthig ist und gern giebt, mit Anderen theilt, kann ihm nicht so hoch angerechnet werden. Aber eins ist er gewiß, leichtsinnig, bodenlos leichtsinnig.“
„Wie aber hält er ein solches aufregendes Leben aus,“ frug ich, „das jeden Anderen in wenig Jahren zerrütten müßte?“
„Sehen Sie sich seine kräftige Gestalt an,“ erwiderte der Fremde, „diese festen, markerfüllten Glieder. Sein Körperbau ist auf die Dauer eines Jahrhunderts angelegt. Er wird durch seine Art und Weise vielleicht die Hälfte seines Lebens vergeuden, aber fünfzig bis sechszig Jahre hält er aus.“
Als ich am andern Morgen R. verließ, kam ich bei Egidius’ Wohnung vorbei. Ich warf einen Blick nach dem kleinen Hause, in dem er lebte. Er lag im offenen Fenster, das Hemd geöffnet und den Kragen zurückgeschlagen und badete seine offene Brust in der kühlen Morgenluft. Sie mochte ihm wohl thun nach durchschwelgter Nacht. Als ich eben vorbeiging, warf er sein reiches Haar zurück, das ihm in’s Gesicht fiel, wie es seine Gewohnheit war, und noch einmal sah ich mit Wohlgefallen den herrlichen ausdrucksvollen Kopf des berühmten Schauspielers. Ein Bildhauer hätte kein schöneres Modell finden können. –
Fünf Jahre später war ich in Norddeutschland auf einer Wanderung. Ein anhaltender Regen hinderte mich eines Tages, mein bestimmtes Ziel zu erreichen, und zwang mich, in einem kleinen Städtchen zu übernachten, das von einem Dorfe sich nur durch den Namen unterschied. Eine wandernde Schauspielertruppe hatte ihren augenblicklichen Sitz hier aufgeschlagen. Der Wirth machte mich darauf aufmerksam und überreichte mir einen Theaterzettel. Derselbe war geschrieben und enthielt unten die Bemerkung: „Dieser Zettel wird wieder abgeholt.“ Und wieder fand ich auf ihm den Namen Egidius. Ich erschrak. So tief war der herabgesunken, der einst von Fürsten gehätschelt worden! Doch vielleicht war dieser Egidius ein anderer! Ich ging in den Saal und sah eine aus Bierfässern errichtete Bühne. Roh gemalte Leinwandfetzen stellten Decorationen vor, blecherne Kasten mit Salz gefüllt erleuchteten qualmend und trübe den elenden Schauplatz, schmierige Kleider hüllten die Menschen ein, die hier die Worte der Dichter dem Volke durch Darstellung vermittelten. Auf diesen Bretern im eigentlichsten Sinne des Wortes, in diesem trüben flackernden Lichte, in diesen schmierigen Kleidern erschien auch Egidius. Er war es. Ja, das war noch der herrliche Kopf, das große rollende Auge, aber die Stimme war es nicht mehr. Matt und gebrochen tönte sie aus der Brust hervor, er spielte nachlässig, mit Unmuth, wie ein Arbeiter, der zu einem ihm widerwärtigen Geschäft gezwungen wird. Mir war dieser Anblick peinlich, und nach wenigen Minuten verließ ich den Saal.
Meine Stube lag gerade über der allgemeinen Gaststube. Als die Vorstellung beendigt war, wurde es unten wie lebendig. Es wurde laut gesprochen, zuweilen gelacht. Ob Egidius mit da unten sein mochte? Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mich davon zu überzeugen. Ich trat in’s Zimmer. Die gewöhnlich einzeln stehenden Tische waren zusammen gerückt und bildeten eine einzige lange Tafel, um welche dicht gedrängt eine große Anzahl von jungen und alten Bürgern saß – mitten unter ihnen Egidius. Ein abgetragener Sammtrock, unter dem keine Weste befindlich, bildete seinen Anzug. Die Gäste hatten Bier, er ein Glas dampfenden Grogs vor sich stehen. Er führte das Wort, er erzählte Schnurren und Anekdoten, er gab Einzelne der Gesellschaft durch Neckereien dem Gelächter der Anderen Preis, die vor Vergnügen förmlich wieherten. Wiederholt hörte ich die Bemerkung: „es ist doch ein Teufelskerl, der Komödiant.“ Ich sah ihn jetzt genauer, ohne Schminke. Er war sehr gealtert. Tiefe Falten durchfurchten sein Gesicht, seine Haare begannen sich grau zu färben, nur die Augen hatten noch das alte Feuer, wenigstens jetzt beim Glase starken Gekänks. Das erste Mal, wo ich den Mann sah, saß er auch in munterer Gesellschaft und riß Alles zu tollem Jubel hin durch die sprühenden Funken seines Geistes. Und jetzt kitzelte er das Zwerchfell ungebildeter Bauern. Welch’ ein Abstand von damals und jetzt! –
Ein Jahr darauf las ich in einer Zeitung, daß in einem Lustwäldchen der Leichnam des bekannten Schauspielers Egidius gefunden worden sei. War die Kraft seines Körpers vor der Zeit zu Ende gewesen und hatte die Natur ihn oder er sich selbst getödtet? Ich habe nichts Genaueres erfahren. Die Welt hat ihm ihr Verdammungsurtheil mit in’s Grab gegeben.
Ist aber die sittliche Kraft, die dem Leichtsinn im Charakter die Wage hält, nicht auch angeboren oder durch Erziehung angebildet? Und wenn das Gleichgewicht zwischen sittlicher Kraft und Leichtsinn bei einem Menschen kein günstiges ist, wer mag ihn für ganz zurechnungsfähig erklären? Es ist eine gewichtige Frage, die der Zurechnungsfähigkeit! Sie urtheilt nach den äußeren Erscheinungen und ist immer geneigter, den Stab über einen armen Sünder zu brechen, als ihn zu entschuldigen. Aber die Welt hat andere Fragen zu lösen. Egidius trug sein Verdammungsurtheil mit in die Grube – und er ist jetzt vergessen.
Noch sind es nicht dreißig Jahre her, daß die badische zweite Kammer als die kühnste Vorkämpferin für deutsches Verfassungsrecht und die volle Ausbildung des Rechtsstaates in die Schranken trat; die badische Opposition hatte die Augen von ganz Deutschland auf sich gelenkt, die Namen Itzstein, Rotteck und Welcker waren ein leuchtendes Dreigestirn freiheitlicher Denkart, politischer Fähigkeit und ungebeugten Mannesmuthes in der Darlegung ihrer unerschütterlichen Ueberzeugung. Baden half durch sie das Jahr 1848 vorbereiten; aber die Bewegung von 1848 und 1849 tobte sich in Baden auch aus. Von vollberechtigten Anfängen ausgehend, in engem ursächlichem Zusammenhange mit der Durchführung der Reichsverfassung und der Grundrechte wurde sie in ihrem Verlaufe mehr und mehr über die Grenzen der gegebenen politischen Möglichkeiten hinausgetrieben in ein Gebiet, wo ihr zugleich die Kraft und die Sympathie des Volkes fehlen mußte. Aus einer Aufwallung des schönsten und des edelsten Idealismus deutschen Glaubens und deutscher Hingebung an die Idee des Rechtes und die Idee der Einheit artete die deutsche Bewegung in Baden aus zu einem Acte politischer Verzweiflung; durch ihre Anlage nicht, und nicht durch den Charakter ihrer Führer, nur durch ihren Verlauf wurde die badische Bewegung zu dem, was sie allerdings endlich geworden ist, zu einem Heerde ausschweifender politischer Unmöglichkeiten.
Die ganze Reactionsgenossenschaft hatte sich wieder in eine feste Phalanx gesammelt zum Widerstande gegen die 48er Ideen. Mit der wiedergefundenen Kraft waren alle vorgängigen Zusagen in den Wind geschlagen, und die badische Bewegung war der willkommenste Sündenbock für die legitimen Gewalten. Die Geschichte der Niederwerfung des badischen Aufstandes ist noch tief in die deutschen Herzen gegraben. Die Todesurtheile der Standgerichte stehen wie blutige Marksteine an der Grenze zwischen dem fünfziger und dem sechziger Jahrzehnt. In dieser schmalen Grenzscheide liegen viele kugelzerrissene Leiber; sie hatten gesündigt nach dem siegreichen Gesetze, aber selbst in den Verirrtesten war ihr Vergehen herausgewachsen aus wahrer Liebe zum Vaterlande und aus geraubter Hoffnung auf sein Glück.
Es war nothwendig, diesen Schattenriß der Vergangenheit als Grundlage der Gegenwart zu geben. Mit der Niederwerfung des 49er Aufstandes trat die Reaction ein, und was wäre von ihr zu erzählen? Ihre Freunde sagen, sie habe die Verirrten wieder in den Kreis des Gesetzes und der Gottesverehrung zurückgeführt; der landläufige Liberalismus weiß von ihr als besonderes [332] Kennzeichen zu erzählen, daß, nachdem einmal die blutigen Opfer gefallen waren, die schlimmsten Zustände des Rückschlages und das ekelste Extrem des Denunciantenwesens Baden erspart blieb. Was Alle nachträglich erkennen mußten, war, daß auf den letzten Kampf der ausgetobten Leidenschaft die abgespannte Ermattung, die Entmuthigung, die bürgerliche und politische Theilnahmlosigkeit gefolgt war. Es erfolgte keine Aufhebung der Verfassung; wenn das ein Lob ist, nun, so gebührt es der badischen Reactionszeit. Es waren aber gar viele andere Dinge aufgehoben, durch welche diese besondere Aufhebung überflüssig wurde: der Geist des selbstthätigen Bürgerthums, die Freude am Gemeinwesen und das Vertrauen auf eine gute Zukunft. Der österreichische Einfluß war allmächtig, trotzdem doch Preußen den Staat in die Hände des Großherzogs Leopold zurückgegeben hatte; der österreichische Gesandte war einflußreich in allen maßgebenden Kreisen; Familieneinflüsse, kirchliches und Frauenregiment thaten das Ihre in mächtigen Kreisen; der Gedanke, die verirrte Heerde auf den Wegen der Klerisei der strenggläubigen Legitimität in die Arme zu führen, lag ohnehin dem Interesse der Kirche nahe: was Wunder, daß endlich die vermiedenen sittlich religiösen Rettungsgedanken in der Convention mit Rom ihren Ausdruck fanden? Hier lag die Katastrophe, und von hier begann in Wahrheit die neue Aera.
Hier taucht zuerst der Name des Freiherrn Franz von Roggenbach auf. Monde vor der Entscheidung war der Kampf gegen die Vereinbarung in badischen Blättern eröffnet worden. Einige der glänzendsten Artikel – ob mit Recht oder Unrecht, ist heute noch nicht festgestellt – schrieb man damals, es war an der Wende des Jahres 1859 in das Jahr 1860, dem Herrn v. Roggenbach zu. Und je lebhafter die Entscheidung drängte, um so greifbarer trat auch, aber immer noch ohne feste Anhaltspunkte für die öffentliche Meinung, dieser Name in den Vordergrund. Der Kampf und die Entscheidung selbst waren merkwürdig genug. Der Donner der Schlachten von Magenta und Solferino hatte auch den politischen Schlaf der badischen Bevölkerung gestört; die entsetzliche Hilflosigkeit der Bundesmaschinerie hatte uns das Bewußtsein der erlösenden Zerrissenheit wiedergegeben. Wir waren zu schlimmer Erkenntniß aufgeschreckt, aber wir wachten doch wieder, und der „Schulsack“ des Volkes war, Dank dem deutschen Unterrichte, doch reichlich genug gefüllt, um die Erkenntniß des geistigen Unheils, das in der Vereinbarung enthalten war, allen Schichten zugänglich zu machen. Das sittliche Allgemeingefühl bäumte sich auf – und Baden war befreit von dem Alp der Convention. In mehrtägiger Schlacht kämpfte die zweite Kammer, in ihrer Mehrheit aus Beamten bestehend, gegen die Minister von Meysenbug und Stengel. Das Land war wie im Fieber und die Entscheidung des Hofes schwankend bis zum letzten Augenblicke. In die widerstreitenden Gerüchte mischte sich stets der Glaube an den ernsten Willen des Großherzogs, dem Wahrspruch seines Volks über das Vertragswerk gerecht zu werden; gegen die Bemühungen der Concordatsritter und ihre verborgenen, mächtigen Einflüsse wirkten vorzugsweise zwei Männer – so hieß es im Volke – der allbeliebte Bruder des Großherzogs, Prinz Wilhelm, und der bis dahin so gut wie unbekannte Freiherr von Roggenbach.
Von diesem Augenblicke trat der Name Roggenbach immer stärker in den Vordergrund. Lange entfremdet dem Lande, dem er durch Geburt, durch weitverzweigte, vielfach in politischer Denkart freilich ihm höchst entgegengesetzte Familienbeziehungen angehört, führte ihn erst der Frühlingsathem schönerer und freierer, durch seine eigene Thätigkeit mit herbeigeführter Tage in das engere Vaterland und auf das Schloß der Ahnen (bei Schopfheim im prächtigen Wiesenthale) häufiger zurück. Die ersten Tage des April 1860 hatten das Ministerium Stabel-Lamey gebracht. Herr Stabel, der schon unmittelbar nach der Niederwerfung der 49er Bewegung Minister gewesen war, versah nahezu ein Jahr lang neben den Geschäften seines speciellen Fachministeriums auch das Ressort der auswärtigen Angelegenheiten. Wie Habichte warfen sich die gegnerischen Organe auf den neuen Minister. Man wußte wenig von seiner staatsmännischen Vergangenheit. Der 36jährige Mann (Roggenbach ist geboren am 23. März 1826 in Mannheim) hatte keine „staatliche Carriere“ hinter sich. Er hatte als Student mit den Häuptern der einstigen „Deutschen Zeitung“, mit Gervinus, Häusser, Mohl, insbesondere auch mit Schlosser verkehrt; er hatte als Volontär im Reichsministerium der auswärtigen Angelegenheiten gearbeitet. Man sagte ihm nach, er habe mit kalter Besonnenheit und feuriger Energie den schönrednerischen Idealismus der Reichsversammlung verurtheilt, als diese in langen Monden die „Grundrechte eines Staates berieth, den sie vorher zu schaffen versäumt hatte.“
Mit „sittlichem Schauder“ erkannte die Bureaukratie, der Theil der Adels, der blindlings nach Oesterreich hinneigte, erkannte die katholische Partei in Roggenbach einen Mann, dessen Laufbahn man nicht auf der Stufenleiter des badischen Regierungsblattes nachklettern konnte. Wo man das Leben des Mannes zu fassen und eine Seite seiner Vergangenheit aufzuschlagen vermochte, da sah man ihn im Verkehre mit fürstlichen Personen oder mit hervorragenden Größen deutscher Geschichtsschreibung und deutscher Staatsrechtswissenschaft. Und als auf den Trümmern des Dreikönigsbundes die preußische Politik die Apotheose ihrer eigenen Gehaltlosigkeit beging, als der wenn auch unschöpferische Idealismus der Bewegungsjahre dem nackten, tödtlichen Cynismus der legitimen Gewalten Platz machte, die in der Orgie der Reaction Volksrechte preisgaben nach innen und außen, in Kurhessen und in Schleswig-Holstein – da sah man Roggenbach dem hoffnungslosen und entsittlichten Treiben eines siegreichen Legitimitätsrausches den Rücken kehren und in der Einkehr zur strengen praktischen Staatswissenschaft, auf weiten, erfahrungsreichen Reisen, im Verkehre mit den politischen Größen europäischer Weltstädte, von denen er London mit Vorliebe festhielt, die Gesundheit der politischen Denkungsart und den Schatz echten Freisinns sich erretten, durch die er heute noch seinen bureaukratischen, ständischen und kirchlichen Gegnern ein Gräuel ist. Roggenbach ist ein „improvisirter Minister“; er hat nicht die bureaukratische Wohlerfahrenheit eines wohlbezopften Mandarinen mit in sein Amt gebracht, aber den guten Willen, den frischen Sinn, die geistige Begabung, den festen Charakter, und vor Allem die echte, thatenlustige Vaterlandsliebe, wie sie einzig und allein aus einem der Volksart und dem innersten Volkssinn verwandten Herzen herauswachsen kann.
Als Roggenbach in das Ministerium trat, konnte man die Eigenschaften seines Geistes und seines Charakters nur erst ahnen; seither hat er sie voll und ganz bethätigt. Niemals wird es gelingen, seine ministerielle Thätigkeit in dem ganzen Adel ihrer Denkart zu verstehen, wenn man nur die einzelnen diplomatischen Aeußerungen, einzelne badische „Noten“ als solche betrachtet. Diese Thätigkeit hat vielmehr ein oberstes philosophisch-praktisches Grundprincip, das Roggenbach mit Lamey, dem trefflichen badischen Minister des Innern, theilt und das der badischen Staatsleitung in ihren beiden hervorragendsten Vertretern ihr eigenthümliches, hellleuchtendes Gepräge giebt. Dieser oberste Grundsatz ist: der Glaube an die Nothwendigkeit des staatlichen Fortschritts durch Bildung und Freiheit. In diesem Grundsatze liegt der unmittelbarste Gegensatz zu der durch Metternich’s Beispiel zu Schanden gewordenen Staatsleitungsmethode ausgesprochen. In diesem Grundsatze liegt die Nothwendigkeit des Anschlusses an den bewegenden Volksgeist ausgesprochen. Die Regierung taucht hinab in den Geist des Volkes; sie läutert die Gedanken, die sie in der Tiefe des Volkslebens findet, in dem Feuer der Wissenschaft, der höchsten Bildung und im Kampfe mit den bestehenden feindlichen Verhältnissen. Und indem sie sich über uns erhebt, erfüllt sie uns doch stets mit dem Bewußtsein, daß sie Blut von unserem Blute, daß sie aus den Wurzeln unseres Seins und Wesens herausgewachsen ist.
Von diesem höhern Gesichtspunkte betrachtet wird man erst den vollen Sinn der Worte verstehen, die Großherzog Friedrich von Baden sprach: „Ich kann nicht finden, daß ein trennender Widerspruch besteht zwischen Fürstenrecht und Volksrecht“; von diesem Grundprincip aus wird man begreifen, daß die ganze Thätigkeit Roggenbachs in allen ihren einzelnen Aeußerungen durchgeistigt ist von dem Athem, der sein höchstes und heiligstes Wort beseelt: „Die künftige deutsche Centralgewalt muß erfüllt sein und in Bewegung gesetzt werden von dem Gewissen des deutschen Volkes.“
Unmöglich kann es die Aufgabe dieser Skizze sein, die politische Thätigkeit Roggenbach’s in allen ihren einzelnen Kundgebungen zu verfolgen. Seine Note in der deutschen Frage, seine Abstimmung für das Verfassungsrecht in Kurhessen, seine Vernichtung des Delegirtenplanes vom Standpunkte eines höheren, unwiderstehlichen Rechtes auf wahrhafte politische Sammlung, sein Einstehen für den preußisch-französischen Handelsvertrag und damit für den Grundsatz [333] des Freihandels, seine offene Kritik der neuen „Mißregierung“ in Preußen, wofür die Galle der Kreuzzeitung mit all ihrer Ekelhaftigkeit über ihn ausgegossen wird, sein hochherziges Auftreten für den „verlassenen Bruderstamm“ – das Alles sind nicht lose, ungegliederte Aeußerungen eines freisinnigen Ministers, der seinen weniger freisinnigen Berufsgenossen ein Paroli biegen möchte, sondern es sind organische, in sich selbst verbundene Folgerungen aus einem und demselben großen rechtserzeugenden Grundgedanken. Ihm sind Schleswig und Holstein nicht unbenannte Größen, mit denen die Politik auf offenem Markte feilschen darf; ihm sind sie Glieder unseres Leibes, welche mit der Kraft und mit dem Rechte unseres Volkes aus der Sclaverei losgelöst werden müssen, in deren Fänge sie durch eine entsittlichte Reactionspolitik
gerathen sind, aus einer Sclaverei, durch deren henkergleichen Mißbrauch Dänemark uns die Mittel zur Sühne selbst in die Hand gegeben hat. Ihm stand von Anbeginn das Recht des „kurhessischen“ Volkes unerschütterlich fest.
Der badische Antrag am Bunde (4. Juli 1861) ging von der Ueberzeugung aus, daß der vom Bunde eingeschlagene Revisionsweg nach Bundesrecht und öffentlichem Rechtsbewußtsein ein unmöglicher war, wie dies von R. von Mohl, dem badischen Bundestagsgesandten, in seiner zerschmetternden Denkschrift so meisterhaft nachgewiesen wurde. Das Ergebnis der staatsrechtlichen Untersuchung war: Zu-Recht-Bestehen der 31er Verfassung sammt Erläuterungen und Abänderungen von 1848 und 1849 und dem Wahlgesetz von 1849; Vereinbarung mit den hiernach einberufenen Ständen über die Abänderung der unmöglichen, weil mit dem bestehenden Bundesrechte unvereinbaren Bestimmungen. Noch ist es glücklicher Weise nicht zu spät, der kurhessischen Regierung das warnende Wort zuzurufen, das in der badischen Erwiderung auf die kurhessische Abwehrnote seine Stelle fand: daß höher als die Bundesbeschlüsse das Interesse der gemeinschaftlichen Aufrechterhaltung der Hoheit und der Würde monarchischer Ordnung und die unantastbare Heiligkeit bestehender Verfassungen steht.
Die ganze sittliche Kraft von Roggenbach’s Welt- und Staatsanschauung tritt freilich am klarsten heraus in seinem Verhalten zur deutschen Frage. Ihm ist die deutsche Frage keine Frage, sondern ein unwiderlegliches Recht. Wie ein Blitz schlug darum mit der zündenden Kraft der Wahrheit jene Note in die deutschen Gemüther, mit der der Präsident des badischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten die Beust’schen Reformvorschläge vom Standpunkt des nationalen Gewissens zurückwies, eine Note, deren ergreifend wahrer, dem warmen Herzen des Volkes entnommener Gedankenfluß sich ergänzt aus der mächtigen Rede, die Roggenbach in der Adreßdebatte der badischen zweiten Kammer am 13. December 1861 hielt. Kann es eine zu gleicher Zeit wahrere und vernichtendere Charakteristik geben, als die, mit welcher hier Roggenbach das Wesen des Bundestags schilderte? „Von der ganzen Nation aufgegeben, von allen Regierungen aufgehoben, hat die höchste Bundesbehörde, seitdem sie unter wesentlichen Vorbehalten und mit zweifelhaftem Rechte wiederhergestellt worden ist, wenig gethan, eine bessere Meinung zu gewinnen. Und doch ist sie für das herrschende System, die gegenwärtige Bundesorganisation der adäquate Ausdruck desselben und des Widerstreites der vielfachen Interessen in ihr. Es ist die formelle Gestaltung eines falschen politischen Systems, weil sie seinen Zwecken am besten dient.“ Kein Zusammenballen parlamentarischer Stoffe mit dieser der Theilnahme des Volkes längst entrückten Behörde vermag auch nur den entferntesten Anspruch zu machen auf eine Befriedigung des großen deutschen nationalen Bedürfnisses der politischen Sammlung. Eine Volksvertretung am Bunde ist nach den eigenen Worten Roggenbach’s nichts anderes als eine Ableitung der von den Regierungen gefürchteten Gefahr einer Centralgewalt. Jede parlamentarische Vertretung am Bunde bringt nur neue Zerfahrenheit, ein Regiment Aller gegen Alle. Eine parlamentarische Versammlung würde dann gegenüberstehen dem 35stimmigen Widerspruche einer Behörde ohne Verantwortung und ohne Willen. Was kann für solche Auffassung der Delegirtenplan mit seiner verfassungswidrigen Berathung eines unvorhandenen Obligationenrechts Anderes sein, als „ein Vorschlag, der dem Volke für seinen Hunger statt eines Stückes Brod einen Stein bietet“?
Die Lösung der deutschen Verfassungsfrage kann eben nicht in einer Umgehung gefunden werden, sondern nur in der Anerkennung und Befriedigung des nationalen Bedürfnisses. Wie glänzend verwirft, von diesem Gedanken ausgehend, die badische Note das Alternat im Bundesvorsitze als Ausgleichungsmittel! Mit dem einfachen Hinabtauchen in die Denkart des Volkes ist dieser Vorschlag vernichtet, denn er befriedigt vielleicht den betroffenen Einzelstaat, aber ist gänzlich gleichgültig und wesenlos für das Gemeininteresse. Jeder Vorschlag hat nur dann Werth, wenn er dem großen politischen Interesse, dem Interesse deutscher Macht und Unabhängigkeit Befriedigung gewährt. Die bewegende Frage der deutschen Gegenwart faßt sich damit ganz bestimmt zusammen auf den von den deutschen Regierungen ewig umgangenen Brennpunkt der Centralgewalt. Keine Macht der Welt wird einen Plan ersinnen, wie eine kraftvolle thatfähige Centralgewalt gebildet werden könne, ohne daß sie ihre Bausteine hole aus den Machtbefugnissen der bis jetzt in vollster Unbeschränktheit bestehenden Souverainetät der Einzelstaaten. Roggenbach sucht nicht, wie die übrigen Weltweisen [334] einer vermoderten deutschen diplomatischen Kunst, diesen Brennpunkt zu vertuschen, sondern er geht festen Auges und sicheren Schrittes auf ihn zu. So ferne ihm der Gedanke eines das selbständige Leben des Einzelstaatwesens vernichtenden Einheitsstaates liegt, so klar ist ihm doch andererseits der Gedanke des Opfers „aller Staatsfunctionen, durch welche politische Macht im Verkehr mit fremden Staaten entwickelt und bethätigt wird.“ Was der Einzelstaat hergiebt, das sei dann aber auch völlig einer einheitlichen Bundesgewalt unterworfen. Der Einzelstaat muß den Gedanken des Aufgebens dieser Rechte völlig in sich aufnehmen; kein kleinlicher Ehrgeiz wird ihn dann antreiben, sein Staatsinteresse durch Theilnahme an der Centralgewalt und damit durch Zersplitterung derselben bethätigen zu wollen. Der Centralregierung muß die vollständige gesammelte Energie der Entschließung bleiben, aber die Einwirkung der Einzelregierung müßte gewahrt sein durch eine Vertretung derselben, die allen berechtigten Interessen Rechnung trägt, ohne einer kleinlichen für das Gesammtwohl zweck- und machtlosen Eitelkeit zu fröhnen.
Zu dieser Politik des Opfermuthes bedarf es freilich anderer und werkthätigerer Tugenden, als die landläufige „conservative“ Reformpolitik aufzuweisen vermag. Es bedarf dazu eines Fürsten, der einen hohen Geist und ein warmes Herz dem Verlangen seines Volkes entgegenträgt, und es bedarf eines Ministeriums, das sprechen kann, wie Roggenbach für sich und seine Collegen ausrief: „Wenn ein deutscher Minister den Verrath nicht begehen wollte, seinen Fürsten zu Opfern an seiner Souverainetät zu veranlassen, so werden wir den größeren Verrath nicht begehen, ihm zu rathen, er solle zurückstehen hinter seinem Volke an Patriotismus und Hingebung!“
Eine dem sittlichen Bewußtsein des Volkes so greifbar entwachsene Ueberzeugung besitzt ihren eigenen, keiner Einschüchterung zugänglichen Muth. Sie begreift in ihrem vollsten Umfange die Hindernisse, die sich ihrem hohen Ziele entgegenstemmen, aber sie sind, wie Roggenbach so oft wiederholt, nur eben so viele Gründe ungebeugter Ausdauer und machtvoller Kraftanstrengung. Mit fester Hand und unerschrockenem Muthe trennt Roggenbach die badische Handelspolitik von den Bahnen seiner süddeutschen Nachbarn und erklärt, im äußersten Nothfalle ein badisches Freihandelsgebiet gründen zu wollen. Die Energie, wie sie in diesem von dem politischen Glauben seines Volkes erfüllten Staatsmanne lebt, ist eben die treue Begleiterin einer gesunden sittlichen Ueberzeugung und die Mutter jener edlen, feinfühligen Bescheidenheit, die jedes laute Lob von sich weist, so lange das ersehnte Ziel noch so ferne steht. Hat auch die badische Bevölkerung in drei Bezirken Roggenbach zum Abgeordneten gewählt, das ist dem bescheidenen Manne kein Anlaß zu befriedigter Eigenliebe; es ist ihm nur ein neuer, mächtiger Sporn, solch reiches Vertrauen fort und fort durch die That und durch den Erfolg zu verdienen. Und so steht an einem Wendpunke deutscher Geschichte Baden wiederum glänzend vor den Augen von Deutschland und Europa. Wieder ist es die volksthümliche Opposition, durch die das herrliche kleine Land die Blicke auf sich lenkt; aber es ist nicht mehr die Opposition der badischen Kammer gegen die badische Regierung, es ist die volksthümliche Opposition der badischen Regierung gegen die Bundestagspolitik und ihre souverainen Vertreter. Die volksthümliche Opposition ist von der Straße hinweggenommen und hinaufgehoben in die organische Gewalt. Ja, ihr Männer von Würzburg, ihr habt ganz Recht: Baden ist isolirt – in der Liebe und in dem Vertrauen des deutschen Volkes!
Wie bezeichnend ist der grimmige Haß der „conservativen“ Parteien gegen Baden und seine Regierung! Er entsprang vollständig der schlagähnlichen Ueberraschung, die politische Ueberzeugung, die politische Sehnsucht, das politische Recht des Volkes von einer deutschen Regierung vertreten zu sehen. Und die feinen Politiker des Würzburger Lagers begreifen nicht, welches vernichtende Zeugniß ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft sie sich schon durch die nackte Thatsache dieser Ueberraschung ausstellen, in der die weite, tiefe Kluft zwischen Volksbewußtsein und deutscher Regierungspolitik mit schreckensvoller Deutlichkeit zur Erkenntniß kommt? Freilich mit dieser Diplomatie des souverainen, selbstvergötternden Egoismus kann Franz von Roggenbach nicht in Mitwerbung treten. Er ist ein hochgesinnter, edeldenkender, von Vaterlandsliebe erfüllter deutscher Mann, der in dem Herzen seines Volkes den tödtlichen Zwiespalt zwischen idealem Kraftbewußtsein und realer Thatunfähigkeit aus mangelnder politischer Sammlung mit allen Fibern seines Wesens nachzufühlen versteht. Und das ist die Bürgschaft einer großen, einer goldenen Zukunft für das deutsche Volk, daß das Licht froher Hoffnung und erhebenden Vertrauens mächtig emporstrahlte, sobald das Blut, das in unsern Adern pulsirt, einströmte in das Wesen und die Gesinnung auch nur einer deutschen Regierungsgewalt. Daß er ein deutscher Mann ist in des Wortes vollster Bedeutung und daß er es geblieben ist auf dem Posten des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten eines deutschen Mittelstaates, getragen von dem Vertrauen eines Volkes, festgehalten durch das Vertrauen seines Fürsten – dies hier ausgesprochen zu haben, sei unsere ganze Verherrlichung des Namens Franz von Roggenbach. Er hat es ausgesprochen und bethätigt im Namen seines Fürsten, daß es eine Versöhnung giebt zwischen Fürstenrecht und Volksrecht auf dem Boden der echten Vaterlandsliebe und in der gemeinsamen Hingebung an die Idee der deutschen Einheit.
Das Fehderecht des Mittelalters war eine Folge der heillosen Verwirrung und Anarchie, die vom 12. Jahrhundert an im deutschen Reiche herrschte. Die Wirksamkeit der Gerichte war so schlaff, die Polizei so mangelhaft, daß oft die größten Verbrechen ungestraft begangen wurden. Selbst in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten wurde dem Verletzten häufig zu seinem Recht nicht verholfen. Abhülfe mußte geschehen, sie geschah auch, aber – in welcher Weise! Wer durch ein Verbrechen oder in seinen Privatrechten verletzt war, wurde auf die Selbsthülfe, Fehde angewiesen, in welcher Mord, Raub, Brand, überhaupt jede erdenkliche Schandthat gegen den Befehdeten begangen werden durfte. Ohne alle Beschränkung konnte freilich dieses Fehderecht gesetzlich nicht anerkannt werden. Es wurde nur für den Fall der Noth gestattet, d. h. wenn durch die Gerichte Rechtshülfe nicht zu erlangen war, auch mußte die Fehde drei Tage zuvor angekündigt werden, was in der Regel mittelst eines „Fehdebriefes“ geschah. In dem Landfrieden vom Jahre 1235 heißt es: „Was auch Jemandem widerfahre, daß er das nicht räche! Er klag es seinem Richter! es sei denn, daß er sich zur Noth muß wehren seines Leibes und seines Gutes. Wer seine Klage aber anbringt, wird ihm nicht gerichtet und muß er durch Noth seinen Feinden widersagen, das soll er thun bei Tage, und von dem Tage an bis an den vierten Tag soll er ihm keinen Schaden thun, weder an Leib noch an Gut, so hat er drei Tage Frieden.“
Da die Fehden oft zu den blutigsten Kriegen führten und meist Leben und Eigenthum der Unschuldigen gefährdet wurde, verordneten die Reichsgesetze, daß bei Strafe des Landfriedensbruches Geistliche, Kranke, Wöchnerinnen, Kinder, Fuhrleute mit ihren Gütern und namentlich Kirchen nicht verletzt werden dürften. Eine fernere Beschränkung führte die Geistlichkeit durch den „Gottesfrieden“ ein, indem sie bei Strafe des Kirchenbannes die Fehde für alle Festtage und vier Tage in der Woche untersagte. Doch alle diese Beschränkungen wurden nur zu häufig außer Acht gelassen. Kein Wunder daher, daß das Fehderecht zu dem zügellosesten Faustrecht ausartete und zu den brutalsten Räubereien, namentlich von dem kriegerischen Adel, den „Raubrittern“ benutzt wurde. Ein Markgraf von Brandenburg hat in seinen Fehden nicht weniger als 170 Dörfer in Asche gelegt!
[335] Während diese Rechtsunsicherheit auf ihrem Höhepunkt war, entfalteten zwar die westphälischen Gerichte, die „heilige Vehme“, geraume Zeit hindurch eine segensreiche Wirksamkeit. Indeß war einerseits ihre Abhülfe keine durchgreifende, andererseits mißbrauchten sie im Verlauf der Zeit ihre Macht, daher mußte endlich das Reich auf eine Reform bedacht sein. Der erste Schritt geschah auf dem Reichstage von 1495, welcher durch den „ewigen Landfrieden“ das Fehderecht aufhob. Allein das bekannte Sprüchwort: „traue dem Landfrieden nicht“, sagt deutlich genug, daß das Fehdewesen keineswegs mit einem Male zu Ende gewesen, und der ewige Landfrieden wurde in der Folgezeit mehr als zwanzig Mal wieder eingeschärft!
War doch auch nichts geschehen, was die Selbsthülfe entbehrlich gemacht hätte. Die Landesherren nahmen sich der Strafrechtspflege nur wenig an, und die Zusammenstellungen von Gewohnheitsrechten in sogenannten Statuten, die manche Städte veranstalteten, oder denen sich einzelne Privatleute unterzogen (z. B. der Sachsenspiegel von Eike von Repko) waren in strafrechtlicher Beziehung sehr dürftig. Als vollends im 14. und 15. Jahrhundert das römische und canonische Recht in Deutschland sich einbürgerten, mußte die Verwirrung noch größer werden, weil das römische Strafrecht zum Theil auf ganz anderen Grundsätzen beruhte, als das deutsche, zum Theil auch Strafen hatte, die im deutschen Reich gar nicht vollzogen werden konnten. Der Willkür des Strafgerichts war jetzt ein weiter Spielraum gegeben, was um so gefährlicher war, als der alte Anklageproceß mehr und mehr verschwand und das Verbrechen von Amtswegen verfolgt wurde, ferner das Bestreben sich geltend machte, über den Verbrecher möglichst grausame Strafe zu verhängen. Freiheitsstrafen waren noch nicht in Anwendung, man kannte nur Geldstrafen für geringe Vergehen, Verweisung außer Landes, verstümmelnde Strafen (Abhauen von Körpertheilen) und hauptsächlich Todesstrafen. Die letzteren vollstreckte man aber nicht nur durch Enthauptung, Hängen und Ertränkung, sondern man wendete wahrhaft grauenhafte Todesarten an, z. B. Lebendigbegraben, Pfählen, Ertränken in siedendem Wein, Oel oder Wasser, Verbrennen, Rädern, Viertheilen. Es war natürlich, daß man sich endlich nach einer festeren Rechtsordnung sehnte. Schon drei Jahre nach dem ewigen Landfrieden gingen die Reichsstände den Kaiser um eine Reform des Criminalwesens an, indeß bei dem schleppenden Gang auf den deutschen Reichstagen dauerte es noch über dreißig Jahre, ehe die gewünschte Reform in’s Leben trat. Erst 1532 wurde ein sowohl das Straf- als Strafproceßrecht umfassendes allgemeines deutsches Reichsgesetz, die peinliche oder Halsgerichtsordnung Kaiser Carl V. (die sogen. Carolina) erlassen. Dieses Gesetz war von segensreicher Wirkung, da es über die einzelnen Verbrechen, Strafen und das Proceßverfahren bestimmte Satzungen enthielt und die Willkür der Strafgerichte wesentlich beschränkte. Die zu Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts üblich gewesenen grausamen Strafen hat die Carolina zwar nicht abgeschafft. Sie schreibt z. B. für einzelne Verbrechen Abhauen der Finger vor, Herausschneiden der Zunge, Zerschneidung des Leibes in vier Stücke (Viertheilen), Lebendigvergraben, Verbrennen u. s. w., doch dieser Vorwurf trifft nicht den Gesetzgeber. Es lag einmal im Geiste der Zeit, daß der Verbrecher mit möglichst qualvollen Strafen büßen müsse, und die Gräuel und Schandthaten des Faust- und Fehderechts waren wahrlich nicht geeignet gewesen, einer humaneren Richtung Bahn zu brechen.
Schon vor der Carolina und im Laufe des 15. Jahrhunderts hatte das Strafproceßverfahren eine wesentliche Umgestaltung erlitten. Der Grundsatz bei der handhaften That, daß dem Angeklagten seine Schuld zu beweisen sei, wurde allmählich bei jedem Verbrechen zur Regel. Der Anklageproceß ging in den Inquisitionsproceß über, und der Richter mußte nunmehr selbstständig für die Herbeischaffung der zur Verurtheilung erforderlichen Beweismittel sorgen.
Der bequemste Beweisgrund war freilich das Geständniß. Auf dieses legte man das hauptsächlichste Gewicht und suchte es auf alle mögliche Weise von dem Angeklagten zu erlangen. Dabei gerieth man aber auf einen Abweg, der zu abscheulichen Mißbräuchen führte. Durch die Folter (Tortur, peinliche Frage) suchte man nämlich ein Geständniß zu erpressen. Die Carolina, die ihr Beweissystem auf Zeugenaussagen und Geständnisse baute, vermochte sich über den Geist der Zeit nicht zu erheben und erkannte die Anwendung der Folter gesetzlich an. Zwar bestimmte sie, daß man nur bei genügendem Verdacht und nur bei schwereren Verbrechen zu ihr greifen, sie auch nicht mehr als einmal anwenden solle. Allein an diese Beschränkungen hielten sich die Gerichte leider nicht, und oft genügte der geringste Verdacht, den Angeschuldigten den grausamsten Martern zu unterwerfen.
Durch die Folter sind unzählige Justizmorde verübt worden, nur sie trägt die Schuld an den Hexenprocessen, die Deutschland drei Jahrhunderte lang furchtbar heimgesucht haben. Im Bisthum Würzburg z. B. starben von 1627 bis 1629 über 200 wegen Hexerei den Feuertod, im Bisthum Bamberg in denselben Jahren 285, in Salzburg in einem einzigen Jahre (1678) 97, und der sächsische Jurist Carpzow verurtheilte allein über 100 Hexen zum Scheiterhaufen.
Zu den Hexenverfolgungen im 15. und folgenden Jahrhunderten trug freilich der grenzenlose Aberglaube bei, der alle Stände ergriffen hatte. So glaubte man steif und fest an Zusammenkünfte und Schmausereien mit dem Teufel, glaubte, daß die Hexen Nachts auf Besenstielen, Ofengabeln und dergleichen durch die Lüfte an den Ort der Zusammenkunft ritten, daß der Teufel die Hexen lehre, Wetter zu machen, Menschen und Vieh krank zu zaubern u. dgl. m. Daß man aber Hexen in Unmasse fand, daß sie sämmtlich auf ihr Geständniß hin, sich wirklich mit dem Teufel verbunden zu haben, verurtheilt werden konnten, dies bewirkte allein die Folter. In der Regel wurden dem Angeklagten zuerst die Daumen in Schrauben gebracht, und diese nach und nach so zusammengepreßt, bis sie zermalmt waren (der sogen. Daumenstock). Ueberstand der Gefolterte dies, so wurde er in den spanischen Stiefel gespannt; hierauf band man ihm die Hände auf den Rücken, befestigte an denselben ein Seil und zog ihn an diesem langsam in die Höhe, bis die Armgelenke verdreht wurden und die Arme über dem Kopfe standen (der sogen. Zug). Auf diese und ähnliche Weise quälte man die Unglücklichen oft bis zum Wahnsinn. Kein Wunder, daß auch die kräftigsten Naturen unter solchen Martern erlagen und in Verzweiflung ein Geständniß ablegten. Freilich wurde dies oft widerrufen. Aber dann begann die peinliche Frage von Neuem, und nur in seltenen Fällen überstand der Angeschuldigte die zweite oder gar die dritte Folter, ohne sein Leugnen oder, wie dies auch vorkam, den Geist aufgegeben zu haben. Geschah das Letztere, so war der Angeschuldigte freilich nicht an den Folgen der entsetzlichen Qualen gestorben, sondern – der Teufel hatte seine Seele geholt!
In einem Urtheil aus der sächsischen Praxis heißt es z. B.: „Weil aus den Acten soviel zu befinden, daß der Teufel der Margarethe Sparrwitz auf der Tortur so hart zugesetzt, daß sie, als sie kaum eine halbe Stund an der Leiter gespannt mit großem Geschrei Tods verfahren und ihr Haupt gesenkt, daß man gesehen, daß sie der Teufel inwendig im Leibe umgebracht, immaßen denn auch daraus abzunehmen ist, daß es mit ihr nicht richtig gewesen, weil sie bei der Tortur gar nichts geantwortet: so wird ihr todter Körper durch den Abdecker unter dem Galgen billig (!) vergraben.“
Es ist kaum glaublich, welche nichtigen Verdachtsgründe oft die Einleitung des Hexenprocesses veranlaßten. Wenn Jemand einem Anderen etwas Böses gewünscht hatte, demselben dann zufällig ein Unglück begegnete, so wurde gleich eine Anklage wegen Hexerei erhoben. Langer Schlaf galt als Folge der nächtlichen Zusammenkünfte mit dem Teufel u. dgl. m. Am gefährlichsten aber war es, daß man die Angeklagten auch nach Mitschuldigen frug und sie so lange folterte, bis sie zur Verzweiflung getrieben eine Reihe von Personen als Hexen bezeichneten, die sie vielleicht nur dem Namen nach kannten. Diesen wurde dann sofort der Proceß gemacht. Ohne die geringste Ahnung von der ihnen drohenden Gefahr wurden sie dem Kreise ihrer Familie entrissen, verhaftet, peinlich gefragt und – auf ihr Geständniß hin zum Flammentode verurtheilt!
Im 18. Jahrhundert nahm die Strafrechtspflege einen neuen Aufschwung. Zunächst nahm sich die Wissenschaft ihrer in ernster Weise an und äußerte einen heilsamen Einfluß auf die Gesetzgebung. Einzelne Staaten erließen umfassende Strafgesetzbücher, so Baiern 1751, Oesterreich 1768, Preußen 1794. Dem humaneren Zeitgeist trugen die Landesfürsten insofern Rechnung, als sie eine neue Strafart, die Zucht- und Arbeitshäuser, einführten, so daß die harten Strafen der Carolina bald ganz außer Anwendung kamen.
[336] Das Proceßverfahren wurde ein geregelteres, die Folter kam allmählich außer Gebrauch und wurde in den meisten deutschen Landen gesetzlich aufgehoben. Zuerst in Preußen 1755, in Baden 1767, in Sachsen 1770. In manchen Ländern blieb sie, wenn auch mit mehr Beschränkungen als früher, bis in unser Jahrhundert bestehen. So wurde sie in Baiern 1807, in Würtemberg 1808 und in Hannover – 1818 abgeschafft.
Im Wesentlichen behielt man das Beweissystem der Carolina bei. Man verurtheilte den Angeschuldigten auf Grund seines Geständnisses und vollen Zeugenbeweises. Die Lücke aber, die dadurch entstanden war, daß man das Geständniß nicht mehr durch die Folter erpressen konnte, suchte man in verschiedener Weise auszufüllen. In Preußen und Sachsen erfand man die sogenannten außerordentlichen Strafen wegen Verdacht. War nämlich der Angeschuldigte zu einem Geständniß nicht zu bewegen, lag aber auch kein vollständiger, sondern nur halber Beweis durch Zeugenaussagen gegen ihn vor, oder hielt man ihn blos auf Grund von Indicien für überführt, so wurde derselbe wegen Verdachts zu einer Freiheitsstrafe verurtheilt, und oft ließ man den eines schweren Verbrechens Verdächtigen zeitlebens im Zuchthaus schmachten. Bei leichteren Vergehen erkannte man dem Angeklagten einen Reinigungseid zu.
In Süddeutschland wurde dem Richter die Ermächtigung ertheilt, über den Angeschuldigten die volle gesetzliche Strafe zu verhängen, wenn der ganze Proceß so viel Verdachtsmomente ergeben hatte, daß ein vollständiger Beweis von der Schuld des Angeklagten logisch construirt werden konnte. War das nicht möglich, so wurde der Beschuldigte wegen vorhandenen Verdachts nicht völlig freigesprochen, sondern nur „von der Instanz entbunden“, mit welcher Art Freisprechung der Verlust aller bürgertichen Ehrenrechte verbunden war.
Einen bedeutenden Schritt vorwärts that Sachsen im Jahre 1838 durch ein Gesetz, welches die außerordentlichen Strafen des Verdachts aufhob und dem ganzen Beweissystem eine neue Grundlage verschaffte. Es verwies den Richter bei seinem Spruch lediglich auf seine volle Ueberzeugung, die er auf Grund der Acten gewonnen hatte und aus den Ergebnissen derselben begründen konnte. Nur behielt das Gesetz für leichtere Vergehen den Reinigungseid bei.
Dem Beispiele Baierns, Oesterreichs und Preußens folgten später fast alle übrigen deutschen Staaten. Das Königreich Sachsen erhielt sein Strafgesetzbuch vom Jahr 1838, Braunschweig von 1840, Hannover von 1841, Baden von 1845 u. s. f. Alle diese Strafgesetzbücher zeichneten sich durch Vollständigkeit, bestimmte Abgrenzung der einzelnen Verbrechen und der darauf gesetzten Strafen aus.
Die Reformen der neuesten Zeit beschränken sich im Strafrecht darauf, daß fast alle deutschen Staaten ihre Strafgesetzbücher revidirt und an deren Stelle neue gesetzt haben, in welchen die Mängel und Lücken, die erst durch die Praxis nach und nach sich herausgestellt hatten, beseitigt und ausgefüllt worden sind. So erhielten die meisten sächsischen Herzogthümer im Jahr 1850, Preußen 1851, Oesterreich 1852, Sachsen 1855 neue Strafgesetzbücher.
Eine ganz neue Richtung aber erhielt der Strafproceß. Der alte geheime und schriftliche Inquisitionsproceß wurde abgeschafft und ein öffentlich mündliches Verfahren mit dem Institut der Staatsanwaltschaft eingeführt, und zwar entweder vor den „Geschworenen“, wie in Preußen, Baiern etc., oder vor gelehrten Richtern, wie seit dem 1. October 1856 in Sachsen.
Nicht mehr hinter verschlossenen Thüren wird der Angeschuldigte processirt, sondern der Zutritt zu den Verhandlungen ist Jedem, soweit es die Räumlichkeiten des Gerichts gestatten, erlaubt. Das ganze Verfahren ist nicht mehr ein geheimes, sondern öffentliches. Wer Zeit und Lust hat, mag zusehen und zuhören, wie die Richter über den Angeklagten zu Gericht sitzen und Recht über ihn sprechen. Das Verfahren, wenigstens das Hauptverfahren, auf dessen Grund das Urtheil gesprochen wird, ist nicht mehr ein lediglich schriftliches, sondern die ganze Verhandlung wird mündlich geführt, unmittelbar vor den Richtern, die das Urtheil fällen. Eine eigentliche Beweistheorie kennt unser heutiger Strafproceß nicht. Die Richter thun ihren Spruch auf Grund ihrer aus der ganzen Verhandlung geschöpften Ueberzeugung von der Schuld oder Nichtschuld, wie sie solche bei ihrem Pflichteid vor Gott und ihrem Gewissen verantworten können. Die Geschwornen fällen das Urtheil, ohne die Gründe angeben zu müssen, die sie zu demselben bewogen haben, die gelehrten Richter dagegen haben dasselbe in den „Entscheidungsgründen“ zu motiviren.
Nur ein solches auf die Oeffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit gestütztes Strafverfahren macht eine wahrhaft gerechte Strafrechtspflege möglich.
Vieler Jahrhunderte hat es sonach bedurft, ehe dieselbe in Deutschland nach manchen traurigen Verirrungen die jetzige Höhe ihrer Entwickelung erlangt hat. Ihr höchstes Ziel aber hat sie noch nicht erreicht, denn leider haben wir noch nicht eine deutsche, in allen deutschen Staaten gleichmäßig geübte Strafrechtspflege. Ob eine solche überhaupt möglich ist? Gewiß, wenn die deutschen Regierungen es ernstlich wollen. So gut uns das Jahr 1849 eine allgemeine deutsche Wechselordnung, das Jahr 1861 ein allgemeines deutsches Handelsgesetzbuch brachte, warum sollte nicht auch ein deutsches Strafgesetzbuch und eine deutsche Strafproceßordnung möglich sein, da doch im Wesentlichen und in den Principien die aller deutschen Staaten bereits übereinstimmen!
- ↑ Ein Reitzugfink ist ein Finkenhahn, dessen Schlag (Gesang) sich mit der Endigung schließt, die wie „Reitzug“ klingt.
- ↑ Laufer: Ein Lockvogel, der an einen Faden gefesselt und mit verschnittenen oder gebundenen Flügeln, aber sonst frei auf den Boden gesetzt wird, um durch sein Locken und scheinbare Freiheit Individuen seines Geschlechts herbeizuziehen.
- ↑ Großjacken: scherzhafter Ausdruck für Hochwild.
- ↑ Daß man im November noch auf starke Hirsche schießt, da wo kein Wildschaden bezahlt wird, man also auch nicht hegen kann, besonders wenn die Grenznachbarn durchaus nicht schonen, wird kein Jäger dem andern verargen; denn dann kommt es ja nicht darauf an, ob der Hirsch an Wildpret gut ist, sondern es handelt sich, meiner Ansicht nach – zuerst um das Geweih und die Ehre, einen starken Hirsch geschossen zu haben.