Die Gartenlaube (1863)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[625]
Im Damenzimmer.
Skizze von Louise Ernesti.
1.

Eines der traurigsten Gefühle des Menschenherzens ist, wenn es sich losreißen soll und muß von der Stätte, wo sein Glück geblüht, sein Glück zurückbleibt. Gleich tief mag ein Jeder das empfinden, und doch – wie verschieden wird’s ertragen! Der Eine nimmt’s hin, still und ergeben, der Andere giebt seinen Jammer durch laute Klagen kund; Dieser findet Trost in dem Gedanken, daß es eben ein unabwendbares Geschick ist, vielleicht so besser, als anders sei, Jener wiederum sträubt sich gegen das an ihn herantretende Weh bis zur letzten Secunde, bangt, hofft, verzweifelt und sucht – trotzdem kein Entrinnen möglich – unablässig einen Ausweg im Labyrinthe seines Elends!

Wie ertrug die Frau, die wir vor uns sehen, jenes Schicksal? Daß sie nicht zu den sanften geduldigen Charakteren gehörte, zeigte der flüchtigste Blick auf ihre Erscheinung, die ungeachtet der leidenschaftlichen Aufregung, welche ihr ganzes Wesen verrieth, wunderbar schön, außerordentlich anziehend und fesselnd war. Zum herrlichsten Modell einer Niobe hätte sie dienen können, wenn sie still, tief in ihren Schmerz versenkt dastand; einer wilden Rachegöttin aber wurde sie ähnlich, flammte das dunkle Auge hell auf und flogen über die feinen Linien des Gesichts die finstern Schatten böser Leidenschaften. Nie würde man in solchen Momenten für möglich erachtet haben, daß jene funkelnden Augen einst ruhig, mild wie Sterne geleuchtet, diese von Zorn, Haß, ohnmächtiger Wuth entstellten Züge, vormals das reinste Glück, die höchste Seligkeit verkündet.

Sowie es von Zeit zu Zeit licht aufblitzte in den nachtschwarzen Augen, so durchblitzten auch fort und fort neue Ideen das Hirn jener Frau, die sich schon Tage lang mit Plänen und Entwürfen gemartert; wie diese bebenden Lippen, so zuckte auch immer und immer wieder krampfhaft das Herz, wenn der Rest von Vernunft oder kurze Ueberlegung das mühsam Ersonnene als Trugbild einer glühenden, aufgeregten Phantasie erkannt und verworfen. Kein Ausweg! – keiner!

„Fort! fort!“ so stieß die Unglückliche nach jeder neuen bittern Erkenntniß laut, fast schreiend, dieses eine für sie so inhaltschwere Wort aus; aber kaum daß sie sich erhoben, nur wenige Schritte gegen die Thüre gemacht, da taumelte sie mit dem leisen Wehruf: „ich kann nicht! – kann nicht!“ nach dem Divan zurück.

Es mochten wohl schöne goldene Bilder einer vergangenen Zeit sein, die jetzt an ihrer Seele vorüber zogen, denn ein strahlender Ausdruck von Glück kam plötzlich über sie, und träumend schloß sie die Augen, daß sie den Mann nicht sahen, der unbemerkt, eine hohe ernste Gestalt, in das Zimmer getreten war. Da schaute sie auf, und ihr Blick traf ihn. Um wie viel heller leuchtete nun ihr tiefes Auge, welch wunderbarer Schein von Licht und Glanz überstrahlte jetzt erst ihre beweglichen Züge. „Du hier! – Du – zu mir gekommen!“ rief sie aufjubelnd und stürzte der Thür entgegen, an der die stolze, so schöne Erscheinung noch, ohne ein Wort zu sagen, weilte. Kraftlos sanken ihre ausgebreiteten Arme nieder, als er ruhig um einige Schritte zur Seite trat und kalt, strenge sagte:

„Der Wagen wartet jetzt drei Stunden, Gräfin, es ist die höchste Zeit, daß Sie reisen – endlich endlich dieses Haus verlassen!“

Diese Worte, die einzigen von den Lippen, die einst tausend Worte der Liebe gesprochen; diese Worte, von kurzem eisigem Blick aus Augen begleitet, die einst lang, tief voller Zärtlichkeit an ihren Zügen gehangen. – Armes Weib, das erleben zu müssen! – beklagenswerthes Weib, diesen Wechsel Dir selbst bereithet zu haben!

Vernichtet stand sie da und schaute starren Blicks auf die leere Stelle, wo er noch eben geweilt. Vielleicht würde sie das Ganze als Vision betrachtet haben, wenn sie nicht bald neuen Beweis für die furchtbare Thatsache erhalten hätte.

Ueber die Schwelle des Zimmers glitt wenige Minuten, nachdem der Mann gegangen, eine ältere Dame mit milden, sanften, wenn auch kummervollen Zügen. Sie näherte sich der regungslos Dastehenden und freundlich ihren Arm um die Unglückliche schlingend, sagte sie liebevoll: „Arme, arme Natalie!“

„Was willst Du, Clara?“ entgegnete die Frau heftig und entwand sich dem Arme, „willst Du Dich an den Früchten Deiner Thaten erfreuen, an meinem Jammer weiden? oder,“ fügte sie bitter hinzu „kommst Du auch, mich zu mahnen, daß die Pferde ungeduldig sind, das Opfer Deiner Ränke zu entführen und Dir freien Spielraum zu lassen?“

„Liebe Natalie, Nichts von dem Allen! ich kam einzig, Dich anzuflehen, zu reisen – da Dein Bleiben Alles verschlimmert. O geh, Natalie, und ich schwöre es Dir zu, bei meiner Seele Seligkeit, Du wirst’s nicht bereuen, Dich jetzt seinem Willen gefügt zu haben. Was von meiner Seite geschehen kann, Dich bald, so bald wie möglich hierher zurückzubringen, es wird geschehn. Glaube, vertraue mir.“

Ein höhnisches Lachen war die Antwort; dringender fuhr die Andere fort:

„Natalie, verscherze nicht Dein ganzes Glück! Noch einmal: reise, reise! Reize ihn, den Du so furchtbar beleidigt hast, nicht zum Aeußersten.“

[626] „Sparen Sie Ihre Worte, Comtesse Clara, ich bleibe – ich reise nicht.“

„So helf Dir Gott!“

„Ja, mag er mir helfen, ein Herz wieder zu erringen, das Du mir völlig entfremdet – geh, Scheinheilige.“

„Ich habe Dir noch diesen Brief zu übergeben, er ist von Rudolf.“

Der Brief wurde heftig aus der Hand gerissen, das Abschiedswort nicht beachtet, und als die Andere das Zimmer verließ, entfaltete Jene hastig das Schreiben, dessen Inhalt lautete:

„Für den Fall die Prophezeiung meiner Schwester sich erfüllt, Sie trotz meines entschieden erklärten Willens und Ihres mir gestern gegebenen Wortes heute dennoch nicht zu Ihrer Mutter reisen – diese Zeilen! – Mag der kurze Inhalt des Briefes Sie an das lange Leid mahnen, das Sie mir bereitet, an die lange Geduld, die ich mit Ihnen gehabt und welche nun endlich ihr Ende erreicht hat.

Als vor ungefähr vier Jahren Miß Ellen Wood zu unserer ältesten Tochter als Bonne kam, nannten Sie dies junge Mädchen einen Engel, behandelten sie während der ersten Monate wie eine Schwester. Ich bat Sie zu verschiedenen Malen die Grenze inne zu halten, die zwischen Ihnen und jener jungen Engländerin bestehen sollte. Sie scherzten über meinen Stolz, Sie nannten mich sogar hochmüthig und ahmten in liebenswürdiger Neckerei die Mienen des „Weiberfeinds und Tyrannen“ nach, ja Sie versicherten, Miß Ellen, das sechzehnjährige Kind, fürchte sich fast zu Tode vor meinem Ernste, meiner Strenge und starren Unbeugsamkeit. Plötzlich, ohne allen Grund, beschuldigten Sie Ihren bisherigen Liebling der Koketterie, der Gefallsucht, tadelten die Wahl ihrer Kleidung, spotteten über ihre unpassende Haartracht und – beleidigten das arme erschrockene Geschöpf täglich – stündlich durch die liebloseste, ungerechteste Behandlung. Ich schwieg dazu, indem ich hoffte, Miß Ellen würde ihr Ehrgefühl von dannen treiben; leider war sie Waise, gänzlich unbemittelt und – wie Sie mir einst selbst erzählt – von harten Verwandten roh behandelt und scheute auch, so schnell aus ihrer ersten Stellung zu treten. Am Geburtstage unseres Töchterchens – dem siebenten Jahrestage unserer Ehe – da, Gräfin, verlangten Sie unter Thränen von mir, ich solle Miß Wood aus dem Hause jagen, weil sie gewagt, heimlich mein Bild zu zeichnen und es unserm Kinde zu schenken. Vergeblich warf ich ein, daß sie ja auch Ihr Bild gemalt, vergeblich bat ich Sie, uns nicht lächerlich zu machen, und verweigerte entschieden, ein junges schutzloses Mädchen auf so ehrlose Weise zu entlassen.

Wie Sie jene Weigerung und meine Worte auslegten – Wissen Sie! – Ebenso wenig, wie ich aber jene furchtbare Stunde vergessen, wo ich die erste entsetzliche Entdeckung Ihres Verdachtes, dieses so unwürdigen, unbegründeten Verdachtes machte, wo ich einsah, Ihr Vertrauen verloren zu haben – ebenso wenig werde ich je die Erinnerung an die Schmach verbannen können, mit der Sie wenige Wochen später mich – den völlig Schuldlosen, überhäuften. Haben Sie diesen schrecklichsten aller Tage vergessen? Wie ich eines Morgens arglos in die Bibliothek trat und dort Miß Ellen Wood fand, die ein Buch suchte, und wie Sie, ehe wir noch eine Sylbe zusammen geredet, kaum uns begrüßt hatten, wie eine Furie in den Saal stürzten und unter Thränen behaupteten, diese zufällige Begegnung sei eine verabredete Zusammenkunft, eine Zusammenkunft, die bereits Stunden gewährt! Erinnern Sie sich?

Ich schweige von jenem Eindruck – schweige von allen Folgen, ich mahne Sie nur an den Augenblick, als da, wo Sie in sinnloser Heftigkeit mich, Ihren Gatten, zu beschuldigen wagten, ein junges ganz unschuldiges Wesen des Schlimmsten anklagten – als da plötzlich mein Diener, jener freche Bursche Christian Grunewald, aus dem an die Bibliothek stoßenden Lesezimmer trat und versuchte, den Zeugen unserer Unschuld abzugeben, Sie – Sie die Gattin – der Treue des Gatten versicherte!

Sie schickten in richtiger Erkenntniß der Thatsache, daß mir der Anblick jenes Menschen ein furchtbarer sein würde, Christian Grunewald mit einem Geschenk von 500 Thlr. aus dem Hause. Doch haben Sie gedacht, mit seinem Fortschicken auch in mir die Erinnerung an das bannen zu können, was die Veranlassung Ihres Schrittes gewesen? – haben Sie wirklich gedacht, durch großmüthiges Geschenk die Zunge jenes Elenden zu binden?

Christian Grunewald ist jetzt wieder in unserer Nähe, vor einigen[WS 1] Tagen sprach er mich an. Sie werden ihn sicherlich auch wiedersehen, und vielleicht bringt sein Anblick Sie zur vollen Einsicht dessen, was Sie mir einst angethan! – Von mir wollte dieser Freche Geld erpressen, damit er über jenen Vorfall ferner schweige. Kommt er mit ähnlich beleidigendem Antrag einmal zu Ihnen, weisen Sie ihn zurück, wie sich’s gebührt – geben Sie sich nicht, durch gar Nichts in die Hand dieses Menschen, der trotz manches Guten ein Elender, ein Verworfener ist!

Genug davon. Ich kehre zu unserm Leben, diesem furchtbaren fernern Leben zurück, das sich durch den Umstand um Nichts besserte, daß Miß Wood in gerechter Empörung und tiefgekränkt noch in derselben Nacht unser Haus verließ, wo Sie sie so ungerecht beschuldigt. Leider hatte sie keine andere Zufluchtsstätte, als bei der Baronin F*. Daß diese Dame das junge Mädchen nicht einsperrte und sie manchmal mit in Gesellschaft nahm, in der wir sie einige Mal trafen, das gab Ihnen neuen Anlaß zur Eifersucht! Fügte ein unglücklicher Zufall solch Zusammentreffen, wie unwürdig Ihrer benahmen Sie sich da – mit welch’ unwürdigem Verdacht beleidigten Sie das Mädchen – beleidigten Sie mich! – Zwei Jahre ertrug ich dies Leben – da trieb Sehnsucht nach einigen ruhigen Wochen mich nach der Schweiz. Was konnte ich dafür, daß Miß Wood, deren Ruf Sie ja in unserer Gegend systematisch untergraben, gerade in der Zeit aus Rücksicht gegen uns von der Baronin F* aus ihrem Hause entfernt worden? – Ich hörte davon bei meiner Rückkehr zuerst, und Sie blieben bei Ihrer Annahme: Miß Wood sei mir nachgereist, und wir – –

Nein, ich kann die Schmach nicht niederschreiben, mit der Sie mich, den Mann Ihrer Wahl, den Vater Ihrer Kinder abermals überhäuften! – Furchtbarer denn je zuvor war nur nach jener Reise unser Leben. Ein Dämon beherrschte Sie – Sie entwürdigten sich täglich mehr, indem Sie zum Spion Ihres Mannes herabsanken und selbst – jeden an mich anlangenden Brief heimlich öffneten. – Ich versuchte Alles: ich verließ mit Ihnen jene Gegend, wo man uns beobachtete und Sie stets an die unschuldige Ursache Ihres Mißtrauens gemahnt wurden; – ich hoffte, der Aufenthalt auf diesem Gute, wo wir die ersten glücklichen Jahre unserer Ehe verlebt, würde besänftigend auf Sie wirken, ich ließ meine Schwester, dies sanfte, engelgleiche Wesen, kommen – Alles – Alles vergeblich – Alles – Alles nur neuer Grund zu Scenen und Auftritten! – Als meine Geduld endlich zu Ende, als der Bogen sprang, den Sie zum Zerspringen angespannt, da wollten Sie in Schmerz und Reue vergehen, da gelobten Sie Aenderung – Besserung!

Ich glaubte Ihnen, hoffte auf Ihre Liebe, und was war das Resultat meiner Nachgiebigkeit? – In der Stunde, wo ich Sie überraschte, als Sie abermals einen an mich adressirten Brief öffneten – betheuerten Sie mit heiligen Schwüren, daß es nie wieder geschehen solle – ich aber gab Ihnen einfach mein Ehrenwort, daß, wenn Sie noch einmal in den Wahnsinn der Eifersucht auf Miß Wood verfielen, Trennung zwischen uns die Folge sein würde. Der Zeitpunkt kam früher, als ich gefürchtet, Sie brachen Ihren Schwur – ich aber halte mein Wort!

Rudolf, Graf B***.“

Gräfin Natalie hatte den Brief kaum beendet, da hörte sie das Fortrollen eines Wagens. Sie stürzte aus dem Zimmer und flog durch alle Räume des Hauses, wo sie ihren Gatten, ihre Kinder zu finden wähnte – fort Alle – fort auch ihre Schwägerin!

„Einen Wagen! – meinen Wagen!“ rief sie der Dienerschaft zu.

Bis auf den Haushofmeister zogen sich Alle zurück. „Der Herr Graf,“ sagte dieser ernst, „haben verboten, Ihnen heute und morgen einen Wagen zu geben.“

Obgleich sie wußte, ihr Befehl gelte gegen den seinen nichts, so forderte sie abermals das Verbotene, und erbleichte, zitterte, als Niemand ihr Wort beachtete, Keiner sich rührte. Sie eilte hinab zu den Ställen, ergriff den Zügel ihres Rosses; aber o Schmach für diesen stolzen, eigenwilligen Charakter – man entwand ihren Fingern den Zaum, führte das Pferd bei Seite, und als sie sich ihm abermals nähern wollte, sah sie, daß einer der Jäger ein Gewehr ergriff und nach dem edlen Thiere zielte.

„Was wollt Ihr thun, Anton?“ schrie sie entsetzt.

„Der Herr Graf befahlen, das Pferd zu tödten, wenn –“

„Gut – ich verstehe! ich will’s nicht! meinetwegen soll es sein Leben nicht verlieren.“

[627] Sie ging fort in ihr Zimmer zurück; ruhiger im Aeußeren, völllg verstört im Inneren trat sie dort ein. Niemand wagte, ihr zu folgen – Mittag, Abend vergingen, ohne daß ihre Klingel irgend einen der Diener oder die Dienerinnen herbeirief. Als endlich ihre Jungfer in das Gemach trat, war die Gebieterin nicht darin, auch im ganzen Schlosse nicht zu finden. Allen Vermuthungen und Befürchtungen machte der Schäfer des Gutes durch die Aussage ein Ende: „Ich sah die Frau Gräfin heut um Mittag über die Wiesen gehen und den Weg zum Walde einschlagen.“

Dort im Forsthause wohnte die Amme des Grafen, eine einfache, fromme, verständige Frau. Bei ihr glaubte man die verlassene Gräfin am besten aufgehoben.




2.

Mitternacht war nahe, als an der Eisenbahnstation E* der Schnellzug anhielt. Nur eine tief verschleierte Dame stieg aus, welche als einzige Bagage eine kleine Reisetasche bei sich trug.

„Ist’s wirklich so, daß die Züge seit gestern verändert sind?“ fragte sie den Bahnhofswärter, der mit einer im Sturme flackernden Laterne auf sie zuschritt.

„Wohin wollen Sie?“

„Nach A**.“

„Dahin geht der nächste Zug morgen früh vier Uhr, funfzig.“

„Also doch dann erst! wie spät ist’s jetzt?“

„Einige Minuten über halb zwölf.“

„Da muß ich ja fast fünf Stunden hier bleiben.“

Sie blickte sich um, zog Mantel und Schleier fester und schritt langsam, gedankenvoll vorwärts.

„Sie wollen doch nach der Stadt? warten Sie einige Minuten, dann werde ich Sie hin begleiten. Ist sonst Niemand da, der es könnte.“

„Kann ich diese paar Stunden nicht auf dem Bahnhofe bleiben?“

„Hier? hm – gehen Sie lieber zur Stadt, der Gasthof ist nicht weit.“

„So kann ich durchaus nicht hier bleiben?“

„Ist gegen die Verordnung, der Wartesaal auch kein Aufenthalt für Sie, die Sie so allein sind. Von zwei Uhr ab ist viel Leben hier.“

„Ist nicht ein Damenzimmer da?“

„O ja; doch es ist ungeheizt, sehr kalt.“

„Kann ich dort nicht bleiben? Bitte – wenn es geht.“

Sie zog bei den Worten ein Portemonnaie hervor, händigte dem Bedenklichen einen Thaler ein, und williger sprach er jetzt: „Nun, dann kommen Sie!“

Das Zimmer war bald erreicht und der Fremden geöffnet. Es zeigte sich als ein großes, ziemlich wüstes Gemach. In der Tiefe ein Sopha mit Tisch davor, eine Reihe Stühle an den Wänden seitwärts, das Ganze nur schwach, kaum erkennbar beleuchtet durch den Schein einer etwas trübe brennenden Gasflamme, der durch die Fenster jener nach dem großen Wartesaal führenden Glasthüre fiel.

Weniger durch das ungewisse Licht, als durch eine feuchte kellerartige Luft wurde der Raum unbehaglich.

„Es ist hier in der That sehr kalt,“ sprach die Fremde zusammenschaudernd. „ So werde ich Feuer machen.“

„Ach nein, das würde zu lange dauern, und ich sehne mich nach ein wenig Ruhe.“

„Sie reisten schon lang?“

„Zwei Nächte und einen Tag. Darf ich Sie um frisches Wasser bitten? der Kopf schmerzt mich so.“

„Gleich!“

Das Gleich dauerte etwas lange; doch dafür kehrte der Mann auch mit einem Korbe voll Holz und Kohlen zurück.

„Werd’ nur Feuer machen, und schlafen Sie dann ein wenig, ich bleib’ nebenan.“

„Sie werden mich aber doch sicher benachrichtigen vor Abgang des Zuges?“

„Ganz sicher! Also nach A** reisen Sie?“

„Mit dem Zuge, der dorthin fährt.“

„Da gehen Sie wohl weiter oder – bleiben Sie in A**?“

Sie sah den Fragenden, dessen Ton ihr auffiel, jetzt zum ersten Male genauer an, er beugte sich aber tief zum Ofen nieder, so daß sie nichts von den Gesichtszügen erkannte, und war wieder ganz beruhigt, als er im gleichgültigsten Tone fortfuhr:

„Sehen Sie dies helle Feuer, wahre Pracht solch eiserner Ofen!“

Hätte die Fremde nicht nach Zeitraum einer Stunde bereits geschlafen, die Wärme wäre ihr vielleicht unerträglich gewesen. Sie schlief so fest, daß sie nicht durch das Eintreten des Bahnwärters erwachte, der nach dem Feuer zu sehen kam, dies anfängliche Vorhaben indessen unterließ, auf den Fußspitzen dem Sopha sich näherte, den Schleier, welcher Kopf und Gesicht der Fremden umhüllte, ein wenig hob und ihn vielleicht auch wieder herabgelassen hätte, wenn eine leichte Bewegung der Schlafenden ihn nicht ängstlich gemacht. Das dichte, aber doch leichte Gewebe vorsichtig über die Sophalehne zurückschlagend, schaute er noch einmal in das jetzt unverhüllte Antlitz und wie zustimmend mit dem Kopfe nickend, murmelte er leise: „Dacht’ mir’s doch, daß sie es sei, sowie ich diese Stimme und diese eigenthümliche Aussprache hörte.“

Er schlich vorsichtig fort und hinaus, lehnte die Thür nur an, und nahm am Ofen im Wartesaale Platz, an dessen anderer Seite ein kleiner Kellner schnarchend auf Stühlen lag.

Augenscheinlich trachtete er dem Beispiel des jungen Burschen zu folgen, und die Ausführung der That war nahe, da öffnete sich das geschlossene Fenster in der Wand hinter dem Büffet, und die Stimme des Restaurateurs rief mit bebendem Ton: „Friedrich! Friedrich!“

Friedrich schnarchte weiter, der Andere sprang auf.

„Ach Grunewald, Ihr hier! welch ein Glück! eilt, was Ihr könnt, zum Doctor, meiner Frau geht es wieder schlimmer!“

„Gern, gern, Herr Schulz,“ erwiderte der Wärter, „doch ein Wort.“

„Was wollt Ihr? Lauft, ich bitte.“

„Herr Schulz, hört nur – dort im Damenzimmer ist Jemand – achtet ein wenig darauf – es ist die schöne Engländerin, von der ich Euch gestern, als Graf B**** hier ohne Frau durchkam, die Geschichte erzählte und die –“

„Gott im Himmel, was geht mich die Dame und ihre Geschichte an, wenn meine Frau todkrank ist! Wie kann ich auf sie achten, dort, wo sie nicht einmal ein Recht hat zu bleiben und mir noch Ungelegenheiten daraus erwachsen können!“

Er verschwand, der Wärter trat an den Kellner heran und ihn am Arme schüttelnd, rief er: „Schlafratte, thu Deine Pflicht, wache und gieb hier Acht, oder –“

Der Kleine sprang erschrocken auf, Bahnwärter Grunewald aber enteilte dem Saale, und als er kaum aus dem Hause war, steckte ein junges Mädchen mit verschlafnem Gesicht den Kopf in die Thüre und rief: „Ach bitte, Friedrich, helft mir ein wenig draußen beim Feuer. Die Frau soll Thee haben, und der Sturm läßt das Holz gar nicht zum Anbrennen kommen. Ach, ist das ein Elend, solch ein Bahnhofdienst, nicht Tag, nicht Nacht Ruhe und nun noch eine todkranke Frau!“

Der kleine Friedrich eilte bereitwillig der Bittenden nach. Oede, leer blieb der große Wartesaal während einer Viertelstunde. Da plötzlich öffnete sich die Thüre, eine hoch und schlank gewachsene Frauengestalt in dunkler, eleganter Kleidung erschien auf der Schwelle, sah sich prüfend in dem Raume um und trat dann ein. Erschöpfung lag in jedem ihrer Züge, alle Bewegungen verriethen völlige Ermattung. Langsam, mit fast schleppendem Schritt ging sie voran, dem Damenzimmer entgegen, stieß die Thüre auf und sank auf den nächststehenden Stuhl, wo sie bald darauf die Augen schloß.

Wäre sie so dort nur eine Viertelstunde geblieben, hätte sie die müden Augen nicht geöffnet, es wäre ihr viel Elend – der traurigste Augenblick ihres Lebens erspart worden. Aber es mochte wohl ein böser Traum sein, der sie durchzuckte, sie fuhr im Schlafe auf und öffnete die Augen. Mit forschendem Blick den Raum durchschweifend, blieb er plötzlich an Etwas haften, das sie emporschnellte mit der Elastizität einer Feder. Ein „Unmöglich!“ entrang sich ihren Lippen, und doch war’s Gewißheit! Scheu, angsterfüllt, mit stockendem Athem trat sie dem Sopha nah, und nicht entschwand, wie sie gehofft, jenes reizende, jenes ihr so furchtare Bild! Dort lag diese Fülle und Pracht lichtblonder Locken, die sie so oft als Spiel der Winde gesehen, dort ruhte ein Köpfchen, so lieblich und schön, wie sie sich als Kind die Engel geträumt, dort lag still und friedlich im tiefsten Schlafe, was ihr den Frieden des [628] Herzens genommen, was den Schlaf von ihrem Lager scheuchte und sie nicht mehr Rast noch Ruhe finden ließ und jetzt einen entsetzlichen, einen furchtbaren Argwohn in ihrer Seele wach rief – den Argwohn: daß sie auf Befehl ihres Gatten an demselben Abend die Gegend hatte verlassen sollen, wo dieses Mädchen dahingekommen war! –

Wunderbares Verhängniß dieses Finden – trostloses, entsetzliches Verhängniß dieses Begegnen! – Erst nach und nach löste sich die Erstarrung ihres Körpers – ihres Geistes, wie Feuer rollte aber dann das Blut durch ihre Adern, und im wilden Chaos drängten sich die finstersten Gedanken; bald preßte sie die eiseskalten Hände gegen die brennende Stirne, bald gegen das laut pochende Herz, dann umklammerte sie den nahstehenden Stuhl, auf dem die kleine Reisetasche der Fremden lag, und sinnend, grübelnd verharrte sie so mehrere Minuten, ohne sich zu rühren.

„Ruhe Dir – Ruhe mir!“ so lautete die kurze, furchtbare Entscheidung eines entsetzlichen Kampfes, eines Kampfes, der ihr Alles – alles Andere, nur keine Ruhe gab! Und diese Frau, die wenige Stunden zuvor, in leidenschaftlichster Aufregung, dadurch zur Besinnung gekommen war, daß ihretwegen das Leben eines Thieres geopfert werden sollte, sie bebte jetzt nicht davor zurück, das eines Menschen, eines wehrlos daliegenden Wesens mit eigner Hand zu vernichten.

Ohne Beben, ohne Zittern traf die Frau ihre Vorbereitungen. Unhörbaren Schritts glitt sie zuerst zur Thüre, blickte sich in dem Saale um – als Alles leer – Todtenstille ringsum, zog sie rasch ein kleines Flacon aus der Tasche ihres Kleides, das sie wohl zu anderm Zweck dort verborgen. – Mit der linken Hand fest ihren Mantel vor Nase und Mund pressend, hob sie mit der Rechten vorsichtig den Deckel auf, schlich zum Sopha zurück und ließ die Schlafende nur wenige Minuten das tödtliche Gift einathmen!

Ein Aufzucken jener schlanken Gestalt, ein Umhergreifen der kleinen Hände, ein kurzer Blick aus umflorten Augen in das Dunkel – tiefes lautes Aufathmen – dann stärkeres convulsivisches Zucken des ganzen Körpers, ruhloses Hin- und Herwerfen, Röcheln – kurze Verzerrung aller Gesichtsmuskeln – plötzlich – Ruhe, völlige Ruhe und gänzliche Regungslosigkeit.

Starren Blicks verfolgte die Mörderin diesen kurzen Todeskampf, dann schüttete sie vorsichtig – zu ihrer völligen Beruhigung vielleicht – einige Tropfen der dunkeln Flüssigkeit in den halb geöffneten Mund der Todten, preßte hastig das Flacon zwischen die festgeschlossenen Finger der Hand, die auf dem Mantel ruhte, ergriff die kleine Tasche und stürzte aus dem Zimmer, durch den leeren Saal, hinaus in’s Freie. – In fliegender Hast über den Hof eilend, den ein hoher Breterzaun von der Landstraße schied, begegnete ihr an der letzten Ausgangspforte ein Mann, der eine kleine Laterne trug. Er hatte die Thür aufgestoßen, als sie eben um die Ecke bog und in nächster Minute vielleicht in Sicherheit gewesen wäre. Beim plötzlichen Schein des Lichts, der auf ein ihr wohlbekanntes Gesicht fiel, prallte sie entsetzt zurück und blieb stehen. Einen Moment nur schaute der Mann auf in das erdfahle Gesicht. „Frau Gräfin!“ rief er voller Bestürzung, aber in demselben Augenblick schlug ihn die Angerufene auch mit gellendem Aufschrei die Laterne aus der Hand und stürzte durch die offene Pforte, hinaus in das Dunkel der Nacht.

Einen Augenblick stand er betroffen da und horchte mit angehaltenem Athem, wohin sie ihre Schritte lenkte. Dann sprang er mit raschen Schritten in’s Haus, in das Damenzimmer – sah eine Secunde in das Antlitz der Todten und eilte in der nächsten der Entfliehenden nach. – Der letzte Schreck schien ihre Kraft gebrochen zu haben; zitternd lehnte sie an einem Baum und sah mit angsterfülltem Blick in die Nacht hinaus. Da vernahm sie ein Geräusch – Schritte die sich ihr näherten! – Die Todesangst trieb sie vorwärts – immer vorwärts, auf einem Wege zwischen steil aufsteigender Felswand und rauschendem Gebirgsbache fort. Sie flog so pfeilgeschwind auf dem schmalen Pfade dahin, daß sie bald nicht mehr den Schritt ihres Verfolgers hörte. Plötzlich aber rauschte es im Laub an ihrer Seite, sie vernahm einen Sprung ganz in ihrer Nähe – sah eine Gestalt dicht vor sich – er hatte ihr den Weg abgeschnitten; doch ehe er sie ergreifen konnte, suchte sie sich durch einen Sturz in das Wasser zu retten. – Ein Strauch verhinderte ihren Fall zur Tiefe, eine kräftige Hand riß sie in der nächsten Secunde empor. „Still, Frau Gräfin,“ flüsterte eine Stimme hastig, „still – ich will ja nicht Ihr Verderben. Verständigen wir uns – dann wird Alles gut.“ Besinnungslos fiel sie zu Boden.

Zum Leben erwachend, fühlte sie bald die ganze Schwere desselben, und als sie vielleicht nach einer Stunde die Stätte verließ, auf den Arm ihres Verfolgers gestützt im Dickicht des nahliegenden Berges verschwand, da würde sie, wenn ihr die Wahl geblieben wäre, sicher lieber an der Stelle der Todten im Damenzimmer gewesen sein.

Die Würfel ihres Lebens aber waren gefallen, und die Reue – wie früh sie auch eingetreten, dennoch – zu spät!

Voll Mitleid blickte dem unglücklichen Weibe ein junger Mann nach, der von Beiden unbemerkt auf seinem Wege nach dem Bahnhofe sich ihnen genähert hatte, durch ihr leises Schluchzen, durch einzelne seiner Worte seinen raschen Schritt unwillkürlich gehemmt sah und, von dieser nächtlich geheimnisvollen Scene angezogen, den weitern Verlauf abzuwarten beschloß. Vorsichtig hatte er sich hinter einen nahliegenden Felsvorsprung zurückgezogen, an diesem Ort ihre kurze, aber entsetzliche Beichte gehört und voll Angst den Bedingungen gelauscht, die der Mitwisser des Geheimnisses für sein Schweigen stellte.

Längst waren die Beiden fort, und noch immer stand der junge Mann wie gebannt an seinem Platze, dann schritt er in der tiefen Finsterniß unruhig hin und her und begrüßte mit sichtlicher Freude das erste anbrechende Licht des Tages. Genau sah er sich beim schwachen Schein des jungen Morgens die Umgebung an, machte im kleinen Notizbuch sogar eine Skizze von dem Platze, ging dann suchend herum und als er am Abhang des Rasens eine Reisetasche liegen sah, nahm er sie auf und mit sich.

(Schluß folgt.)



Die Frankfurter Jugendwehr.

Regt sich’s in Deutschland aller Orten.
Und weht ein frischer Geist durch’s Land.
So öffnet willig Eure Pforten.
Daß Ihr den Geist nicht wieder bannt!

Schaut auf, es leuchten Aller Augen.
In Aller Augen wird es hell,
Und Alles eilet einzufangen
Den lichten frischen Lebensquell.

Wir wissen längst schon, was wir wollen
Und was uns fehlt zu dieser Stund’;
Doch jetzo wird uns, was wir sollen,
Und was wir müssen, endlich kund.

Auf, greift zur Waffe, macht Euch fertig,
Gerüstet seiet, Alt und Jung,
Und steht, des Schlachtenrufs gewärtig,
In eiserner Vereinigung.

Wo in deutschen Landen lebte nicht heutzutage die Sehnsucht, das Bild von dem großen im Innern geeinten, nach außen mächtigen Vaterlande verwirklicht zu sehen? Wo lebte nicht das Bewußtsein, daß zur Erreichung dieses Zieles nicht ebene, glatte Pfade, sondern beschwerliche und gefährliche Wege führen, daß dieses hohe Gut uns nicht im Schlafe bescheert werde, sondern unter schweren, schweren Kämpfen von uns erobert werden müsse? Aber wenn wir das wissen, da gilt es auch jetzt schon, die Hände nicht müßig in den Schooß zu legen, sondern sich vorzubereiten für die kommenden Tage des Kampfes und der Gefahr. Das deutsche Volk ist sich auch dieser Pflicht, dieser Nothwendigkeit bewußt, und die Turn- oder Schützenvereine thun das Ihre, die heranwachsende und herangewachsene Jugend kampfbereit und tüchtig zu machen.

Auch der zu Frankfurt a. M. neugegründete Jugendwehrverein verfolgt zum großen Theil den gleichen Zweck. Dort ist es nicht nothwendig, daß die Bürgersöhne selber ihrer Wehrpflicht genügen; man pflegt das nöthige Bundescontingent durch Söldlinge zu bilden, und es kann deshalb die Aufgabe der dortigen Jugendwehr nicht sein, durch frühe militärische [629] Ausbildung der Jugend eine Verkürzung der Dienstzeit zu ermöglichen, wie das z. B. in Würtemberg der Fall ist. In Frankfurt hat man, neben dem hochanzuschlagenden pädagogischen Einfluß solcher Uebungen und solcher militärischen Ausbildung und Gewöhnung, hauptsächlich das oben angedeutete Ziel im Auge gehabt, und wenn Frankfurt nur eine einzelne Stadt ist und ein gar kleiner Staat in Deutschland, so hat man Angesichts des politischen Lage Deutschlands und der politischen Bildung der heutigen Tage


Frankfurter Jugendwehr.
Nach einer Photographie aufgenommen.

doch gehofft, daß es nur dieses Beispieles und dieses praktischen Beweises, was sich auf solchem Wege wirken läßt, bedürfe, um allerorts in deutschen Landen ähnliche Institute erstehen zu sehen. Ferner ist die Ansicht heutzutage keine vereinzelte mehr, daß zu den zu erstrebenden Neuerungen in erster Linie die Ersetzung der stehenden Heere durch Volksheere gehören müsse. Auch für Erreichung dieses Zieles glaubten die Gründer der Jugendwehr mit dieser Gründung den Weg betreten und angebahnt zu haben, wenn anders die oben ausgesprochene Hoffnung sich erfüllt.

Solche Ansichten und Wünsche hatten schon lange in einigen Männern den Gedanken reifen lassen, der Jugend Frankfurts durch Errichtung einer Jugendwehr ein Geschenk zu machen, wie ihr nicht leicht ein schöneres und nützlicheres werden konnte. Die Männer, welche außerdem von Liebe zur Jugend erfüllt waren und das Wesen und das Gemüth der Knaben verstehen gelernt hatten, glaubten für ihre Pläne mit dem Schützenfest den günstigen Moment gekommen und gingen an’s Werk, den Boden zu bereiten. Zu diesem Zweck allein veranlaßte einer dieser Männer die Verwendung der Schuljugend als Führer für die fremden Schützen. Man hatte hierzu ein Corps von circa 500 Knaben gebildet, zu welchem jede Schule in Folge Einladung an die Directoren eine ziemlich gleiche Anzahl stellte, und das durch jenen Mann, der als Turnwart des hiesigen Turnvereins und Leiter des Knabenturnens in demselben die nöthige Befähigung hierzu gewonnen hatte, militärisch abgetheilt und geordnet und binnen 5 Abenden in den nothwendigsten Bewegungen so weit eingeschult wurde, daß die Mannschaft sowohl für den angeführten Zweck leicht verwendbar war, als auch in ihrer Gesammterscheinung und dem disciplinirten und geordneten Auftreten der aus allen Ständen und Schulen zusammengewürfelten Knabenschaar einen vortheilhaften Eindruck machte auf Fremde und Einheimische. In Manchem ist damals der Wunsch rege geworden, eine solche Erscheinung keine vorübergehende sein zu lassen, und Manchem ist wohl eine Ahnung aufgegangen, was sich mit und aus dem kleinen Volke schaffen lasse. – Da so der Boden gelockert war [630] und das Schützenfest noch mehr patriotische Begeisterung in die Herzen gesenkt hatte, so konnte jener Führer der fünfhundert an die Ausführung des eigentlichen Planes Hand anlegen.

Er rief eine kleine Anzahl von Männern zusammen, von deren Gesinnungstüchtigkeit und Liebe für die Jugend er überzeugt war, und trug diesen seinen Plan für militärische Ausbildung der Jugend vor. Unter allgemeiner Zustimmung beschloß man, einer größeren Vorversammlung, zu welcher namentlich auch die Schulvorsteher eingeladen werden sollten, den Plan vorzulegen, nachdem jedoch von einer Commission eine detaillirte Ausarbeitung, Grundzüge zu Statuten u. s. w. berathen seien. Diese zweite ausgedehntere Vorversammlung, welche in überwiegender Anzahl von Lehrern, außerdem auch unter andern von verschiedenen Mitgliedern des gesetzgebenden Körpers besucht war, sprach sich darauf einstimmig für Errichtung einer Jugendwehr aus und stellte auf Grund der von der Commission gemachten Vorlagen einen Statutenentwurf auf. Im Januar dieses Jahres fand dann in einer zu diesem Zwecke berufenen öffentlichen Versammlung die Gründung eines Vereins statt, der sich die Errichtung und Leitung einer Jugendwehr zur Aufgabe setzte. Dieser Verein stellte dann außer den Vereinssatzungen noch ein Statut für die Organisation und Formation der Jugendwehr selbst auf. Nach diesem soll die Aufnahme in der Regel nicht vor dem zurückgelegten zwölften Lebensjahre stattfinden und, außer von der körperlichen Tauglichkeit, für die Zöglinge der dortigen Schulanstalten von dem Fleiß und guten Betragen in der Schule (worüber Zeugniß verlangt wird) abhängig sein; die Zeit für die Waffenübungen soll das Sommerhalbjahr sein und für den Winter theoretischer Unterricht in Aussicht genommen werden; die Ausrüstung der Mannschaft soll bestehen aus einem nach Vorschrift gefertigten dunkelgrauen (Cassenet-) Kittel, einem Paar Hosen von Turnerzwilch (welche man aber jetzt durch Tuchhosen zu ersetzen beabsichtigt), Gamaschen, einer Mütze mit geradem Schilde, Gürtel mit Schnalle, an welchem Patrontasche, Bajonnetscheide und Pistontäschchen getragen werden, sowie endlich Muskete mit glattem Rohr und Bajonnet. Die Waffen können von dem Verein, so weit dessen Mittel reichen, auch entliehen werden.

Der Verein hatte sich rasch auf 500 Mitglieder vergrößert, und sein Vorstand war eifrig bemüht, alle nöthigen Vorbereitungen zu treffen, so daß mit dem Beginne des Sommerhalbjahres die Jugendwehr selbst in’s Leben treten und der Unterricht beginnen konnte. Dieser war denn auch vom besten Erfolg und ein recht erfreulicher Fortgang in der Ausbildung bald bemerklich. Die Methode, nicht soldatisch und schulmeisterlich zu drillen, sondern den Kleinen Lust und Liebe zu schaffen und durch fortwährendes Vorführen neuer Uebungen und Uebungsformen ihnen den Sinn munter zu erhalten und nur nach und nach zu feilen und zu bessern, hat sich vorzüglich bewährt, und es hat unter der Aufsicht der für das Institut begeisterten Exercircommission und an der Hand zweier tüchtigen Instructoren das kleine Corps rasch die Soldaten-, die Compagnie- und Bataillonsschule, sowie das Tiraillement eingeübt und so in einer Uebungszeit von wöchentlich zweimal zwei Stunden ein Uebungsfeld bewältigt, wozu Soldaten bei voller Ausnützung aller Zeit wohl ein Jahr zu brauchen pflegen. Von großem Förderniß war hierbei, daß einige schon als Zöglinge des hiesigen Turnvereins eine Vorschule genossen hatten und so den Instructoren alsbald helfend zur Seite stehen und auch wohl Unterofficiersdienste versehen konnten. Auch standen gleich für die ersten Einübungen dem Vereine Waffen zu Gebote; denn Angesichts der vorher nöthigen Verhandlungen mit den Fabrikanten und auch der zeitraubenden Fabrikation der bestellten Gewehre war die Gelegenheit benutzt worden, eine den Verhältnissen entsprechende Anzahl von percussionirten Karabinern (à 2 fl.) anzuschaffen.

Allwöchentlich sehen wir jetzt Mittwochs und Samstags um ½6 Uhr (bis vor Kurzem um 6 Uhr) das kleine 100 bis 120 Mann starke Corps der Jugendwehr hinaus auf ihren Exercirplatz rücken, voran die Tamboure und Hornisten, welche schon vorzüglich eingeschult sind. Draußen angelangt geht es alsbald an die Arbeit, und mit Ernst und Freudigkeit, mit Eifer und größter Ordnung sucht Jeder das Verlangte zu leisten und das Gelehrte sich zu eigen zu machen. Eine kurze Pause zur Erholung wird in der Mitte der Uebungszeit gegönnt, und um ½8 Uhr wird der Rückmarsch in die Stadt angetreten. Da ist es denn eine Lust, die rüstige Schaar ihre Marsch- und Soldaten-, ihre Jugend- und Vaterlandslieder kräftig und lebendig in den Abend hinaus schmettern zu hören; das Horn oder die Trommel oder das Piccolo begleitet sie auch wohl, und fröhliches Geplauder wechselt mit dem Gesang, bis kurz vor der Stadt ein Trommelwirbel beides unterbricht.

Entlassen zerstreut sich dann anständig und ruhig die muntere Schaar, mit elastischem Schritt nach Hause eilend, um dort vor allen Dingen die Waffe zu putzen und in Sicherheit zu bringen. Von Zeit zu Zeit auch wird ein Theil, welcher jedoch die besondere Erlaubniß der Eltern hierzu nöthig hat, im Scheibenschießen unterwiesen, und auch hier haben sich überraschende Resultate ergeben.

Bei Gelegenheit des diesjährigen Schweizer Schützenfestes, da bei Olten zu Ehren der durchziehenden Deutschen ein Cadetten-Manöver abgehalten wurde, fühlten sich die Leiter der Jugendwehr veranlaßt, eine kleine Abtheilung dorthin zu senden, damit diese und ihr Führer den praktischen Felddienst und zugleich den gerühmten Geist des dortigen Cadettenwesens in unmittelbarer Beobachtung kennen lernten, und das Gelernte dann in der Heimath verwerthen mochten. Es haben die Blätter von dieser Schweizer Fahrt mehrfach berichtet, und es kann deshalb hier von einer eingehenden Erzählung abgesehen werden; nur möge auch an dieser Stelle der zuvorkommenden Freundschaft gedacht sein, mit welcher die Schweizer, die Militärs und Lehrer in vorderer Reihe, allerorts die kleine Schaar aufnamen, und auch der allgemeinen Anerkennung, welche sowohl die praktische und geschmackvolle Ausrüstung, wie auch die Leistungen und die Leistungsfähigkeit der Frankfurter dort erfuhren. Prof. Vischer in Zürich, unser bekannter Aesthetiker, äußerte namentlich seine Freude über die erstere Wahrnehmung, und die Güte der Waffen hat in Arau sogar Veranlassung gegeben, eine Partie von füfzig Musketen bei dem gleichen Fabrikanten[1] zu bestellen. – Der Tag der Rückkehr aber war ein Festtag für die gesammte Jugendwehr, welche mit den bewaffneten Turnern ihre heimkehrenden Cameraden unter Betheiligung einer gewaltigen Menschenmenge auf das Feierlichste einholte; denen aber, welche Theilnehmer dieses Schweizerzuges waren, wird derselbe unvergeßlich als wundervoller Lichtpunkt im Gedächtnisse fortleben.

Das erste Uebungshalbjahr geht jetzt seinem Ende zu, und es läßt sich nun schon über Erfolge und über die Einwirkung auf die jugendlichen Mitglieder der Wehr ein Urtheil fällen. Die Ausbildung ist bereits schon so weit gediehen, daß es möglich war, ein Exercitium im Feld, ein kleines Manöver, abzuhalten, und daß ältere Officiere das günstigste Urtheil über die Leistungen der jungen Mannschaft abgegeben haben. Die Einwirkung aber, welche diese militärischen Uebungen und alles, was damit zusammenhängt, in erziehlicher Hinsicht ausüben, sind äußerst vortheilhaft. Es ist schon jetzt unverkennbar, wie ein gewisser Ernst die Knaben anhaucht, ohne ihnen ihre kindliche Fröhlichkeit zu rauben, wie ein edles Selbstgefühl und Bewußtsein ohne jegliche Eitelkeit sie erfaßt, wie ein Geist der Zucht und Ordnung, ein Geist der Verträglichkeit und gegenseitigen Werthschätzung bei den aus allen Ständen und Lebenskreisen zusammengeschaarten Knaben seine Herrschaft übt. Es ist natürlich, daß dieser Geist sich auch auf das Leben in der Schule überträgt und so die Schule durch ein solches Institut nur eine Stütze und einen Helfer gewinnt.

Wir können nicht schließen, ohne den tiefgefühlten Wunsch auszusprechen, daß auch anderorts[2] die Jugend und die Bevölkerung die Segnungen genießen möge, welche ein solches Institut im Gefolge hat, und wollen den Aengstlichen noch das eine Wort zurufen: Seid alle Krieger, dann habt Ihr Frieden![3]

[631]
Die schwarzen Cabinete.

Der zwölfte Paragraph der deutschen Grundrechte verfügt: „Das Briefgeheimniß ist gewährleistet.“ Eine Bestimmung gleichen Inhaltes findet sich in allen Verfassungen deutscher Staaten. Auf den ersten Blick hat es etwas Befremdendes, daß man den einfachsten und natürlichsten aller Grundsätze, anvertrautes Gut dürfe nicht angetastet werden, in Staatsgrundgesetzen noch besonders anerkannt und seine Beobachtung gewissermaßen feierlich angelobt hat. Die Geschichte erklärt uns aber zur Genüge, weshalb das geschehen ist. Jahrhunderte lang hat sich die Polizei das Recht angemaßt, die der Post übergebenen Briefe zu öffnen und zu lesen, ja selbst in unserer Zeit hat dieser abscheuliche Mißbrauch nicht ganz aufgehört. 1844 ist es durch Parlamentsverhandlungen, die Mazzini durch öffentliche Anklagen hervorgerufen hatte, an den Tag gekommen, daß Sir James Graham zur Zeit der Landung der beiden Bandiera in Calabrien die nach Italien gehenden Briefe vom englischen Generalpostamt erbrechen ließ, und noch jüngst, als England mit der Union wegen der Trent-Angelegenheit in Streit gerieth, hat das englische Colonialamt die für die amerikanische Westküste bestimmten Depeschen, die immer über die centralamerikanische Landenge befördert wurden, sechs Wochen lang zurückgehalten, weil man der nordamerikanischen Gesellschaft der Panama-Bahn zutraute, daß sie diese Depeschen öffnen werde.

Wie es scheint, ist die Verletzung des Briefgeheimnisses so alt wie die Post. 1543 richtete Leonhard von Thurn und Taxis die erste eigentlich deutsche Linie ein, und vier Jahre später, im schmalkaldischen Kriege, erfuhr Karl V. durch seinen Postmeister die wichtigsten Geheimnisse seiner protestantischen Gegner. Von den Habsburgern mit Reichthümern und Ehren überschüttet, zu Grafen und Fürsten des Reiches erhoben, stellten die Thurn und Taxis ihre Beförderungsanstalt der kaiserlichen Politik zur Verfügung. Unter Rudolph II. führte Lazarus Schwendi, der am Hof beliebteste Feldherr Oesterreichs, bittere Klage, daß der Postmeister Viechhauser seine Briefe erbreche oder zurückhalte. Als Ferdinand II. die Fürsten Paar mit der Post in seinen Erblanden belehnte, wurde ein Taxis’scher Beamter nach Wien berufen, um den politischen Theil der Postverwaltung zu übernehmen. Da der geheime Postdienst außer einer großen Gewandtheit eine eben so große Verschwiegenheit erforderte, so nahm man die dabei beschäftigten Beamten gern aus Familien, welche bereits ihre Proben abgelegt hatten. Häufig vererbte sich das schimpfliche Amt durch Menschenalter vom Vater auf den Sohn. Die jungen Leute wurden frühzeitig in das Geheimniß eingeweiht, wie man Briefe erbrechen und wieder versiegeln könne, ohne daß der Empfänger das Geringste merke. Die Familie Eberl wurde, immer in derselben Post, zu Stockerau an der Donau, nahe bei Wien, von Rudolph II. bis auf Joseph II., in dieser Weise beschäftigt. Lucas Eberl wurde wegen der Dienste, die er als Courier geleistet hatte, in den Adelstand erhoben und zum Postdircetor einer Provinz ernannt. Ein anderes Mitglied der Familie, der Kürassier-Rittmeister v. Eberl, machte seinen Namen auf eine ruhmvollere Weise bekannt. Bei der letzten Belagerung Wiens durch die Türken führte er Sobiesky’s Polen und die deutschen Reichstruppen durch den Wiener Wald an die Stelle, wo Franz von Lothringen lagerte.

Das in so vieler Beziehung verderbliche Beispiel Ludwig’s XIV. wirkte auch bei der Behandlung der Briefe auf Deutschland ein. In seinem Alter wollte der französische Monarch, den die Maintenon scharf im Zügel hielt, wenigstens von fremden Liebschaften eine Unterhaltung haben. Seine Polizei berichtete ihm fortwährend über die Intriguen, die eben im Gange waren, und schöpfte ihre Geheimnisse aus den Briefen, die man auf der Post öffnete. Das Verfahren wurde nun in ein System gebracht, welches bald genug in Deutschland Nachahmung fand. In allen Hauptstädten und allen wichtigen Verbindungspunkten wurden „Brieflogen“ errichtet. So lautete der ältere Name für die schwarzen Cabinete. Die bedeutendsten derselben arbeiteten in Regensburg, Augsburg, Nürnberg, Eisenach, Bremen, Hamburg und Mainz. Um galante Geheimnisse kümmerten sich diese Brieferbrechungs-Anstalten nicht, ihnen kam es auf Staatsgeheimnisse an, auf den Briefwechsel von Diplomaten und unbekannten politischen Agenten, welche letzteren zu ermitteln eine Hauptaufgabe der Brieflogen war, da ihre Existenz nicht so geheim war, daß man nicht wichtige Briefe an unverdächtige Adressen hätte abgehen lassen.

In Wien war ein Flügel des kaiserlichen Schlosses, die sog. Stallburg, für das schwarze Cabinet eingerichtet. Jeden Abend um sieben Uhr wurde die Post geschlossen, und die Wagen fuhren ab, scheinbar nach dem Orte ihrer Bestimmung. Sie begaben sich aber in den Hof der Stallburg, dessen Thor sich sogleich hinter ihnen schloß. Hier wurden die Briefbeutel geöffnet, die Briefe sortirt und alle die bei Seite gelegt, von deren Inhalt man Kenntniß nehmen wollte. Zu diesen gehörten regelmäßig alle Briefe, die an Gesandte, Bankiers und andere einflußreiche Männer gerichtet, oder von ihnen geschrieben waren. Der letztere Umstand ließ sich leicht ermitteln, da man die Handschrift jeder Person kannte, die in dem Hause eines Mannes dieser Art wohnte. Die für das Ausland bestimmten Briefe erregten stets eine besondere Aufmerksamkeit. Das schwarze Cabinet war zugleich Werkstatt und chemisches Laboratorium. Man hatte dort Siegellack aller Art, eine Masse von Petschaften, Werkzeug zum Ablösen der Siegel und Agentien, welche theils diese Operation unterstützten, theils zu Fälschungen der Briefe selbst dienten. Besaß man das Petschaft des Absenders, so ging die Sache rasch, mußte man das Siegel vorsichtig ablösen und wieder aufkleben, so verlor man viele Zeit. In der Regel wurde die Briefpost bis elf Uhr Nachts in der Stallburg aufgehalten, es geschah aber auch nicht selten, daß sie sich erst um ein Uhr Morgens in vollem Galopp entfernen konnte. Von den erbrochenen Briefen machte man Auszüge oder nahm auch ganze Abschriften. Die geheime Polizei, der diese Resultate der lichtscheuen Thätigkeit übermittelt wurden, ertheilte zuweilen weitere Weisungen. Dann wurden von Beamten, welche Handschriften nachzuahmen verstanden, falsche Briefe geschmiedet und heimtückische Fragen gestellt oder verderbliche Rathschläge ertheilt.

In der Stallburg arbeiteten besonders Franzosen und Neapolitaner, deren überlegene Geschicklichkeit man schätzen gelernt hatte. Ihr Handwerk spannte den Geist so an und erforderte eine solche Sorgfalt und Geschwindigkeit, daß mehrere den Verstand verloren. Man bezahlte sie so gut, daß sie mit ihren Familien in Ueberfluß lebten, aber ihr Leben war doch, von seiner Ehrlosigkeit abgesehen, ein überaus trauriges. Sie waren mehr Staatsgefangene als Beamte. Die Polizei verlor sie niemals aus den Augen und wußte auf’s Genaueste, wie viel jeder von ihnen ausgebe, welche Erholungen er sich gestatte, mit wem er verwandt sei, welche Häuser er besuche, wer zu ihm und seiner Familie komme. In der spätern Zeit zwang man diese Leute, blos mit Beamten der Kanzlei und des kaiserlichen Cabinets zu verkehren. Wollten sich Fremde oder wohl diplomatische Agenten zu dieser geschlossenen Gesellschaft gesellen, so wurden sie auf eine so brutale Art abgewiesen, daß sie nicht zum zweiten Male kamen. Jeden Morgen fand der Polizeidirector auf seinem Arbeitstische einen Bericht, den er blos zu öffnen brauchte, um zu wissen, wie jeder einzelne Beamte des schwarzen Cabinets den vorigen Tag verlebt habe.

Fürst Kaunitz machte von der Anstalt in der Stallburg den ausgedehntesten Gebrauch. Um Alles auf’s Beste einzurichten, hatte er sich von der geheimen Polizei Ludwig’s XIV. Belehrung erbeten und sie bereitwilligst erhalten. Der Polizeilieutenant Lauvin hatte für ihn eine Denkschrift entworfen mit dem Titel: Näheres über einzelne Anstalten der Stadt Paris. Der preußischen Politik gegenüber glaubte der Fürst mit dem schwarzen Cabinet allein nicht auskommen zu können und wandte noch ein anderes Mittel an. Alle preußischen Couriere mit Ausnahme von zweien ließen sich von ihm bestechen. Diese ungetreuen Boten erhielten bedeutende Summen, so daß sie sorgenfrei leben konnten, wenn man Verdacht gegen sie schöpfte und sie entfernte. Friedrich der Große hat aber nie entdeckt, daß Fürst Kaunitz alle seine Depeschen an seinen Gesandten in Wien früher las als dieser. Die Sache nahm immer folgenden Verlauf. Hinter Pirna war an der böhmischen Grenze in einer einsamen Gegend ein Haus erbaut und seinem Zwecke entsprechend eingerichtet worden. Es wurde von Vertrauten bewohnt, öffnete sich nur für Menschen desselben Schlags und war reichlich mit Pferden und Wagen versehen. Erschien einer der bestochenen preußischen Couriere, so stiegen Beamte mit ihm in einen Wagen des Hauses, öffneten sein Felleisen, erbrachen die Depeschen, entzifferten [632] den Inhalt mit Hülfe des Schlüssels, den sie zu der preußischen Geheimschrift besaßen, und nahmen eine Abschrift. War das geschehen, so wurde die Depesche wieder versiegelt und das Felleisen geschlossen. Das ganze Geschäft wurde auf dem Wege nach Wien besorgt, während der Wagen im raschesten Fahren blieb und nur an gewissen Stellen, wo die Pferde gewechselt wurden, auf wenige Minuten Halt machte. Auf der letzten Station vor Wien stieg der Courier wieder zu Pferde und überbrachte seine Depeschen, deren Abschriften Fürst Kaunitz bereits seit drei bis vier Stunden in Händen hatte.

Wie die Taxis’sche Post seine Depeschen behandle, erfuhr Friedrich der Große 1772, als sein Briefwechsel mit seinem Gesandten in Mainz über die polnischen und türkischen Angelegenheiten von einem höheren Beamten des Kurfürsten benutzt wurde. Dieser Gesandte, v. Dietz, erfuhr davon und machte einen gewaltigen Lärm. Dies war einer der Vorgänge, durch die öffentlich bekannt wurde, daß die Reichspost das Briefgeheimniß verletze. Uebrigens war Friedrich der Große, wenn er gleich kein schwarzes Cabinet besaß, in der Wahl seiner Mittel auch nicht zartfühlend. In Dresden hatte schon August der Starke Post und geheime Polizei mit einander in Verbindung gebracht, und unter der Verwaltung des Grafen Brühl war man darin noch weiter vorgegangen. Friedrich der Große zahlte dem sächsischen Hof mit gleicher Münze, indem er den Kanzlisten Menzel bestechen ließ, ihm den geheimen Briefwechsel auszuliefern, der zwischen Sachsen, Oesterreich, Frankreich und Rußland über die Vorbereitungen zum Kriege gegen Preußen geführt wurde. Auch in den Besitz der Geheimnisse des Wiener Hofs wußte sich der große König zu setzen. Von Zeit zu Zeit gingen nach Wien junge Preußen, ausgerüstet mit den Eigenschaften, welche das weibliche Herz und Auge zu bestechen pflegen. Man wußte in Berlin, daß die Kaiserin Marie Theresia immer einige bevorzugte Damen um sich habe, gegen die sie die wichtigsten Dinge unwillkürlich ausplaudere. Diese Damen hatten ihrerseits wieder bevorzugte Kammermädchen, die von ihnen mancherlei erfuhren. Die jungen Preußen hatten den Auftrag, solche Zofen zu gewinnen und ihnen ihre politischen Geheimnisse zu entlocken. Jeder von ihnen hatte eine feste Besoldung von fünfhundert Thalern und erhielt außerdem alle Ausgaben vergütet, die ihm seine Liebschaft verursachte. Erfuhr er etwas Wichtiges, so meldete er es nach Berlin und ließ den Brief auf einem sichern Wege abgehen. Nach dem Zeugniß eines preußischen Diplomaten brachten diese Agenten eigener Art großen Nutzen. „Ein hübscher Bursche,“ schrieb er dem Ritter von Zimmermann, „der die Kunst, mit Kammerjungfern umzugehen, aus dem Grunde verstand, erfuhr manchmal Dinge, die dem gesammten diplomatischen Körper verborgen blieben. Ich habe eine Menge Berichte solcher Art gelesen, die wirklich ausgezeichnet waren.“

Joseph II. fand das schwarze Cabinet in der Stallburg vor und schaffte es nicht ab. Er glaubte es zu seinen guten und edlen Zwecken benutzen zu dürfen. Unter seinen Nachfolgern kam es wieder auf die alte Weise in Thätigkeit und brachte Manchen in’s Unglück, der durch einige unvorsichtige Ausdrücke oder eine Prahlerei den Verdacht erweckt hatte, daß er zu den österreichischen Jacobinern gehöre. Während der ersten Besetzung Wiens durch die Franzosen (November 1805 bis Januar 1806) machte Talleyrand der geheimnißvollen Werkstatt in der Stallburg mehrere Besuche. Die Gräfin Rombeck, eine Schwester des Kanzlers Kobenzl, machte seine Führerin. Es ist kaum anzunehmen, daß er in der Stallburg etwas Neues erfahren habe. Von Allem, was Napoleon aus der alten Zeit erblich überkommen hatte, hat er sich nichts so vollkommen angeeignet, als die Schliche und Kunstgriffe der geheimen Polizei, und seine Fouché und Savary waren die Leute dazu, das Ueberlieferte weiter auszubilden. Aber auch mehrere deutsche Fürsten haben das schmachvolle Brieferbrechungssystem, das während der Rheinbundszeit in allen Hauptorten der Vasallenstaaten herrschte, beibehalten.

Die Stallburg gelangte nach 1814 zu einer zweiten Blüthe. Mißtrauen gegen sich selbst und gegen alle Menschen war der vorherrschende Charakterzug des Kaisers Franz. Er traute blos Schurken, von denen er genug wußte, um sie jeden Augenblick auf’s Zuchthaus schicken zu können. Gerade diese Menschen, die nach seiner Meinung gar nicht wagen durften, ihn zu betrügen, verleumdeten bei ihm seine treuesten Anhänger und seine nächsten Blutsverwandten. Erzherzog Johann verlor das Vertrauen des Kaisers für alle Zeit, weil einer dieser Zuträger dem Letzteren vorgeschwindelt hatte, daß sein volksbeliebter Bruder Alpenkönig werden, aus österreichischen Erblanden ein Königreich Rhätien bilden wolle. Diese mißtrauische Gesinnung mußte dem „guten Franz“ das schwarze Cabinet lieb und theuer machen. Jeden Morgen hörte der Kaiser zuerst eine Messe. Um sieben Uhr trat er in sein Arbeitszimmer und ließ es sein erstes Geschäft sein, den bereitliegenden Bericht der geheimen Polizei zu lesen, in dem zugleich die Ausbeute der vortägigen Arbeit des schwarzen Cabinets enthalten war. In der stillen Zeit der Restauration waren es meistens Klatschereien oder Liebeshändel, die er fand, und dieser Unterhaltungsstoff sagte ihm besonders zu. Um solcher Dinge willen konnte er die ganze geheime Thätigkeit in Bewegung setzen, damit sie ihm ausführlichere Nachrichten verschaffe. Es kam sogar vor, daß er sich persönlich genau unterrichten wollte und zu diesem Behuf mit einem Agenten an einem dritten Orte eine Zusammenkunft hielt.

Von der hohen Politik wurden die schwarzen Cabinete besonders gegen die Italiener benutzt. Die Carbonaria mit ihrer erwiesenen Ausbreitung nach Frankreich, Belgien, Spanien und Portugal, und mit ihrer gemuthmaßten Ausbreitung nach Deutschland hatte der heiligen Allianz einen gewaltigen Schreck verursacht. Man hielt den Geheimbund für um so gefährlicher, als man auf Spuren gekommen war, nach denen er mit den Freimaurerlogen der romanischen Länder in Beziehungen getreten zu sein schien. Diesem Ungeheuer den Garaus zu machen, benutzte man jedes Mittel, barbarische Strafgesetze in Rom und Modena, die Bildung der reaktionären Geheimbünde der Calderari und Sanfedisten, das Einschmuggeln falscher Brüder in die Freimaurerlogen, endlich die Thätigkeit der schwarzen Cabinete. Die französische Regierung lieh ihre besten Leute her, die in Mailand, Venedig, Turin, Lucca, Ferrara, Padua, Florenz, Neapel und Rom an’s Werk gingen. Auch in Deutschland sollen in jenen Tagen der Demagogenriecherei schwarze Cabinete neu eingerichtet worden sein und zwei derselben, das eine in Frankfurt am Main, das zweite in Eisenach, „mit Auszeichnung“ gearbeitet haben.

Ueber 1830 hinaus läßt sich diese geheime und schimpfliche Thätigkeit nicht verfolgen. Wir glauben nicht, daß jeder Polizei in allen Fällen das Briefgeheimniß heilig sein werde, aber wir glauben ebensowenig, daß irgendwo in Culturstaaten noch ein förmliches schwarzes Cabinet bestehe. Solche Anstalten sind ungeheuer kostspielig, und es würde sich für sie kaum noch ein sicheres Versteck ermitteln lassen. Findet eine Ausnahme statt, so muß man sie westlich vom Rhein suchen, wo die bestverschlossenen Briefe nicht immer verhindert haben sollen, daß Jemand als Correspondent einer verpönten Zeitung „errathen“ worden ist. Gegen regelmäßige Brieferbrechungen ist die riesige Zunahme des Briefverkehrs ein sicheres Schutzmittel. Nach den amtlichen Verdeutlichungen sind innerhalb des deutschen Postvereins im Jahre 1860 an frankirten und unfrankirten gewöhnlichen Briefen und an recommandirten Briefen zweihundertundneun Millionen Stück befördert. Die Zumuthung, den auf eine Hauptpost fallenden Theil dieses Briefbergs zu sortiren und nach Vorschrift weiter zu verfahren, würde dem geübtesten und flinksten Brieferbrecher der guten alten Zeit den Angstschweiß auspressen. Wollte er sich auf die Briefe von und nach dem Ausland beschränken, so hätte er noch immer zweiundzwanzig Millionen vor sich. Diese Zahlen haben sich seit 1860 mit jedem Jahre vermehrt.

Was früher das Briefgeheimniß als frommer Wunsch war, das ist jetzt das Telegraphengeheimniß geworden. Die Natur der Sache bringt es mit sich, daß die Telegraphenbeamten den Inhalt der nichtchiffrirten Depeschen erfahren. Sie lesen alle Briefe, ehe sie sie weiter befördern. Sie sind zur Verschwiegenheit verpflichtet, aber berühmte Processe haben den Beweis geliefert, daß diese amtliche Verpflichtung nicht hinreicht. Wohl immer wird das Briefgeheinmiß verletzt, um einem Dritten, der dafür gut bezahlt, durch Mittheilung einer Nachricht einen Vortheil zu verschaffen. Um diesem Mißbrauch zu steuern, ist ein Gesetz erforderlich, welches den Staat, falls der Beamte selbst vermögenslos ist, zum vollen Ersatz alles entstandenen Schadens anhält.


[633]
Die Odtheorie und die Sensitiven.
Von Dr. Hermann Vogel.

Nachdem neuerdings die Od-Bewegung und der Sensitiven-Schwindel durch einige Vorgänge wieder in den Vordergrund gedrängt sind, dürfte eine populair-wissenschaftliche Beleuchtung dieser Verirrungen wohl an der Zeit sein.

Vor circa 20 Jahren trat der durch die Entdeckung des Kreosots, Paraffins und durch seine Untersuchungen über Meteorsteine rühmlichst bekannte Freiherr von Reichenbach mit einer Reihe von Beobachtungen an die Oeffentlichkeit, die im hohen Grade das Aufsehen sowohl der Naturforscher als auch des gebildeten Publicums erregten.

Reichenbach behauptete, eine neue, bisher nicht gekannte Naturkraft, die er „Od“ nannte, aufgefunden zu haben. Dieselbe sollte in der Natur eine mindestens ebenso große Rolle spielen, als Elektricität und Magnetismus, obgleich ihre Wirkungen nicht so klar zu Tage treten und nur für Personen sichtbar sein sollten, die mit besonders zarten Sinneswerkzeugen ausgerüstet sind. Nach Reichenbach’s Angaben ist dieses Od ein Agens (wirkende Kraft), das sich sowohl im menschlichen und thierischen Körper, als auch in Pflanzen und Mineralien, Magneten, krystallisirten Salzen, beim Schall, beim Reiben und Schlagen, bei chemischen Processen etc. entwickelt und in eigenthümlicher Weise auf den Gesichtssinn und Gefühlssinn wirkt.

So soll diese Kraft schon in der Ferne auf reizbare Menschen wirken und „lauliche oder kühlige, gleichzeitig angenehme oder unangenehme Empfindungen verursachen.“ Die rechte Hand eines Menschen veranlaßt z. B. nach Reichenbach in der rechten Hand eines andern ein unangenehmes lauwidriges, in der linken dagegen ein angenehm kühliges Gefühl; umgekehrt wirkt die linke. Aehnliche Wirkungen hat auch ein starker Magnet, der Nordpol desselben veranlaßt in der rechten Hand unangenehme Gefühle (Reichenbach sagt Magenweh und andere Pein), der Südpol dagegen angenehme; ebenso wirken Krystalle von Turmalin, Quarz etc. mit ihren verschiedenen Enden. Reichenbach erklärt diese von ihm behauptete Erscheinungen aus der Annahme, daß das neue Agens „Od“ allen den genannten Körpern – und zwar an verschiedenen Enden in zwei verschiedenen Zuständen als positives und negatives Od entströme, daß z. B. unsere rechte Hand, unser Kopf, der Nordpol eines Magneten, odnegativ, unsere linke Hand, die Füße, ebenso der Südpol eines Magneten odpositiv seien. Alle odnegativen Körper sollen nun in der gleichfalls odnegativen rechten Hand unangenehme, in der odpositiven linken dagegen angenehme Empfindungen verursachen, und umgekehrt.

Diese Gefühle sollen sich mitunter so stark äußern, daß viele Personen das Handgeben (wobei die odnegative Rechte der einen Person in die gleichnamig odische Rechte der andern gelegt wird) nicht vertragen können.

Auch die Erde ist nach Reichenbach odisch, am Nordpol positiv, am Südpol negativ. Deshalb sollen viele Menschen mit den (odpositiven) Füßen nach Norden gerichtet nicht schlafen können, wogegen ihr Schlaf mit dem (odnegativen) Kopfe nach Norden ein viel ruhigerer wäre.

Es wird ferner angegeben, daß unser Rücken odisch sei, in der Art, daß ein Major Philippi durch bloßes Gefühl die Himmelsgegend habe bestimmen können, indem er sich langsam im Kreise herumdrehte. Die Stellung mit dem (odnegativen) Rücken nach Norden soll die behaglichste sein.

Noch merkwürdiger klingen die Mittheilungen über die Anziehungen, die ein starker Magnet auf menschliche Glieder ausüben soll. So erzählte Reichenbach von einem Frl. Nowotny, deren Hände von einem starken Magnete angezogen wurden wie ein Stück Eisen. „Sie packte das dargebotene Ende der Magneten so fest, daß es ohne die größte Anstrengung nicht gelang, es ihr wieder zu entreißen.“

Das Od ist nach Reichenbach’s Angabe übertragbar. Hält man z. B. ein Glas Wasser circa 10 Minuten in der Hand, so geht das Od aus der Hand in’s Wasser über und ertheilt dem Letztern einen eigentümlichen Geschmack, derselbe ist „kühlig“, wenn das Glas in der rechten, „laulich“, wenn es in der linken Hand gehalten wurde.

Nicht minder außerordentlich als die odischen Gefühlsphänomene werden die odischen Lichterscheinnugen geschildert. Alle odausgebenden Körper sollen nämlich in absoluter Dunkelheit leuchten.

So wird der menschliche Körper im Dunkeln von einer leuchtenden Atmosphäre umhüllt gesehen, „die ihm das Ansehen eines geisterhaften Ungeheuers giebt.“ „Angesichts solcher Thatsachen,“ sagt Reichenbach, „frage ich, wie man es gemeinen Leuten verdenken will, wenn sie an Gespenster glauben? Sie haben sie gesehen, und was man gesehen hat, disputirt kein Doctor hinweg. Freilich sieht sie nicht Jedermann, sondern nur die Auserwählten, die Sensitiven.“

Verschiedene Theile des menschlichen Körpers leuchten verschieden stark, namentlich zeichnet Reichenbach den Kopf und die Hände als hellleuchtend aus. Der Kopf soll wie mit einem Heiligenschein umgeben erscheinen; „der Heiligenschein ist demnach,“ sagt Reichenbach, „nicht blos aus der Phantasie religiöser Schwärmerei geschöpft, er ist in Wirklichkeit vorhanden. Jeder Mensch trägt ihn beständig mit sich herum.“

Selbst ein blinder Tischler sah Reichenbach’s Kopf in einer lichten Wolke schweben und gab die Bewegungen desselben richtig an. Die odischen Lichter sind sogar durch die Kleider hindurch sichtbar. Verschiedene Damen und Herren sahen ihre Beine von den Hüften bis zu den Knöcheln. Ja noch mehr: auch innere Leibestheile, wie Magen, Eingeweide, leuchten durch die darüber liegenden Theile hindurch und werden dem sensitiven Auge sichtbar.

Die rechte Hand wird als bläulich, die Linke als rothgelb leuchtend ausgegeben, weil positives und negatives Od verschiedenfarbige Strahlen habe. Auch Mauerwände sollen odleuchteud gesehen werden, und andere davorgestellte Gegenstände erscheinen als Schatten.

Ja noch mehr, die Mauerwände können förmlich odisch durchsichtig werden; so sah eine Sensitive Reichenbach’s Gestalt durch die Wand hindurch und erkannte jede seiner Bewegungen.

Wie schon erwähnt, soll sich Odlicht auch bei chemischen und mechanischen Processen, z. B. beim Schlagen, Reiben, erzeugen. Der menschliche Odem, die einem Blasebalge entströmende Luft, verwesende und faulende Stoffe sollen odisch leuchten. Eine Frau B. behauptete nach Reichenbach, jeden dunklen Abend eine große Helle über dem Grabe eines Hundes zu sehen.

Andere Damen sahen ähnliche flammenartige Lichterscheinungen auf Gräbern von Menschen. Reichenbach erklärt hieraus den Aberglauben von dem nächtlichen Wiedererscheinen der Todten auf ihren Grabhügeln. – Das Gesagte, welches lediglich Reichenbach’s Ansichten und Behauptungen zusammenfaßt, wird hinreichen, dem Leser einen oberflächlichen Begriff von den vermeintlichen Entdeckungen zu geben. Ich habe keineswegs aus Reichenbach’s Werken das Wunderbarste herausgesucht, im Gegentheil, man findet in seinem hier oft citirten Werke „Der sensitive Mensch“ Geschichten von Somnambulen etc., die noch weit merkwürdiger klingen.

Alle diese wunderbaren Gesichts- und Gefühlserscheinungen sind jedoch wie gesagt keineswegs für alle Menschen wahrnehmbar, sondern nur für eine geringe Zahl Auserwählter, die mit besonders fein organisirten Sinnen ausgerüstet sind, die sogenannten Sensitiven. Man kann diese Sensitiven mit Hülfe eines einfachen Experimentes leicht herausfinden, indem man den Zeigefinger der rechten Hand langsam über den Teller der linken des zu Prüfenden von der Wurzel bis über den Mittelfinger hinwegführt, ohne sie zu berühren. Alle Sensitiven spüren dabei ein Gefühl, als würden sie mit einem Strohhalm angeblasen. Reichenbach hat nach diesem Verfahren in Wien circa 200 Sensitive unter Leuten verschiedenen Alters, Geschlechtes, Bildungsgrades und Gesundheitszustandes aufgefunden, darunter auch mehrere Naturforscher, wie Endlicher, Natterer, Schabus. Die meisten seiner Versuche hat er jedoch mit Damen gemacht.

Reichenbach selbst ist, seiner eigenen Angabe nach, nicht sensitiv. Er hat von den odischen Erscheinungen nichts selbst gesehen und gefühlt, sondern verdankt seine Kenntniß darüber nur den Mittheilungen Anderer. Dieser Umstand erregte bald das Mißtrauen der Naturforscher. Es ist eine mißliche Sache, ganz auf Beobachtungen fremder Leute hin über Gegenstände schreiben zu wollen, für die man gar kein Wahrnehmungsvermögen besitzt, von denen man sich also auch keine rechte Vorstellung machen kann. Es ist ebenso, als wenn ein Taubgeborener ein Buch über Musik, ein Blindgeborener ein Buch über Malerei schreiben wollte.

[634] Nimmt man dazu noch die wahrhaft unglaublich klingenden Mittheilungen über magnetische Anziehung, Gräberlicht, durchsichtige Mauern etc., so ist das Mißtrauen um so gerechtfertigter. Wenn Reichenbach erzählt, daß die Hand des Fräulein Nowotny von einem starken Magnete angezogen würde, so sollte man glauben, daß auch ein beweglicher Magnet von der Hand des Fräulein Nowotny angezogen werden müßte. Das ist jedoch nach Reichenbach’s eigener Ansicht nicht der Fall. „Eine freischwebende Magnetnadel wurde durch die Hand des Fräulein Nowotny nicht im geringsten afficirt.“ Eine solche Erfahrung stände aber in so grellem Widerspruche mit der erkannten Gesetzmäßigkeit, welche den Wirkungen aller Naturkräfte zu Grunde liegt, daß jeder Naturforscher das Recht hat, so lange daran zu zweifeln, bis er sich durch eigene Experimente von der Wahrheit der Sache überzeugt hat.

Aber, wird man einwenden, Reichenbach selbst ist Naturforscher, er hat interessante Entdeckungen auf dem Gebiete der Chemie gemacht, die von anderen Chemikern bestätigt worden sind; also ist man, wie es scheint, verpflichtet seinen Untersuchungen Glauben zu schenken! – Der Begriff „Naturforscher“ ist jedoch ein sehr umfangreicher; Chemiker, Physiker, Zoologen, Botaniker, Physiologen sind alle Naturforscher. Reichenbach hat sich als Chemiker einen wohlbegründeten Ruf erworben; seine odischen Untersuchungen spielen aber sehr stark auf das Gebiet der Physiologie hinüber. Man kann nun ein sehr guter Chemiker und doch nur ein schlechter Physiologe sein. Darin kann der Grund liegen, daß Reichenbach’s Behauptungen am heftigsten von Physiologen angegriffen wurden.

Der erste Angriff ging wohl von Dubois Reymond aus. Er nannte Reichenbach’s Arbeit „einen abgeschmackten Roman, in dessen Einzelheiten einzugehen fruchtlos wäre – eine der traurigsten Verirrungen, der seit lange ein menschliches Hirn anheimgefallen – Fabeln, die in’s Feuer geworfen zu werden verdienen“ u. s. w.

Nicht minder schonungslos äußerte sich später Carl Vogt in seinen physiologischen Briefen, etwas milder, jedoch auch entschieden absprechend Liebig, Heidenreich, Ehrenberg und A. Die Zweifel an Reichenbachs Angaben mußten sich noch erhöhen, als Wiederholungen seiner Versuche, die man in Göttingen, Wien und anderen Orten vornahm, nicht den erwünschten Erfolg hatten. Reichenbach ließ sich jedoch dadurch nicht zurückschrecken. Er suchte alle Einwände der Gegner durch Gegengründe niederzuschlagen und warf denen, die seine Versuche ohne Erfolg wiederholt hatten, Nachlässigkeiten bei der Anstellung derselben vor. Allen Angriffen von Seiten der Gelehrten gegenüber tröstete er sich mit den Sympathieen des Publicums, welches theils durch seine eigenen Schriften („Die Dynamide,“ „der sensitive Mensch“ etc.) theils durch Berichte verschiedener Unterhaltungsblätter (z. B. der Leipziger Illustrirten Zeitung) Kunde von seinen Entdeckungen erhielt.

Diese Berichte erregten nicht geringes Aufsehen, sowohl durch die Neuheit der Sache, als auch durch den Reiz, den alles Wunderbare auf die Menschen ausübt. Dazu kamen die Beziehungen zu den von einer Seite standhaft behaupteten, von der andern Seite eben so standhaft bezweifelten Erscheinungen des thierischen Magnetismus. Die Sensation war um so größer, als das Bekanntwerden der Reichenbach’schen Entdeckungen in eine Zeit fiel, wo ganz Europa sich mit Tischrücken und dergl. beschäftigte, also die Empfänglichkeit für alle Wundergeschichten sehr groß war. Die Einwendungen der Gelehrten fruchteten hier so wenig als beim Tischrücken. Man erblickte in Reichenbach den Märtyrer seiner Sache und bewunderte den Muth des Mannes, der allen Angriffen seiner Gegner zum Trotz sich nach wie vor mit Enthusiasmus seinem Gegenstande hingab.

Es läßt sich auch von vollkommen unparteiischem Standpunkte Manches zu Reichenbach’s Gunsten anführen. Es ist nicht Alles unwahr, was unglaublich klingt. Nichts klingt unglaublicher, als daß man mit der bloßen Hand weißglühend-flüssiges Eisen anrühren könne, ohne sich zu verbrennen, und doch ist das Thatsache. Es ist auch nicht Alles unwahr, was die Gelehrten leugnen. Jahrzehnte lang leugneten sie die Behauptung, daß Meteorsteine fielen, bis der berühmte Meteorsteinfall von l’Aigle, wo ca. 2000 Stück an einem Tage fielen, auch den Ungläubigsten überzeugte.

Und selbst wenn man die Reichenbach’schen Mittheilungen über magnetische Anziehung, durchsichtige Mauern etc. in Zweifel zieht, bleibt doch noch genug übrig, was eher glaubhaft erscheinen könnte. Die Schärfe unserer Sinne ist so außerordentlich verschieden. Schwachleuchtende Körper, z. B. Sterne niederer Größe, sind für viele schwachsichtige Menschen unsichtbar, andere erkennen sie noch vollkommen gut. Warum sollte es also nicht Menschen geben, die im Stande sind, äußerst zarte Lichterscheinungen, wie die odischen sein sollen, wahrzunehmen, während diese für weniger fein organisirte Augen verborgen sind?

Gleiches läßt sich hinsichtlich der Gefühlserscheinungen bemerken. Wer mit nervenschwachen Personen umgeht, hat täglich Gelegenheit, zu beobachten, wie dieselben von leisen Geräuschen, unbedeutenden Erschütterungen und anderen Einflüssen, die für robuste Naturen spurlos vorübergehen, auf das Heftigsie afficirt werden. Solche Betrachtungen hatten mich veranlaßt, anzunehmen, daß in Reichenbach’s Angaben wohl einiges Wahre enthalten sein könnte. Doch enthielt ich mich vor der Hand eines jeden Urtheils darüber.

Im Winter 1861–1862 war Reichenbach in Berlin und entschloß sich, den Berliner Naturforschern seine odischen Experimente vorzuführen. Es wurden ihm dazu zwei Zimmer auf der Universität eingeräumt, die er absolut verfinstern ließ. Hier suchte er zuerst auf photographischem Wege das Odlicht nachzuweisen. Er nahm lichtempfindliche, frisch zubereitete Platten, bedeckte sie mit einem Pappdeckel, in dessen Mitte ein Kreuz ausgeschnitten war, und setzte sie der Einwirkung seiner vermeintlich odleuchtenden Körper aus. Als nach einiger Zeit auf der Platte ein der Oeffnung entsprechendes Kreuz bemerkbar wurde, war seine Freude groß. Er wollte allen seinen Sensitiven den Abschied geben.

Aber schon die ersten Versuche fielen keineswegs übereinstimmend aus, und ich vermuthete, daß nicht Odlicht, sondern ganz einfach ein wenn auch noch so schwacher Luftzug, der nur an den ausgeschnittenen Stellen des Pappdeckels die Platte treffen konnte, dort aber sie am raschesten trocknen mußte, die Ursache der photographischen Kreuze sein könne.

Es bestätigte sich dies in sofern schon damals, als drei auf meine Veranlassung angestellte Versuche in einem allseitig verschlossenen Kasten, der keinen Luftzug zuließ, vollständig mißlangen; später ist noch durch Dr. Schnauß der Beweis auf das Schlagendste geführt worden.

In dem Berichte, welchen Reichenbach über seine Versuche damals drucken ließ, erwähnt er freilich weder ihres häufigen Mißlingens, noch auch der Geschichte mit dem verschlossenen Kasten.

Indessen griff er doch endlich wieder zu seinen Sensitiven, von denen er nach langem Suchen, wobei ich selbst ihn unterstützte, eine Anzahl, die unter einander in Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und Bildungsgrad verschieden waren, aufgefunden hatte. Er machte mit diesen Leuten eine Reihe von Versuchen, denen ich öfters beiwohnte und die ich oft auf frischer That wiederholte. Zuerst machte ich im dunklen Zimmer die Bekanntschaft einer sensitiven Dame. Als ich mich ihr näherte, behauptete sie, einen leuchtenden Schein an meinen Händen und an meinem Kopfe zu sehen. Ich ersuchte sie darauf, mir die Bewegungen zu nennen, die ich mit dem Kopfe machen würde. Sie gab bald rechts, bald links an, während ich in der Wirklichkeit den Kopf ganz still gehalten hatte. Bewegungen, die ich mit den Händen machte, wurden bald richtig, bald falsch angegeben. Die Antworten erfolgten dabei äußerst unsicher.

Reichenbach wollte nun die Sehkraft der Dame prüfen, indem er sich, schrittweise rückwärts gehend, von derselben entfernte. Als er sechs Schritte rückwärts gegangen war, sagte sie: „Jetzt sehe ich Sie nicht mehr.“ Ich wiederholte das Experiment, entfernte mich jedoch nur zwei kleine Schritte von der Dame und tappte dann mit den Füßen auf, als wenn ich ginge. Als ich zweimal aufgetreten war, sagte die Sensitive: „Jetzt sehe ich Sie nicht mehr!!“ Sonderbar war es, daß sie dennoch die mindestens zehn Schritte entfernte Mauerwand, obgleich dieselbe, nach Reichenbach, viel schwächer leuchten soll, als der Mensch, deutlich erkennen wollte.

Reichenbach wollte mir darauf die oben erwähnten „Wandschatten“ vorführen. Die Dame trat an die Wand, so daß ihre Augen circa 1 Fuß davon entfernt waren, und ich bewegte, Reichenbach’s Anweisungen gemäß, meinen rechten Arm langsam zwischen ihren Augen und der Wand nach verschiedenen Richtungen. Die Dame behauptete meinen Arm als schwarzen Schatten gegen die lichte Wand zu erblicken, konnte jedoch keine sichere Angabe über die Bewegungen desselben machen. Ihre Antworten blieben oft aus; dann suchte sie sich, bevor sie Angaben machte, mit dem Tastsinn von der Realität ihrer Beobachtungen zu überzeugen.

Interessanter war mir ein zweiter Abend in der Dunkelkammer [635] in Gesellschaft einer mir befreundeten, als Schriftstellerin wohlbekannten Dame, einer zwar nervenschwachen, aber willensstarken Frau, auf deren Angaben ich mich unbedingt verlassen konnte. Auch sie behauptete, mich zu sehen, jedoch nur dann, wenn ich ihr mit dem Gesicht sehr nahe kam, und auch sie nahm unwillkürlich den Tastsinn zu Hülfe, bevor sie Aussagen machte.

Am Bergkrystall wollte sie ein schwaches Leuchten bemerken. Sie sagte jedoch, die Lichterscheinungen seien so unsicher, daß es ihr vorkäme, als käme das Licht eher aus ihren eigenen Augen, als aus den vorgelegten Körpern. Reichenbach war über den Ausfall dieser Versuche nicht sehr erbaut; er meinte, daß die Dame zwar sehr stark gefühlssensitiv, doch nur sehr schwach gesichtssensitiv sei und daß ihr Nervensystem zu sehr durch ihren Verstand beherrscht würde.

Eines Abends traf ich eine Anzahl Damen und Herren in der dunkeln Kammer. Mit einem Herrn machte ich Versuche über das Leuchten der Hände. Er konnte mir keine sicheren Angaben über die Bewegungen derselben machen und sagte, daß der Lichtschein oft auf derselben Stelle haften bleibe und in der Stärke sehr wechsle. Plötzlich rief er: „Jetzt sehe ich Ihre Hand sehr deutlich.“ Ich ersuchte ihn, danach zu fassen. Er that das und – griff in die Luft. Ich hatte beide Hände in den Taschen!

Versuche mit einer Dame hatten keinen besseren Erfolg. Reichenbach unterbrach schließlich mein weiteres Experimentiren mit den Worten: „Hören Sie auf! Sie machen mir durch Ihr vieles Fragen meine Sensitiven confus.“ Das veranlaßte mich, von weiteren Experimenten abzustehen und ein stummer Zeuge von Reichenbach’s Versuchen zu bleiben. Dieser ließ u. A. die linken Hände mehrerer Damen an einen Holzstab legen, dessen Spitze dadurch odleuchtend werden sollte. Wirklich wollten zwei Damen auf der Spitze Odlicht sehen, drei andere jedoch nicht.

„Was! Sie sehen es nicht? Frau N. N.!“ rief eine der ersten. „Sehen Sie nur genau hin! Sie müssen es sehen!“

„Ja, jetzt sehe ich’s auch,“ antwortete Frau N. N.

Nach dieser Sitzung vergingen mehrere Wochen, ohne daß ich mich um Reichenbach’s Versuche kümmerte. Indessen lud er mehrere der hervorragendsten Naturforscher Berlins zu einer Sitzung ein, in welcher er die Gefühlserscheinungen der Sensitiven durch Versuche erläutern wollte. Ich erhielt von den Ergebnissen dieser Sitzung Kunde durch einen gedruckten Bericht, der jetzt den zweiten Abschnitt seines neuesten Werkes „Odische Begebenheiten in Berlin“ bildet. Nach diesem Berichte fielen mehrere Versuche zu Reichenbach’s Gunsten aus, andere jedoch, die Herr Professor Dove anstellte, entschieden ungünstig. So unterschieden die Sensitiven durch den Geschmack zwei Gläser Wasser, von denen das eine in der rechten, das andere in der linken Hand zehn Minuten gehalten worden war, ebenso durch das Gefühl zwei in gleicher Weise gehaltene Knäuel Garn, die Odausströmungen der rechten und linken Hand etc. Dagegen waren ihre Angaben über die Empfindungen, die der Nord- und Südpol eines gewöhnlichen Magneten, eines Elektromagneten und eines Magneten mit Zwischenpolen verursacht, schwankend, unsicher und widersprechend.

Wie schon erwähnt, habe ich diesen Versuchen nicht beigewohnt. Ich bemühte mich aber, dieselben mit mehreren unbefangenen gebildeten Damen, die ich schon seit Jahren kenne, zu wiederholen. Diese Damen sind, nach der von Reichenbach angegebenen Probe zu urtheilen, sämmtlich sensitiv; eine ist darunter, die früher genachtwandelt hatte. Letztere glaubte zwei Gläser Wasser, von denen das eine in der rechten, das andere in der linken Hand gehalten worden war, unterscheiden zu können. Das rechte sollte angenehm säuerlich kühl, das linke fade laulich schmecken. Da fiel mir die bekannte Behauptung ein, daß man mit verbundenen Augen Weißwein nicht von Rothwein unterscheiden könne. Ich verband der Dame die Augen und gab ihr abermals zu kosten. Ihre Angaben waren jetzt unsicher und widersprechend.

Bei den übrigen Damen gaben die Versuche mit zwei Gläsern Wasser, zwei Knäueln, einem Turmalin etc. negative Resultate, d. h. sie waren nicht im Stande, in der Wirkung dieser Körper auf den Geschmack oder das Gefühl Unterschiede zu finden. Alle bisher von mir geprüfte Sensitive empfanden die Bewegung meines rechten Zeigefingers über den Handteller hinweg in der rechten wie in der linken Hand gleich unangenehm, während nach Reichenbach das Gefühl in der linken ein angenehm kühliges sein soll. Ich sehe diese Versuche keineswegs als entscheidend an, ich führe sie nur an, um zu zeigen, daß es mir trotz meines Interesses zur Sache nicht gelang, Ergebnisse zu erzielen, die denen Reichenbach’s entsprachen.

Nachdem Reichenbach wochenlang mit seinen Sensitiven Voruntersuchungen in der Dunkelkammer gemacht hatte, lud er auf’s Neue die bedeutendsten Männer der Wissenschaft zu einer Sitzung ein, in welcher er die Existenz der odischen Lichterscheinungen nachweisen wollte. Es folgte jedoch nur ein einziger dieser Einladung; außer diesem waren noch drei fremde Herren und ich als Zeugen anwesend. Obgleich die Versuche, die in dieser Sitzung gemacht wurden, wochenlang vorbereitet waren, gingen sie doch keineswegs besser und waren keineswegs überzeugender für mich, als die der ersten Sitzung, welcher ich beigewohnt hatte.

Der Modus dieser Versuche war der, daß Reichenbach irgend einen Gegenstand ergriff, denselben den Sensitiven mit der Frage vorlegte, ob sie etwas sähen, und ihn nach der bejahenden Antwort derselben uns mit den Worten: „Sie sehen also, meine Herren, das und das leuchtet,“ zu weiteren Versuchen übergab. So behaupteten die Sensitiven ein Glas Wasser beim Umschütteln leuchten zu sehen. Dabei hielt aber Reichenbach das Glas in der Hand, die nach seiner Angabe ja auch odisch leuchten soll.

Auch eine tönende Glocke wollten sie sehen. Als ich ein Tuch zwischen ihre Augen und die Glocke ausspannte, sagte eine der Sensitiven: die Glocke sei jetzt unsichtbar. Ich senkte darauf das Tuch so weit, daß sie wieder gesehen werden mußte, wenn sie überhaupt sichtbar war. Dennoch wollte sie auch jetzt noch niemand sehen. Gleichzeitig fühlte ich jedoch an meinem Tuche ein Zupfen und packte ein Paar Hände. Die Sensitiven hatten, bevor sie antworteten, herumgetastet, das Tuch gefühlt und in dem Glauben, daß dasselbe noch die Glocke verdecke, diese für unsichtbar erklärt. Dieser Versuch zeigt wieder die bei allen mir bekannten Sensitiven herrschende Neigung, durch Herumtasten sich, bevor sie antworten, von der Wahrheit ihrer vermeintlichen Beobachtungen zu überzeugen. Von den übrigen Versuchen – Bewegungen mit leuchtenden Händen, mit den Armen an der Mauer entlang, erwähne ich nur, daß sie nicht besser ausfielen, als die oben beschriebenen. Reichenbach war über das schlechte Gelingen derselben nicht sehr erbaut. „Ja, ja,“ sagte er, „in meiner Hand gelingen die Versuche immer, bei fremden Herren selten oder nie.“

So endete der letzte Abend in der Dunkelkammer und mit ihm Reichenbach’s odische Thätigkeit in Berlin. In dem Berichte darüber heißt es: Drei der Anwesenden erklärten sich befriedigt und von der Existenz des Odlichtes überzeugt, „die beiden Andern habe ich inzwischen nicht wieder gesprochen.“ Ich, der ich zu diesen Zweien gehöre, war leider durch die genannten Versuche nicht überzeugt, im Gegentheil, während ich vor meiner Bekanntschaft mit den Reichenbach’schen Versuchen die Existenz des Odlichtes für möglich hielt, mußte ich jetzt dieselbe auf das Stärkste bezweifeln.

In den einzelnen Fällen, wo ich den Charakter und die Unbefangenheit der beobachtenden Damen genau kannte, glaube ich allerdings, daß dieselben Lichterscheinungen gehabt haben können. Diese Lichterscheinungen sind aber höchst wahrscheinlich subjective gewesen, das heißt solche, welche nicht von Gegenständen der Außenwelt, sondern von physiologischen Vorgängen im menschlichen Körper herrühren, ähnlich wie ja auch dem Ohrenklingen keine äußerliche Schallquelle zu Grunde liegt. Drückt man z. B. im Finstern auf den Augapfel, so sieht man ein helles Licht; schlägt man darauf, so ist es einem, als wenn Feuer aus den Augen spränge. Aehnliche Empfindungen hat man bei heftiger Anstrengung des Auges, bei Blutandrang etc. Bei nervenreizbaren Personen, wie die Sensitiven sämmtlich sind, werden offenbar diese subjectiven Lichtempfindungen viel häufiger und stärker auftreten, als bei anderen Menschen.

Wer nun die Ursache dieser Lichterscheinungen nicht kennt – und das ist gewiß bei der großen Mehrzahl der Sensitiven der Fall – ist leicht geneigt, dieselben auf Vorgänge in der Außenwelt zu beziehen. Diese Umstände scheint Reichenbach ganz außer Acht gelassen zu haben. In seinem dicken Buche „Der sensitive Mensch“ findet sich nur eine kurze Erwähnung der subjectiven Lichterscheinungen, indem er dieselben als „odisches Augenleuchten“ erklärt. – –

Zum Schluß erlaube ich mir, die Erfahrungen, welche zwei andere Beobachter, Dr. Aubert in Breslau und Dr. Oppel in Frankfurt a. M., neuerdings in der Dunkelkammer gemacht haben, hier anzureihen. Ersterer hat sich im dunkeln Zimmer oft stundenlang aufgehalten und dabei fortwährend intensive subjective Lichterscheinungen wahrgenommen. Er giebt an, wie sehr man geneigt sei, diese auf Gegenstände [636] zu beziehen, die man von früher her kennt. So glaubte er wiederholt den Ofen zu sehen, den er zu seiner Linken wußte. Nachdem er sich mehrmal im Kreise herumgedreht, sah er ihn wieder, jedoch an einer Stelle, wo weder ein Ofen, noch sonst etwas dem Aehnliches sich befand. In gleicher Weise erging es ihm mit seinen Händen.

Der andere Beobachter, Dr. Oppel, war nicht viel glücklicher. Auch er hatte im dunkeln Zimmer Lichterscheinungen; zur Prüfung, ob dieselben subjectiv oder objectiv seien, bewegte er die Augen mäßig. Dabei fand er, daß in den meisten Fällen die Spur eines Lichtwölkchens im Auge war; dasselbe schien jedoch den Bewegungen des Auges nicht zu folgen, und fuhr er in gerader Linie mit dem ausgestreckten Zeigefinger nach der lichtern Stelle hin, so traf er in der That zu wiederholten Malen die Spitzen und Kanten von Kalkspath-, Quarz-, Steinsalze und Gypskrystallen, die er auf einem Tische ausgebreitet hatte, beinahe eben so oft aber fuhr er mit seiner Hand in die Luft.

Diese Mittheilungen zeigen hinreichend, welchen Täuschungen selbst ein gewissenhafter und vorsichtiger Selbstbeobachter ausgesetzt ist. Viel ärger müssen nun diese Täuschungen sein, wenn man nicht selbst beobachtet, sondern sich ganz auf die Beobachtungen fremder Leute verläßt.

Ich bin jedoch weit entfernt, Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Mehrzahl der Sensitiven zu äußern. Im Gegentheil, ich erkläre hiermit ausdrücklich, daß ich die Sensitiven nicht für Betrüger, sondern für Betrogene halte. Sie lassen sich täuschen von den subjectiven Lichterscheinungen und beziehen dieselben – mit ihrem Wesen unbekannt auf Vorgänge in der Außenwelt, die damit in gar keinem Zusammenhange stehen.

Der Umstand, daß Dr. Oppel wirklich zu wiederholten Malen in der Dunkelkammer Krystalle erfaßt hat, von denen er glaubte, daß sie Licht ausströmten, spricht noch keineswegs zu Gunsten der Odtheorie. Auch gewöhnliche Menschenaugen sehen im Dunkeln Flußspat, Diamant, Chlorophan, ja selbst Glas leuchten, wenn diese vorher erwärmt oder vom Sonnenlichte beschienen worden sind. Das Wesentliche der Reichenbach’schen Odtheorie beruht aber nicht auf der Existenz simpler Gesichts- und Gefühlswahrnehmungen, sondern auf dem polaren Unterschied, den diese in Bezug auf verschiedene Enden von Magneten, von Krystallen, in Bezug auf die rechte und linke Hand zeigen sollen; kurz auf dem Unterschied zwischen positivem und negativem Od und auf dem Verhalten der beiden zu einander, wie dies oben auseinander gesetzt worden ist. Einen solchen Unterschied habe ich weder bei meinen Gefühlsversuchen, noch Dr. Oppel bei seinen Gesichtsversuchen constatiren können.




In vorstehendem Artikel habe ich einen kurzen Abriß des Wesens und der Geschichte der odischen Entdeckungen zu geben und meine eigenen Erfahrungen auf diesem Felde der strengsten Wahrheit gemäß in möglichst ruhiger und leidenschaftsloser Weise mitzutheilen versucht.

Mit Absicht veröffentliche ich diese Mittheilungen nicht in einem wissenschaftlichen Journal, sondern in einem geachteten, weit verbreiteten und von Gebildeten aller Stände gelesenen Blatte, um so dem Publicum, das in dieser Sache bereits Partei genommen hat, Gelegenheit zu geben, sich selbst ein Urtheil über den Werth oder Unwerth der odischen Entdeckungen bilden zu können.




Im Lager von Chalons.
Mit Abbildung.

Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, war es gegen das Ende des Jahres 1855, wo der Kaiser der Franzosen die längst gehegte Idee eines stehenden Lagers in Ausführung brachte. Er wählte dazu die Ebene bei Chalons sur Marne, jenen historisch berühmten Boden der catalaunischen Gefilde, auf welchen schon im wogenden Sturme der Völkerwanderung Hunnen und Römer vor anderthalbtausend Jahren eine der blutigsten Schlachten schlugen, welche jemals von der Weltgeschichte verzeichnet worden sind. Seitdem ist selten eine hervorragende Zeitperiode verflossen, in welcher nicht Feindes- oder Freundesblut daselbst die Furchen des Landmannes düngte. Ein Lager war also hier so recht am Platze.

Für den Soldaten ist die Ebene nicht allein ein historischer, sondern auch ein classischer Boden, und das gekrönte Haupt, welches im Begriffe steht, das Leben Cäsar’s zu veröffentlichen, hat dessen stehende Lager in Gallien und am linken Ufer des Rheinstromes praktisch in’s Französische übertragen. In wiefern sich aus diesem Lager mit der Zeit eine drohende Kriegswolke entwickelt, welche den etwas abgeschmackten Gedanken der natürlichen Grenzen zu verwirklichen sucht, das wird die Zukunft lehren. Jedenfalls würden die deutschen Fürsten wohl thun, ähnliche Einrichtungen in’s Leben zu rufen, um dem Gewichte ein Gegengewicht zu geben.[4]

Einstweilen hat dieses Lager noch keine furchterregende Bedeutung, der Kaiser ist noch nicht auf dem Punkte, seine schlagfertigen Massen an den Rhein zu werfen, aber, was vielleicht eine größere Bedeutung hat, er besitzt hier eine so großartige Kriegsschule, wie es keine zweite giebt.

Bei Chalons stehen beständig 40–50,000 Mann Truppen zusammen, die dort ausgebildet und abgehärtet werden und jeden Augenblick zu politischen und kriegerischen Zwecken verwandt werden können, ohne daß eine kostbare Zeit mit Sammeln und Vorbereitungen verschwendet zu werden braucht. Ist das Lager eine allen militärischen Zwecken gerecht werdende Schule für Soldaten, Unterofficiere und Officiere, so ist dieses in einem noch höheren Grade für die Generäle der Fall. Selbst in den größten Garnisonen können solche Massen nicht zusammengelegt werden. Hier aber befinden sie sich alle auf einem einzigen Raume, unbehindert und unbeeinflußt von allen bürgerlichen Einrichtungen, welche in Städten niemals ganz vermieden werden können.

Wo könnten sich die Generäle besser ausbilden, als in einem stehenden Lager, wo ihnen die Truppen zu Massenbewegungen jeden Augenblick zu Gebote stehen? Wo böte sich eine bessere Gelegenheit, den Blick zu erweitern, sich in große Verhältnisse hinein zu leben und sich für den Zeitpunkt vorzubilden, wo eine prompte Bewegung solcher Massen die Entscheidung in die Wagschale wirft?

Der französische Soldat ist an und für sich schon ein muthiger Kämpfer und übertrifft an Behendigkeit seine Handwerksgenossen im Süden und im Norden, im Osten und im Westen. Was ihm an Ausdauer abgeht, sucht das Lager zu ersetzen, indem es ihn in allen Verhältnissen abhärtet und in eine dauernde Kriegsbereitschaft einlebt. Daß unter solchen Umständen auch der soldatische Geist wächst, das Gefühl der Zusammengehörigkeit Bande um das Heer schlägt, die eine nachhaltige Wirkung ausüben, wenn es gegen den Feind geht, daß dann die solidarische Gemeinsamkeit sich ebenbürtig neben den Patriotismus und die Ehre stellt, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.

Das Lager steht, etwa 5 Stunden von Chalons entfernt, in einer wellenförmigen Ebene. Nirgends behindern hervorragende Höhen den Blick; mit bloßem Auge kann man zuweilen die dunkeln Thürme der alten ehrwürdigen Stadt Rheims sehen, an deren Kathedrale sich so viele politisch und historisch wichtige Ereignisse knüpfen. Die Gegend ist kahl und einförmig, nur im weitern Umkreise zeigt sich einige Waldung; obschon es ziemlich mitten in der weinreichen Champagne liegt, so fehlen dennoch die Weingärten in diesem Theile der Ebene.

Erhält das Lager durch seine Entfernung von den Städten eine natürliche Isolirtheit, so ist es außerdem auch noch durch strenge Verordnungen von allem bürgerlichen Verkehr abgeschnitten. Niemand

[637]

Im Lager von Chalons.
Manöverirende Truppen     Nach der Natur aufgenommen von Fikentscher.
     Fürst von Hohenzollern Sigmaringen.     Marschall Baraguay d’ Hilliers.     Der Kaiser.     Mac Mahon.     Prinz von Hohenzollern.     General Hamilton.     Der kleine Prinz.     O’Donell.

[638] darf es betreten, welcher nicht durch eine Karte, die er überall als Legitimation bei sich zu tragen hat, dazu ermächtigt ist.

Man würde aber sehr im Irrthum sein, wenn man sich vorstellen wollte, der Soldat lebe hier einzig und allein seinem Berufe, ohne sich jemals der Erholung und der fröhlichen Muße hinzugeben. Der Franzose, sei er nun Soldat, gehöre er zu der Zunft der Handwerker oder zu den höhern Gliedern der Gesellschaft, kann einmal ohne Vergnügen und einen gewissen Grad von leichtsinniger Sorglosigkeit, die viel von Genialität an sich hat, nicht existiren. Wer also den Soldaten zum selbstbeschaulichen Einsiedler machen wollte, der würde ihm seine ureigenste Natur nehmen, und da er sich niemals zu einer gedankenlosen Maschine umformen läßt, so bliebe an ihm nichts übrig, als ein unbrauchbares Individuum.

Das hat der Kaiser sehr wohl eingesehen, denn er kennt den Charakter seiner Nation eben so gut und vielleicht noch besser als sein großer Onkel, dessen zahlreiche Kriege zu stehenden Lagern keine Zeit übrig ließen. Es ist deshalb in diesem Lager für Alles gesorgt, was zur Erheiterung der Sinne, zur Bequemlichkeit und Annehmlichkeit des Körpers dient. In dem nahen Städtchen Mourmelon hält der Kaiser sogar eine stehende Theatergesellschaft, welche für Erheiterung des Geistes und Vermehrung des Patriotismus sorgt.

Um dem Soldaten auch in dienstlicher Hinsicht das Lagerleben angenehm zu machen, wird ihm die Befolgung der Pflicht so leicht als möglich gemacht und Manches stillschweigend nachgesehen, was in Residenz- und Garnisonstädten nicht ohne ernstliche Rüge oder Strafe hingehen würde. Ganz und gar aber bietet sich hier keine Aehnlichkeit mit unserem strammen Paradedienste. Kleine Unregelmäßigkeiten werden mit Absicht nicht gesehen; die Nachsicht geht so weit, daß man sogar zuweilen einen Soldaten in voller Equipirung mit der Cigarre im Munde antreffen kann.

Von der Cordialität, welche zwischen Officieren und Gemeinen, unbeschadet des nothwendigen und nie versagten Respectes, besteht, wird man einen Begriff bekommen, wenn ich sage, daß der Spahi es sich unter Umständen erlauben darf, ein paar Züge aus des Officiers Cigarre zu thun und sie ihm dann behend wieder zwischen die ebenfalls lachenden Lippen zu schieben.

Es steht ein vollständig equipirtes Pferd an einem Zelte angebunden; ein Bummler, der sich mit seiner Erlaubnißkarte das Lager besieht, oder ein unbeschäftigter Soldat nimmt die günstige Gelegenheit wahr, schwingt sich hinauf, vergnügt sich ein paar Augenblicke im Sattel und kehrt dann mit einem unbändigen Vergnügen zum Zelte zurück. Auf standesmäßigen Anzug und untadelhaft glänzende Uniform legen solche provisorische Reiter natürlich kein besonderes Gewicht; es kommt vor, daß man einer Cavalcade im bloßen Hemde begegnet, wo dann dem befremdlich aufschauenden Besucher der Gedanke nahe kömmt, es seien die Geister der auf den catalaunischen Gefilden von Aëtius erschlagenen Hunnen. Aber das Völklein hat von Geistern keine Spur; es lacht und jubelt toll und ausgelassen und möchte sich im wilden Uebermuthe von den Rücken seiner Hengste zu dem blauen Gewölke des Sommerhimmels erheben.

Für den echten Reiter ist die Behandlung der Pferde, wie sie durchweg Regel ist, nicht befriedigend; sie ist mit einem Worte nicht reitermäßig und erregt zuweilen eine stille Entrüstung. Es ist zum Beispiel gar nichts Seltenes, daß die Officiere, wenn sie außer der Dienstzeit reiten, mit ihren Spazierstöcken darauf losschlagen; ebenso muß man das häufige Bluten durch die Behandlung mit den Sporen beklagen. In Folge der unzweckmäßigen Behandlung ist die Gangart schlecht und die Thiere sind hartnäckig, aber der Reiter sitzt nichts destoweniger flott und zeigt keine Spur von gezwungener Steifheit; er ist auch auf dem Pferde Franzose.

Ich kann es hier nicht unterlassen, eines Vorfalls zu erwähnen, der einem deutschen Herzen wehe thut. Einem Pferde war das rechte Vorderbein gebrochen, es lag hülflos und in großen Schmerzen auf dem Boden. Im Nu sammelten sich große Schwärme von Fliegen und Ameisen auf dem armen Geschöpfe, zerfraßen und peinigten es eine ganze Stunde lang. So mußte das geplagte Thier hülflos seinem Ende entgegenharren, ehe es von einer mitleidigen Hand getödtet wurde. Das hätte ein Deutscher nicht über sich vermocht.

Trotz dieser schlechten, ich möchte sagen rohen Behandlung, sehen die Pferde gut und rund aus, weil sie besser und reichlicher gefüttert werden, als bei uns. –

Wenden wir uns zu dem Lager selbst. Es bildet so zu sagen eine große Stadt und ist ungefähr wie Mannheim gebaut; 25 Fahrstraßen, vom Militärgenie angelegt, führen aus demselben sternförmig nach allen Richtungen Frankreichs, so daß sich die Truppen leicht dorthin dirigiren und zurückrufen lassen. Es ist gleichsam wie ein großes Spinngewebe, in welchem die Radienfäden sich aus dem Centrum nach der Peripherie richten.

Der Natur der Sache gemäß zerfällt es, wie z. B. das römische in Colonia Agrippina, in ein Winter- und Sommerlager. Das Winterlager, welches den Soldaten auch vor den Unbilden der Witterung zu schützen hat, befindet sich im Mittelpunkte und besteht aus kleinen, gemauerten Baracken, vor welchen an geeigneten Stellen hübsche Trinkstuben angebracht sind, wo der Soldat in freien Stunden seine Zeit mit Spielen, Rauchen, Singen und cameradschaftlichen Gesprächen todtschlägt.

An beiden Flügeln schließt sich das Sommerlager in langen Zeltreihen an. Diese Zelte sind rund, nach arabischer Einrichtung und fassen je 14–20 Mann. Das Aeußere dieser Zeltstraßen aus weißer Leinwand bietet schon wegen der großen Ausdehnung einen imposanten Anblick. Tritt man hinein, so findet man die größte Sauberkeit und Nettigkeit rings umher. Nirgends liegen verstreuete Strohhalme und Ueberbleibsel, welche an eine unbehaglich durchwachte Nacht erinnern, denn die Soldaten schlafen auf Strohmatten und haben zur Bedeckung schwere wollene Decken. An den Zeltstangen in der Mitte hängen Gepäck und Lederzeug, wodurch das Ganze einen echt soldatischen Anblick erhält. Die Officierzelte unterscheiden sich in der Form von denen der Soldaten; sie sind eckig.

Begreiflicherweise bedarf eine Lagerbevölkerung von 40,000 Mann einer großartigen Verproviantirung, die zum Theil aus bedeutender Ferne herbeigeschafft werden muß. Der Kaiser hat deshalb Vorkehrung getroffen, daß die Eisenbahn von Rheims direct in’s Lager, die von Chalons nahe an dasselbe führt. Mit jedem Zuge kommen ganze Ladungen von unentbehrlichen Bedürfnissen, die vom Militär in Empfang genommen und auf Lagerwegen nach allen Richtungen der Zeltstadt versandt werden.

Der Leser kann sich selbst eine ungefähre Rechnung von den Massen machen, welche hier tagaus, tagein verconsumirt werden. Nehmen wir beispielsweise den Fleischconsum per Tag und Kopf zu ½ Pfund an, so macht das täglich das enorme Gewicht von 20,000 Pfund. Man wird also nicht übertreiben, wenn man annimmt, daß das Lager von Chalons jährlich 7–8000 Ochsen verbraucht. Wie viel Bier und Wein nöthig ist, solche furchtbare Portionen hinunterzuschwemmen, wie viel Kartoffeln, Gemüse, Butter, Schmalz, Geflügel, Wildpret, Obst etc. etc. erforderlich sind, den Tisch der Officiere und Soldaten anständig zu versorgen, entgeht freilich unserer Berechnung, aber die Masse ist sicherlich nicht gering. Man kann sich demnach zur Genüge vorstellen, daß jeder Zug seine Waggons für das Lager bringt.

Die Eisenbahn von Chalons geht nicht bis in das Lager, sondern in der Nähe desselben vorüber. Die nächste Station ist das Städtchen Mourmelon; von hier führt eine Zweigbahn in’s Lager, die besonders für dasselbe erbaut ist. Alle diejenigen Lagerbedürfnisse nun, welche von Chalons kommen, bleiben auf dem Verladungsort von Mourmelon stehen, und von hier werden die Waggons auf der vorhin erwähnten Zweigbahn von Militärpferden in das Lager gezogen.

Diese Bahn ist abschüssig und wendet sich dem Lager in einem Bogen zu. An denjenigen Stellen, welche den stärksten Fall haben, ist der Transport der schweren Waggons nicht ohne Gefahr zu bewerkstelligen, denn trotz der Hülfe durch starke Bremsen sind die Pferde genöthigt, in scharfem Galopp zu laufen. Haben sie die Stelle erreicht, wo die Waggons durch die Neigung der Bahn allein in das Lager laufen können, so müssen die Pferde in vollem Galopp losgemacht werden. Dieses geschieht auf eine einfache und sinnreiche Weise ohne Zeitverlust und Stillstand, durch rasches Enthaken; die Pferde stieben rechts und links auseinander und überlassen es den Gesetzen der Schwere, den Dienst für sie zu verrichten.

(Der Schluß des Textes und die Erklärung unseres heutigen Bildes folgt in nächster Nummer.)



[639]

Blätter und Blüthen.

Mutter Gräbert. Berlin besitzt gegenwärtig acht Theater, welche mehr oder minder die Schaulust und den Geschmack des Publicums befriedigen. Darunter nimmt unstreitig das sogenannte „Vorstädtische Theater“ vor dem Rosenthaler Thore eine höchst beachtenswerte und originelle Stellung ein. Es entspricht noch am meisten dem Begriffe und den Ansprüchen einer wirklichen Volksbühne, deren vollkommene Realisirung freilich ein frommer Wunsch bleiben wird.

Vor langen Jahren lebte in der Residenz ein unter dem Namen „Vater Gräbert“ wohlbekannter Schenkwirth vor dem Rosenthaler Thore, der durch die Derbheit und Ungenirtheit, womit er seine Gäste behandelte, allgemeines Aufsehen erregte. Bei dem geringsten Scandal beförderte er dieselben eigenhändig und ohne viele Umstände vor die Thüre. Außerdem besaß er eine wahrhaft demosthenische Beredsamkeit, die er mit allerhand kräftigen Redensarten im Style der Berliner Hökerinnen zu würzen verstand. Eine derartige Rede des Vater Gräbert erregte stets die ungeheuerste Heiterkeit seiner Gäste, die allerdings seinen Eifer nur noch mehr steigerte. „Vater Gräbert! Rede halten!“ brüllte das Publicum, worauf der würdige Rhetor seine Tribüne, eine leere Biertonne, bestieg und die Versammlung gewöhnlich mit den Worten begrüßte: „Meine Herren! Sie sind dumme Jungen!“ – Der Zauber einer solchen Beredsamkeit verfehlte seine Wirkung nicht, das Geschäft florirte, und Vater Gräbert wurde nicht nur ein populärer, sondern auch ein wohlhabender Mann. Sein Ehrgeiz erwachte, und er beschloß mit seiner einträglichen Bierwirthschaft ein Kunstinstitut zu vereinen. Mit richtigem Scharfblick erkannte er die Bedeutung des Ballets und der Pantomime, worauf er um so mehr angewiesen war, da ihm anfänglich die Concession zu einem ordentlichen Theater versagt wurde. Diese Vorstellungen, bei denen, wie in der italienischen Pantomime, Prügel und Schläge den Hauptreiz bildeten, fanden einen rauschenden Beifall. Bald gehörte es zum guten Ton, das Ballet vor dem Rosenthaler Thore zu besuchen und sich von Vater Gräbert anreden und herauswerfen zu lassen. Mit der Zeit erhielt der würdige Mann die Erlaubniß, Lustspiele und Schauspiele aufzuführen, die er so gut benutzte, daß er mit Hinterlassung eines bedeutenden Vermögens starb.

Seine Wittwe setzte das Geschäft mit ungeschwächten Kräften fort; als praktische Frau hatte die neue Frau Directorin den großen Vortheil erkannt, der aus der Vereinigung einer Bierwirthschaft und Restauration mit der Kunst für sie erwuchs. Nach wie vor schmierte sie daher Butterbrod, verkaufte sie Schinken, Wurst und Käse, schenkte sie Weißbier und Bairisch aus, während sie die Leitung des Theaters mit Hülfe eines umsichtigen Regisseurs fortführte, mit der einen Hand den Küchenlöffel, mit der andern Hand den Directionsstab schwingend, bald einem Kunden ein frisches Seidel, bald einem ihrer Schauspieler eine neue Rolle verabreichend. Dabei gedieh aber das Theater, vielleicht durch diese stärkende Verbindung mit der Küche, immer mehr und mehr, so daß Frau Gräbert gegenwärtig eine reiche Frau ist und unstreitig unter den Privatunternehmern Berlins die besten Geschäfte macht. – Das Theater selbst macht einen durchaus freundlichen und angenehmen Eindruck; das Publicum besteht meist aus dem mittleren Bürgerstande, aus kleinen Kaufleuten, Fabrikanten und Handwerkern, die sich nach der Arbeit mit ihren Frauen und Töchtern erholen und sich einen geistigen Genuß verschaffen wollen. Es ist das beste und empfänglichste Publicum von der Welt, voll rührender Andacht und Hingebung an die Kunst. Hier findet man keine Spur von jener Blasirtheit der höheren Stände, sondern eine Aufmerksamkeit und ein Interesse an der Darstellung, wie sie sich nur ein Dichter wünschen mag. Die Leiden des Helden, die Klagen der ersten Liebhaberin wecken das Echo in der Brust der Zuschauer und besonders der zarten Zuschauerinnen, deren schöne Augen sich mit Thränen füllen. Viele der letzteren trocknen dieselben statt mit dem Taschentuche zuweilen mit dem Strickstrumpf, den sie, um nicht müßig zu gehen, in das Theater mitbringen. Die Stricknadeln sind gleichsam das Barometer ihrer Empfindungen, indem jene um so rascher bewegt werden, je rührender das Stück ist.

Eine sehr unangenehme Stellung hat der Schauspieler, welcher den Bösewicht oder Intriganten spielt. Für die schlechten Handlungen, welche ihn der Dichter begehen läßt, wird er verantwortlich gemacht, und wenn ihn zuletzt die gerechte Strafe und das Schicksal ereilt, ertönt ein unbarmherziges Freudengeschrei, und auf allen Gesichtern der braven Männer und ihrer wohlbeleibten Frauen glänzt der Ausdruck vollkommener Befriedigung, wenn „der niederträchtige Kerl“ endlich fällt oder von dem Helden „erdolcht“ wird. Vorzugsweise erfreut sich das Trauerspiel mit seinen Schrecken der Gunst dieses Publicums, das im Gegensatz zu den sogenannten gebildeten Theaterfreunden eine tüchtige Portion von Elend, Jammer und Noth zu ertragen vermag und keineswegs an schwachen Nerven leidet. Hier darf ein Dichter wirklich tragische Effecte wagen, vor denen die verwöhnten und entnervten Zuschauer des Hoftheaters zurückschaudern. Aber auch das Lustspiel und die Posse können auf dankbare Anerkennung rechnen, und wo die feine Welt kaum die Mundwinkel verzieht, wird hier aus vollem Halse gelacht. Hand in Hand mit dieser geistigen Gesundheit und Empfänglichkeit geht auch eine entsprechende Verdauungsfähigkeit des Magens. In den Zwischenacten werden Berge von belegten Butterbroden und unzählige Seidel Bier vertilgt. In Anbetracht dieses Umstandes trägt auch die praktische Frau Directorin Sorge, daß die Zwischenacte so lange als möglich dauern, damit um so mehr verzehrt werde.

Was nun die darstellenden Künstler und Künstlerinnen betrifft, so muß man ihnen nachrühmen, daß sie mit ganzer Seele bei der Sache sind. Mancher berühmte Hofschauspieler dürfte sich den heiligen Ernst und die Gewissenhaftigkeit dieser Collegen zum Muster nehmen, von denen er nur mit Achselzucken spricht und auf die er hochmüthig niederschaut. Die braven Leute gehen ganz und gar in ihrer Aufgabe auf und identificiren sich ganz mit den von ihnen darzustellenden Charakteren. Nirgends sieht man auf der Bühne so vollkommene Bösewichte, so tapfere Helden, so schmachtende Liebhaberinnen, als auf dem Vorstädtischen Theater. Der Held ist jeder Zoll ein Held und strengt alle seine Muskeln und besonders seinen Kehlkopf auf das Furchtbarste an, daß die Coulissen wackeln. Je mehr er aber rast und brüllt, desto lauter ist der Beifall des Publicums, das auch in dieser Beziehung die Zuschauer des Hoftheaters weit hinter sich zurückläßt, die erst einer Anregung von seiten der Claque bedürfen. Hier findet der Künstler noch Beifallssturm und donnernde Bravo’s, welche ihn für die geringe Gage entschädigen müssen.

Auch seine Dichter besitzt das Vorstädtische Theater, meist junge Poeten mit vollem Herzen und leerem Magen, die vom Ruhme leben, da das Honorar für ihre unsterblichen Werke nur wenige Thaler beträgt. Zuweilen giebt die großmüthige Frau Directorin von freien Stücken ihnen ein Benefiz, bestehend aus einer Hammelkeule und einem Glase Grog oder Punsch. Die Mehrzahl der aufgeführten Dramen sind Bearbeitungen nach dem Französischen, oft mit großem Geschick den hiesigen Verhältnissen angepaßt. Je schauerlicher der Inhalt, desto größer der Beifall. Gewöhnlich haben diese Stücke einen socialen Hintergrund, indem ein edler, aber armer junger Mann oder ein edles, aber armes schönes Mädchen die Hauptrolle spielt und zuletzt nach allen möglichen Chicanen und ausgestandenen Qualen glücklich wird und eine anständige Partie macht. Auch ältere classische Dramen und selbst Schiller’s Meisterwerke werden hier aufgeführt, und es ist gewiß vom höchsten Interesse, die Wirkung dieser poetischen Schöpfungen auf ein derartiges Publicum zu beobachten. Aus eigener Anschauung können wir die Versicherung geben, daß Schiller’s „Jungfrau“ selbst in dieser mangelhaften Aufführung einen größeren Eindruck auf diese Zuschauer macht, als auf das blasirte Parquet und die Logen des Hoftheaters, indem hier jede dramatische und poetische Schönheit wahrhaft enthusiastischen Beifall fand. Ein Besuch des Vorstädtischen Theaters wird in mehr als einer Beziehung auch den Gebildeten interessiren und ihm hinlänglichen Stoff zum Nachdenken über den Nutzen und die Bedeutung der Volksbühne geben.


Theodor Körner’s erstes Gedicht. Das Bild des männlich-kühnen fromm-vertrauensvollen Freiheitskämpfers, Theodor Körner’s Bild, wurde uns in den ersten Stunden des 26. August auf die erhebendste Weise durch die eigenen Worte des einzigen Dichterhelden vorgeführt. „Ahnungsgrauend“ sehen wir ihn mit hehrer Heldenbegeisterung „der ersehnten Freiheit Seligkeit“, dem Tode, entgegeneilen. Dem Heldentode gelten seine letzten dichterischen Herzensergießungen. Eigenthümlich – auch des Knaben erstes dichterisches Wort ist „an den Tod“ gerichtet, an den Tod, der ihm in den frühen Jugendtagen oft nahe getreten.

Des Knaben Theodor Lehrer, Candidat Körner, durfte nach langer Unterbrechung, die Krankheit veranlaßt hatte, seinem lieben, noch nicht zwölf Jahre alten Schüler auf’s Neue Unterricht ertheilen. Eine recht zeitgemäße Aufgabe dünkte dem Lehrer die zu sein, Theodor aufzufordern, die Gedanken niederzuschreiben, welche ihn während so schwerer Krankheit beschäftiget hätten. Der kaum genesene, sich seiner Gesundheit erfreuende Knabe löste die Aufgabe mit leichtem Sinne und keckem Uebermuthe in dichterischer Weise, wohl angeregt durch viele Gedichte, die im Elternhause an seinem Ohr vorübergegangen waren. Er dichtete, wie Kinder dichten, die den Reim als das einzige Merkmal des Gedichtes kennen.


     An den Todt!
Lieber Todt! O komm noch nicht,
Blas noch nicht aus mein Lebenslicht,
Es brennt ja so nicht helle.
Ach! gieb mir lieber eine Schelle.

5
Auf Erden gefällt mir es noch sehr,

Das versichre ich Dir, auf meine Ehr.
Hier kann man doch noch fest auftreten,
Dort oben darf man nicht einmahl sehr laut reden,
Um daß die Wolken nicht aus einander gehen

10
Und man zum Fallen kömt aus den Stehen.

Hier kann man doch Leckerbissen bekommen,
Dort oben aber muß es einen frommen,
Zu speißen lauter Wasser und Brod,
Welches man auf Erden nur thut in der größten Noth.

15
Mir gefällt’s auf Erden besser,

Denn dort oben ist es feuchter und nässer,
Denn wo kam denn sonst der Regen her,
Da gäb mir gleich das Podagra die Ehr,
Mich ein wenig zu incommodiren.

20
Dazu soll mich niemand verführen,

Daß ich so mein Erdenloß
Wegwerf, und mich in den Schooß
Des Himmels über uns setze.
Nein mich bekömmts Du noch nicht in Deine Netze,

25
Ich trink noch nicht das Todten Glas,

Ich empfele mich Ihnen also Herr Vielfraß.

Mit lachender Miene wohl, doch auch mit Hoffnung auf des Schülers vielseitige Begabung, verwahrte diesen ersten dichterischen Versuch der treue Lehrer, und nicht ohne Rührung übergab er nach vielen Jahren das ihm theure Andenken von seinem längst dahingegangenen Schüler seinem Sohne. Dieser, mein Universitätsfreund Dr. Körner zu Schellenberg, konnte bei seinem Scheiden von Leipzig mir kein werthvolleres Freundschaftszeichen übergeben, als das Blatt mit Theodor Körner’s Handschrift, mit seinem ersten Gedichte.

Dr. Herm. Langer.

[640] Vögelvergiftung. Dem mit der Zeit fortgeschrittenen Farmer und Gärtner in England genügten die altmodischen Vogelscheuchen nicht, welche im Kirschgarten und Weizenfelde den Vögeln Gespensterfurcht einjagen sollten, auch die Vogelflinte nicht, noch das Pistol, mit Vogeldunst geladen; diese Methode schien seinen Korn- und Obstreichthum nicht hinlänglich zu schützen. Gift mußte helfen und es wurde in furchtbarer Weise angewendet. Die Vögel starben zu Myriaden, aber dafür kamen die korn- und fruchtverzehrenden Insecten zu Tausenden von Myriaden. Nun hat man das Parlament zu Hülfe gerufen, und die blonden Squires des Unterhauses zerbrechen sich die Köpfe, wie mit einem Gesetze dem Unheil abhelfen und die Natur in ihre Rechte wieder einsetzen.

Die Vögel haben ihren Platz in der Oekonomie nicht nur der Natur, sondern der civilisirten Gesellschaft überhaupt, in welcher die Herren der Schöpfung zu leben bestimmt sind. Sie haben ihre kleine Mission von Nützlichkeit, und sie ist für sie so groß und wichtig, als für uns selbst. Die Natur erweist sich weiser, als wir selbst, und der Mensch mit der Chemie vertieft sich in Irrthümer beim ersten Versuche, ihre Weisheit durch seine eigene ersetzen zu wollen. Die Wahrheit beginnt sich den Gemüthern aufzuzwingen, daß wir entweder den fruchttragenden Boden den Würmern überlassen, oder eine zahlreiche Armee jener kleinen Tagelöhner in Thätigkeit erhalten müssen, die unermüdlich sind auf der Kriegsfahrt gegen die Ersteren. Die Vögel leben nur zum Theil auf unsere Kosten, aber sie leben noch mehr zu unserem Vortheile. Es ist erwiesen, daß der Buzzard gegen 6000 Mäuse im Jahre vertilge; die Zahl der Würmer, welche die Dohle verzehrt, ist unberechenbar. Bei zehn in England getödteten Schwalben fand man nicht weniger als 5482 Insecten bei der Section ihres Magens. Man berechne die Vermehrung von so vielen hunderttausend Insecten in einem Sommer nach dem Maßstabe der Vermehrung der Zimmerfliege – 20 Millionen in einem Sommer –, und man wird das Entsetzen begreifen, mit welchem in alter Zeit die Engländer auf das Schießen von Schwalben blickten! Es wäre gut, wenn dasselbe Gefühl noch heute vorwaltete. Die Heilighaltung, mit welcher ein milder Aberglaube das Leben des Rothkehlchens geschützt, die sich in Holland auf den Storch ausdehnt, in Indien auf den Scavenger-Vogel, schließt eine Zartheit und Schönheit in sich, welche einen Reiz der Volksnatur bilden. Wie in einer altenglischen Novelle Onkel Toby sagte, als er einer Fliege die Freiheit wiedergab. „Es ist Raum genug in der Welt für uns Alle.“ Und die Vögel, sie haben einen Dienst im Tempel des Himmelsgewölbes und auf der Erde zu verrichten, unter einer Weisheit, die größer als die ist, welche wir aufzubieten vermögen, und es ist so unzweifelhaft sicher, als eine mathematische Beweisführung, daß die allgemeine Nützlichkeit der Vögel bei weitem die Kosten übersteigt, welche sie den Oekonomen des neunzehnten Jahrhunderts verursachen.

In England sind diese Oekonomen mit unbarmherziger Grausamkeit zu Werke gegangen. Fast in jedem Dorfe giebt es Sperlingsclubs, welche Preise auf die Vertilgung dieser Vögel aussetzen; einer dieser Clubs zerstörte in einem einzigen Jahre nicht weniger als 13,000 Vögel. Ein Geistlicher bezeugt, daß innerhalb einer gleichen Periode in Worthing allein 13,848 Goldfinken der „noblen Passion“ zum Opfer fielen. Ein Parlamentsmitglied M. Paull, welcher am 16. Juli dieses Unwesen zur Sprache brachte, schrieb das Gelingen so massenhafter Zerstörung der Anwendung vergifteten Kornes zu, das gegenwärtig im allgemeinen Gebrauche durch ganz England gefunden wird. Nicht nur Raben, Krähen, Spatzen und Lerchen, sondern auch Nachtigallen und Tauben, ja selbst Vierfüßler, wie Spanferkel, seien überall getödtet, indem man weit und breit die Aecker mit jenem vergifteten Korn besäet erhalten habe. Andere Parlamentsmitglieder vereinigten ihre Klagen mit den obigen; Einzelne führten an, daß die Dohlenschwärme, die in den alten Bäumen vor ihren Schlössern seit Jahrhunderten nisten und mit deren Existenz überall in England alter Aberglaube das Glück der jedes Mal angesessenen Familie verbindet, hie und da völlig vertilgt worden. Eine Dame in Kent rühmte sich vor Kurzem öffentlich in den Blättern, auf ihrem Gute binnen zwei Jahren gegen 90,000 Vögel mit einem Pulver „ihrer eigenen Mischung“ vergiftet zu haben. Auch das tödtliche Strychnin findet eifrige Käufer zu gleichem Zweck.

Der Leser kann sich nicht einmal damit trösten, daß nur auf den britischen Inseln dieser Barbarismus zur betrübenden Blüthe gekommen. Die Italiener geben den Engländern nichts nach in dieser Beziehung, und die Franzosen eben so wenig. An einem einzigen Tage d. J. 1862 wurden, um nur ein Beispiel anzuführen, innerhalb eines mäßigen Bezirks in der Lombardei nicht weniger als 15,000 Vögel gefangen oder getödtet, und jedes Jahr sieht an den Ufern des Lago Maggiore 60 – 70,000 Vögel eine Beute dieser Vertilgungsnarrheit werden. So ist es nicht England allein, wo Dohlenvölker in einem Tage aussterben und ihre Jungen in den Nestern dem Verhungern überlassen bleiben, Tauben zu Hunderten aus der Luft fallen und in der Grafschaft Derby die Haideläufer dutzendweise vergiftete Rebhühner von den Aeckern aufheben. Die Franzosen, welche, wie Shakespeare von ihren Falkonieren sagt, „nach Allem jagen“, haben aus ganzen Districten eine Wüste gemacht und büßen dort ihren Muthwillen mit schlechten Ernten. Sie haben so aus culinarischen Rücksichten gehandelt, sie haben die kleinen Vögel gegessen, und jetzt werden sie von den kleinen Insecten gegessen. Die Genauigkeit, mit welcher in Frankreich statistische Resultate festgestellt werden, erlaubt mit Bestimmtheit die Feldverwüstungen zu berechnen, welche ihre Gourmands hervorgerufen. In einem einzigen Departement belief sich der durch Würmer erlittene Getreideverlust in einem Jahre auf den Werth von vier Millionen Franken. Das Ueberhandnehmen dieser Insecten erklärte drei auf einanderfolgende Mißernten! Die Colza ist eine harte Pflanze, aber auch sie unterliegt dem Feinde. Zu Versailles machte man ein Experiment mit fünfhundert Colzakörnern, die man ohne Auswahl gesammelt, und mehr als die Hälfte wurde als von Insecten zerfressen gefunden. Auch der Weinstock, der Sorgenbrecher, erscheint in der Liste derjenigen Pflanzen, an denen die Versündigung gegen die „kleinen Vögel“ gestraft worden. In 23 weinbautreibenden Districten Frankreichs wurde der durch Insectenverwüstung verursachte Schaden auf 20,800,000 Franken berechnet. – Auch Ungarn hat davon traurige Dinge zu erzählen, und die dortigen Weinzüchter und Landökonomen, die bei Zeiten weise geworden, sahen und sehen sich genöthigt, Preise für die Zucht kleiner Vögel auszusetzen. Auch in einzelnen Provinzen Preußens folgte der Vögelvertilgung die Zerstörung von Bäumen durch Raupen um Bereiche von 24 Millionen Cubikmeter auf dem Fuße. Man erzählt vom alten Fritz, daß er es eine Zeit lang für eine gute Politik gehalten, die Spatzen, die in seinen Fruchtbäumen hausten, zu „exterminiren“, indessen sehr bald die Ordre widerrief und die Vermehrung seiner alten Feinde sogar „encouragirte“. Dasselbe ereignete sich in einem der Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo die „Autoritäten am Staatsruder“ in einem Jahre eine Prämie auf die Vertilgung der kleinen Vögel aussetzten und schon im nächsten doppelte Prämien für Vögelvermehrung nach allen Seiten hin verhießen.

Indessen in den oben erwähnten Ländern des Continents war es nur der Vogelfang mit seinen barmherzigeren Utensilien, in England ist es Gift, tausendfach zerstreutes und versäetes Gift, das die Felder entvölkert hat und noch entvölkern wird, ehe der erboste Landmann begreifen wird, daß die unsichtbaren Insecten ihm tieferes Herzeleid verursachen, als die sichtbaren kleinen gefiederten Feinde, die mehr seine Freunde sind. Ist es doch erwiesen, daß auf je 150 Vögelarten nur etwa 14 zu rechnen sind, die Insecten als Nahrung verschmähen.




Auch das religiöse Gesetz hat seine Hinterthüren. Die Methodisten in Amerika halten das Tanzen für Sünde. Eine junge Dame, die kürzlich außerhalb einer Methodistengemeinde getanzt hatte, wurde von den Vorstehern der Kirchengemeinde in Anklagestand versetzt. Ihr Vater vertheidigte sie und fragte, worin die Sünde des Tanzes bestehe. Die Antwort war: „Im Hüpfen nach dem Takt der Musik.“ Jetzt brachte er Zeugen vor, sowohl Tänzer als Musikanten, welche beschworen, daß die junge Dame nie Takt gehalten. Sie wurde daher, zum großen Jubel der Zuhörer, freigesprochen.



  1. W. H. Spangenberg in Suhl.
  2. Mit Vergnügen können wir berichten, daß schon von mehreren Seiten, von Hamburg, München, Leipzig und Halberstadt der hiesige Jugendwehrverein um Auskunft angegangen wurde, und wir fügen hinzu, daß derselbe mit Vergnügen jederzeit jede gewünschte Auskunft ertheilen wird. Der Präsidirende des Vereins ist Herr Dr. jur. Sauerländer.
  3. Beim Lesen dieser zeitgemäßen Anregung können wir doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß die Leiter und Instructeure derartiger Institute vor Allem darauf sehen mögen, daß die an sich gute Idee nicht in eine Soldatenspielerei mit obligater eitler Lieutenantsstellenjagd ausarte. Am wenigsten aber dürfen die jungen Burschen von dem Turnen zurückgehalten werden.
    D. Red.
  4. Wir können diesem Artikel gegenüber den Wunsch nicht unterdrücken, daß von den maßgebenden Stellen Deutschlands aus das Lager von Chalons mit sehr ernsten Blicken betrachtet werden sollte. Niemand kann verkennen, daß dem deutschen Soldaten ganz genau gerade das vollkommen fehlt, was dem Franzosen hier in so vollkommenster Weise zu seiner echten kriegerischen Ausbildung geboten ist. Möchten wir nicht abermals „zu spät“ gemahnt werden, ein solches Muster nicht unnachgeahmt zu lassen; die Ersparung der dazu nöthigen Kosten konnte uns in nächster Zeit leicht außerordentlich theuer zu stehen kommen.           A. d. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: enigen