Die Gartenlaube (1863)/Heft 28
Auch in anderer Weise war über den Thäter nichts zu ermitteln. Freilich auch nichts, was über die Person des Ermordeten hätte Auskunft geben können. Kein Instrument wurde gefunden, kein Fetzen eines Kleidungsstückes, kein anderer fremder Gegenstand. Wie der Thäter Hut und Halsbinde, die an der Leiche fehlten, beseitigt hatte, so mußte er auch alles Andere, was auf irgend eine Spur hätte hin leiten können, mit der größten Vorsicht und Sorgfalt auf die Seite geschafft haben. So hatte es sich schon an der Bekleidung der Leiche gefunden. Die Taschen waren völlig leer; kein Tuch, kein Fetzen Papier fand sich darin. Aus dem Hemde war das Stück, in welchem ein Namenszeichen sich befunden haben mußte, herausgerissen, und es war wohl nicht zufällig geschehen.
Die Russen überließen mir die weitere Untersuchung. Erst am folgenden Tage aber sollte die Herausgabe geschehen, und da ich in Rußland – wenigstens vor der Hand – nichts mehr zu thun hatte, kehrte ich über die Grenze zurück, wollte indeß in ihrer Nähe bleiben: einmal, um nicht zur Empfangnahme der Leiche sieben Meilen hin und sieben Meilen her zu machen – so weit war mein Amtssitz entlegen –; zum Anderen konnte ich nur in der Nähe der Grenze und des Verbrechens auf Auskunft über dieses rechnen. Ich fuhr mit meiner Begleitung zu dem ersten besten Bauerndorfe auf preußischer Seite. Meinen Begleitern schärfte ich wiederholt ein, über den Mord das tiefste Stillschweigen zu beobachten und auch dann nichts von ihm zu wissen, wenn schon andere Leute von ihm wissen sollten.
Wir erreichten – eine halbe Meile aufwärts an der Grenze – ein jämmerliches Bauerndorf, einen elenden Krug. Der Tag neigte sich. Ich sah in der schrecklichen litthauischen Herberge einem schrecklichen Abend mit Tabaksqualm, saurem Bier, alten Häringen, vertrocknetem Brode entgegen. Da fuhr eine Kutsche mit zwei prächtigen Braunen an dem Kruge vor. Ich kannte sie. Ein großer, wohlgenährter Herr trat in die Krugstube. Alles an ihm zeigte gutes Essen, gutes Trinken und guten Humor. So sehen nur gutgenährte Beamte aus, und er war Steuerrath, der Steuerrath Klemann, mit mir in derselben Stadt wohnend und mein lieber Freund. Ich erschrak fast, als ich ihn hier sah.
„Freund, Du in diesem Kruge? Welches Unglück hat Dich hierher getrieben?“
„Unglück?“ sagte er. „Ich fahre ja zu einem Polterabend.“ Er war ernsthaft dabei geblieben, trotz der Antwort und seines Humors. „Aber Du? Wie kommst Du hierher?“ fragte er erstaunt, verwundert.
„Ich komme von einem Morde.“
„Hm, von Mord zu Raub, von Raub zu Diebstahl von Diebstahl wieder zu Mord, das ist ja Dein Metier.“
„Und diesmal möchte ich Dich in mein Metier mit hineinziehen.“
„Um des Himmelswillen, was haben Schlacht- und Mahlsteuer mit Mord und Todtschlag zu thun?“
„Nun, mitunter auch die. Indeß, Du hast ja auch mit Schmugglern zu thun.“
„Aber nur mit den armen Teufeln, die für Weib und Kind daheim von da drüben ein paar Loth Salz holen, das unsere Regierung so wohlfeil an die Russen verkauft, daß unsere Unterthanen noch für den halben Preis, den es hier hat, von den Russen es zurückkaufen können.“
Damals sprachen sogar die Steuerräthe in Preußen noch frisch von der Leber weg.
„Und die,“ erwiderte ich ihm, „schlagen sich untereinander nicht todt, meinst Du wohl?“
„So ungefähr meinte ich. Du kommst also von einem Todtschlagen der Schmuggler untereinander?“
Ich erzählte ihm den verübten Mord, und was ich darüber ermittelt oder eigentlich nicht ermittelt hatte. Er konnte mich vielleicht auf andere, weitere Spuren bringen. Er hatte zwar mit dem Schmuggel aus Preußen nach Rußland amtlich nichts zu schaffen; nur das armselige Einschwärzen von Salz aus Rußland nach Preußen berührte ihn, aber auch das hatte ihn das Schmuggel- und Schmugglerleben an der Grenze näher kennen gelehrt. Er konnte mir dennoch keine Spuren, keine Fingerzeige angeben. Plötzlich aber fuhr er auf und sagte, immer noch ernst. „Fahre mit mir zu dem Polterabend.“
„Was soll ich da?“
„Ich habe einen Gedanken, einen sonderbaren Gedanken.“
„Der zu dem Morde in Beziehung steht?“
„Ich weiß es nicht. Aber höre mir zu. Kennst Du einen Gutsbesitzer Bertossa?“
„Ich habe nie von ihm gehört.“
„Er ist seit vier Jahren in der Gegend und besitzt das Gut Kalwellen.“
„Hier in der Nähe?“
„Drei Meilen von hier. Du kennst es?“
„Ich war noch nie da. Es soll ein großes einträgliches Gut sein.“
„Ja, und der Besitzer hat mit der bedeutenden Landwirthschaft [434] auch eine große Branntweinbrennerei verbunden. Das führt mich oft hin. Die Branntweinkessel gehören ja mit zu meinem Metier, wie Mord und Todtschlag zu Deinem, und durch eben diese Branntweinkessel bin ich mit dem Gute und seinem Besitzer und dessen Familie bekannt geworden.“
„Er hat Familie?“
„Und namentlich eine wunderhübsche Tochter.“
„Ah, zu deren Polterabend reisest Du?“
„Zu deren Polterabend reise ich.“
„Du nanntest ihn ein Unglück!“
„Pah, wie viele glückliche Ehen kennst Du denn in der Welt? Die Deinige natürlich ausgenommen!“
„Und die Deinige! Aber Du sprachst das Wort Unglück so ernst und so eigenthümlich ernst aus.“
„Und ich hatte Recht. In der Familie Bertossa aus Kalwellen herrschen eigenthümlich ernste Verhältnisse. Man könnte sie noch wohl anders bezeichnen. Der Mann, Bertossa, kam vor vier Jahren hier an. Das Gut Kalwellen stand damals zum öffentlichen Verkaufe. Es war in inländischen und auswärtigen Zeitungen ausgeboten. Er besah es, unterhandelte mit dem Verkäufer, kaufte es und er bezahlte den Kaufpreis baar – nahe an achtzigtausend Thaler. Er mußte sehr reich sein. Er nahm das Gut in Besitz, reiste ab, um seine Familie zu holen, und kam mit ihr nach vier oder fünf Wochen zurück. Seitdem wohnen sie dort.“
„Und woher kam er?“
„Das weiß man nicht. Die Polizei mag es wissen – vielleicht auch nicht. Andere Leute sprechen bald dies, bald das.“
„Und was sprechen sie?“
„Einige sagen, er sei ein Flamländer, er komme aus Belgien; Andere wollen wissen, er sei ein Romane und komme aus dem Canton Graubünden.“
„Aber die Sprache, die Aussprache?“
„Es ist eine gebildete, eine sehr gebildete Familie. Sie sprechen Deutsch, Französisch, Italienisch. Ihr Deutsch ist ein durchaus reines.“
„Und ihre Heimathspapiere, die sie der Polizei überreicht haben mußten, woher sind die?“
„Ich weiß es nicht, wie ich Dir sagte. Aber Papiere kann man überall bekommen.“
„Du scheinst den Leuten nicht zu trauen?“
„Hm, ich bin Steuerrat, der nur an Contraventionen und Defraudationen denken darf.“
„Bei Schlacht- und Mahl- und Branntweinsteuer! Aber außerdem nur, wenn er besondere Gründe hat. Hast Du sie?“
„Hm – aber nein, nein – und doch! Aber es kommt ja Alles auf die Augen an, mit denen man sieht, und ich habe ja einmal die Steueraugen.“
„Nun, was haben Deine Steueraugen gesehen? Erzähle – von dem Mann, von der Familie.“
„Sogleich, und dann, wenn Du mich begleitest, sollst Du selbst sehen – mit Criminalaugen. Also, der Mann ist ein feiner Weltmann, am Ende der funfziger Jahre, mit Augen, die in keines anderen Menschen Auge sehen können, aber jedem anderen Menschen bis in die tiefste Tiefe seines Inneren sehen möchten. Es kommt seine Frau. Sie steht vielleicht im Anfange der funfziger Jahre. Sie ist schön gewesen. Sie ist leidend, still. Es drückt sie etwas, und – wohl nicht blos ein Aerger.“
„Sondern?“
„Ich weiß es nicht. Sie wird es schon wissen, und der liebe Gott und ihr Mann. – Aber weiter. Sie haben zwei Kinder. Einen Sohn – Ulrich heißt er – einen Burschen von einigen zwanzig Jahren, eine lebhafte, feurige, offene Natur, und doch gefällt er mir nicht.“
„Und warum nicht?“
„Ich weiß es selbst nicht. Ich kann nichts an ihm finden, was mir mißfiele. Vielleicht ärgert sich just darüber meine Steuernatur. – Das zweite Kind ist die wunderhübsche Tochter, von der ich Dir sprach, erst achtzehn Jahre alt und vielleicht schon unglücklicher, als ihre Mutter.“
„Sie hat heute ihren Polterabend?“
„Ja.“
„Und ihr Unglück?“ –
„Ist der Polterabend.“
„Erzähle.“
„In dem Hause ist seit anderthalb Jahren ein Gutsinspector, Holm heißt er, ein stiller, braver, lieber Mensch. Er und die Tochter, Rosalie, lieben sich, und sie soll morgen einen Anderen heirathen.“
„Und wen?“
„Das weiß Gott. Vor ungefähr drei Vierteljahren sah ich zum ersten Male in dem Hause einen fremden jungen Mann von etwa dreißig Jahren, vornehm, stolz, anmaßend, unausstehlich. Er war, wie der Herr im Hause, aber wie ein Herr, den Jedermann im Hause fürchtete, haßte, zu allen Teufeln wünschte und den man doch nicht los werden konnte. Warum nicht, und was es mit ihm war, und wer er war, und woher er kam, und was er wollte, und was er that, über das Alles konnte ich nichts erfahren, und habe ich eigentlich bis auf den heutigen Tag nichts erfahren können. Er wurde mir als ein Baron von Föhrenbach vorgestellt, der aus früherer Zeit mit der Familie bekannt sei. Ich sah ihn später, wenn ich da war – meine Geschäfte führen mich alle sechs Wochen hin – nur selten. Wo er war? ich kümmerte mich nicht um ihn – er schien mich eben so wenig gern zu sehen, wie ich ihn gern vermißte. Auf einmal erhielt ich vor mehreren Wochen die Anzeige der Verlobung der schönen, armen Rosalie Bertossa mit dem Baron Theobald von Föhrenbach, und vor drei Tagen die Einladung zu ihrem heutigen Polterabend. Steuerräthe pflegen gern in den Familien gesehen zu werden, weil man sie ungern in den Brennereien sieht.“
„Und zu dem Polterabend soll ich Dich begleiten? Ich bin nicht eingeladen, ich kenne Niemanden dort.“
„Du bist mein Freund. Ich habe Dich zufällig in der Nähe getroffen. Du vergingst vor Langerweile und manchem Anderen. Auf den Gütern ist man gastfrei, und was ist unter funfzig, sechszig Gästen Einer mehr?“
Das war Alles richtig.
„Aber was soll ich dort?“ mußte ich wiederholt fragen. „Was war Dein sonderbarer Gedanke? In welcher Beziehung kann Dein Polterabend zu meinem Morde stehen?“
„Es kommen zu dem Polterabend so viele Menschen aus der ganzen Gegend zusammen, Leute allerlei Standes, Gutsbesitzer, reiche Kölmer, Kaufleute, Krämer, Krugwirthe. Die sehen und hören viel, was auf zehn Meilen weit an der Grenze passirt. Und sodann, warum müssen der Ermordete und der Mörder gerade nothwendig unter den Schmugglern zu finden sein?“
„Du wolltest sie anderswo suchen?“
„In solchen Fällen muß man überall suchen, oder gar nicht.“
Er hatte Recht. Ich versäumte auf keinen Fall etwas. Erst am folgenden Tage konnte ich die Leiche von den Russen in Empfang nehmen. Bis dahin war in der Untersuchung nichts zu thun, und bis dahin war ich auch von dem Polterabend zurück. Ich fuhr in seinem Wagen allein mit ihm. Den Secretair und den Executor ließ ich zurück. Den Gendarmen wies ich an, mir nach einer Stunde zu folgen, und im Kruge zu Kalwellen auf mich zu warten. Es konnte möglich sein, daß ich seiner dort bedurfte. Wir hatten drei Stunden zu fahren. Es war längst dunkler Abend, zwischen neun und zehn Uhr, als wir im Dorfe Kalwellen ankamen.
Der Gutsgarten lehnte sich an ein kleines Wäldchen. Wir fuhren in dieses und ließen den Wagen sich dort verborgen aufstellen, er durfte nicht gesehen werden. Wir gingen durch das Wäldchen an den Garten, und sahen und hörten, was ich oben erzählt habe.
Wir kehrten zu unserem Wagen zurück und fuhren zu dem Gutshause. Wir kamen in das Haus eines reichen Mannes, der zu leben wußte. Man sah es an Allem. Ein Bedienter empfing uns beim Aussteigen aus dem Wagen, er bat uns, ihm in den Garten zu folgen, wo die Gesellschaft sei. Wir folgten ihm dahin. Der Garten glich einem Park. In einem von dem Hause entfernten Theile befand sich die Gesellschaft. Ein von Boskets umschlossener runder Platz war mit Lampen und Lichtern erhellt. Die Gäste bewegten sich dort zwanglos. Der Diener führte uns zu der Herrin des Hauses. Sie saß in einem Kreise von Frauen. Der Bräutigam hatte sie wohl dahin geführt, als er sie auf so rohe Weise aus der Laube neben dem Pförtchen abholte. Er hatte sie wohl im Auge behalten, daß sie nicht fortkonnte, um jene Nachricht von ihrem Sohne zu erhalten, der sie mit eben so viel Angst wie Sehnsucht entgegensehen mochte. Sie unterhielt sich mit den [435] Frauen. Sie konnte es, trotz Allem, was wir vorhin gesehen und gehört hatten, trotz allen Unglücks, aller Sorge, aller Angst, die ihr das Herz mochten erdrücken wollen. Aber sie war blaß zum Erschrecken. Sie war eine Dame, die ebenfalls zu leben wußte; man sah es ihrem ganzen Wesen an. So auch begrüßte sie meinen Freund.
Der Steuerrath stellte dann mich ihr vor:
„Kreisjustizrath – aus – mein alter Freund. Ich traf ihn drei Meilen von hier in einem elenden Kruge, aus dem er nur durch mich zu erlösen war. Darf ich um die Erlaubniß bitten, gnädige Frau, ihn Ihnen als Gast zuzuführen?“
„Die Herren sind mir Beide willkommen,“ antwortete sie.
Aber es war ein so sonderbar zuckender Ton, mit dem sie die wenigen Worte sprach, sie schien sie kaum beendigen zu können. Sie war bei der Nennung meines Namens plötzlich zusammengezuckt und war noch bleicher, als sie selbst unter jenen Schmerzen in der Laube gewesen war.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar, gnädige Frau,“ sagte ich, „für Ihre freundliche Aufnahme eines Eindringlings, der freilich der Gewalt eines despotischen Freundes – Sie kennen ja unsern Steuerrath – folgen mußte, der ihm aber auch gern zu einem Freudenfeste und in eine liebenswürdige Familie folgte.“
Sie hatte sich während meiner Worte erholt, gefaßt. Ich hatte offen, unbefangen gesprochen. Der Ton meiner Stimme, mein rückhaltsloser Blick schienen sie beruhigt zu haben.
„Ich bedaure nur,“ sagte sie, „daß die Herren meinen Mann nicht hier finden. Er mußte heute früh unerwartet eine nicht aufzuschiebende Reise antreten, von der er noch nicht zurück ist. Ich erwarte indeß seine Rückkehr jeden Augenblick.“
Sie war doch roth geworden, wie sie das sprach. Sie hatte aber auch unterdeß – ich merkte es wohl – forschend in mein Gesicht geblickt. Sie konnte nichts darin gelesen haben. Ich war unbefangen geblieben.
„Darf ich um die Erlaubniß bitten, gnädige Frau,“ sagte ich, „dem Brautpaare meine Glückwünsche darzubringen?“
„Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie hinzuführen,“ erwiderte sie.
Sie sah sich nach den Brautleuten um. Auf einmal war sie blaß, wie eine Leiche. Ich folgte ihrem Blick. Meinen ganzen Körper durchfuhr etwas. Es war eine furchtbare, gleichsam wilde Ahnung, die mich zu Boden drücken wollte, aber sie schnellte mich heftig wieder empor. Der Blick der unglücklichen Frau und der meinige, sie hatten beide den Bräutigam getroffen, und sie trafen beide in seinen Blick, der nicht auf uns Beide, der aber auf mich gerichtet, und in diesem Augenblick nicht glühend, nicht finster, nicht durchbohrend war.
Der Baron Theobald von Föhrenbach stand wie ein plötzlich vernichteter Mensch da. Sein Gesicht war tief blaß geworden; die kräftige Gestalt war ineinander gesunken, die Augen starrten glanzlos, sie starrten nach mir, noch immer. Neben ihm stand ein Gutsbesitzer der Gegend, der mich kannte. Er hatte sich mit ihm unterhalten. Hatte ihm der Mensch gesagt, wer ich war, und hatte ihn darauf jener heftige, tödtliche Schreck erfaßt? Oder hatte er mich selbst schon früher gekannt und jetzt plötzlich wieder erkannt, und nun hatte der jähe Schreck ihn ergriffen?
Jene furchtbare, wilde Ahnung sagte es mir. Aber wer er war, ob ich ihn schon früher gesehen hatte, und wo und unter welchen Verhältnissen, das konnte auch sie mir nicht sagen, und sie blieb immer nur eine unbestimmte, in dem unbegrenzten Gebiete der Möglichkeiten und der dunkelsten Vermuthungen umherschweifende Ahnung.
Die Hausherrin hatte sich wieder gefaßt. Sie führte meinen Freund und mich zu dem Brautpaare. Die Braut war in der Nähe des Bräutigams; sie hatte sich während einer Tanzpause mit einigen jungen Mädchen unterhalten. Auch der Baren Föhrenbach hatte sich zusammengenommen. Als er uns ankommen sah, wandte er sich zu seiner Braut, nahm ihren Arm und erwartete uns so. Die Braut war noch jenes stille Bild des Leidens, das ich durch den Nußbaum und das Pförtchen gesehen hatte. Sie war in der Mitte der Gesellschast nur stärker, muthiger, milder. Der Bräutigam war ein ganz vornehmer und stolzer Mann. Finster, streng, herrisch sah er nicht wieder aus, aber desto kälter, gemessener, vornehmer. Welch’ ein Contrast, das schöne, blasse, leidende, junge Mädchen und dieser kalte, unheimliche Mann.
Die Hausfrau nannte mich ihm, den Steuerrath kannte er. Wir sagten der Braut und ihm unseren Glückwunsch. Er dankte mit einer kalten, stummen, vornehmen Verbeugung, dem Einen von uns nicht anders, als dem Anderen. Aber meine Ahnung wollte mich nicht verlassen, und auch die Hausfrau sah ich verstohlene ängstliche Blicke bald auf mich, bald auf den Mann werfen, der morgen der Gatte ihrer einzigen Tochter werden sollte. Er kümmerte sich um mich nicht weiter. Es konnte Absicht sein. Um so weniger ließ ich ihn aus den Augen. Es wurde wieder getanzt. Er nahm Theil an dem Tanze und tanzte mit der Braut.
Der Steuerrath war mit vielen der Anwesenden bekannt, wenn nicht mit den meisten. Er ließ sich mit seinen Bekannten in Gespräche ein und verfolgte dabei meine Zwecke. Er that es mit Gewandtheit, ohne irgend etwas zu verrathen, ohne nur irgend Jemanden stutzig zu machen. Sein Humor und seine Jovialität kamen ihm zu Hülfe. Wir erfuhren nichts. Ich war umsonst mit ihm gefahren, sagte ich mir.
Mitten während der Unterhaltung kam ein Diener des Hauses zu dem Steuerrath und sprach heimlich ein paar Worte zu ihm. Der Steuerrath machte eine kurze zusagende Bewegung des Kopfes. Dann trat er zu mir. „Auf ein Wort.“
„Was giebt’s?“
„Der Inspector Holm ist draußen, vor dem Hause. Er wünscht mich dort zu sprechen.“
„Und was soll mir das?“
„Ich wollte Dich bitten, mich zu begleiten. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist mir, als hätte der eine Nachricht, die nicht blos die arme Frau dort, die auch Dich interessiren könnte.“
Er konnte Recht haben. Neugierig war ich ohnehin geworden. Wir verließen die Gesellschaft, und nun sah ich, daß der unheimliche Bräutigam sich in der That sehr wohl um mich gekümmert hatte. Seine Blicke verfolgten uns, als wir uns entfernten. Ich sah die dunklen Augen, prüfend, durchbohrend, auf mich gerichtet. Wir gingen durch den Garten in das Haus und durch dasselbe in den Gutshof. Hinter einem Baume trat der Inspector Holm hervor und kam auf uns zu. Er war ein hübscher, frischer, gutmüthiger, aber entschlossen aussehender junger Mann. Er stutzte, als er mich in der Gesellschaft des Steuerrathes sah.
„Mein Freund,“ sagte der Steuerrath. Er nannte meinen Namen.
Der junge Mann stutzte noch mehr. Er wurde unruhig. Ich bemerkte durch die Dunkelheit, wie er mich zweifelnd, unentschlossen ansah. Er wandte sich an den Steuerrath.
„Verzeihen Sie, daß ich Sie zu mir her bitten ließ. Ich war in großer Verlegenheit. Da sah ich hier Ihren Wagen, und nun mußte ich mich an Sie wenden.“ Er sprach eilig, dringlich.
„Und was wünschen Sie von mir, Herr Holm?“ fragte ihn der Steuerrath.
„Ich habe nur eine unbedeutende Bitte.“
„Die wäre?“
„Der Frau Bertossa zu sagen, daß ich hier sei und sie erwarte.“
„Aber, mein lieber Herr Holm,“ sagte der Steuerrath, „warum gehen Sie nicht direct zu der Frau Bertossa? Warum sind Sie überhaupt nicht in der Gesellschaft?“
„In diesen Kleidern?“ fragte er, und er lächelte schmerzlich.
Er trug bestaubte Reisekleidung.
„Aber warum diese Kleidung?“ fragte mein Freund.
Er wollte antworten, besann sich aber und antwortete etwas Anderes, als er zuerst auf der Zunge gehabt hatte.
„Ich gehöre nicht dahin,“ sagte er. „Ich gehöre überhaupt nicht mehr zum Hause.“
„Sie haben es verlassen?“
„Ich habe meinen Abschied bekommen – nein, nein, ich habe ihn genommen. Ich mußte es, freilich – doch das gehört nicht hierher.“
„Es gehört wohl hierher, lieber Herr Holm. Wer und was zwang Sie, dieses Haus zu verlassen?“
„Was? Ah, Sie wissen es. Sie waren öfter hier – Sie müssen gesehen haben –“ Er sprach mit dem tiefsten Schmerze seines Herzens.
„Ja, ja, armer Holm,“ unterbrach ihn der Steuerrath. „Ich sehe es noch, und ich sah es vorhin im Garten –“ [436] .
„Still, still, Herr Steuerrath! Darum bin ich nicht hier. Es ist etwas Anderes. Aber Sie wollten noch wissen, wer mich von hier vertrieben hat, eigentlich, wer mich vertreiben wollte. Der Herr Bertossa war es nicht, auch die Frau nicht. Sie wollen mir Beide wohl, und wenn es von ihnen abgehangen hätte – Auch Ulrich war es nicht; wir waren Freunde. Aber jener Baron – Er befiehlt dem ganzen Hause und ist der Herr hier – Am Tage vor der Verlobung ging ich. Meine Liebe, meine Ehre, die Ruhe, das Leben der armen Rosalie, der Friede des Hauses, Alles, Alles forderte es von mir. Sie wissen jetzt Alles, Sie waren immer freundlich gegen mich, auch gegen Rosalien. Werden Sie mir jetzt meine Bitte erfüllen?“
„Gewiß, mein lieber Herr Holm.“
„Aber noch Eins muß ich hinzufügen. Sie müssen die Güte haben, es der Frau Bertossa allein zu sagen, und so, daß der Baron es nicht bemerkt. Er würde sie nicht gehen lassen. Darum durfte ich keinen Bedienten zu ihr schicken.“
„Seien Sie ruhig, Holm. Der Baron wird nichts gewahren, und sollte er auch, so führe ich die Frau zu Ihnen, und zwar ohne ihn.“
Dem jungen Manne schien ein Stein vom Herzen zu fallen. Der Steuerrath hatte aber noch etwas auf dem Herzen, und er brachte es an, wie ein kluger Steuerbeamter, der verdient hätte, Polizei- oder Criminalbeamter zu sein.
„Noch vorher eine Frage, Herr Holm,“ sagte er gleichgültig genug, „ich habe den Herrn Bertossa nicht gesehen. Er wird doch an dem heutigen Tage nicht verreist sein?“
„Er ist nicht hier,“ sagte offen der junge Mann.
„Und auch der junge Bertossa, Ulrich, scheint nicht da zu sein.“
„Nein, nein!“ rief der Herr Holm schnell.
„Und auch von ihm wissen Sie?“
„Nein, nein,“ war die langsamere Antwort.
Der Steuerrath fragte nicht weiter. Er ehrte das Geheimniß, das nur dem jungen Manne und der unglücklichen Frau gehören mochte. Ich durfte nicht fragen, schon um mich nicht zu verrathen.
„Die Frau Bertossa soll in zehn Minuten hier bei Ihnen sein,“ versprach der Steuerrath.
Damit kehrten wir in den Garten zurück. Der Tanz, während dessen wir ihn verlassen hatten, war zu Ende. Es wurde ein kleiner Polterabendscherz aufgeführt. Es waren deren vorher schon mehrere gegeben, wie man uns erzählt hatte. Freunde und Freundinnen der Braut trugen allerliebst eine freundliche ländliche Scene vor, die auf irgend eine Begebenheit aus dem Leben der Braut Beziehung haben mochte.
Alles sah und hörte gespannt zu. Auch der Baron Föhrenbach. Vor ihm und der Braut, die an seiner Seite saß, wurde ja eigentlich das Stück aufgeführt. Die Mutter der Braut saß seitwärts von ihnen, so daß der Baron sie immer im Auge haben konnte. Dem Steuerrath war es dennoch gelungen, unbemerkt von ihm, hinter den Stuhl der Frau zu gelangen. Ich war ihm gefolgt. Er bückte sich zu ihr nieder und sprach leise zu ihr.
„Gnädige Frau, es wünscht Sie Jemand zu sprechen.“
„Wer?“ fragte sie erschrocken.
„Sie wissen es: Holm.“
„Hat er Ihnen gesagt, was er von mir will?“
„Nein.“
„Wo ist er?“
„Auf dem Hofe vor dem Hause. Befehlen Sie, daß ich Sie zu ihm führe?“
Sie sah sich scheu nach dem Baron um. Er blickte nicht nach ihr hin und hatte weder den Steuerrath noch mich gesehen.
„Ich bitte!“ sagte einwilligend die Frau zu dem Steuerrathe. Sie stand auf, trat zwei Schritte zurück, um hinter ihrer Umgebung aus dem Bereiche der Augen des Mannes zu sein, der hier befahl und der sie mit Argusaugen hütete. Er sah sie, wie sie aufstand, sah hinter ihrem Stuhle den Steuerrath, und zuckte zornig auf. Er wollte aufspringen, aber er mußte sitzen bleiben, wollte er nicht Aufsehen erregen.
Ich sollte gleich darauf nicht minder heftig erschrecken.
Die Frau war hinter ihren Stuhl zurückgetreten. Der Steuerrath bot ihr seinen Arm. Indem sie ihn nahm, warf sie noch einmal einen Blick auf die Gesellschaft zurück, wohl um zu sehen, ob ihre Entfernung bemerkt werde. Sie zuckte plötzlich auf. Ich folgte wieder ihrem Blicke. Da sah ich zuerst den Baron Föhrenbach erblassen, dann ihm gerade gegenüber einen kleinen, ältlichen, häßlichen, blassen Mann stehen, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, der im Augenblicke vorher angekommen sein mußte. Ueber seinen Anblick war der Baron erblaßt, die Frau zusammengezuckt, hatte ich mich plötzlich so heftig erschreckt.
„Mein Mann!“ sagte die Frau. Sie nahm hastig ihren Arm aus dem des Steuerraths zurück, verließ uns, ohne ein Wort weiter zu sagen, und eilte zu der Gegend, wo wir den fremden Mann gesehen hatten.
Der Fremde – er war der Hausherr, der Gatte, der Vater – stand noch ein paar Secunden ruhig, dann ging er seiner Frau entgegen, die er auf sich zukommen sah. Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden. Auch ihn hatte ich schon früher gesehen. und ich wußte, wo ich ihn gesehen hatte, und nun wußte ich auch auf einmal, wo ich den Baron Föhrenbach gesehen hatte, und ein jäher, heftiger Schreck ergriff und durchfuhr mich.
Die kleine Gestalt des Mannes stand vor meinem Gedächtnisse, das blasse, häßliche Gesicht, die fest zusammengebissenen Lippen. Aber wie alt war der Mann geworden, in den wenigen Jahren, seitdem ich ihn gesehen hatte – wenn ich ihn wirklich gesehen hatte! Wie war sein Haar gebleicht, das damals noch rabenschwarz gewesen war! Welche tiefe Runzeln durchfurchten das Gesicht und machten es noch häßlicher, machten es häßlich zur Entstellung! Und dennoch, und wenn mir auch der Name Bertossa völlig unbekannt blieb, und wenn sich auch kein Zug in seinem Gesichte veränderte, als er mich erblickte, als er mich an der Seite seiner Frau sah, und er sah mich plötzlich und unerwartet, und er warf einen scharfen Blick auf mich – und dennoch und trotz alledem mußte er derselbe sein, den ich meinte, den ich schon früher gesehen hatte. Das Bild stand zu lebhaft in meiner Erinnerung vor mir, und es paßte, trotz Runzeln, trotz schnellen Alterns. Und wie wäre sonst er und der Baron Föhrenbach wieder hier zusammengetroffen? Und daß sie beide andere Namen führten, und daß ihre früheren Verhältnisse und Beziehungen zu einander fast geradezu umgekehrt waren, das paßte erst recht. (Fortsetzung folgt.)Einer der herrlichsten Genüsse, welcher den Besucher des Germanischen Museums im ehemaligen Karthäuserkloster zu Nürnberg überrascht, ist das unvermuthete Erblicken einer der vorzüglichsten Schöpfungen neuerer deutscher Kunst, das pracht- und effectvolle Wandgemälde, welches Wilhelm v. Kaulbach in der zu einer reichen Kunsthalle umgewandelten Klosterkirche als das werthvollste Geschenk in hoher Vaterlandsliebe und Künstlerbegeisterung stiftete.
Die treffliche Wahl des Stoffes, die pikante Composition und Ausführung der meisterhaft vollendeten Darstellung, bringen auf den unvorbereitet eintretenden Beschauer einen fesselnden Eindruck hervor und nehmen ihn mit allen Zaubern und Schauern ehrwürdigen deutschen Alterthums gefangen, in deren Banne er hernach die herrlich aufgestellten werthvollen Sammlungen der Relicten deutscher Vorzeit in Hallen, Sälen und Gängen auf das Vortheilhafteste betrachten kann.
Das stereochromatisch auf die südliche Wand des Langhauses gemalte große Bild stellt den Besuch Kaiser Otto’s III. in der Kaisergruft Karl’s des Großen zu Aachen, im Jahre 1000 nach Christi Geburt, in großartiger Wirkung dar. Im vollen Krönungsornate, die Kaiserkrone auf dem Haupte, das Reichsschwert in der Rechten, das Evangelienbuch, als Schirmherr der Kirche, auf den Knieen, in all der sagenhaften Herrlichkeit thront die alte blasse Kaisergestalt beinahe 200 Jahre in geschlossener Gruft den ewigen Schlaf schlafend, nachdem mit ihm heimgegangen des Reiches Herrlichkeit und die weltgebietende Macht seines Namens, seines Geschlechtes
[437][438] fast mit ihm erloschen. Diese feierliche alte Kaiserleiche, aufrecht zur Linken des Gemäldes vom Beschauer sitzend, mit rothem Fackelschein von unten geisterhaft beleuchtet, ist der Brennpunkt, von welchem das geistige Leben des Bildes ausströmt.
Rechts im Bilde erhebt sich vor allen aus reichbewegter Gruppe seines Gefolges die herrliche Gestalt Kaiser Otto’s III. von einer Steintreppe, aus welcher ein matter Tagesschimmer die meisterhaft gelungene Gruppe der Eindringenden umsäumt und mit dem Fackelschein, der die Gruft und Kaiserleiche erhellt, einen effectvoll gelungenen Lichtercontrast bildet. Der lustige Spielmann und ein Krieger des Kaisers sind bereits unten, in der Mitte des Bildes auf dem Vordergrunde, am Boden vor der geisterhaften Erscheinung des thronenden Kaisers, welchen der vom Schilde verdeckte Fackelbrand in der Hand des kauernden Kämpen grell von unten beleuchtet, in plötzlich geänderter Stimmung, mit Grauen und Scheu in die Kniee gesunken, während ein blonder Edelknecht und ein voraneilender Meßknabe, erschreckt über die Majestät der Erscheinung, zurückweichen. Der Edelknecht, eine herrliche Figur von echt deutschem Typus, schmiegt sich verwirrt an die rechte Seite des Kaisers Otto, welcher, eben im Begriff herunterzuschreiten, auf der Mitte der Steintreppe in höchster Spannung und Bewegung innehält und die plötzlich vom Fackellichte erhellte phantastische Gestalt anstarrt.
Man sieht die Erschütterung, die den hochstrebenden Kaiserjüngling vor der gewaltigen Hülle des ruhmreichsten und größten seiner Vorfahren erfaßt. Mit weinlaub- und rosenumranker Krone, das reiche Gewand vom kostbaren Gürtel aufgeschürzt, ist er unmittelbar vom Jubel des heitersten Zechgelages und den Freuden des Mahles mit dem vom Wein erhitzten Gefolge hinabgestiegen in das Gewölbe des Todes, hat das fast zweihundert Jahre geschlossene Heiligthum des geheimnißvollen Kaisergrabes gesprengt; vergebens warnet und mahnet zu heiliger Scheu der nachgeeilte Bischof mit seinem geistlichen Begleiter; da überrascht ihn mitten auf den Stufen mit ungeahnter Macht die Majestät des feierlich ernsten Kaiserbildes und hemmt seinen Schritt, bangend vor Entweihung der heiligen Stätte; während zu seiner Linken in Weinlust ein Fremder, ein Italiener, mit spöttisch-frivoler Miene keck auf die Leiche deutet. Die zwei neugierig hinter dem Kaiser vorblickenden Ritter schließen im Hintergrunde die wirksame Gruppe. Das ganze herrliche Wandgemälde ist in Gestalt eines Teppichs gehalten und von einem äußerst geschmackvollen Rahmen umgeben; eine effectvoll wirkende, doch maßvoll zur Stimmung gehaltene Färbung ist über das Ganze gehaucht, vereint harmonisch die contrastirenden Lichteffecte und verklärt die Schauer des Grabes, bar aller crassen Effecthascherei, zu einem der schönsten, sinnigsten Meisterwerke deutscher Kunst.
Freiherr v. Aufseß entwickelte bei der Enthüllungsfeier dieser werthvollsten Gabe des patriotischen, deutschen Künstlers die Bedeutung des Bildes in Bezug auf das Germanische Museum ebenso tief und wahr mit den Worten:
„Kein treffenderes und schöneres Sinnbild seines Strebens könnte dem Germanischen Museum gegeben werden als dieses; denn auch wir sind berufen, hinabzusteigen in die lang verschlossenen Tiefen der Vorzeit, um aufzusuchen des alten Reiches Herrlichkeit, sie, die längst abgestorbene, wieder hell zu beleuchten mit dem Fackelschein deutscher Wissenschaft, daß sich ein Jeder daran erfreue und stärke, ja, wie Kaiser Otto wollte, zu neuen Thaten der Ehre und des Ruhmes der deutschen Nation sich ermanne.“
Das ostpreußische Oberland, eines der lieblichsten Fleckchen Erde in unserm Vaterlande, ist durch seine abgeschiedene Lage bis auf die neueste Zeit dem allgemeinen Interesse so fern geblieben, daß man im übrigen Deutschland es kaum dem Namen nach kennt. Jetzt aber, wo eine der großen Pulsadern unsers mercantilen und socialen Lebens, die Ostbahn, dieses gleichsam unbekannte Land in der Gegend von Preußisch-Holland und Mühlhausen berührt, dürften diese Blätter vielleicht mit dahin wirken, manchen Touristen, manchen Forscher gen Osten zu ziehen. Lange, sonnige Hügelketten, mit tiefen, umschatteten Schluchten, in denen bald der berggeborne Mühlbach dahinrauscht, bald über glatte Kiesel ein Schmerlenbächlein rieselt, wechseln dort mit grasreichen Wiesen und Triften, mit dem tiefen Dunkel alter Eichen- und Buchenwälder, mit der Stille, die über dem weiten Spiegel der Berg- und Landseen schwebt.
Der Reiz der Landschaft, wie die Ergiebigkeit des Bodens müssen schon früh deutsche Einwanderer angelockt haben. Zeichen seiner Abstammung aus dem Süden Deutschlands sind in Sprache und Sitte noch heute dem biederen Völkchen, welches jetzt das ostpreußische „Hockerland“ bewohnt, unverkennbar aufgeprägt. Im Nordost an Litthauen, gen Süd und Südost an Masuren grenzend, in West und Nord vom plattdeutschen Idiom umgeben, und nur durch das sehr precäre Band der Schrift im Zusammenhange mit seinen hochdeutschen Brüdern, hat es doch seinen Urtypus treu bewahrt. Auch die Liebe zur Freiheit, den männlichen, unabhängigen Sinn mag es aus seinen heimischen Bergen mitgebracht haben.
Allein über das engere Vaterland dieser Einwanderer schweigt die Geschichte. Sollten nun einzelne der Accorde, die ich in diesen Blättern anzuschlagen gedenke, in irgend einem von mir unerforschten Theile Deutschlands verwandte Klänge wecken (und wären es auch nur die Klänge einer „Sage aus der Väterzeit“), so gebt uns ein Zeichen, ihr stammverwandten Brüder! Es wird euch der treuherzige Altpreuße mit Freuden begrüßen und der historische Forscher mit großer Genugthuung ad acta registriren.
Wenn ich unter den Bildern zu wählen habe, die dieses isolirte Völkchen besonders charakterisiren, so muß ich obenan das „Gebet-Verhör“ stellen. Es ist das eine Art religiösen Volksfestes, in dem die sittlich-ernste Grundlage noch unverrückt als Träger des Ganzen erscheint, woraus gleichzeitig eine gewisse patriarchalische Einfachheit uns anspricht, die auf altehrwürdige Sitte zurückschließen läßt. Wie der Name andeutet, ist es eine Besprechung über Religion. Doch die Art und Weise ist eine so abweichende von Allem, was in anderen mir bekannten Gegenden Sitte ist, daß ich für eine specielle Schilderung derselben mir ein allgemeines Interesse verspreche.
Der gesegnete Herbst ist die Zeit, in der die Gebetverhöre floriren. In großen Gemeinden pflegen sie von Michaeli bis gegen Weihnachten zu dauern, da in jedem Dorfe alljährlich ein Gebetverhör abgehalten wird und der Herr Pfarrer mit weiser Oekonomie sie so vertheilt, daß in ein und dieselbe Woche höchstens zwei Festtage der Art fallen.
Die kleine Familie des Geistlichen, wie des Lehrers (die einzigen Kinder, welche zu der Feier zugelassen werden) pflegen dann schon am frühen Morgen des festgesetzten Tages sehnsüchtig des Wagens oder Schlittens zu harren, der sie abholen soll. Zurück bleibt von den Kleinen gewiß Niemand freiwillig, obwohl es eigentlich ein Fest der Alten ist.
Zwar hat der Bauer sicher seine besten Pferde (stets vier lang) vorgespannt, zwar ist der Wagen vollgepfropft, ohne Rücksicht auf Bequemlichkeit, aber dennoch muß in der Regel zwei bis drei Mal gefahren werden, ehe die beiden Familien an Ort und Stelle geschafft sind. In mehreren Wagen zu fahren ist nicht Brauch. Auch hat der Bauer nie mehr als einen kleinen, offenen Spazierwagen von so einfacher Construction, daß der Fremde ihn leicht für die Sedezausgabe eines Erntewagen halten könnte. Der Herr Pfarrer aber muß seine Chaise ruhig im Schuppen stehen lassen, will er anders den Gastgeber nicht kränken. Bei weiten Entfernungen hilft man sich damit, daß die Hauptpersonen zuerst befördert werden. Die „keine Familie“ kommt immer noch zurecht. In unglaublich kurzer Zeit legen wir den Weg zu dem Ziel unserer Reise zurück. Der Wagen hält vor der Thür eines stattlichen Bauernhauses. Die Bäuerin harrt der geehrten Gäste schon in der Vorlaube, rückt schnell den bereitgehaltenen Schemel (denn Wagentritte sind noch nicht Sitte) an die Seite des Wagens und hilft geschäftig den verhüllten Gestalten über die Leitern zur Erde. Frisch gestreuter Sand und duftender Kalmus oder gehackte Tannenzweige (das nie fehlende Symbol des Festtages) verkünden schon bis auf die Straße hinaus, welche Ehre dem Hause heute zu Theil geworden.
In der großen Wohnstube mit dem ungeheuren Kachelofen dampft auf langer Tafel bereits die riesige Kaffeekanne. Liebliche
[439] Wärme, aromatischer Duft weht die Eintretenden an. Kaum haben die Frauen in geschäftiger Eile Groß und Klein aus ihren Verpuppungen geschält und Tücher und Mäntel hinter dem Ofen, auf dem Bett der Großmutter geborgen, so muß auch schon hinter dem Kaffeetisch Platz genommen werden. Die Frau Prediger präsidirt als oberste Schenkin. Zucker in irdenen Tellern und Striezel aus dito Schüsseln sind in solcher Menge vorhanden, daß eine ganze Gemeinde damit verpflegt werden könnte, obwohl an diesem Imbiß nur einige wenige Gäste, Verwandte oder Gevattersleute aus benachbarten Dörfern Theil nehmen. Der frische Morgen hat unsern Appetit geweckt, wir greifen zu und bedienen uns selbst. Doch bald füllt sich die Stube mit den Alten der Gemeinde, die, den Herrn Pfarrer (hier meist schlechtweg „der Herr“ genannt) treuherzig begrüßend, näher treten und dann ehrfurchtsvoll sich wieder nach dem Hintergrunde zurückziehen.
Jetzt ist auch das Frühstück beendet, das Geschirr verschwindet sammt dem Tisch durch die weitgeöffnete Thüre. Die kleineren Kinder, auf deren Wohlverhalten während des „Gebets“ man noch nicht mit Zuversicht rechnen kann, werden nun zu einem Nachbar gebracht, wo sie Spielcameraden und in Hof, Scheuer und Schuppen naturwüchsiges Spielzeug in Fülle finden. Unterdessen schauen wir uns noch einmal in der großen Stube des „Festbauers“ um. Alles, was von Meubeln vorhanden gewesen, hat Platz machen müsen. Nur weiß gescheuerte Bänke lehnen sich rings an die Wand, und ein kolossaler Kleiderschrank mit Schnitzwerk steht bescheiden neben der Thür, als wolle er entschuldigend auf die winzige Oeffnung deuten, durch die es ihm zu verschwinden unmöglich geworden. Um das feierliche Ansehen der improvisirten Hauscapelle zu erhöhen, hat man zwischen Balken und Decke Kalmus-Schilf oder schwankes Tannenreisig gesteckt, dazwischen aber glitzern und schimmern die prosaischen Penaten dieses materiellen Völkchens, die irdenen, glasirten und mit phantastischer Naturmalerei geschmückten Schüsseln und Teller in ununterbrochenen Reihen an beiden Seiten der massiven Balken, wie in der Höhe der Wände im bunten Kranze sich hinziehend. Sie sind die Ehre des Hauses, der Stolz der Bäuerin, und ihre Entfernung kommt derselben so wenig in den Sinn, wie die Ablegung der Küchen- und Galaschürze aus buntgestreiften Linnen, welche, in weiten Falten den kernigen Leib umschließend, nur einen schmalen Streifen des rothen Friesrockes blicken läßt. Diese irdenen Geschirre bilden gleichzeitig die stabile Decoration des Zimmers. Rechnen wir dazu die gewaltige Pendeluhr, über der ein Paar Steinkrüge mit zinnernem Deckel hängen, und einen hölzernen Schemel mit hoher, massiver Lehne, dessen der Herr Pfarrer an Stelle des Altars sich bedient, so sind wir fertig.
Die Festgenossen, Männer und Frauen jedes Alters (auch Unverheirathete werden zugelassen, sobald sie von den Sonntags-Katechisationen in der Kirche suspendirt worden), sind versammelt. Der Organist giebt dem Pfarrer einen Wink, dieser tritt hinter die Lehne des großen Stuhles. Die Männer in ihren langen Feiertagsröcken richten sich; die Weiber öffnen ihr Gesangbuch, in dem ein „Riechsel“ ihnen als Zeichen dient, und der Lehrer intonirt das Morgenlied, von dem nur ein oder zwei Verse gesungen werden. Es folgt ein kurzes Gebet des Geistlichen und nun die Besprechung der im vorigen Jahre aufgegebenen Themen. Zunächst werden ein Paar Capitel aus der Bibel gelesen und der Inhalt in kurzen, bündigen Worten stückweise wiedergegeben. Jeder antwortet, so gut er kann, und selbst das älteste Mütterchen schließt sich nicht aus. Offen bekennt auch jeder, was er nicht verstanden hat, und bringt seine Bedenken vor. Es kommt nun das Hauptstück zur Sprache, das gerade an der Reihe ist. Der Geistliche fragt es wörtlich ab und sucht seine Bedeutung in der Christenlehre geltend zu machen. Er pflegt sich dabei treu an die Worte der Schrift zu halten, ohne in dogmatische Tiefen oder exegetische Spitzfindigkeiten sich zu versteigen. Die Religion ist diesem Völkchen mehr Sache des Herzens, als des Verstandes, so sehr es auch sonst geneigt ist, alles irdische Machwerk seiner „gesunden Kritik“ zu unterwerfen. – Nun wird das gelernte Lied „gebetet“ und ein „Kernspruch“ aufgesagt.
Endlich empfängt die Versammlung ihre Aufgabe für’s nächste Jahr, und Gebet und Gesang schließen den religiösen Theil des Festes. Es ist jetzt etwa 11 Uhr geworden. Der Herr Pastor bindet seine Bäffchen los, was hier so viel heißt, als wenn der Hauptmann vor der Front „rührt Euch“ commandirt. Das Zimmer leert sich allmählich; es werden ein paar Fenster geöffnet, und der geistliche Herr tritt wohl selbst in’s Freie, um frische Luft zu schöpfen. Bald erscheint er jedoch wieder in der Thür, das kleine Häuflein musternd, das in der Stube zurückgeblieben. Da ist auch schon der Hausvater, mit der Mütze in der Hand, bereit den Herrn nach dem Stübchen zu führen. Dieses ist ein kleines Gemach, mit getäfelten Wänden, in das man aus der großen Stube über ein paar Stufen gelangt. Es ist die eigentliche Herzkammer des Familienlebens, ausgestaltet mit Allem, was von Herrlichkeit und majestätischer Pracht der Bauer kennt oder aufzutreiben vermag. Die Fensterladen sind mit Oelfarbe gestrichen, an den Wänden ragen die thurmartigen Betten fast bis zur Decke, schwere, hochrückige Stühle mit gedrechselten Füßen und ledernen Ueberzügen umstehen den ererbten eichenen Familientisch, von dem es fraglich ist, ob er zu den Mobilien oder Immobilien zu rechnen sei. Ein hochbeiniger Nußbaumschrank mit eingelegten Tulpen und Narcissen verschließt die Pretiosen des Hauses in seinen mystischen Tiefen; eine eisenbeschlagene, polirte Lade (Kiste) von Eichenholz birgt das aufgesammelte Linnen.
Hier nimmt der Herr Pfarrer im großen Lehnstuhl Platz. Vor ihm auf dem Tische liegt Feder, Papier, Dinte. Der Wirth zieht sich stumm mit einend Kratzfuß zurück. Die in der großen Stube zurückgebliebenen Parteien sind unterdeß über den Vortritt untereinander einig geworden. Es beginnt das „geheime Verhör“, – Privataudienz würde es, in die moderne Salonsprache übersetzt, füglich heißen können. Jeder bringt vor, was ihn drückt. Ein altes Mütterchen klagt über den leichtfertigen Sohn, der im fernen Ungarlande sich in nichtsnutzige Händel eingelassen; ein betrogenes Mädchen bittet mit verschämtem Stocken um Hülfe gegen die Ränke einer unwürdigen Nebenbuhlerin, die das Herz ihres braven Christian ihr zu rauben droht; ein junger Bauer beichtet, daß er sich mit seiner Eheliebsten nicht einrichten könne; ein anderer Wirth wünscht Belehrung wegen der Wahl einer Versicherungsgesellschaft, der er sich anvertrauen will, und ein dritter erscheint mit seinem Nachbar wegen eines streitigen Grenzrains u. s. f. Ueberall sucht der Geistliche versöhnend, tröstend, belehrend und helfend einzuwirken. Wo es erforderlich, macht er sich auch wohl seine Notizen für Briefe, Gesuche und Eingaben, zu denen er sich im Interesse seiner Pfarrkinder veranlaßt sieht. Die Mehrzahl jedenfalls verläßt getröstet und hoffnungsvoll das keine Cabinet, das fortan durch diese Werke des Friedens für den neuen Besitzer eine besondere Weihe erhalten hat.[1]
Die Clienten sind befriedigt, und an ihrer Stelle erscheint der Festwirth an der Schwelle des Stübchens mit der Meldung: „Herr Pfarrer, es ist angericht’.“ – Während der Herr drinnen um das Seelenheil seiner Kinder sich bemühte, waren in der großen Stube die Hausleute auf das Eifrigste mit der Zurichtung der Tafel beschäftigt. Alle bei dem Gebet Anwesenden sind ex eo ipso geladen; nur wer sich selbst sagen muß, daß er nicht bestanden, bleibt aus eigenem Antriebe zurück, und Niemand ist so frech sich dem Spott und Hohn der Tischgäste preiszugeben; ja es kommt wohl vor, daß der Herr Pfarrer nach diesem oder jenem verschämten Gast, der sich selbst unterschätzt, schickt. Endlich ist die Gesellschaft vollzählig. An langen, mit schimmernden Linnen bedeckten Tafeln stehen sie, nach Alter, Rang und Würden geordnet, am oberen Ende des Honoratiorentisches der Herr Pfarrer, zur Rechten die Frau des Lehrers, zur Linken sein Gemahl. Der Geistliche hält ein kurzes Tischgebet, und alsbald beginnt die freudige Geschäftigkeit, die ein gesunder Appetit zu entwickeln vermag. Die Speisen sind ebenso kräftig, wohlschmeckend und reichlich, als einfach und stabil. Hühnersuppe mit Reis – für 4 Personen stets eine Schüssel mit 2 Hühnern – Marenen [2] in Salz und Zwiebeln, und Karpfen in Bier gekocht. Gänse- und Schweinebraten mit saurem Kumst (Dämpfkraut) und Pflaumenkreide (Pflaumenmuß) folgen in ununterbrochener Reihe aufeinander; doch läßt man sich Zeit mit Gemächlichkeit die Gottesgabe zu genießen. Die alltägliche Zukost, die dem Bauer den größten Theil des Jahres hindurch Gemüse, Salat und selbst Fleisch ersetzt, – Kartoffel-Keilchen [440] (eine Art schmaler, länglicher Klöße) und graue Erbsen, dürfen sich an solchen Festen nicht blicken lassen; sie würden wie eine Entwürdigung des Tages angesehen werden.
Für den fremden Zuschauer dürfte der natürliche Takt, mit welchem die aus Scheuer und Viehstall requirirte Gesellschaft bei Tische in bescheidener und doch ungezwungener Heiterkeit sich bewegt, ein freudiges Verwundern erregen. Es ist das eine Folge des tiefen Einflusses, den der Geistliche in der Gemeinde ausübt; das „Auge des Herrn“, das auch über ihren Freuden wacht. Nach einem improvisirten Dankgebet erheben sich die Gäste mit einem allgemeinen gesprochenen „Gesegnete Mahlzeit,“ und in kurzer Zeit ist das Speisezimmer geleert. Der Pfarrer und der Organist sind von diesem oder jenem Wirthe eingeladen, hier oder dort einen Preßhaften zu besuchen oder den Viehstand des Hofes in Augenschein zu nehmen, während die Frauen ein neues Gewebe mustern (denn auch die Frau Prediger ist oft – eine moderne Penelope – Meisterin im Damastweben, wie denn überhaupt auf dem Lande in jedem Hause ein Wirkgestell [Webestuhl] steht) oder in Vorrathskammer und Keller sich erlustiren. Die Dunkelstunde versammelt indessen den älteren Theil der Gesellschaft noch einmal im Festlocal um den Kaffeetisch, von welchem der Festtrank [3] in unerschöpflicher Quelle fließt. Der Herr Prediger entzündet mit gemüthlichem Wohlbehagen den Knaster in seiner langen Pfeife, und nach kurzen Präliminarien wird von den Dörflern eine Deputation der Aeltesten an den vorsitzenden Herrn entsandt, mit der Bitte um eine „schöne Geschichte“. Und der Herr nickt lächelnd, bläst gewaltige Dampfwolken von sich, rückt sein Käppchen und beginnt eine phantastisch ausgeputzte Geschichte vom alten Fritz, wie er im Kloster zu Kamenz im Beichtstuhl gesessen, oder dem Ziethen aus dem Busch, der bei Jägerndorf mitten durchs österreichische Lager marschirte, oder auch vom König Pyrrhus, Alexander oder Karl dem Großen und seinem mannhaften Paladin. – Während der Pfarrherr auf dem Gebiete längst verflossener Tage sich tummelt und mit wachsender Lebendigkeit seinem ländlichen Pegasus die Zügel schießen läßt, muß schon die Frau Prediger den niedergelegten Scepter in die Hand nehmen, sonst käme man heute gar nicht mehr nach Hause. Beim Schluß der zweiten oder dritten Geschichte tritt der Wirth in’s Zimmer, mit der Meldung: „Herr Pfarr! es ist angespannt, – die Frau hat befohlen.“ Dagegen ist kein Widerspruch zu erheben. Unter bedauerndem Kopfschütteln der Bauern werden die werthen Gäste verpackt und auf den Wagen (respective Schlitten) „gewuchtet“. Ist der Abend dunkel, so reitet ein Knecht mit der Laterne voran. Alles drängt sich abschiednehmend oder um noch ein gutes Wort anzubringen um das Gefährt; mit gewichtiger Miene aber der bevorzugte Bauer, der dem Pfarrherrn noch im Augenblicke, wo die Pferde anziehen, zuflüstert: „Das nächste Jahr, Herr Prediger, so Gott will, bei mir.“
An einem schönen Frühlingstage des Jahres 1719 fuhr eine vom königlichen Schlosse kommende offene Chaise die Lindenpromenade zu Berlin entlang. Bei der Friedrichsstraße angelangt, bog der Wagen in dieselbe ein, eilte bis zum Weidendamme und hielt hier plötzlich still. Außer dem Kutscher trug das Fuhrwerk zwei Männer in Militairuniform. Hintenauf standen zwei Pagen. Nur eine der beiden im Innern des Wagens sitzenden Personen stieg aus, unterredete sich eine kurze Zeit lang mit den Andern und schritt dann eilig den Weidendamm entlang, bis in die Nähe der Oranienburger Barrière. Einige Vorübergehende wichen dem finstern Herrn mit scheuer Miene, unter ehrfurchtsvollen Begrüßungen aus. Der Spaziergänger blieb endlich vor einem Gartenthore stehen, warf einen kurzen, prüfenden Blick auf die Umgebung des Hauses, zu welchem der Garten gehörte, rückte unwillkürlich den an seiner Hüfte befindlichen langen Infanteriedegen zurecht und trat dann festen Schrittes durch die Thüre, welche in das Innere einer ziemlich dicht bewachsenen Baumpflanzung führte.
Dieser Mann war König Friedrich Wilhelm I. von Preußen.
Die zurückgebliebenen Personen seines Gefolges, welche die ordre hatten bis zu seiner Rückkehr an der bezeichneten Stelle zu warten, vertrieben sich die Zeit auf verschiedene Weise. Die beiden Pagen belustigten sich, von dem damals noch sehr flachen Spreeufer aus sogenannte Butterbrode mit Steinen zu werfen. Der Kutscher dehnte sich auf dem Bocke halb schlafend; nur die Militairperson, welche neben dem Könige im Wagen gesessen hatte, stand in tiefem Nachdenken versunken, über das Brückengeländer gebeugt und stierte in das Wasser. Es war der Herr von Forcade, Generalmajor und Commandant von Berlin. Herr von Forcade war besorgt über das lange Ausbleiben seines Königs. Plötzlich, geheimnißvoll, hatte er den Befehl erhalten, den Herrscher zu begleiten. Keine Andeutung, zu welchem Zwecke die Ausfahrt nach einem Stadttheile unternommen wurde, der selten vom Könige besucht ward, war ihm zugegangen. Während der ganzen Fahrt hatte Friedrich Wilhelm von den gleichgültigsten Dingen wie absichtlich gesprochen und sich dann eilig entfernt, nur den Befehl hinterlassend: ihn hier, an dem Damme, zu erwarten. Forcade sah mit Besorgniß die Sonne immer tiefer hinter die letzten Häuser der Spandauer Vorstadt sinken; er machte eine kleine Promenade den Weidendamm hinauf und hinunter. Der König war nirgends zu erblicken. Welch Geheimniß verbarg der Monarch so sorgfältig? Schon wollte der Commandant, bei der zunehmenden Dunkelheit immer unruhiger werdend, Nachforschungen über den Verbleib des Königs anstellen, als er plötzlich den Herrscher hinter einem kleinen, durch Zaun- und Pfahlwerk gebildeten Vorsprunge hervorkommen und die Straße gewinnen sah. Bald war Friedrich Wilhelm bei den Seinigen angekommen. Ohne ein Wort zu sprechen, stieg er in den Wagen, der sogleich davon rollte. Forcade wagte es nur von der Seite den Monarchen anzublicken. Das frische, wirklich schöne Gesicht Friedrich Wilhelm’s war bleich und verstört, seine Augen traten starr aus den Höhlen, sein Anzug war augenscheinlich in Unordnung. Bald neigte sich der König vornüber, dann warf er sich wieder in die Kissen des Wagens. Von Zeit zu Zeit ließ er ein kurzes Stöhnen hören und trommelte mit den Fingern auf seinen Knieen herum. Forcade faßte sich endlich ein Herz, um zu fragen: „Ob Se. Majestät unwohl sei?“ Ein tiefer, wehmüthiger Seufzer war die ganze Antwort. Endlich hielt der Wagen vor dem Schlosse. Forcade und die Pagen wollten den König begleiten; er verhinderte es. Statt dessen trat er dicht an den Wagen und sprach in festem Tone, so laut, daß es der Kutscher hören mußte: „Wer von Euch ein Wort über den heutigen Abend und darüber, daß ich ausgestiegen bin – spricht – dem geht es an den Kragen. Merkt’s Euch. Gute Nacht.“ – Langsam schritt er zwischen den salutirenden Wachtposten hindurch in das Schloß. – Der König schloß sich sofort in sein Zimmer. Den ganzen folgenden Tag verweilte er allein darin. Er sprach Niemanden, selbst nicht die Königin. Gegen Abend fuhr er wieder die Linden entlang zu jenem Garten. – Hören wir nun, welche beunruhigenden Geheimnisse, und durch wen, dem Könige offenbart worden waren.
Wenige Wochen vor dem ersten Besuche des Gartens an der Oranienburger Barrière durch den Monarchen hatte der erste Hofprediger desselben, der Bischof der reformirten Kirchen in Ungarn und Polen, Jablonsky, von Dresden aus einen Brief erhalten, welchem ein Schreiben an König Friedrich Wilhelm beigelegt war. In dem Briefe an Jablonsky beschwor der sich „Clement“ unterzeichnende Schreiber den Bischof, inliegenden Brief sofort dem Könige in die Hände zu liefern; wenn er Anstand nehme, solches zu thun, so sei er für alles Unheil verantwortlich. Jablonsky übergab dem Minister von Marschall beide Schriftstücke, welcher sie sofort dem Könige aushändigte. Friedrich Wilhelm las das an ihn gerichtete Schreiben. Er ward sehr ernst. Indessen enthielt das Schreiben nur die Versicherung, „daß der Unterzeichnete dem Könige von Preußen Sachen von äußerster Wichtigkeit mitzutheilen habe, die er aber dem Monarchen durchaus selber eröffnen müsse. Er bitte demnach um die schriftliche Zusicherung, daß Niemand Etwas
[441] von seinem Aufenthalte in Berlin erfahre, daß er nur allein mit dem Könige zu verkehren brauche, daß es ihm endlich freistehen solle, jeder Zeit wieder abreisen zu dürfen, so oft seine Geschäfte es erforderten.“ Des Königs Gemüth, ohnehin schon zum Mißtrauen geneigt, ward mächtig erregt durch den geheimnißvollen Schleier, welcher sich über das Ganze breitete. Er gab dem Bischof einen Paß für Clement und befahl ihm zugleich zu schreiben daß Clement in Berlin willkommen sein werde. Jablonsky solle ihm entgegenreisen und ihn die erste Nacht in seinem Hause behalten. Clement kam also in Berlin an. Am folgenden Tage fuhr Friedrich Wilhelm zu der bereits mitgetheilten Unterredung in dem Garten am Weidendamme. – Der Inhalt derselben wirkte bedeutend genug auf einen Herrscher, der zwar rauh und eisern wie seine Zeit war, der aber an Redlichkeit, Geradheit und bestem Willen, an unerschütterlicher Charakterfestigkeit seines Gleichen sucht.[4]
Als der König, wie oben erzählt, in den Garten trat, bemerkte er nicht weit vom Eingange den Bischof Jablonsky. Dieser empfing den Herrscher und führte ihn durch einige Nebenwege in eine Art van Bosket. Hier sah der König sich einem im reiferen Mannesalter stehenden, ganz schwarz gekleideten Individuum gegenüber, welches ihn zwar artig, aber keinesweges unterwürfig grüßte. Das nahm den König schon sogleich ein. Er haßte jede Kriecherei.
Auf seinen Wink mußte Jablonsky sich entfernen. Der schwarzgekleidete Mann trat nun einen Schritt vor und präsentirte sich als den aus Ungarn gebürtigen Jakob Clement, Agent des sächsischen Ministers Flemming.
„Zur Sache!“ begann der König, „was habt Ihr mir zu berichten?“
Das äußerst intelligente Gesicht Clements nahm einen ernsten Ausdruck an. Er sah sich noch einige Male vorsichtig um, dann trat er auf Friedrich Wilhelm zu, der die Arme über der Brust gekreuzt, mit zusammengekniffenen Lippen, das Haupt vorgestreckt, dastand, begierig etwas Ungeheuerliches zu erfahren.
„Sire,“ begann Clement. „Ohne alle Einleitung denn, kurz und bündig: Sie schweben in der äußersten Gefahr.“
Des Königs Hand umkammerte den Degengriff, seine Augen blitzten, er richtete sich hoch auf und rief kurz: „Oho!“
„Nicht hier, Sire,“ beschwichtigte Clement, „nicht mit dem Degen in der Hand, nicht in der Schlacht wird gegen Sie agitirt. Nein, leider ist der Kampf nicht offen, den würden Sie nicht scheuen. Es besteht ein Complot gegen Ew. Majestät. Ein Complot, geschmiedet von den Höfen zu Dresden und Wien.“
Der König stöhnte vor Zorn und Ueberraschung.
„Man will,“ fuhr Clement fort, „Ew. Majestät Jagdliebhaberei, oder eine Reise benutzen, um sich Ihrer hohen Person zu bemächtigen. Sie sollen dann gefangen gehalten, der Kronprinz aber in der katholischen Religion, unter Vormundschaft des Kaisers, erzogen und auf Ihren Thron gesetzt werden. Bevor ich Ew. Majestät die verschlungenen Fäden des teuflischen Complots bloßlege, muß ich bemerken, daß ich selbst beauftragt bin, nach dem Haag zu gehen, um in dieser traurigen Angelegenheit Unterhandlungen einzuleiten.“
Friedrich Wilhelm’s Antlitz war purpurrot geworden; er lief in dem Bosket hin und her und hieb einige Male mit seinen Sporen in die Erde.
„Weiter!“ rief er. „Ich will Alles wissen.“
„Leider, Sire,“ meldete Clement, „sind die vornehmsten Generäle, die ersten Minister bereits gewonnen. Es kommt nur noch darauf an, die Seemächte für den abscheulichen Plan zu interessiren. Dies der Zweck meiner Reise in den Haag.“
Ein leichtes Mißtrauen stieg bei dem Könige auf.
„Und was veranlaßt Sie, mir das Complot, dessen Werkzeug Sie doch auch sind, zu enthüllen?“
„Weil ich,“ erwiderte Clement schnell, „die traurigen Folgen voraussehe, welche ein solches Verbrechen nach sich ziehen würde. Dann aber,“ hier heftete er seine Blicke fest auf den König, „weil ich den heftigsten Widerwillen gegen die katholische Religion empfinde und durchaus Protestant werden will.“
Friedrich Wilhelm’s Antlitz ward freundlicher. Clement hatte eine schwache Stelle glücklich getroffen. Er begann auch sogleich unaufgefordert weiter zu sprechen. „Die Hauptsache, Sire, ist aber die strengste Bewahrung des Geheimnisses. Ich bitte Ew. Majestät sich auf mich allein zu verlassen. Sie haben sonst nur Feinde um sich. Ich aber werde nun nach Holland gehen, Ihnen von dort Nachricht geben und die ehrgeizigen Pläne des Kaisers hintertreiben. Ich beweise vorher aber Alles durch die eigenhändigen in meinem Besitze befindlichen Briefe des Ministers von Flemming, Ihrer sämmtlichen Herren Minister und des Prinzen Eugen.“
„Der Prinz Eugen?“ schrie der König, „der auch? Pfui Teufel! Pfui Teufel! Von dem braven Kerl hätt’ ich das nicht gedacht. Ein Soldat und – Pfui Teufel“
Während der letzten Rede holte Clement verschiedene Briefe aus einem Portefeuille hervor und zeigte sie dem Könige. Da indessen die Dunkelheit einzutreten begann, so verzichtete der Monarch darauf sie anzusehen und verschob dies auf den folgenden Abend. Clement entwickelte nun noch sorgfältiger das ganze Gespinnst des Verrathes, und endlich schied der König von ihm mit Dankesworten, versprach Geheimhaltung und bestellte den Ungar zum nächsten Tage um dieselbe Stunde in den Garten.
Clement’s ganzes Wesen hatte auf den König den Eindruck der Treuherzigkeit und der Wahrheit gemacht. Auch konnte Friedrich Wilhelm sich nicht erklären, welche Gründe den fremden Mann, der weder ein Geschenk beansprucht, noch irgend eine Gnade verlangt hatte, bewegen sollten, sich zum Entdecker des furchtbaren Planes mit jedenfalls persönlicher Gefahr herzugeben, wenn dies nicht wirklich aus Liebe zum Könige geschehe. – Außerdem aber waren genug Ursachen vorhanden, welche Friedrich Wilhelm leicht an ein vom Wiener Hofe ausgehendes Complot glauben ließen. Bevor wir in unserer Erzählung weiter gehen, sei es erlaubt, einen Augenblick abzuschweifen, um die Stellung zu betrachten, welche der König von Preußen den beiden Höfen Dresden und Wien gegenüber einnahm. – Oesterreich hatte der Krone Preußen die Erwerbung Gelderns, ihr schon von Leopold I. zugesprochen, sehr erschwert. Obgleich Friedrich Wilhelm, getreu seiner Verpflichtung, sein Contingent zum Heere des Kaisers stoßen ließ, widersetzte sich der Hof zu Wien den Ansprüchen Preußens auf Limburg. In den Jülich’schen Angelegenheiten arbeitete das Cabinet Kaiser Karl’s ganz offen gegen den König. Jede Vereitelung seiner Pläne ward versucht. Die Protestanten wurden im katholischen Deutschland überall eingeschränkt. Besonders that sich hierin der Kurfürst Karl Philipp von der Pfalz hervor. Er verwandelte alle Kirchen der reformirten Gemeinden, sobald nur einige Katholiken in demselben Orte wohnten, in Simultankirchen.[5] Diese Dinge arteten zuletzt in förmliche Nachstellungen aus, und auf die Vorstellungen Friedrich Wilelm’s gab man nichts. Der König ergriff daher sehr energisch Repressalien. Er ließ verschiedene Klöster einziehen, den Dom zu Minden schließen u. s. w. Hannover und Hessen-Cassel folgten seinem Beispiele. Ein donnernder Brief des Kaisers, der mit allem Möglichem drohte, blieb ohne Wirkung auf den König, und es erfolgte nur die kurze Antwort: daß Preußen den Kaiser nicht eher als Richter anerkennen werde, bis derselbe auch über die Protestanten als gerechter Richter entscheide und sie vor Gewaltthat schütze. – Der Kaiser gab nach. – Ein genaues Eingehen auf die verschiedenen Intriguen würde zu weit führen. Nur mag es durch das Gesagte begreiflicher werden, daß der König sich für gefährdet durch Oesterreich und das ihm verbündete Sachsen hielt. Auch erklärt sich hieraus seine Antipathie gegen die katholische Religion. Was seine Minister betraf, so hatte er unter der Regierung seines Vaters Beobachtungen angestellt, welche ihm die Menschen nicht im allzugünstigen Lichte erscheinen ließen. – Kehren wir zu unsrer Geschichte zurück.
Am nächsten Abend trafen sich die drei Mitwisser des Geheimnisses wieder in dem Garten. Clement theilte dem Könige noch weitere Neuigkeiten mit. Endlich zeigte er ihm die Briefe Flemming’s, seiner Minister und des Prinzen Eugen.
Hastig ergriff der gefolterte Monarch die Papiere. Die Augen bohrten sich in die Schriftzüge. – Ja, er kannte sie. Das waren die eigenhändigen Briefe, die Siegel – er hatte sie in den Händen, die Beweise einer beispiellosen Verrätherei. Seine Zähne knirschten, als er las und den ganzen Plan herauslas, der einen Fürsten verderben sollte, dem die meisten der Anstifter zu Dank verpflichtet waren. „Hundeseelen!“ murmelte der König. „Von dem Lumpenpack habe ich freilich nicht viel erwartet.“ Seine Faust ballte sich. Plötzlich aber ließ er das Papier sinken. Sein Haupt [442] neigte sich gegen die Brust. Der Zorn wich. Eine Thräne stahl sich ganz heimlich und unwillkürlich in das trotzige, blaue Auge des Königs. Er hatte unter den Verschwörern einen Namen gefunden, dessen Lesung den Zorn verscheuchte, aber die Wehmuth in sein rauhes Soldatenherz trieb; den Namen seines alten Freundes, seines treuen Kriegsgefährten. Ja – auch er war mit im Complote: „Leopold von Anhalt-Dessau.“ Von nun an galt Clement dem Könige als Schutzengel. Er erhielt die glänzendsten Anträge, wies aber Alles zurück. „Was mir Eure Majestät auch bieten können,“ sagte er, „es würde nur ein unbedeutendes Geschenk gegen das Glück sein, welches dadurch über mich gekommen ist, daß ich Sie von großer Gefahr errettet habe.“
Er bat auf’s Inständigste, ihn nach dem Haag reisen zu lassen, wogegen der König protestirte, der seinen Freund gern in der Nähe behalten wollte. Clement machte aber geltend, daß er im Haag besser für des Königs Interesse arbeiten könne, auch würden die Höfe von Dresden und Wien Verdacht schöpfen, wenn er sich nicht auf den bestimmten Posten begebe. – So willigte der König endlich ein. Vor der Abreise hatte er noch einige Unterredungen mit Clement. In diesen zeigte der Ungar eine so genaue Kenntniß der inneren Verhältnisse des preußischen Staates, seine Ansichten über Finanzen, Ackerbau, Militär etc. waren so treffend, daß der König ihn für ein Genie halten mußte. Vollständig gefangen ward der Monarch durch die Uneigennützigkeit Clement’s. Ein Geschenk von zwölftausend Thalern, welches ihm geboten wurde, schlug der Agent hartnäckig aus, „da er noch Nichts gethan habe, um dasselbe zu verdienen.“ Er bat nur um Wiedererstattung der Kosten, welche ihm etwa durch die Bestechungen der Creaturen des Wiener Cabinets im Haag erwachsen möchten. Um endlich den König ganz für sich einzunehmen, schwur er vor Jablonsky die katholische Religion ab und ward reformirt. Dann reiste er nach Holland. Friedrich Wilhelm hatte aber nicht eher geruht, bis Clement die zwölftausend Thaler angenommen hatte.
Welche Beweggründe veranlaßten den Ungar Clement nun überhaupt eine solche Intrigue zu spielen? Er hatte schon in früheren Jahren die verwerflichsten Dienste als Spion, Fälscher und Ankläger geleistet. Unter dem Namen eines Barons v. Rosenau war er als Agent des Fürsten Rakoczy beim Utrechter Friedensabschlusse thätig. Er hatte diesem kühnen, unglücklichen Usurpator als Secretär gedient, begleitete ihn auf der Flucht nach Frankreich und der Türkei, stahl ihm aber in Constantinopel seine wichtigsten Papiere, entkam mit diesen nach Wien und lieferte sie dem Prinzen Eugen aus. Eugen zahlte gut; wie es den Verräthern aber gewöhnlich geht – so auch Clement – er ward verachtet, und von der Stellung, die er zu erreichen geträumt hatte, war keine Rede mehr. Wuth im Herzen verließ er Wien und ging nach Dresden, wo er sich durch verschiedene wichtige Spionagen dem Herrn von Flemming dienstbar zeigte. Er sollte angestellt werden, allein die vagabundirende Angeberei gefiel ihm besser. Er reiste umher, lediglich in der Absicht zu spioniren, und nahm dann und wann ein Sündengeld an, welches ihm nach geliefertem Rapporte hingeworfen ward. Daß ein solcher Mensch übrigens mit Talenten begabt sein mußte, versteht sich von selbst. Außer seinen geistigen Fähigkeiten besaß Clement auch viele technische.
Dahin gehörte besonders die unheilvolle Gabe, Handschriften jeder Art auf’s Täuschendste nachahmen zu können. Kurze Zeit genügte für den gewandten Betrüger, um sich die Gewißheit zu verschaffen, daß die Höfe von Wien und Dresden in keinem besonderen Vernehmen mit dem Berliner Hofe standen. Sofort baute er sich einen Plan zusammen. Er wollte durch Erregung von Zwistigkeiten sein Glück machen, zugleich aber auch sich an dem Wiener Hofe rächen und dem Dresdner einen Beweis geben, wie wichtig seine Person durch die Verhältnisse werden könnte. – Seinen Aufenthalt in Berlin hatte Clement benützt, um sich Verbündete zu schaffen. Dies war ihm schnell gelungen. Er fand drei Subjecte, welche nicht vortheilhafter für seine Zwecke gedacht werden konnten. Der erste war der Baron und Finanzrath von Heidekam. Heidekam’s Vater war anfänglich Kammerdiener unter Friedrich I. gewesen und hatte es, später in das Finanzfach übergegangen, zu großen Reichthümern gebracht. Diese Schätze brachten den Sohn mit den Gesandtschaftsposten in Berührung, wodurch er sich gänzlich ruinirte. 1714 war er in größter Dürftigkeit. Durch den Heren von Ilgen erhielt der junge Heidekam eine Stelle zu Stralsund bei dem Könige von Schweden, welche fast dieselbe wie die durch Clement in Dresden verwaltete, d. h. die eines Spions war.
Nach seiner Rückkehr von Stralsund hatte Heidekam dasselbe Loos wie Clement. Niemand kümmerte sich um ihn. Die Freunde, welche während seines Wohlstandes mit ihm geschwelgt, kannten ihn nicht mehr. Dies Alles bewog ihn, mit Clement, zu dem er überhaupt gut paßte, sich zu vereinigen. Er gab demselben genaue Notizen über alle dem König Friedrich Wilhelm nahestehenden Personen, brachte auch eine Menge Briefe der Minister zum Vorschein, welche von Clement dazu verwendet wurden, die Handschriften der höchsten Staatsbeamten nachzumachen und dann in ihrem Namen Briefe zusammenzustellen, durch die sie als Mitglieder der Verschwörung gegen ihren Monarchen erscheinen mußten.
Der zweite Helfershelfer war der geheime Kriegssecretär Bube, er setzte Clement von Zuständen des Kriegswesens in Kenntniß. Der dritte im schönen Bunde endlich war ein gewisser Lehmann. Er galt in Berlin für einen Residenten des Herzogs von Sachsen-Weimar und hatte bedeutende Verbindungen mit den Domainen-Beamten, wodurch es ihm leicht ward, den Clement von der Finanzlage zu unterrichten. Hieraus erklärt sich die dem Könige so wundersam erscheinende Kenntniß der preußischen Verhältnisse, welche Clement bei den Unterredungen an den Tag legte. Man wird zugeben, daß die Täuschung sehr begreiflich war. Seine Hülfsarmee im Rücken war Clement also, das königliche Geschenk in der Tasche, nach dem Haag abgereist.
Sobald Clement Berlin verlassen hatte, verfinsterte sich die Laune des Königs vollständig. Durch die Räume seines Schlosses schritt er mit unheimlicher Hast. Seine Blicke waren unstät. Er mied selbst die Mitglieder seiner Familie, da er auch in ihnen nur Feinde sah. Man bemerkte, daß er sogar die militärischen Angelegenheiten nicht mit gewohnter Pünktlichkeit betrieb. Auf Leute seiner Umgebung, welche leise mit einander sprachen, trat er sofort schnell zu und fragte barsch: „Was sie mit einander zu tuscheln hätten?“ Der giftige Same des Argwohns, den Clement ausgestreut, wucherte so mächtig, daß der König sein Leben stets bedroht glaubte; er schlief daher nicht anders, als mit zwei unter seinem Kopfkissen befindlichen scharfgeladenen Pistolen. In der Folge sprach er fast gar nicht mehr und verfiel in eine Melancholie, die in der That seine ganze Umgebung, namentlich aber den „alten Dessauer“ tief rührte und nachdenklich machte.
Es war ein heißer Tag des Dienstes gewesen. Von der Parade kommend, schritt der Fürst Leopold von Anhalt-Dessau durch einen langen Corridor des königlichen Schlosses zu den Gemächern des Monarchen, woselbst noch eine Besprechung der höheren Officiere stattfinden sollte. Kaum war er in den Gang getreten, so gewahrte er am andern Ende desselben den König, der gerade auf ihn zukam. Friedrich Wilhelm bemerkte den Fürsten nicht. Er hatte den Kopf gesenkt, seine Blicke suchten den Boden, seine Arme hielt er auf dem Rücken. In diesem Corridor ging der Herrscher seit mehreren Wochen jeden Tag eine Stunde lang spazieren. Er mied die freie Gegend, welche Feinden zum Verstecke dienen konnte. Sobald die Schritte des Fürsten dem Könige hörbar wurden, hob er schnell das Haupt empor, blickte Leopold finster an, wandte sich mit unwilliger Gebehrde und schritt auf seine Zimmer zu.
Der Fürst faßte einen raschen Entschluß. Er eilte hinter dem Könige her, es mußte endlich klar werden zwischen Beiden, die Gelegenheit war günstig. – Wenige Schritte hatten die Freunde gethan, als sich der König plötzlich umdrehte; seine Augen funkelten, im Nu sprang er zur Seite, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Corridors, und im nämlichen Augenblicke blitzte auch schon der blanke Degen in seiner Rechten, während er selbst eine Fechterposition annahm. „Was haben Sie im Sinne?“ rief er, „was wollen Sie mir anthun?“ Der[6] Fürst, höchst betroffen von diesem unerwarteten Auftritte, sammelte sich jedoch sogleich. Ebenso schnell, als der König seinen Degen aus der Scheide gezogen hatte, nahm der Dessauer den seinigen aus dem Gehenke. Er warf ihn wohl zehn Schritte weit von sich, daß der Corridor dröhnte, und trat nun unbewaffnet dem König gegenüber. „Hier stehe ich, Majestät,“ rief der Fürst seine Weste aufreißend, „stoßen Sie mich nieder, aber halten Sie mich nicht für fähig, Ihnen nach dem Leben zu trachten. Lieber Herr, reden Sie offen. Welch’ ein Kummer drückt Sie? Wir sehen es Alle mit Wehmuth, und besonders ich, der ich mir Nichts vorzuwerfen habe. Das ist so wahr, daß ich meine Reichsfürstenwürde niederlegen und von Ihnen wie der [443] niedrigste Unterthan gerichtet sein will. Habe ich Etwas gegen Sie verbrochen, so mag mein Kopf dafür haften. Er gehört Ihnen, machen Sie damit, was Sie wollen.“
Die schlichte, aber eindringliche Sprache machte sichtbaren Effect auf den König. Die alte Freundschaft erwachte trotz allen Mißtrauens dennoch wieder. Er stieß den Degen in die Scheide. „Nehmen Sie Ihren Degen wieder auf, Leopold,“ sprach er mit bewegter Stimme.
„Nicht eher,“ entgegnete der Fürst. „bis ich weiß, was Sie mir vorzuwerfen haben.“
Der König trat vor den Fürsten, legte beide Hände auf dessen Schultern und sah ihm fest in’s Gesicht. „Darf ich Ihnen noch trauen?“ sprach er.
„Ja, Sire, Sie können es,“ rief der Fürst und fiel ihm zu Füßen. „Ich habe mich Ihren Diensten geweiht, und ich habe gezeigt, daß ich bluten kann für Sie.“
„Nun dann,“ versetzte der König, „hören Sie, ob ich Unrecht that, Ihnen zu mißtrauen.“
Er erzählte ihm nun die ganzen Verhandlungen mit Clement; Leopold von Dessau gerieth in eine Art von Wuth, welche ihn erstarren machte.
„Ich habe,“ schloß der König, „die Briefe vom Prinzen Eugen selbst gelesen, die Sie als Theilhaber der gegen mich angesponnenen Verschwörung bezeichnen. Was haben Sie einem solchen Beweise entgegen zu halten?“
„Nichts,“ fuhr der Dessauer in seiner bekannten derben Manier heraus, „als daß dieser Clement der verfluchteste Schw…d und Betrüger ist, der jemals existirt hat. Der Prinz Eugen kann mich eines solchen Verbrechens nicht beschuldigt haben, und ich selbst bin überzeugt, daß er einer solchen Hundsfötterei ebenso wenig fähig ist.“
Der König wurde stutzig. Noch war das Mißtrauen nicht ganz geschwunden. Der Fürst Leopold erbot sich nun freiwillig in’s Gefängniß zu gehen, bis man ihn mit Clement confrontiren könne. Das wirkte. Der König verabredete mit dem Dessauer, welche Mittel zu ergreifen seien, um Clement wieder nach Berlin zu bekommen. Jablonsky, der unschuldige Vermittler des ganzen Handels, wurde ausersehen, den Betrüger zu fangen. Man sendete ihn nach dem Haag. In seiner Begleitung befand sich ein Officier Namens Dumoulin, einer jener verwegenen Männer, die der Gefahr oder dem Scandal mit Gesang entgegengehen. Im Haag angelangt, fand man Clement sehr wohlauf. Jablonsky theilte ihm mit, daß er nach Holland gereist sei, um ein gewisses Werk drucken zu lassen. Der König habe ihm den Auftrag gegeben, Clement seiner Gnade zu versichern, zugleich aber auch den Wunsch ausgesprochen, der Agent möge sobald als möglich nach Berlin kommen, da der Monarch verschiedene sehr wichtige Dinge mit ihm besprechen müsse. Dasselbe bestätigte Dumoulin, der einige Tage nach Jablonsky im Haag eintraf und Clement einen Brief vom Könige überreichte, in welchem Friedrich Wilhelm sich erbot, nach Cleve zu reisen, wenn Clement nicht nach Berlin kommen wolle. Clement hatte die unerhörte Dreistigkeit, mit beiden Emissären nach Berlin zu reisen.
Neues Schwanken des Königs. – Er ward sogleich wieder für Clement eingenommen; wie hätte ein Betrüger es wagen können, sich einzustellen? Diese Frage lag in der That sehr nahe. In dem Cabinete des Königs fand die Unterredung statt, welcher der Dessauer, hinter einem Vorhange versteckt, beiwohnte. Der König behauptete, daß, da bis jetzt Nichts gegen ihn unternommen worden sei, er dem Wiener Hofe unmöglich die Absicht zutrauen könne. Clement berief sich auf die Briefe Eugen’s und Sinzendorf’s. Der König verlangte die Briefe noch einmal zu sehen. „Ich habe sie nicht bei mir, Majestät,“ entgegnete Clement, „aber sie sind im Haag in den Händen eines Freundes, der sie nur mir ausliefern darf. Befehlen Majestät sie zu sehen, so reise ich sofort zurück, sie zu holen.“
Unbegreiflich! – Man ließ Clement wieder nach dem Haag reisen. Zwar gab man ihm Dumoulin als Aufseher mit, der Officier hatte jedoch vom Könige den seltsamen Befehl erhalten, Alles zu thun, was Clement ihm heißen werde, der in Staatsangelegenheiten beschäftigt sei. Uebrigens aber solle Dumoulin ihn um jeden Preis wieder nach Berlin bringen. Beide Männer kamen im Haag an und logirten in einem Hause. Gleich am ersten Tage eröffnete Clement seinem Begleiter, daß die Agenten des kaiserlichen Hofes in der Nähe seien, Dumoulin müsse sich vor ihnen verstecken. Er schloß – seinen Wächter drei Tage lang ein! – Jetzt hätte er davongehen können, allein – soll man Frechheit oder Siegesgewißheit annehmen? – Clement blieb. Endlich reisten Beide wieder nach Berlin zurück. In Cleve angelangt merkte Clement, daß die Sache nicht geheuer sei, und wollte, unter dem Verwande Papiere vergessen zu haben, wieder umkehren, nun aber trat der Reisegefährte mit geladenen Pistolen auf. Es war zu spät.
Bei der Ankunft in Berlin führte Dumoulin seinen Pflegebefohlenen zum Staatsminister von Marschall. Man begegnete Clement mit großer Höflichkeit, und der Minister lud ihn zu Tische. Als Dessert aber zeigte er ihm den Verhaftsbefehl. Clement protestirte umsonst. Er ward noch denselben Nachmittag in die Hausvogtei abgeführt. Um Mitternacht öffneten sich die Thüren seines Gefängnisses. Er sollte das erste Verhör bestehen. Als er in das Verhörzimmer trat, befand er sich dem Könige gegenüber. Die richterlichen Functionen leitete der Generalauditeur Herr von Katsch. Clement antwortete mit großer Geistesgegenwart, wurde aber noch in derselben Nacht auf die Citadelle von Spandau geführt. Folgenden Tages begann das zweite Verhör, wieder in Beisein des Königs. Clement blieb fest bei seinen Aussagen. Er bestand darauf, Alles beweisen zu können, und berief sich auf die ihm von Wien und Dresden aus geschriebenen Briefe. Die staunenswerte Sicherheit, mit welcher er seine Vertheidigung führte, brachte den König fast dahin, den Proceß niederzuschlagen. Katsch, der ganz auf Seiten des Fürsten von Dessau stand, rief über den Tisch hinweg: „Keine Uebereilung, Majestät! noch ein oder zwei Verhöre und eine Portion Folter, dann sollen Sie bald wissen, woran Sie sind.“
Am dritten Tage, mitten im Verhöre, that sich plötzlich die Thüre auf. Der Henker, gefolgt von seinen Knechten, trat ein. Alle trugen die zur Folter gehörigen Geräthschaften. Beim Anblicke dieser entsetzlichen Maschinen schwand die Keckheit Clements. Er warf sich dem Könige zu Füßen und gestand seine Betrügereien ein. Er bekannte, daß die Höfe von Dresden und Wien niemals einen Plan zur Gefangennehmung des Königs gehegt hätten, daß ferner alle Schriftstücke gefälscht seien.
Es trat nun eine merkwürdige Veränderung in der Stimmung Friedrich Wilhelm’s ein. Der König hielt nämlich Clement’s Geständniß insofern nicht für aufrichtig, als er wirklich an das Bestehen einer Verschwörung gegen sich glaubte. Er behauptete, Clement leugne jetzt im Interesse der feindlich gesinnten Höfe, um diese frei zu sprechen. Erst als der Generallieutenant von Borck nach Wien und Dresden gesendet worden war und die feierlichen Proteste der Cabinete, der Minister und des Prinzen Eugen gegen den ihnen aufgebürdeten Verdacht zurückbrachte, beruhigte sich der König. Der Prinz Eugen hatte die Nachahmung seiner Handschrift so täuschend gefunden, daß er bekannte, er würde selbst seine eigenen Schriftzüge nicht zu unterscheiden vermocht haben, doch kränke es ihn, daß man in Berlin habe glauben können, er werde seinem ehrlichen Namen einen solchen Schandfleck anhängen. – Um den König von der heillosen Fertigkeit des Betrügers zu überführen, mußte Clement vor dem Monarchen dessen Handschrift nachahmen. Friedrich Wilhelm’s Schriftzüge und die gefälschten ließen sich nicht von einander unterscheiden, so trefflich verstand Clement sein Handwerk.
Es blieb nun noch übrig, die Mitschuldigen kennen zu lernen. Clement gab zunächst Heidekam, Lehmann und Bube an. Alle drei wurden nach Spandau transportirt. Das eine der drei Schlachtopfer entzog sich dem Arme der Justiz. Es war der Secretair Bube, der sich im Gefängnisse vergiftete. Die beiden anderen Verbrecher zogen in ihr Geschick eine Menge Privatpersonen hinein, und die Gefängnisse Spandau’s waren mit Inhaftirten gefüllt. Einige dieser Processe bilden wieder ganz pikante, für sich bestehende Episoden, ihre Darlegung würde jedoch den Raum dieser Blätter zu bedeutend in Anspruch nehmen. Die Verhandlungen dehnten sich so in die Länge, daß erst im folgenden Jahre die Entscheidung gefällt werden konnte. – Sie war blutig, furchtbar und den Rechtsbegriffen jener Zeit angemessen.
Am 18. April 1720 hatten die Berliner das grauenvolle Schauspiel eines Executionszuges innerhalb ihrer Stadtmauern. Von der Hausvogtei wurden die drei Sünder nach dem neuen Markte, dem Richtplatze, gebracht. Die Procedur begann um acht Uhr Morgens. Clement war der Erste im Zuge, dann folgte Lehmann. Den Exbaron Heidekam trugen zwei Gerichtsdiener auf einem Stuhle, da er zu schwach war, um gehen zu können. Auf [444] dem neuen Markte war ein Schaffot errichtet, welches die Drei bestiegen. Der Richter las Jedem sein Urtheil insbesondere vor. Heidekam ward zuerst gerichtet. Sein Urtheil lautete auf ewige Gefängnisstrafe, Verlust seines Adels und sonstiger Rechte. Demzufolge riß der Henker ihm den Degen ab und zerbrach denselben, dessen Stücke er dem Delinquenten vor die Füße warf. Dasselbe geschah mit dem Wappenschilde. Heidekam erhielt vom Henker zwei Ohrfeigen und ward dann mit Fußtritten die Treppe des Blutgerüstes hinabgestoßen. Unten erwartete ihn ein Wagen, der ihn nach Spandau führte. Dort lebte er noch zwei Jahre nach der Schändung, mit seinem erbärmlichen Schicksale ganz zufrieden.
Nach Heidekam’s Aburtheilung wurden Clement und Lehmann mit glühenden Zangen gerissen. Hierauf bewegte sich der Zug wieder durch die Stadt bis zum Hochgerichte vor dem Spandauer Thore. Lehmann ward hier enthauptet und sein Körper geviertheilt. Obgleich Clement der Anstifter der ganzen Scheußlichkeiten war, fiel sein Urtheil dennoch verhältnißmäßig gelinde aus. Er ward nur gehenkt, sein Körper noch an demselben Tage herabgenommen und anständig begraben. – Vielfach ist die Schuld Clement’s angezweifelt worden, allein es läßt sich auch nicht der geringste Beweis beibringen, daß wirklich gegen den König ein hochverrätherisches Unternehmen beabsichtigt worden sei.
Gewiß ist jedoch, daß Friedrich Wilhelm selbst bis zum letzten Augenblicke nicht vollkommen davon überzeugt war, Clement sei ein Betrüger. Er sprach es später offen aus, daß er ihm das Leben geschenkt haben würde, wenn er dem Andringen der beleidigten Höfe, die den Tod des Betrügers verlangten, hätte widerstehen können. Dieses Andringen mag wohl auch der Grund gewesen sein, Clement für ein Opfer der Cabinete zu halten, die sich des unhequemen Spions entledigen wollten, der jedenfalls nur den verdienten Lohn empfing für so manches Elend und Herzeleid, welches sein verruchtes Handwerk über viele Unglückliche gebracht hatte, die wohl noch in der Nacht ihrer Kerker seufzten, als der Betrüger unter dem Stricke des Henkers endete.
Daß der König gegen seine Beamten besonders streng verfuhr, ist erklärlich, und er schenkte dem Heidekam das Leben nur deshalb, weil, wie er sich ausdrückte, für diesen der Tod eine zu gelinde Strafe gewesen wäre. Wie oben bereits angeführt, täuschte sich Friedrich Wilhelm darin aber gänzlich. Heidekam war ganz zufrieden, mit dem Leben davongekommen zu sein. Clement’s Tod machte übrigens allen ferneren Untersuchungen ein Ende. Sämmtliche inhaftirte Personen wurden sofort in Freiheit gesetzt, und bald war die traurige Begebenheit in der Nacht der Vergessenheit begraben.
Mehrere wissenschaftliche Zeitschriften, darunter bergmännische Fachblätter, haben vor noch nicht langer Zeit eine Schwindelei aufzudecken vermeint, als sie gegen das Wirken des Verfassers dieses Aufsatzes auftraten, und ihm und jedem anderen Menschen die Fähigkeit absprachen, den Wasserlauf unter der Erdoberfläche verfolgen, in das Innere der Erde, wie sie sich ausdrückten, sehen zu können. – Mit solchen Angriffen wird nichts bewiesen.
Der Geologe macht bei Aufstellung seiner Schöpfungstheorien wohl gewagtere Schlüsse, als ich bei Bestimmung meiner Brunnenpunkte, und der Bergmann schließt in Folge äußerer Anzeichen auf die Beschaffenheit größerer Tiefen, als solche, in denen der Quellenfinder sein Wasser sucht, beide aber – Geologe und Bergmann – würden es, und gewiß mit Recht, sehr übel nehmen, wollte Jemand ihnen die Fähigkeit absprechen, nach oberirdischen Anzeichen auf unterirdische Verhältnisse mit Anspruch auf Richtigkeit schließen, also gewissermaßen auch in das Erdinnere sehen zu können.
Beleuchten wir vor Allem die Entstehungsart der Quellen etwas näher. Der Lauf der Gewässer auf der Erde ist eine so bekannte Erscheinung, daß wenige Worte hinreichen, sie in allgemeinen Umrissen zu bezeichnen. Aus allen Gewässern der Erdoberfläche, aus dem Meere, aus den Flüssen, aus den Seeen etc. steigen ununterbrochen Wasserdünste in die Atmosphäre, um so mehr, je wärmer oder trockener die Luft, um so weniger, je kälter und feuchter sie ist, verdichten sich dort zu Wolken und kehren als Regen, Schnee, Hagel und Thau wieder auf die Erde zurück. Hier fließen sie von höheren Stellen nach niederen, bilden Bäche, Flüsse etc. und sammeln sich endlich im Meere, den ewigen Kreislauf zu erneuern.
Da aber die Erdoberfläche nicht vollkommen wasserdicht ist, sondern mehr oder weniger Wasser durchläßt, so dringt stets ein Theil der wässerigen Niederschläge in die Erde ein und nimmt einen unterirdischen Lauf. Das bis zu gewissen Tiefen gedrungene Wasser kommt entweder an tieferen Stellen der Erdoberfläche wieder zum Vorschein, oder es setzt seinen unterirdischen Lauf bis zu benachbarten Bächen, Flüssen oder Meeren fort. – Die Meteorwasser also: der Regen, Schnee, Thau etc., das Wasser der Bäche, Flüsse, der Seeen und des Meeres, das schmelzende Eis der Gletscher sind die Gewässer, aus denen die Quellen entstehen.
Je wasserdurchlassender nun die dem Eindringen der Meteorwässer ausgesetzten Erdschichten sind, desto größere Wasserquantitäten werden sie in sich aufnehmen und desto reicher werden sie auch an Quellwassern sein, während eine wasserdichte oder nahezu wasserdichte Oberlage dem größeren Theile der Meteorwässer Zeit zur Verdunstung läßt oder dieselben in Form von oberirdischen Bächen und Flüssen in die Niederungen ableitet. Je ungleichartiger und poröser eine Oberflächenschichte ist, desto wasserdurchlassender ist sie, und desto mehr begünstigt sie eine ergiebige Quellenbildung, und je gleichartiger und dichter das Oberflächengestein ist, desto wasserdichter ist es, und desto geringer ist seine Production an unterirdischen Wasserläufen.
Konglomerate oder Breccien und lose Gebirgsarten, wie Sand und Dammerde, sind demnach die günstigsten Decken für unterirdische Quellen, und man wird auch allenthalben unter diesen die reichsten Wassermassen aufschließen. Die Gesteine haben in den meisten Fällen entweder eine deutliche regelmäßige Schichtung, oder sie sind durch Höhlen, Klüfte, Risse und Sprünge unregelmäßig und oft bis zu bedeutenden Tiefen durchzogen. Diese Structurverhältnisse der Gesteine bewirken, daß Gebirgsmassen, die ihrer Zusammensetzung nach sehr dicht und undurchlässig sind, in vielen Fällen die Quellenbildung äußerst begünstigen, indem sie durch die Zerklüftungen und Schichtenflächen wasserdurchlassend werden; so sind beispielsweise die Kalkgebirge ihrer Zusammensetzung nach so dicht, daß man, wie bekannt, aus Kalk Gefäße macht (Taufbecken, Badewannen etc.), die bestimmt sind, zur Aufbewahrung von Wasser zu dienen, während gerade das Kalkgebirge, in Folge seiner Zerklüftungen, die reichsten und mächtigsten Quellen bildet. Eine genaue Kenntniß der Durchdringbarkeit der einzelnen Gesteine vom Wasser und ein intenstves Studium ihrer Schichtung und Structurverhältnisse, mit einem Worte geognostisches Wissen ist demnach vor Allem das Vorstudium des Quellenfinders.
Ein zweiter Hauptfactor bei den Studien des Quellenfinders ist die Oberflächenbildung. Wenn das Regenwasser auf wasserdurchlassende Erd- und Gesteinsschichten niederfällt, sinkt es in Folge seiner Schwere und flüssigen Beschaffenheit beständig abwärts. Seine Bewegung ist langsam, unmerklich und richtet sich nach den Zwischenräumen des Bodens, den es unterwegs antrifft. Die einzelnen Wassertheilchen treffen zusammen, verbinden sich mit einander, bilden unzählige und kaum bemerkbare Aederchen, die nach und nach wachsen und zu bemerkbaren Wasserfäden werden. Diese Wasserfäden dringen immer tiefer unter die Erde, nehmen andere in verschiedenen Zwischenräumen in sich auf, treffen auf undurchlässige Schichten, deren Neigung sie folgen, und bilden endlich unterirdische Wasserläufe, deren Volumen mit der Entfernung vom Orte ihres Ursprungs wächst. Wenn man also eine Quelle entspringen sieht, darf man sich nicht vorstellen, daß sie unter der Erde in ihrer ganzen Länge einen einzigen horizontalen Wasserlauf mit stets gleichem Volumen bildet. – Jede Quelle ist das Product einer unendlichen Menge von kleinen Wasseradern und Fäden, die sich in einander ergießen, anwachsen und, indem sie weiter vordringen,
[445] endlich den Wasserlauf bilden, den man an der Oberfläche erscheinen sieht. Ein anschauliches Bild der Quellenbildung gewährt die Entstehung und Circulation der auf der Oberfläche befindlichen Bäche, Flüsse und Ströme. Denkt man sich die obere, wasserdurchlassende Schicht der Erdkruste abgehoben, so wird die undurchdringliche Schicht ein Bild von Bach-, Fluß- und Stromgebieten zeigen, das dem ganz gleich ist, das wir uns durch unsere geographischen Karten vom oberirdischen Wassernetze entwerfen.
Die Richtung des Laufes dieser unzähligen Wasserfäden und Adern, die sich in den durchlässigen Gesteinen bilden und auf den undurchlässigen abfließen, wird nicht vom Zufalle bestimmt. Sie theilen sich unter der Erde auf dieselbe Weise wie das Regenwasser, an unterirdischen Gehängen entstehend, in unterirdischen Thälern sich zu größeren Wasserfällen sammelnd und in Ebenen sich zu unterirdischen Seeen ausbreitend. Da nun die Oberflächenbildung einer Gegend in den meisten Fällen, namentlich in den geringen Tiefen, in denen der Quellenfinder sein Wasser sucht, ein analoges Verhalten im Niveau der unterirdischen Wasserläufe voraussetzen läßt, oberirdische Wasserscheiden, Gehänge, Thäler und Ebenen mit unterirdischen correspondiren werden, so ist einleuchtend, daß in der Oberflächenbildung dem Quellenfinder ein wichtiger Anhaltspunkt für seine Forschungen gegeben ist, und der Leser wird eine Bestätigung dieser Behauptung in der Erfahrung finden, daß oberirdische Gehänge bei Grabung von Brunnen viel ungünstigere Resultate liefern, als lange Thäler oder Ebenen.
Der Einfluß der Forstculturen auf unterirdische Wasserläufe ist ein dritter Factor, den der Quellenfinder bei Bestimmung seiner Grabungspunkte nicht außer Acht lassen darf. Wenn die Höhenzüge hoch genug sind, um den niedrigen Luftströmungen ein Hinderniß sein zu können, so lenken sie diese nicht nur vielfältig von ihrer Bahn ab, sondern üben auch, wenn sie bewaldet sind, durch die Verdunstungskälte, welche das fortwährend Wasser aushauchende Laub hervorbringt, einen erkältenden Einfluß auf sie aus, wodurch sie genöthigt werden, einen Theil ihres Wasserdampfes als Thau oder Regen fallen zu lassen.
Auf diese Weise wird ein bewaldetes Gebirge durch Quellenbildung ein Segen für seine Umgebung. Ist dagegen ein hohes Gebirge unbewaldet, so vermag es wohl auch, den über seinen Scheitel hingehenden Wolken ihr Wasser zu entziehen; dieses fließt aber dann an den kahlen Felsen in hundert kleinen reißenden Bächen abwärts und kommt dem Gehänge und der Ebene nicht zu gute, sondern richtet sogar Verheerungen an, indem es die Ackererde der Fluren mit sich fortreißt, oder sie mit Sand und Schutt bedeckt. Hierin liegt die wichtige Rolle, welche die Gebirgswaldungen in der Wasserfrage spielen. Sie halten das Wasser, wie eine sorgliche Hausmutter ihr Hab und Gut, zu Rathe.
Roßmäßler hat uns in seiner „Flora im Winterkleide“ ein treffendes Bild von der Bedeutung des Gebirgswaldes gegeben, indem er von der Mooswelt in unserem Naturhaushalte spricht: „So klein die Moose sind, so wichtig ist das Amt, dessen sie zu Füßen der ragenden Stämme warten, zu dichten Haufen geschaart. Im Verein mit Haide und Heidelbeergesträuch bilden sie die Bodendecke unserer Gebirgswälder. Die Moose,“ sagt er, „sind die kleinen Regulatoren der Bewohnbarkeit ganzer Provinzen. So groß ist ihre Bedeutung! Diese kleinen, schönen Pflänzchen sind Vermittler zwischen Himmel und Erde. Wenn der Regen in Strömen niederstürzt, als wollte er mit einem Male den durch Entwaldung verkümmerten Flüssen wieder aushelfen, so rufen ihm die Moose beschwichtigend zu. Nur gemach, Du Ungestümer! und werfen sich zwischen ihn und die bedrohte Erde und fangen die Fluthen des Himmels mit den Millionen ihrer zierlichen Blättchenarme auf und brechen ihre Gewalt, daß sie nur tropfenweise durch sie hindurch können und der Boden gemächlich auffangen kann, was er braucht, und was darüber ist, ruhig hinabsickert von Stein zu Stein unter der Moosdecke hinunter unter die Erde oder in den sammelnden Bach.“
Wie wesentlich die Waldungen für die Wasserbildung beitragen, zeigt der See Tacarigna im Thale von Aragua in Venezuela, der durch Entwaldung der umliegenden Höhen und durch ausgedehnte Urbarmachungen in wenig mehr als 200 Jahren so bedeutend verringert worden ist, daß eine Menge ehemaliger Inseln desselben zu freistehenden Hügeln wurden. Allein dieser See liefert auch noch einen weiteren Beweis in dieser Frage. In neuerer Zeit decimirten viele Jahre lang politische Kämpfe die fleißige Bevölkerung, und der in den Tropen das verlorne Terrain bald wieder erobernde Wald füllte den See wieder und vertrieb so die Zucker- und Indigopflanzen, welche sich an seinen trockengelegten Rändern angesiedelt hatten.
Ueber die Frage, ob ausgedehnte Entwaldungen auch die Regenmenge verringern, ist in Europa noch schwer zu entscheiden, weil Anhaltspunkte hierüber noch fehlen und die physische Geographie noch nicht gar zu lange Zeit mit dem Ombrometer mißt. Für Amerika steht aber, nach Boussingault’s[WS 1] Aussage, die Thatsache fest, daß die dort im größten Maßstabe ausgeführten Entwaldungen stets mit Verminderung der Regenmenge verbunden gewesen sind.
Wir aber, wenn wir unsere geringe Waldfläche mit den unermeßlichen Urwäldern Amerika’s vergleichen, müssen es uns eingestehen, daß Walddevastation in Deutschland mehr und mehr aufhört, ein bloßes Gespenst zu sein, womit der seinen Wald liebende Forstmann die Holzgierigen zurückscheucht. Ja im südlichen Frankreich ist durch Entwaldung während der ersten Revolution ein Zustand der Gegenwart herbeigeführt worden, von welchem Blanqui, Professor der Staatswissenschaft in Paris, eine grauenerregende Schilderung macht.
Den mächtigen Rhein um seine vielen großen und kleinen Zuflüsse zu berauben, scheint Manchem vielleicht eine Chimäre. Wenn man sich aber nicht ganz verschließt für die Beachtung der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung und die Macht der Zeit nicht übersieht, welche durch den kleinen Tropfen den Stein höhlt, so muß man in der Verminderung der Quellen eine Beeinträchtigung auch des größten Flusses erkennen. Zum Glücke liegen die Quellen des Rheins größtentheils außer dem Bereiche menschlicher Eingriffe, denn die bedeutendsten seiner schweizerischen Quellen sind Gletscherbäche. Die Donau ist mehr gefährdet, als der Rhein, da sie fast nur durch die 55 den Inn speisenden Gletscher Eiswasser erhält, der auch bei seinem Einströmen in die Donau bei Passau bedeutend breiter als diese ist; ihre übrigen Zuflüsse stammen aus Waldgebirgen.
Abhängiger von menschlichen Eingriffen sind die nordwärts strömenden deutschen Flüsse zweiter und dritter Ordnung, z. B. die Elbe, Weser und Oder und deren noch kleinere Zuflüsse. Sie hängen mit tausend feinen Quellenfäden am Gedeihen unserer Bergwälder. Man muß oft weit und in Hunderte von kleinen bewaldeten Gebirgsschluchten zurückgehen, um diese Abhängigkeit ganz zu würdigen. Soweit an diesem Orte über den Einfluß der Wälder auf die Wasserläufe; derselbe ist zu wichtig, um nicht obige Erörterung zu rechtfertigen.
Die meisten Menschen gingen bisher von der Meinung aus, daß die Pflanzen dem Quellenfinder die einzigen sicheren Zeichen für seine Bestimmungen geben könnten. Dies ist aber nicht der Fall. Die Physiognomie der Pflanzenwelt ist allerdings ein Anzeiger des Feuchtigkeitsgehaltes des Standortes und zwar in doppelter Weise, entweder durch bestimmte Pflanzenarten, die an einen gewissen Feuchtigkeitsgrad ihres Bodens gewiesen sind, oder durch das Aussehen der auf einem Boden wachsenden Pflanzen überhaupt, durch ihr besseres oder kümmerliches Gedeihen, die Tiefe ihres Grüns etc.
Aber aus der Physiognomie der Pflanzenwelt auf die Entstehungsart dieser Feuchtigkeit schließen zu wollen, wäre in den meisten Fällen doch zu gewagt. Ob Tagwasser, Stauwässer oder Quellwässer dem Boden die zur Hervorbriugung der Feuchtigkeitspflanzen nothwendigen Wassermengen liefern, wird man denselben wohl schwerlich ansehen können. Im Gegentheil wird man, falls man die Vegetation bei Bestimmung von unterirdischen Wasserläufen ausschließlich zu Rathe ziehen wollte, oft die größten Täuschungen erfahren. Man denke sich beispielsweise die oberen Erdschichten in einer Mächtigkeit von zehn bis zwölf Klaftern aus Sand bestehend, der auf einer Tegelschichte aufgelagert ist. Aehnliche Schichtenlagerungen sind, wegen der Leichtigkeit, mit welcher die obere Schichte die Meteorwasser aufnimmt, erfolgreichen Brunnengrabungen sehr günstig und geben große Wasserquantitäten in der Nähe der Tegelschichte.
Wegen der Leichtigkeit jedoch, mit welcher die Wasser im Sande versinken, werden die obersten Theile der Sandschichte einen äußerst geringen Feuchtigkeitsgrad zeigen und Pflanzen produciren, die viel eher den Wassersucher abhalten, als ihn bestimmen werden, Grabungen auf Wasser vorzunehmen. Entgegengesetzt tritt sehr oft der Fall ein, daß die Erdoberfläche aus einer sehr wasserdichten Lehm- [446] oder Tegelschichte besteht. Es werden sich also die Meteorwässer in die Mulden der Lehm- oder Tegelschichte zusammenziehen und, da sie nicht versinken können, einen Feuchtigkeitsgrad erzeugen, der massenhaft Feuchtigkeitspflanzen produciren wird, und man würde also wiederum falsch schließen, wollte man sich durch diese Vegetation bestimmen lassen, Grabungen auf Quellen vorzunehmen.
Diese wenigen Bemerkungen werden genügen, darzuthun, daß der Vegetations-Physiognomie in keinerlei Weise als Factor bei Quellenbestimmungen der Werth beigelegt werden darf, den Laien ihr bis jetzt anschreiben, und dies um so weniger, als die unterirdischen Wässer meistens in solchen Tiefen fließen, in denen sie keinerlei Einfluß auf die Vegetation der Erdoberfläche mehr auszuüben vermögen. Ungleich wichtiger als die Pflanzen-Physiognomie ist die Kenntniß der klimatischen Verhältnisse bei den Bestimmungen des Quellensuchers. Die geographische Lage der Gegend, in der man Wasser sucht, deren Seehöhe, die Größe ihres Regenniederschlages, sind von wesentlichem Einflusse auf den Reichthum und die Natur der unterirdischen Quellenläufe und dürfen nicht außer Rechnung gelassen werden.
In gleicher Weise muß der Quellensucher den Einfluß erwägen, den menschliche Thätigkeit auf die Natur und die Qualität der Quellenläufe hervorgebracht hat, und er darf nicht vergessen, daß Entsumpfungen, Fluß- und Bachregulirungen, Canalisirungen, Drainirungen, ja oft die einfachsten Grabungsarbeiten große Umwälzungen in dem unterirdischen Quellensysteme hervorbringen können.
Es würde für diesmal zu weit führen, wollte ich neben diesen wissenschaftlichen Factoren der Quellenkunde auch noch alle praktischen Erfahrungssätze anführen, deren sich der Quellensucher, durch langjährige Beobachtungen hierzu berechtigt, bedient und die, obgleich bis heute nicht wissenschaftlich begründet, doch vollständig untrüglich sind. Ich werde über dieselben ein anderes Mal sprechen.
Durch ein genaues Studium der einzelnen angeführten Factoren ist dem Quellenfinder sämmtliches Material geboten, zur praktischen Ausübung seiner Wissenschaft zu schreiten. Freilich bleibt es einem richtigen Blicke, einer eigenen Combinationsgabe und einer langjährigen Praxis vorbehalten, die Wechselbeziehung der einzelnen Factoren zu einander kennen zu lernen und keinem derselben einen geringeren oder größeren Einfluß zu gestatten, als ihm, den localen Verhältnissen entsprechend, wirklich zukommt. Sandiger Obergrund mit lettiger Unterlage ist sicherlich ein der unterirdischen Wasserbildung günstiges Terrain, und doch werden in demselben Grabungen zu keinem Resultate führen, wenn der Brunnen auf die Kuppe einer Anhöhe gestellt wird, oder wenn die Lettenschichte unganz ist.
Waldungen haben einen großen Einfluß auf die Quellenbildungen, und doch wird man in der Nähe der großartigsten und üppigsten Waldvegetation keine großen Resultate erzielen, falls man die übrigen Factoren bei Bestimmung des Brunnenanschlagpunktes außer Acht läßt. Basaltboden ist beispielsweise ein der Waldvegetation äußerst günstiges – der Quellenbildung jedoch äußerst ungünstiges Terrain.
Daß Feuchtigkeitspflanzen nur in dem Falle als Anzeiger unterirdischer Wasserläufe angesehen werden können, wenn die geognostische Beschaffenheit des Bodens und dessen Oberflächenniveau die Quellenbildung möglich machen, haben wir bereits oben erörtert, wie wir auch dort kennen gelernt haben, daß die magerste Pflanzenvegetation durchaus nicht als ein Kennzeichen des Mangels an Quellen betrachtet werden könne, wenn nicht andere Merkmale, geognostische und locale, das Vorhandensein derselben unmöglich machen.
So ließen sich Hunderte von Beispielen anführen, die alle bewiesen, daß keiner der angeführten Factoren für sich allein eine Anwendung zulasse, jeder derselben hat eben nur Bedeutung, wenn er mit allen anderen in richtige Wechselbeziehung gebracht wird. Diese Wechselbeziehungen je nach den localen Verhältnissen richtig beurteilen zu können, darin besteht meine Kunst, die ich neben meinen bergmännischen Studien durch die Beobachtung der Bildung und des Laufes zahlreicher oberflächlich entspringender Quellen und durch eine jahrelange Praxis mir angeeignet habe.
Man muß die Natur nachahmen, um glücklich zu graben, und die Terrainverhältnisse, unter denen man gräbt, müssen denen ähneln, welche das natürliche Hervortreten der Quelle begleiten. Darin liegt das ganze Geheimniß!
Seit drei Jahren in die Oeffentlichkeit getreten, habe ich bis heute nicht weniger als 2000 Quellenpunkte bestimmt, von denen nur 15, also kaum ½ Procent, das gewünschte Resultat nicht erzielt haben. Wenn man bedenkt, daß sämmtliche 2000 Punkte in Gegenden liegen, die als wasserarm bekannt sind, und daß man mich erst zu Rathe zog, nachdem man selbst schon wiederholte vergebliche Versuche, meist mit bedeutenden Geldopfern, in großen Tiefen gemacht hatte, so wird man die Zahl der mißlungenen Versuche kaum der Rede werth finden, und ich bin überzeugt, daß auch der größte Theil der verunglückten Grabungen das versprochene Resultat erzielt hätte, wenn die Arbeit nicht auf der präliminirten Tiefe eingestellt, sondern um einige Klafter fortgesetzt worden wäre.
Es sei mir zum Schlusse gestattet, noch kurz von den Tiefe- und Wasserquantums-Bestimmungen, die von dem Quellenfinder gemacht werden, zu reden, deren Möglichkeit von Vielen abgesprochen worden ist. Die Bestimmungen der Tiefe anlangend, so ist nicht zu leuguen, daß in vielen Fällen dem Quellenfinder jeder Anhaltspunkt fehlt, Angaben mit Anspruch von nur annähernder Genauigkeit zu machen, wenn er nicht durch praktische Erfahrung und langjährige Erfolge das zu ersetzen in der Lage ist, wozu ihm wissenschaftliche Hülfsmittel keinerlei Anhaltspunkte bieten. In vielen Fällen jedoch ist eine solche Tiefebestimmung möglich und wissenschaftlich zu begründen.
Bestehen in einer Gegend, in der Wasser gesucht werden soll, bereits auf größerer oder geringerer Distanz mehrere Brunnen, durch welche die Reihenfolge der einzelnen Schichten, ihr Neigungswinkel und die Tiefe der wasserdichten Unterlage bekannt ist, so lassen sich aus diesen Daten Profile zusammenstellen, die ein richtiges Bild der Lagerungsverhältnisse geben und zu Schlüssen auf die Tiefe zu grabender Brunnen berechtigen. In gleicher Weise können Steinbrüche, Erdfälle, das Bett klarer Bäche, die Schichtenköpfe der Gesteine, mit einem Worte die Beobachtung aller Erscheinungen, welche dem Geognosten und dem Bergmann sichere Anhaltspunkte zur Eruirung der Gesteine, zur Ermittelung der Streichungsrichtung und des Einfallens derselben, sowie zur Bestimmung ihrer Mächtigkeit geben, auch dem Quellenfinder zu seinen Bestimmungen gleich positives Material liefern.
Gräbt man auf eine Quelle im Thale, so braucht man nur die Niveaudifferenz zwischen dem Punkte, auf dem die Brunnenanlage steht, und der Ausmündung derselben in’s nächste Bach- oder Flußbett zu erheben. Der Brunnen wird stets um etwas weniger tief werden, als diese Niveaudifferenz beträgt. Ist oberhalb der neuen Brunnenanlage die Quelle an irgend einem Punkte entweder durch die Natur oder durch Menschenhand zu Tage gelegt, so ist eine Tiefebestimmung noch um so leichter und sicherer zu machen. Kreuzen sich die wasserdichten Schichten zweier Gehänge im Thale, so ist der Kreuzungspunkt die Sohle des unterirdischen Wasserlaufes, und durch die Konstruktion der Einfallswinkel beider Thalabhänge ist auch gleichzeitig die Tiefe der Brunnenanlage zu ermessen.
Wenn ähnliche Bestimmungen auch, wie gesagt, nicht für alle Fälle ausreichen, so wird doch, wie dies die obigen Beispiele zeigen, eine wichtige Frage mit ihrer Hülfe meistentheils gelöst: man erfährt das Maximum der Tiefe, die eine Quelle auf dem Punkte, auf dem man graben will, haben kann, und folglich das Maximum der Kosten, die zu ihrer Ergreifung nothwendig werden müßten. In gleicher Weise gilt das eben Gesagte für die Volumenbestimmungen einer Quelle.
Nach der oben gegebenen Entstehungsart der Quellen, die der Entstehung und dem Laufe oberirdischer Wasserläufe ganz analog ist, wird die Quelle näher zu ihrem Ursprunge ärmer, gegen ihre Mündung dagegen immer wasserreicher werden. Jedes Seitenthal, jeder Bergabhang bringen ihr neue Wasserflüsse zu. Kennt man die Länge des Hauptthales und der ober dem Brunnenpunkte einmündenden Seitenthäler, berechnet man sich ferner, aus der Höhe und dem Neigungswinkel der Berglehnen, das Oberflächenterrain, das diese den Meteorwässern bieten, weiß man endlich in Folge meteorologischer Beobachtungen, die in Folge der bereits gemachten Erhebungen fast überall bekannt sind, den durchschnittlichen wässerigen Niederschlag per Quadratfuß oder per Joch: so kann man aus diesen Daten sich genau die Wassermenge berechnen, die in der betreffenden Gegend jährlich auf die obere Erdkruste niederfällt.
Das solcher Hand ermittelte Regenquantum, mit den Durchdringbarkeits-Coefficienten der betreffenden Gesteine multiplicirt, wird demnach hinreichende Anhaltspunkte über den Reichthum der Quellen geben, und wenn man auch nicht in die Lage gesetzt wird, [447] das Quantum mit mathematischer Genauigkeit zu bestimmen, so ist dieser Berechnungsmodus doch für die meisten Fälle genügend, und man wird beispielsweise einem industriellen Unternehmer sagen können, ob die Lage der Fabrik derart ist, daß ihre Bedürfnisse an Wasser durch Brunnengrabungen gedeckt werden können, oder ob es eine Unmöglichkeit sei, das hinlängliche Quantum zu beschaffen. Aehnliche Volumenbestimmungen lassen sich auch für Brunnenpunkte an den Abhängen der Gebirge und in der Ebene machen.
Diese Mittheilungen, denen ich mit Vergnügen weitere für den Fall folgen lassen werde, als dieselben des Interesses der Leser dieses Blattes nur einigermaßen werth gehalten werden, mögen darthun, daß die Quellenkunde, obgleich in ihrer Kindheit, einer wissenschaftlichen Begründung nicht entbehre und daß dem Quellenfinder keine übernatürliche Begabung zur Seite stehen müsse, um mit Erfolg zu wirken.
Zwei Knaben und zwei Fürsten. Am 30. August 1763 erschien in Frankfurt a. M. eine Concertanzeige in folgender Fassung: „Die allgemeine Bewunderung, welche die noch niemals in solchem Grade weder gesehene noch gehörte Geschicklichkeit der zwei Kinder des hochfürstl. Kapellmeisters Hrn. Leopold Mozart in den Gemüthern aller Zuhörer erweckt, hat die bereits dreimalige Wiederholung des nur für einmal angesetzten Concerts nach sich gezogen! Ja diese allgemeine Bewunderung und das Anverlangen verschiedener großer Kenner und Liebhaber ist die Ursache, daß heute, Dienstag den 30. August, in dem Scharfischen Saale auf dem Liebfrauenberge Abends 6 Uhr, aber ganz gewiß das letzte Concert sein wird; wobei das Mägdlein, welches im zwölften, und der Knab’, der im siebenten Jahr ist, nicht nur Concerte auf dem Clavessin oder Flügel, und zwar ersteres die schwersten Stücke der größten Meister spielen wird, sondern der Knab’ wird auch ein Concert auf der Violine spielen, bei Synfonien mit dem Clavier accompagniren, das Manual oder die Tastatur des Claviers mit einem Tuch gänzlich verdecken, und auf dem Tuche so gut spielen, als wenn er die Claviatur vor Augen hätte; er wird ferner in der Entfernung alle Töne, die man einzeln oder in Accorden auf dem Clavier, oder auf allen nur denkbaren Instrumenten, Glocken, Gläsern und Uhren etc. anzugeben im Stande ist, genauest benennen. Letztlich wird er nicht nur auf dem Flügel, sondern auch auf einer Orgel (so lange man zuhören will, und aus allen, auch den schwersten Tönen, die man ihm benennen kann) vom Kopf phantasiren, um zu zeigen, daß er auch die Art die Orgel zu spielen versteht, die von der Art den Flügel zu spielen ganz unterschieden ist. Die Person bezahlt einen kleinen Thaler. Man kann Billets im goldenen Löwen haben.“
Mit solchen Meßbuden-Affichen mußte man damals noch, wie es scheint, das Publicum zu der Production der edeln Musica herbeizulocken suchen! Des siebenjährigen Wunderknaben Vorname war Wolfgang. Unter seinen Zuhörern befand sich aber noch ein zweiter Wolfgang, der vierzehnjährige Wolfgang Goethe! Wer von allen damals Anwesenden hätte ahnen können, daß sich unter ihnen die zwei größten künstlerischen Genien des Jahrhunderts, und man kann sagen wie vieler künftigen noch! befanden? Wußten diese doch selbst noch nichts von den wunderbaren Geistesschätzen, die sie in ihren jugendlichen Köpfen schlummernd mit sich führten, und die dereinst zum Entzücken der Mit- und Nachwelt daraus hervorblühen sollten! Beide Knaben erstiegen später dieselben Höhen des Ruhmes, doch waren ihre Lebensschicksale in allem Uebrigen gar sehr verschieden. Mußte doch Mozart, obgleich der jünger Geborene, im 36. Jahr schon die Erde wieder verlassen, während Goethe das hohe Alter von 83 Jahren erreichte, und somit seinen großen Zeitgenossen um nicht weniger als 40 Jahre überlebte. Doch nicht von dem, was sie als Künstler geschaffen und gewirkt, kann selbstverständlich hier die Rede sein. Darüber so wie über ihre Lebensschicksale liegen ja der Schilderungen eine genügende Anzahl vor. Nur ein dunkeler Punkt aus Mozart’s kurzem Erdendasein möchte weniger bekannt, oder doch nicht in dem grellen Gegensatz aufgefallen sein, den ein Vergleich des Verhältnisses beider Kunstheroen zu ihren Fürsten in’s Licht stellt. An die überaus glänzende und ehrenvolle Stellung Goethe’s zu seinem erhabenen Freunde Karl August und dessen Hofe braucht nur erinnert zu werden. Wie aber stand Mozart zu seinem Fürsten?
Das herbste Schicksal, das einen Genius von Mozart’s kindlicher Art treffen konnte, traf ihn; er gerieth ohne seinen Wunsch und Willen, durch das Dienstverhältniß seines Vaters, schon in früher Jugend unter die Botmäßigkeit des Erzbischofs von Salzburg, eines Fürsten jener damals noch viel verbreiteten Art, für welche die zu achtende Menschheit erst mit dem „Von“ anhub, gleichviel ob diesem Wörtlein durch wirklich adelige Thaten oder durch Buschklepperei auf den Landstraßen erworben war. Den erhabenen Genius, der des stolzen Pfaffen Residenz beehrte und berühmt machte, vermochte er nicht zu würdigen, gleichwohl merkte er an den Ehren und Huldigungen, die von auswärts herübertönten, daß er ein künstlerisches Kleinod von seltenem Werthe unter seinen – Bedienten besitze. Obwohl ihm das im Geheimen schmeichelte, haßte er doch den jungen Künstler, weil er sich nicht zu den hündisch furchtsamen Hofwedeleien erniedrigen konnte, die der erhabene Hirte von allen seinen Schafen erheischte, und die ihm am bereitwilligsten von seinen höheren Hofschranzen gespendet wurden. Darum suchte er Mozart durch Beschränkungen aller Art und die verächtlichste Behandlung zu demüthigen, und es ist ein halbes Wunder, daß der hohe Genius durch diese drückenden Verhältnisse nicht in seinem Streben erlahmt oder ganz zu Grunde gegangen ist. Tief fühlten Vater und Sohn diese abscheuliche Behandlung. Schon im Jahre 1777 schrieb Leop. Mozart an Amadeus nach Mannheim. „Du hast wohl Recht, daß ich den größten Verdruß, wegen der niederträchtigen Begegnung, die Du erdulden müssen, empfunden habe; das war es, was mir das Herz abnagte, was mich nicht schlafen ließ, was mir immer in Gedanken lag und mich am Ende verzehren mußte.“ Und das Jahr darauf meldete er ihm nach Paris. „Ich habe dem Baron Grimm alle unsere Umstände in zween langen Briefen geschrieben und mich in vielen Stücken, die Verfolgung und Verachtung, die wir vom Erzbischof ausgestanden, betreffend, auf Deine mündliche Erzählung berufen.“
Wie glänzend für seine beschränkten Mittel stellte Karl August seinen großen Dichter auch in pecuniärer Hinsicht! In den Diensten des Erzbischofs mußte Mozart darben. Seine Besoldung betrug lange Zeit 12 Gulden 30 Kreuzer monatlich, 150 Gulden jährlich! Dafür mußte er nicht allein als Orchestermitglied und Virtuos arbeiten, sondern auch zahlreiche Compositionen liefern, für die er niemals einen Heller erhielt, wohl aber stets den verächtlichsten Tadel erfuhr. Der Erzbischof sagte z. B. zu Mozart, „daß er nichts von seiner Kunst verstehe und erst nach Neapel in’s Konservatorium gehen müsse, um dort etwas zu lernen!“ Das war freilich nicht seine Ueberzeugung, sondern Berechnung. Je stärker er seinen jungen Concertmeister seine Geringschätzung empfinden ließ, um so weniger, meinte er, konnte dieser es wagen, für seine Leistungen einen höheren Gehalt als 150 Gulden in Anspruch zu nehmen. – Trotz aller dieser Elendigkeiten beredete der Vater seinen Sohn immer wieder, nach Salzburg zurück zu kommen und in den Diensten des Erzbischofs auszuhalten, da er bei seiner Jugend so bald noch nicht auf eine bessere Anstellung anderswo hoffen könne, und gutmüthig und ergeben folgte der liebevolle Sohn des verehrten Papa Ermahnungen, und hielt aus bis zu seinem 25. Jahre, wo die Erlösung aus dem schimpflichen Joche endlich kam.
Mitte März des Jahres 1781 nämlich wurde er von dem Erzbischof nach Wien befohlen, wo letzterer sich eines Processes wegen aufhalten mußte. Dort wollte er mit dem außerordentlichen Künstler glänzen, ihm aber keineswegs die Vortheile gönnen, die sich dem bereits hoch berühmten und allgemein geschätzten Virtuosen und Componisten in der musikliebenden höheren Wiener Gesellschaft boten. Nur wo der Erzbischof eingeladen war, erlaubte er seinem „Hausvirtuosen“, sich – umsonst zu produciren. Sogar eine Gelegenheit, sich bei der Gräfin Thun vor dem Kaiser hören zu lassen, entzog er ihm durch die Mitnahme in eine andere Gesellschaft. Es ekelt Einen an, alle die Erbärmlichkeiten des mißgünstigen Priesters weiter zu verfolgen.
Glücklicherweise für Mozart trieb der Erzbischof in Wien seine verächtliche Behandlung so weit, daß der überstraff gespannte Strang endlich zerriß. Als nämlich die Rückreise der Capelle von Wien nach Salzburg befohlen wurde, bat Mozart wegen seiner noch einzucassirenden Gelder für gegebenen Unterricht etc. noch einige Tage zurückbleiben zu dürfen. Da wurde er vor den Erzbischof citirt und mit folgenden Worten empfangen: „Nun, wann geht Er denn, Bursch?“ Mozart antwortete, wie ihm von Wohlmeinenden gerathen worden, um den Zorn des Gefürchteten zu beschwichtigen, daß er heute Nacht habe abreisen wollen, die „Ordinari“ aber schon besetzt gewesen sei. Da fuhr Se. Fürstl. Gnaden folgendermaßen auf Mozart los: „Er ist der lüderlichste Bursch, den ich kenne; kein Mensch bedient mich so schlecht wie Er. Ich rathe ihm, heute noch wegzugehen, sonst schreibe ich nach Haus, daß ihm die Besoldung eingezogen wird. Er ist ein Lump, ein Lausbub, ein Fex!“ Mit bebender Stimme fragte Mozart: „So sind also Ew. Hochfürstl. Gnaden nicht zufrieden mit mir?“ „Was,“ fuhr der Erzbischof noch wüthender auf, „Er will mir drohen? Er Fex? o Er Fex! Dort ist die Thür! Ich will mit einem solchen elenden Buben nichts mehr zu thun haben!“ – Da riß endlich Mozart die Geduld. „Und ich mit Ihnen auch nicht mehr!“ erwiderte er und ging seiner Wege. Auf mehrere nun wiederholt eingereichte Abschiedsgesuche erhielt Mozart keine Antwort. Man hatte die Schreiben, aus Furcht vor dem Erzbischof, nicht übergeben; denn verlieren wollte er Mozart keineswegs, und daß dieser seinen Dienst wirklich verlassen könne, hielt er gar nicht für möglich. Aber Mozart blieb fest und trug endlich ein neues Abschiedsgesuch selbst zu dem Erzbischof. Als er sich in dem Vorzimmer einfand und um eine Audienz bat, setzte eine kammerherrliche Creatur des Erzbischofs, Graf Arco, den früheren Brutalitäten die Krone auf. Nachdem er Mozart mit Bursch, Flegel und anderen Schimpfnamen tractirt hatte – warf er ihn mit einem Fußtritt zur Thür hinaus.
So wurde Wolfgang Amadeus Mozart, der fünfundzwanzigjährige Mann und hochberühmte Künstler von einem Fürsten behandelt, der sich einen „von Gottes Gnaden“ Erwählten nannte. Furchtbar hat sich aber auch der mißhandelte Genins dafür gerächt. An dem Triumphwagen seines unsterblichen Ruhms schleifte Mozart seinen ehemaligen Gebieter Hieronymus Joseph Franz von Paula Graf Colloredo, Bischof von Gurk, Erzbischof von Salzburg, und gab ihn der Verachtung aller Zeiten preis.
Zum deutschen Turnfest in Leipzig. Seit wir den Lesern der „Gartenlaube“ in einem längeren Artikel [8] von den Vorbereitungen erzählten, die man in Leipzig zur Feier des dritten allgemeinen Turnfestes macht, hat sich sowohl im Festorte selbst, als unter der festtheilnehmenden Turnerschaft Vieles bestimmter gestaltet.
[448] Fangen wir gleich da an, wo der ganze Festesjubel sich sammeln und entfalten wird – auf dem Festplatze. Wer da weiß, wie die nahe Aussicht auf eine bevorstehende großartige Feier eine ganze Bevölkerung in immer steigende Erwartung und Aufregung zu versetzen im Stande ist, der wird es den guten Leipzigern nicht verargen, daß sie schon jetzt Sonntags und an schönen Wochenabenden in unabsehbaren Zügen zum Zeitzer Thore hinauspilgern, um sich an dem allmählichen Wachsthum der festlichen Bauten zu ergötzen. Mehrere Hunderte von Zimmerleuten sind an allen Ecken und Enden des weitläufigen, mit vier Ellen hohen Planken umgebenen Platzes emsig beschäftigt; die massenhaften Gebälke, schon vorher auf den Zimmerplätzen in der Stadt zurechtgearbeitet, fügen sich zusehends zum Riesenbau zusammen, der schon heute – vierzehn Tage, bevor unsere Leser diese Zeilen zu Gesicht bekommen – in seinen allgemeinen Umrissen erkennbar ist. Eile thut aber auch, mit dem Bau der Festhalle wenigstens, Noth, denn schon am 26. Juli soll der große Bau vollendet sein – so lautet wenigstens der Contract mit den Festwirthen, die an diesem Tage ein Probeessen veranstalten wollen. Und dieses Probeessen lassen sich die Leipziger nicht nehmen, in allen Schichten der Bevölkerung freut man sich auf den „Vorgeschmack“ der Feiertage; einen Richtschmaus will man halten, an dem sich ganz Leipzig männiglich betheiligt – wer weiß denn auch, ob während des eigentlichen Festgedränges für den Leipziger Bürger cum familia ein behäbiges Plätzchen in der Festhalle so leicht zu finden ist. So verbindet sich mit den regelmäßigen Inspectionswallfahrten, die von Hunderten und Tausenden nach dem Festplatze unternommen werden, ein solides, materielles Interesse; die rüstig arbeitenden Zimmerleute wissen das und stehen nicht an, den neugierigen Zuschauer freiwillig oder unfreiwillig seinen Tribut „für den Durst“ zahlen zu lassen. Wir bemerken übrigens, daß die Beschreibung der Festhalle, die wir neulich geliefert haben, nicht mehr ganz zutreffend ist; es fallen nämlich in Wirklichkeit die beiden vieleckigen Seitenbauten hinweg. Die Kosten des Baues stellen sich dadurch auf circa 5000 Thaler billiger, ohne daß ein wesentlicher Verlust an Sitzplätzen im Innern entsteht. Die Orchester, zu deren Aufnahme jene Anbauten anfänglich bestimmt waren, werden nunmehr in dem früher freigelassenen mittleren Raume der Halle ihren Platz finden. Außer der Festhalle erheben sich zahlreiche kleinere Bauten auf dem Festplatze: die große Bude für den Festausschuß, eine kleinere für ein telegraphisches, ein Post-, ein Wechselbureau etc., denen sich in ziemlicher Anzahl die größeren und kleineren Wirthschaftsbuden zugesellen; eine fliegende Restauration gewährt schon jetzt den Arbeitern und den Besuchern die zum Lebensunterhalte nöthigsten Erfrischungen.
Während nun der Bauausschuß unablässig thätig ist im Anfeuern der Arbeitsleute auf dem Festplatte, hat auch der Wohnungsausschuß eine riesige Arbeit begonnen und – Gott sei Dank! – bald und mit Glück vollendet. Freiquartier für 10,000 Mann – für ein Heer zu beschaffen, erforderte selbst in der quartiergewohnten Meßstadt Leipzig ganz besondere Anstrengungen. Daß die Leipziger, so sehr sie auch an der Idee des Festes hangen, dem Wohnungsausschusse ihre Quartierangebote nicht in den Schooß legen würden, wußte man wohl; die Leute mußten, jeder für sich, darum begrüßt werden, und das schöne Aemtchen fiel dem Wohnungsausschuß in höchsteigener Person zu. Es wurden also 10,000, sage zehntausend Briefe gedruckt, mit deren je einem alle diejenigen Insassen der Stadt bedacht wurden, von denen man eine Quartierabgabe erwarten durfte. Die ganze Stadt wurde nun in 21 Districte eingetheilt und in jedem dieser Districte hatten 2 Mitglieder des Wohnungsausschusses das Vergnügen, von Haus zu Haus, von Familie zu Familie „Quartiersammeln“ zu gehen. Da waren denn nun die meisten Bürger sehr zuvorkommend, und wußten auch die Herren Sammler wenig von splendiden Frühstücken u. dergl. zu erzählen, so loben sie doch durchweg die liebenswürdige Art, mit der ihnen 1, 2, 3 und mehr, ja hier und da 30, 40 und 50 Turnerquartiere zugesagt wurden. Trotzige Weigerungen kamen nur in den seltensten Fällen und nur bei solchen Leuten vor, an denen nun einmal in Bezug auf Gemeinsinn Hopfen und Malz verloren ist; desto mehr Beispiele rührender Opferfreudigkeit: sahen wir doch selbst ein altes Mütterchen im vierten Stock ganz entrüstet darüber, daß sie der Wohnungsausschuß nicht mit einer Aufforderung bedacht hatte, sie wollte unter jeder Bedingung ihr kleines, aber nett und reinlich gehaltenes Stübchen einem fremden Turnersmann überlassen – „für mich,“ sagte sie, „findet sich schon noch ein Plätzchen auf dem Boden.“
Sind die Quartiere geschafft, so wird nun der Wohnungsausschuß keineswegs schon pensionirt; denn die Wohnungen wollen auch vertheilt sein unter die erwarteten Festgenossen – und das hat nicht Zeit bis zu dem Tage, da diese zu Tausenden in die Thore Leipzigs einziehen werden, da käme man mit zehn Wohnungsausschüssen zusammengenommen nicht zurecht. Die Sache macht sich vielmehr so: Bis zum 1. Juli mußten sämmtliche Turner, welche Leipzig zum Feste besuchen und dort frei wohnen wollen, ihre Namen beim Wohnungsausschuß angemeldet haben; diese Namen werden nun auf besondere „Quartierkarten“ geschrieben, zu gleicher Zeit aber auch der Name und die Wohnung eines der gastfreien Leipziger. Ist diese Arbeit vollendet, so werden die Karten ungesäumt an die Vorstände der Turnvereine entsendet, die sie ihrerseits an ihre zum Feste reisenden Mitglieder vertheilen. So wissen die Turner schon, ehe sie von Hause abreisen, wer ihr edler Gastfreund sein wird, alles sonst unvermeidliche Gedränge an den Quartierbüreaux wird beseitigt, und die Festgenossen brauchen nicht, wie dies bei anderen Festen häufig der Fall war, stundenlang zu warten, ehe sie in die Idylle ihrer Festwohnung einziehen können – eine probate Erfindung namentlich für die bei Nacht und Nebel ankommenden Fremdlinge.
Der Besuch des Festes aus den verschiedenen Gegenden des Vaterlandes wird sehr wesentlich durch die von den meisten deutschen und deutsch-österreichischen Eisenbahnen gewährte Fahrpreisermäßigung bedingt. Eine Ausnahme bilden die sämmtlichen preußischen und baierischen Staatsbahnen; die bayerische Ostbahn, die Main-Neckar-, Main-Weser- und herzogl. nassauische Eisenbahn. Daher wird der Festbesuch aus dem südwestlichen Deutschland verhältnißmäßig viel schwächer sein, als aus Oesterreich, dessen größere Städte namentlich bedeutende Contingente stellen. Den Turnern der ost- und westpreußischen Küstenstädte ist ein reichlicher Ersatz für die nachgesuchte, aber abgelehnte Eisenbahnfahrpreisermäßigung durch die „Neue Dampfercompagnie“ geboten worden, welche sie aus Königsberg, Memel, Elbing, Danzig etc. für ein Minimum (2 Thaler pro Mann für Hin- und Rückfahrt) nach Stettin bringen wird; von hier aus schließen sie sich den Pommern an.
Solidarität der Hausthiere. Unsere Beobachtungen der Hausthiere sind noch lange nicht erschöpft, und die Kenntniß ihres Lebens und ihrer Natur kann noch sehr erweitert werden, wie folgender merkwürdige, wahrheitsgetreue Vorfall darthut. Im gothaischen Dorfe Wipperode, am Fuße des nordwestlichen Thüringerwaldes, warf in einem Bauernhause die schon ältliche Sau so viel Junge, daß sie über der Geburtsarbeit verendete. Vergebens boten die Hausbewohner Alles auf, die Ferkel durch künstliche Mittel zu erhalten; sie starben noch vor Nachts bis auf zwei, und auch diese mußte man ihrem Schicksal überlassen. Die Leute waren am folgenden Morgen nicht wenig erstaunt die beiden Thierchen nicht etwa todt zu finden, wie sie erwartet, sondern sie überhaupt gar nicht zu finden. Alles Suchen war vergebens. Bald darauf wird bemerkt, daß die trächtige Hauskatze sich ebenfalls ihrer Bürde entledigt hat, aber sie hat es an einem so versteckten Orte gethan, daß die jungen Katzen ebenfalls nicht zu finden sind. Nach einigen Wochen hört die Hausfrau auf dem entlegenen Heuboden ein seltsames Grunzen, dem sie nachgeht, und sie findet zu ihrem Erstaunen nicht nur eine artige Zahl junger Kätzchen, sondern auch die beiden jungen Schweinchen, die mit jenen lustig spielen, im Neste.
Die Katze, die doch erst vor Kurzem geheckt hatte, hatte in der Nacht nach dem Tode der Sau die beiden Ferkel aus dem Schweinestall auf dem Hofe weit fort auf den Heuboden zu ihren Jungen getragen und sie neben diesen mütterlich gesäugt. – Dr. A. Brehm, dem dieser Fall mitgetheilt wurde, nannte ihn das non plus ultra aller Beispiele von der Solidarität der Hausthiere.
Erklärung. Der in Nr. 25 erschienene Artikel, überschrieben „Eine unheimliche Seefahrt“,
hat auf eine Anzahl von Lesern der „Gartenlaube“ den
Eindruck hervorgebracht, als ob die geschilderten Scenen sich an Bord eines
jener sichern und schnellen Dampfer zugetragen hätten, welche die New-York-Bremerlinie
des Norddeutschen Lloyd bilden. Jedermann aber, der die Erzählung
aufmerksam zum zweiten Male liest, wird ohne große Mühe zu dem
Schlusse kommen, daß hier die Rede von einem amerikanischen Schiff und
einem amerikanischen Capitain ist. Um übrigens jeden Zweifel zu lösen, will
ich hinzufügen, daß der traurige Vorfall sich im Jahre 1852 an Bord des
Dampfers Washington, Capitain Floyd, ereignete und folglich auch nicht den
leisesten Schatten auf die großartigen und für den nationalen Seehandel so
wohlthätigen Leistungen des Norddeutschen Lloyd werfen kann. Dieses zur
Steuer der Wahrheit.
- ↑ Das Haus des Geistlichen steht übrigens hier jedem Rath- und Trostbedürftigen jederzeit offen. Diese besonderen Termine sollen darum nur zur Ersparung von Zeit und Mühe dienen. Ich kenne Gemeinden, in denen seit Menschengedenken kein Proceß vorgekommen; jeden Streit hat der Herr zu schlichten; wie der entscheidet, so geschieht’s. Freilich hängt von der Persönlichkeit des Geistlichen viel ab.
- ↑ Die Marene (nicht zu verwechseln mit der Muräne) ist ein den ostpreußischen Landseeen eigenthümlicher delicater Fisch, der neuerdings auch unter dem Namen „russische Sardinen“ marinirt in den Handel kommt.
- ↑ Vom Bauer wird der Kaffee jetzt nur an großen Festtagen genossen. Das gewöhnliche Frühstück und Vesperbrod besteht abwechselnd aus Brod-(Milch-) Suppe, grauen Erbsen oder Keilchen.
- ↑ Die Geschichte hat noch viel an Friedrich Wilhelm I. gut zu machen. Noch bis heute besitzen wir keine parteilose, genaue Schilderung dieses bedeutenden Mannes. Seine Schwächen werden fast immer hervorgehoben. Sie taugen trefflich für historische Zerrbilder. – Was er in der That seinem Lande war, bleibt unerwähnt.
- ↑ Kirchen zum gemeinschaftlichen Gebrauch zweier Confessionen.
- ↑ WS: Fehlendes D ergänzt.
- ↑ Dieser Gegenstand hat, namentlich seit dem Auftreten des bekannten französischen Quellensuchers, die Presse so lebhaft beschäftigt, daß die Redaction es für ihre Pflicht hielt, ihren Lesern die Ansicht eines deutschen Quellenfinders über diese neue Erscheinung von diesem selbst vorlegen zu lassen.
- ↑ Nr. 22, S. 346 ff.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Boussingoult’s