Die Gartenlaube (1863)/Heft 39

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[609]
Die Echte.
Eine Geschichte aus dem alten Lande.
Von Ernst Willkomm.
(Schluß.)
8.

Es war der Voigt, begleitet von den zwei Ruderknechten des älteren Krahn, welche zugleich mit ihrem Herrn und Heinz Osten den Ewer nach Hamburg gesteuert hatten. In großer Bestürzung waren sie vor Kurzem allein zurückgekehrt, um die Verhaftung ihres Herrn, den sie nicht einmal sprechen durften, daheim zu melden und ihrer Obrigkeit davon Anzeige zu machen.

Der Voigt, ein guter Schütze, pflegte nie ohne Vogelflinte auszugehen. Er knallte oft blos zum Vergnügen unter einen Schwarm Spatzen oder lärmende Staare, die er überhaupt nicht leiden mochte, weil er in den naschhaften Vögeln die gefährlichsten Feinde aller Obstsorten erblickte. Einen solchen „Prellschuß“, wie er sich ausdrückte, hatte er auch jetzt gethan, ohne zu fragen, was Andere davon denken möchten.

Capitain Krahn kannte den Mann, der gern sehr kurz angebunden war und sich in seiner obrigkeitlichen Stellung für völlig unantastbar hielt. Die Meldung der Krahn’schen Knechte hatte ihn erbittert, denn daß Ohllander Eingesessene, Männer von Gewicht und von unbescholtenem Rufe, durch fremde Häscher in’s Gefängniß geworfen werden könnten, dünkte ihn unmöglich. Er hielt eine solche Gewaltthat für ein schweres Verbrechen, für einen frevelhaften Eingriff in die Gerechtsame und Freiheiten seiner geliebten Heimath, und hätte am liebsten gleich das ganze alte Land aufgeboten, um gen Hamburg zu ziehen und die Eingekerkerten, die in seinen Augen natürlich unschuldig sein mußten, nöthigenfalls gewaltsam zu befreien.

Moritz Krahn ward von dieser neuen unangenehmen Mittheilung sehr beunruhigt und wollte noch in der Nacht nach Hamburg aufbrechen.

„Was ist die Ursache ihrer Verhaftung?“ wandte er sich fragend an die ängstlich gewordenen Knechte.

„Es heißt, man habe sie bei verbotenem Spiele betroffen,“ versetzte der eine.

„Beim Spiele!“ wiederholte der Capitain nachdenklich. „Das ist wenigstens glaublich, denn der Vater kann keine Karte liegen sehen, ohne sogleich mit harten Thalern zu klappern.“

Dortchen mit ihrer Mutter kam jetzt ebenfalls herbei, um zu hören, was der aufgebrachte und sehr laut sprechende Voigt anzuordnen für gut finden würde.

„Alles einerlei!“ sagte dieser. „Haben sich unsere Landsleute vergangen, so ist’s jedenfalls unwissentlich geschehen. Wer von uns kann alle hamburgischen Verordnungen kennen! Man steckt aber ehrenwerthe Männer nicht gleich in’s Loch, wenn sie etwas Verbotenes gethan haben. Dergleichen läßt sich mit Erlegung einer Geldbuße abmachen. Aber vermuthlich haben die Freunde Alles verspielt und sitzen nun fest. Darum auf, alle Mann! Steckt Geld ein und geizt nicht! Ihr werdet dann sehen, wie geschwind die gestrengen Hamburger freundlich werden und die Gefangenen freigeben.“

Dieser Vorschlag gefiel dem Capitain, und er würde sofort dem drängenden Voigte gefolgt sein, hätte er sich jetzt nicht der Blinden wieder erinnert, die noch immer allein im Zimmer saß, um die Rückkehr des Hausherrn zu erwarten.

„Die Fremde!“ sagte er, der Hausfrau zuwinkend. „Nun Osten nicht kommt, muß sie fort! Ich werde selbst mit ihr reden!“

„Es bedarf keines Wortes,“ sprach die Blinde dicht hinter ihm. Sie stand an dem mehrmals erwähnten kleinen Fenster und hatte, wie sich sogleich ergab, die ganze Unterredung mit angehört. „Wenn Osten im Gefängnisse sitzt, ist es meine Pflicht, ihn daselbst aufzusuchen. Ein Wort von mir macht ihn eher frei, als Euer Geld! Und ich werde es sprechen, wenn er mich erhört und meinen Willen thut!“

Sie war aus dem Zimmer getreten und ging jetzt, ohne sich des Stabes zu bedienen, mit festem Schritt über die Diele, um sich nach dem hinteren Theile des Hauses zu wenden, von wo sie die Stimme Dortchens gehört hatte. Alle ihre Bewegungen waren sicher, wie die einer mit scharfen Augen begabten Person.

„Diese Stimme muß ich kennen!“ sprach der Voigt, der Unbekannten, die wie eine dunkle Erscheinung aufgetaucht war, mit den Augen folgend. „Wer ist das Weib?“

„Wir Alle haben es nie zuvor gesehen,“ versetzte Capitain Krahn. „Ihr Kommen hat aber jedenfalls eine eigene Bewandtniß, und ich fürchte, keine erfreuliche.“

Inzwischen war die Blinde zu Dortchen vorgedrungen, deren Hand sie jetzt ungeachtet des Sträubens derselben erfaßte und fest in der ihrigen hielt.

„Ich weiß es, Du bist Braut,“ sprach sie mit bewegter Stimme. „Ich werde Dich segnen, wenn Dein Vater zuvor in sich geht und früh begangenes Unrecht wieder gut macht.“

„Das ist Hanna Moll, so wahr ich lebe!“ rief der Voigt und legte, rasch hinzutretend, seine Hand auf die Schulter der Blinden. „Lebst Du noch? Und von wannen kommst Du?“

Die Fremde horchte auf und kehrte ihr bekümmertes Gesicht dem Sprechenden zu.

[610] „Du bist der Voigt,“ versetzte sie. „Ich erkannte Dich beim ersten Worte. Ja, es ist Hanna Moll, die vor Dir steht! Dieselbe Hanna, die Du vertreiben halfst, als Osten mich gewaltsam der Echte beraubte, durch die er sich mir für Zeit und Ewigkeit verlobt hatte!“

Dortchens Mutter stieß einen tiefen Seufzer aus und verbarg weinend ihr Antlitz, indem sie sich auf die Schulter der jugendlichen Tochter lehnte.

„Dann bist Du es, die Osten beraubte!“ rief, von einer plötzlichen Ahnung durchzuckt, der Capitain, und riß die Blinde mit Heftigkeit an sich. „Nur eine Person, welche mit allen Oertlichkeiten des Hauses genau bekannt ist, konnte ungestört einen so frechen Diebstahl begehen! Voigt, thu’ Deine Pflicht! Im Namen des Königs fordere ich Dich auf: verhafte dies Weib!“

Der Voigt ließ die Blinde von den Knechten in die Mitte nehmen, winkte diesen aber, daß sie glimpflich mit ihr verfahren möchten.

„Lasse mich fesseln, wenn Du willst,“ sprach Hanna vollkommen ruhig; „Du wirst mich freigeben, sobald ich mit Osten gesprochen habe. Ihn schaffe zur Stelle, oder triff Anstalt, daß ich möglichst schnell zu ihm gebracht werde!“

„Das soll geschehen,“ versetzte der Voigt. „Vorwärts, Männer, zum Strande und richtet Alles zur Abfahrt! In einer Stunde müssen wir segeln.“




9.

Es war eine stille, milde Herbstnacht. Ueber dem breiten Strombett der Elbe lag eine weißliche Nebelschicht, über welche die hohen Masten der größeren Seeschiffe in die helle Luft emporragten. In der kleinen Cajüte der Smak saß Hanna Moll mit fest geschlossenen Augen. Sie hatte sich geweigert, dem Voigte weiter Rede zu stehen, indem sie immer wieder darauf zurückkam, daß sie Osten sprechen müsse.

Capitain Krahn, welcher das Steuer des Küstenfahrzeuges führte, erkundigte sich nach Hanna Moll’s Vergangenheit, da die vernommenen Aeußerungen voraussetzen ließen, daß der Voigt wenigstens zum Theil mit den Lebensverhältnissen der Blinden bekannt sein müsse. Dieser schien anfangs zum Sprechen nicht sehr aufgelegt zu sein. Da aber Moritz Krahn immer dringender wurde, brach er doch endlich das Schweigen und theilte ihm Folgendes mit:

„Heinz Osten und ich, wir waren schon als Knaben mit einander befreundet, hielten immer zusammen und theilten Leid und Freud’ als getreue Cameraden. Das blieb auch so, als wir die Schule verlassen hatten und in’s thätige Leben übertraten. Es verging kein Sonntag, den wir nicht zusammen verlebten, oft genug in gar lustiger Weise, die nicht immer die Billigung unserer Eltern fand. Bei diesen sonntäglichen Vergnügungen lernten wir Hanna Moll kennen. Sie war ein ungewöhnlich hübsches Mädchen, leicht und frei in ihren Bewegungen, heiter, aufgeweckt, dabei fleißig und zu jeder Arbeit erbötig. Leider besaß sie aber gar kein Vermögen! Nur was sie durch rastlose Thätigkeit erwarb, war ihr Eigenthum.

Osten, der gleich bei der ersten Begeguung Wohlgefallen an Hanna fand, machte ihr bald darauf Vorschläge, welche das hübsche Mädchen nicht von sich wies. Sie sollte zu ihm ziehen als Dienerin; später, wenn sie sich erst eingerichtet habe, werde sich in seinem Hause bald eine bessere Stellung für sie finden.

Hanna verstand diese Andeutungen und ging ohne Bedenken auf den Vorschlag des jungen Baumhofbesitzers ein, von dessen Eltern nur der Vater noch lebte. Dieser war ein strenger, sogar ein harter Mann, der auf geringere Leute verächtlich herabsah und mit Dienstboten nur sprach, wenn er es mußte. Gegen den Eintritt Hanna’s als Magd in den Hof des Sohnes – denn diesem gehörte bereits das Gewese – hatte er nichts zu erinnern. Die Freundlichkeit Hanna’s, ihr flinkes Wesen, ihr heiterer Sinn und ihre großen hellen Augen gefielen auch ihm, und er hatte das junge Mädchen gern um sich. Bald aber gewahrte er, daß sein Sohn Hanna auszeichnete und zwar in bedenklichster Weise. Da ergrimmte der Alte. Er setzte Heinz zur Rede, verbot ihm jeden Umgang mit der jungen Magd und verlangte, er solle Hanna den Dienst aufkündigen.

Heinz stellte sich willfährig, traf aber keine Aenderung. Hanna Moll blieb, und als der Alte unter Drohungen ein zweites Mal seine Forderung wiederholte, gestand ihm der Sohn, er könne nicht darauf eingehen; Hanna sei seine Geliebte, seine Braut; vor wenigen Tagen erst habe er ihr die Echte gegeben!

Es ging bös her in Osten’s Baumhofe nach Ablegung dieses Bekenntnisses. Heinz selbst verlebte wahre Höllentage, und Hanna sah sich sogar Mißhandlungen ausgesetzt, wenn sie zufällig dem erbitterten Vater ihres Verlobten begegnete. Sie ließ sich jedoch nicht einschüchtern; denn Heinz hatte ihr Schutz zugesichert und feierlich gelobt, daß er nie von ihr lassen werde. Allein es kam dennoch anders! Der stolze Alte wußte es so einzurichten, daß sein Sohn in Hanna’s Treue Zweifel setzen konnte. Er ward eifersüchtig, mißtrauisch, heftig, zuletzt hart, und da es Hanna nicht gelang, sich vollkommen in den Augen des Verlobten zu reinigen, so verlangte dieser in einer Stunde der heftigsten Aufregung die Echte zurück, indem er zugleich mit Hand und Mund dem Vater gelobte, er sei bereit, der reichen Erbin die Hand zu reichen, die ihm dieser vorgeschlagen und als passende Braut empfohlen habe.

Hanna berief sich auf ihr Recht und wich keiner Drohung. Die ihr gemachten Vorwürfe und Anschuldigungen nannte sie elende Verleumdungen, ersonnen von ihren Feinden, um sie zu verderben. Sie erklärte unumwunden, daß sie niemals ihre Rechte auf Heinz Osten aufgeben werde! Im Besitz der Echte durfte und konnte sie dies mit Fug und Recht thun, da ohne förmliche Rückgabe derselben ein neues Verlöbniß nicht stattfinden konnte.

Zu wiederholten Malen versuchten die nächsten Verwandten der Osten’schen Familie das hartnäckige Mädchen andern Sinnes zu machen. Vergebens! Osten selbst erbot sich zur Erlegung einer beträchtlichen Abstandssumme, wenn Hanna nur sofort die Echte herausgebe, allen Ansprüchen auf Heinz entsage und sofort auf Nimmerwiedersehen das Land verlasse.

Auch diese Vorschläge wies das eigensinnige Mädchen von der Hand, und es war vorauszusehen, daß aller Friede von Osten’s Hofe weichen werde, wenn es nicht gelinge, die Starrsinnige mit List oder Gewalt zu entfernen.

Zunächst griff man zur List, wozu ich selbst, im guten Glauben, dem Jugendfreunde einen Dienst zu leisten, die Hand bot. Heinz gab sich den Anschein, als reue ihn sein bisheriges Betragen, und als sei er Willens, sich mit Hanna wieder auszusöhnen. Er lud sie zu einer Ausfahrt nach Stade ein. Das Mädchen vertraute sich arglos dem Verlobten an. Geschmückt mit der von ihm erhaltenen Echte bestieg sie den segelfertigen Ewer, den ich mit zwei zuverlässigen Knechten führte. Wir verlebten einen lustigen Tag in Stade, gingen Abends wieder an Bord und steuerten stromaufwärts. Als es dunkelte, entfernten wir uns absichtlich weit vom Lande, was Hanna in den Armen ihres Verlobten nicht gewahrte. Ein Schiff, das nach England segelte, und mit dessen Capitain wir uns im Voraus schon verständigt hatten, begegnete uns in dem Augenblicke, als der Ewer auf einer sehr seichten Stelle hart am tiefen Fahrwasser auf den Sand lief und nicht wieder flott gemacht werden konnte. Das Schiff ward angerufen, ein Boot von diesem ausgesetzt und zu Hülfe geschickt. In der Verwirrung trat Hanna in das rettende Fahrzeug, strauchelte und fiel, im Fallen aber blieb die Echte in meiner Hand. Hana rief angstvoll nach Heinz, der zu folgen versprach, während unter schnellen Ruderschlägen das Boot schon bei dem Engländer anlegte. Die arme Bethörte rief noch den geliebten Namen, als schon des Schiffes Segel sich blähten, und wir den flott gewordenen Ewer mit Mühe wieder in’s Fahrwasser brachten. Drei Monate später erfuhren wir, daß Hanna sich nach und nach beruhigt habe, sehr still geworden und auf englischem Boden glücklich angekommen sei. Heinz verlobte sich bald darauf mit seiner jetzigen Frau. Anfangs war er sehr düster gestimmt. Er mochte wohl fürchten, die Getäuschte möchte wiederkommen und durch ihr Erscheinen sein häusliches Glück stören. Das geschah aber nicht. Hanna Moll war und blieb verschollen, und wir Alle glaubten, sie möge in England entweder gestorben sein oder daselbst sich durch ihre Vorzüge Freunde erworben und, wie so manches junge Mädchen des Auslandes, ihr Glück gemacht haben …“

Moritz Krahn fand als streng gewissenhafter Mann an dieser Mittheilung des Voigtes wenig Gefallen. Er zürnte Osten des Frevels wegen, den er, wenn auch mehr durch die Aufstachelung Anderer, als durch eigene Schuld, an einem schuldlosen Mädchen begangen hatte, und erblickte in diesem Frevel den Quell des Uebels, [611] das jetzt der Familie Osten anhaftete und sich von dieser auch auf ihn zu übertragen begann.

„Osten muß Hanna um Verzeihung bitten und das Unrecht, das er ihr zugefügt, soweit es möglich ist, dadurch gut zu machen suchen, daß er sich der Unglücklichen annimmt und ihr eine sorgenlose Existenz sichert,“ sprach er, als der Voigt schwieg. „In diesem Sinne werde ich mich für das arme Geschöpf verwenden.“

„Steuerbord! Laßt abfallen!“ rief in demselben Moment der Voigt den Knechten zu und erfaßte mit kräftiger Hand selbst die Steuerpinne; denn gerade vor durch den zerfließenden Nebel strich, die rothbraunen Segel wie die Flügel eines Raubvogels am Schaft seines Mastes ausspannend, ein Ewerschiff und drohte mit der Smak zusammen zu rennen. Der kräftige Handdruck des Voigtes, den Capitain Krahn sogleich unterstützte, als er, sich wendend, die Gefahr erblickte, verhinderte zwar einen vollen Zusammenstoß beider Fahrzeuge, ein Streifen aber war nicht zu vermeiden. Dabei brach die eine Segelstange des Ewers und ward gegen den Mast der Smak geschleudert, in dessen Tauwerk sie sich verwickelte.

Wie immer bei solchen Unfällen entstand sogleich am Bord beider Fahrzeuge ein starker Lärm, und herüber hinüber rief man sich harte Worte zu. Dabei erkannte man sich an den Stimmen.

„Du bist es, Vater?“ sprach der Capitain, das Steuer wieder mit fester Hand regierend. „Seid ihr Alle wieder auf freien Füßen?“

„Alle, Moritz!“ klang es zurück vom Bord des Ewers. „Leg’ um und lass’ uns heimkehren! Es hat sich wunderbar gefügt, daß der im Spiel gewonnene Jakobsthaler zur Ermittelung des Diebes und dieser wieder zur Sühne alten Unrechts führte, über das Alle, die davon wußten im alten Lande, längst schon Gras gewachsen glaubten.“

Capitain Krahn befahl den Knechten, die Segel der Smak zu wenden; dann steuerte er Backbord, um das Fahrzeug genügend von dem Ewerschiffe zu entfernen, und geräuschlos stromabwärts segelten beide Fahrzeuge der Heimath wieder zu, die sie vor der Morgendämmerung glücklich erreichten.




10.

Am Nachmittage desselben Tages war im Baumhofe Osten’s eine zahlreiche Gesellschaft um den Tisch des vornehmen Zimmers versammelt, und es herrschte die ungebundenste Fröhlichkeit. In der Mitte des großen Tisches fiel Dortchen durch den farbigen Glanz ihrer reichen und kostbaren Kleidung und das Glück, das jetzt ihr liebliches Antlitz verklärte, Jedem in die Augen, und zog auch in der That die Blicke Aller auf sich. Neben ihr saß der Capitain Moritz Krahn, der vor wenigen Stunden seiner Braut zum zweiten Male die „Echte“ überreicht hatte. Dieser fehlte nicht der uralte Jakobsthaler, dem der Fluch, er sei entwendetes Gut, nicht mehr anklebte.

Gegenüber dem glücklichen Brautpaare finden wir den Baumhofsbesitzer Heinz Osten zwischen seiner Frau und der blinden Hanna Moll. Letztere trägt die dunkle Kleidung, welche im alten Lande die Wittwen anlegen. Außer den silbernen Knöpfen an den Handgelenken der weiten Aermel gewahrt man keinen blinkenden Schmuck an der gealterten Frau. Dagegen schlingt sich um den Hals der Mutter Dortchens eine Schnur großer, unregelmäßig geformter Bernsteinstücke, und um die Taille eine mehrere Ellen lange silberne Kette, welche der aus Hamburg anwesende Goldarbeiter auf einige hundert Thaler nur an Silberwerth taxirt.

Zur Linken Hanna Moll’s und neben den Brüdern der Braut sitzt, wohl gekleidet, ein junger Mensch von etwa zwanzig Jahren, in dem wir denselben Heiny wieder erkennen, welcher vor Jahr und Tag von der blinden Frau in den Baumhof geschickt wurde, damit er ihr ein genau beschriebenes Kästchen hole, mit dem wir ihn später auch wirklich zurückkehren sahen.

Osten ist still, aber heiter. Sein helles Auge sagt’s Jedem, daß kein Geheimniß mehr seine Seele belastet. Ist es ihm doch gelungen, durch ein sonderbares Zusammentreffen verschiedener Umstände eine unüberlegte Handlung vergangener Tage zu sühnen, insofern es Sterblichen überhaupt gestattet ist, begangenes Unrecht wieder gut zu machen.

Ein Gespräch unter vier Augen mit seiner treuen Hausfrau hat dieser die ganze Vergangenheit Osten’s enthüllt, die ihr bis dahin ein sorgsam bewahrtes Geheimniß gewewen war. Am Schlusse dieser lange dauernden Unterredung ließ Heinz Osten Hanna Moll und deren Sohn Heiny eintreten.

„Denke, es sei eine ältere Schwester, die ferne von uns im Auslande gelebt hat,“ sprach er. „Sie liebte mich aufrichtig und leidenschaftlicher, als ich glaubte. Aus Liebe zu mir ist sie unglücklich gewesen lange Jahre, bis Noth und Liebe die ihres Augenlichtes Beraubte in die Heimath zurück trieb. Sie zog Erkundigungen über mich ein und versuchte sich mir zu nähern. Es gelang aber nicht, weil sie unseren Frieden hätte stören müssen, wenn sie sich mir zu erkennen gab. Da beschloß sie, mir im Geheim einen empfindlichen Schlag beizubringen. Das Gerücht, unser ältester Sohn werde sich bald verheirathen, trieb sie an, die einst ihr überreichte Echte uns heimlich zu entwenden. Nur diese Echte, die sie für ihr rechtmäßiges Eigenthum hielt, suchte sie. Weil aber der übrige Schmuck in dem selben Kästchen mit den alten Silberthalern lag, war sie gezwungen auch diesen uns mit zu entfuhren. Hanna setzte nämlich voraus, ich würde mich in dem Augenblicke, wo ich den an mir begangenen Raub entdeckte, sogleich ihrer erinnern, nach ihrem Schicksale mich erkundigen und sie aufsuchen. Denn daß ich die entwendete Echte wieder zu erhalten mich bestreben und selbst schwere Geldopfer dafür bringen werde, setzte sie voraus. Im Besitz unseres Schatzes begab sich Hanna mit Heiny, den wir von heute an als unsern Sohn betrachten wollen, nach Hamburg, um dort das Kommende in stillster Zurückgezogenheit abzuwarten. Das Gerücht von der baldigen Verlobung unseres ältesten Sohnes bestätigte sich aber nicht, und der Raub blieb unentdeckt. Da warfen Angst und Sorge die Unbemittelte auf’s Krankenlager, und in der höchsten Bedrängniß ward sie genöthigt, um das Leben fristen zu können, einen Theil der Kostbarkeiten des Ebenholzkästchens zu – versetzen!“

Osten schwieg bewegt. Die dadurch entstehende Pause benutzte der Goldarbeiter Ulfsen, der jetzt auch vor Allen die Verpflichtung hatte, zur Erklärung des noch Unklaren einige Worte beizufügen.

„Die Krankheit Hanna’s ließ deren Sohn den Tag versäumen, an welchem das Pfand wieder eingelöst werden sollte,“ sagte er. „In Folge dieser Versäumniß hielt der Pfandleiher sich zu dem Verkauf der verschiedenen Kostbarkeiten berechtigt. Er kam zu mir, bot sie mir an und bemerkte, daß bei ihm Auction abgehalten werde; da ich den Preis, den er dafür verlangte, sehr billig gestellt fand, ward ich bei dieser ihr Eigenthümer. Auf welche Weise einige Zeit nachher der Jakobsthaler, den ich seines schönen Gepräges wegen einzuschmelzen mich nicht entschließen konnte, in die Hände des älteren Krahn überging, ist ebenso bekannt, wie alles Folgende, das sich an diesen neuen Wechsel des Besitzers der seltenen Münze knüpfte. In dem ärgerlichen Streite, welcher vor wenigen Tagen alle dabei Gegenwärtigen in Haft brachte, müssen wir jetzt einen glücklichen Zufall erblicken. Durch ihn kamen wir mit Heiny zusammen, der sich durch den Verkauf der wenigen Silberknöpfe, welche Hanna von allen ihren Werthsachen noch übrig geblieben waren, verdächtig gemacht hatte, und durch das scheue Wesen, das schon bei der ersten an ihn gerichteten Frage ganz von ihm Besitz nahm, diesen Verdacht noch verstärkte. Der Pfandleiher und Heiny erkannten sich gegenseitig. Es kam zu Erklärungen, die uns schnell Licht gaben und dem Besitzer dieses schönen Grundstückes Anlaß gaben, sich großmüthig zu beweisen. Heiny ward durch ihn frei; ich machte mir ein Vergnügen daraus, den noch vorhandenen Inhalt des Ebenholzkästchens dem rechtmäßigen Besitzer wieder zurückzugeben, und so zur Sühne einer alten Schuld nach besten Kräften das Meinige beizutragen.“

Osten war aufgestanden. Er flüsterte zuerst seiner Frau leise einige Worte in’s Ohr, welche diese durch eine herzliche Umarmung erwiderte. Dann ruhte seine Hand lange in der der blinden Hanna, die mit bebender Lippe die Worte: „ich vergebe Alles, nur verstoße mich nicht zum zweiten Male!“ stammelte.

„Du bist meine Schwester, und Heiny ist mein Sohn.“ entgegnete Osten. „An Dortchens Hochzeitstage werde ich ihn allen Gästen als den Aeltesten, der meinen Namen trägt, vorstellen.“

Der wackere Baumhofsbesttzer hielt Wort. Der Trauungstag Dortchens mit dem Capitain Moritz Krahn war auch für Heiny und dessen blinde Mutter ein Tag der Freude und Ehre. Beide wurden an ihm in ihre Rechte eingesetzt.

Als spät am Abend die junge Frau sich zum ersten Male in der prächtigen, farbenreichen Landestracht der jungen Hausfrauen den fröhlichen Hochzeitsgästen zeigte, auf dem zierlich geformten [612] Kopfe die kleine Mütze aus Goldbrokat mit lang herabflatternden Bändern, um den Hals eine sechsfache Schnur silberner Perlen aus feinster Filigranarbeit, auf der Brust unter dem offenstehenden Jäckchen von feinem schwarzem Tuche die blitzende „Rodur“, ein Gewebe aus echtem Goldbrokat, und die Hüften umwunden von der zwölf Ellen langen schweren Silberkette, reichte sie Heiny zuerst die Hand, damit er sie zum Tanze führe.

Im nächsten Frühjahre trat Capitain Krahn mit seiner jungen Frau auf dem ihm selbst zugehöreuden Barkschiffe „die Versöhnung“ eine Reise nach Ostindien an. Die Fracht des schönen Schnellseglers bestand größtentheils aus eingemachten unreifen Früchten des „alten Landes“, jenen beliebten süßen Pickles, die in allen großen Städten jenes unermeßlichen weiten Reiches mit hohen Preisen bezahlt werden.

Heiny Osten befand sich mit auf der Bark. Er wollte sich zum praktischen Seemanne ausbilden. Seit dem Tode seiner blinden Mutter, die schon im Winter ruhig und schmerzlos verstorben war, hatte er keine Ruhe mehr im Kirschenlande. Es trieb ihn hinaus in die Ferne, in das bewegte Leben fremder Völker, wo er nach wenigen Jahren sein Glück machte.

Den Jakobsthaler, welcher so seltsame Schicksale erlebt hatte, legte Dortchen nie wieder ab. Er war ihr ein Amulet von unschätzbarem Werthe, und die Kraft dieses Amuletes brachte seiner schönen Besitzerin von Jahr zu Jahr neues Glück und neuen Segen.



Die Vertheidigung eines deutschen Bollwerks.

Die „Gartenlaube“ hat in einer ihrer früheren Nummern die ruhmvolle Vertheidigung der Festung Hohentwiel durch den Hessen Konrad Wiederhold im dreißigjährigen Kriege mitgetheilt. Ein Seitenstück dazu ist die rühmliche Vertheidigung von Rheinfels im Jahre 1692 durch den hessenkasselschen Generalmajor Georg Sittich Ludwig von Schlitz, genannt Görz. Beide Ereignisse sind leuchtende Erscheinungen in der Nacht tiefer Schmach und Erniedrigung des damaligen deutschen Reiches, und beide sind daher werth, der Gegenwart in’s Gedächtniß gerufen und der Nachwelt erhalten zu werden.

Dazu kommt noch, daß die Uebereinstimmung in den Schicksalen beider Festungen in vielen Beziehungen merkwürdig und auffallend ist. Beide, Jahrhunderte lang unbezwungene, jungfräuliche Bollwerke der deutschen Grenzmarken, jenes – Hohentwiel – die Beherrscherin der Ebenen des Höhgaus zu Schutz und Trutz der südwestlichen Grenzen, dieses – Rheinfels – die Königin der Rheinburgen und die treue Warte des Rheines zwischen Mainz und Koblenz gegen den Erbfeind, beide erlagen sie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts weniger dem gewaltigen und unwiderstehlichen Andrange der neufränkischen Legionen, als dem Schwachsinn und der Unentschlossenheit abgelebter und greiser Commandanten. Warnend fordern ihre in Schutt zerfallenen Trümmer noch heute das deutsche Volk zur Vorsicht in der Wahl der Commandanten für die Grenz- und Binnenfesten auf.

Rheinfels – der Hauptort der Grafschaft Niederkatzenelnbogen – gehörte damals unter hessenkasselscher Oberhoheit dem Landgrafen Ernst von Hessen-Rotenburg, welcher, im Widerspruch mit der vom Landgrafen Karl von Hessen-Kassel verfolgten wahrhaft nationalen Politik, sich nicht entblödet hatte, mit Frankreich wegen Abtretung der starken Festung an den Reichsfeind gegen eine bedeutende Summe zu unterhandeln und deshalb bei der Annäherung der Franzosen, im December 1692, Alles zu thun, um Karl die Ausübung des diesem vertragsmäßig zustehenden Besatzungsrechts unmöglich zu machen. Nur den gemessensten Befehlen Karl’s und deren pünktlichster Befolgung durch den charakterfesten Görz gelang es, die Festung vor einem Handstreich zu retten.

Die Festung bestand damals auf dem linken Rheinufer aus der am nördlichsten und höchsten gelegenen eigentlichen Festung Rheinfels, dem gleichnamigen Schlosse – der alten Burg der Grafen von Katzenelnbogen – und der am südlichsten und tiefsten gelegenen Stadt St. Goar, auf dem rechten Rheinufer dagegen aus der zu einem Fort eingerichteten Burg Katz und zwei während der Belagerung errichteten Batterien. Sie war mit 70 Geschützen, von denen 24 auf dem rechten Rheinufer standen, und reichlicher Munition (130 Centner Pulver, 150,000 Musketenkugeln, 8000 gefüllte Granaten und 22,000 Kanonenkugeln, fast sämmtlich während der Belagerung verschossen) versehen und wurde nach der Besitzergreifung durch Görz von 4000 Mann hessischen Fußvolks und Dragoner, wovon eine Compagnie auf der Katz lag, und einer Abtheilung trierischer Mineurs vertheidigt. Da eine andere Abtheilung von 3000 Mann unter dem General von Krässenbruck auf dem rechten Rheinufer nur insoweit in die Vertheidigung eingreifen konnte, als dadurch die Franzosen am Uebergang über den Rhein und der vollständigen Sperrung der Rheinschifffahrt gehindert wurden, so sah sich die kleine Schaar unter Görz allein genöthigt, der französischen Uebermacht die Spitze zu bieten, welche sich am 16. December unter dem thatkräftigen Marschall Tallard mit 42 Geschützen, 18,000 Streitern und 3000 zur Schanzarbeit aufgebotenen Bauern vor der Festung lagerte und am 21. December noch mit 14 Geschützen und 10,000 Mann verstärkt wurde. Tallard war so fest davon überzeugt, Rheinfels vor dem Eintreffen des sich bei Koblenz sammelnden Entsatzheeres einnehmen zu können, daß er sich offen vermaß, seinem König Ludwig XIV. die Schlüssel der Festung zum Neujahrsgeschenk übersenden zu wollen, und von seiner Thatkraft durfte man erwarten, daß er Alles thun werde, um die nicht zu erkaufende Festung mit den Waffen zu nehmen.

Mußte es auch auf die Besatzung einen niederschlagenden Eindruck machen, daß die Kanone, aus der bei Annäherung der Franzosen der Alarmschuß abgefeuert wurde, zersprang und einen Constabler tödtete, so wirkte um so erhebender die That eines der bei der Vertheidigung betheiligten Bürgerschützen. Dem Drechslermeister Johannes Kretsch gelang es schon am 17. December, vom evangelischen Kirchthurm zu St. Goar aus mit einem Doppelhaken auf eine Entfernung von 300 Schritten den Marschall Tallard, der von dem Gipfel des nahen Wackenberges die Festung recognoscirte, und welchen Kretsch an seinem großen Federhute erkannte, so schwer an der linken Schulter zu verwunden, daß Tallard den Oberbefehl an den Feldmarschall de Choissy abgeben mußte. Görz ernannte den braven Schützen dafür zum Hauptmann der städtischen Schützencompagnie.

Unter lebhaftem Feuern und Kämpfen gediehen die Belagerungsarbeiten bis zum 20. December so weit, daß die Franzosen, während das Schloß in Brand gerathen war, bereits glaubten, einen Sturm unternehmen zu können. Doch wiesen die Belagerten einen dreimaligen heftigen Angriff tapfer zurück, beim dritten, blutigsten Sturme warf sich Görz selbst an der Spitze seiner Truppen entgegen und tödtete persönlich einen Grenadierofficier, der ihn durch den Arm stach. Dieser einzige Tag kostete den Franzosen 400 Todte und eine Menge Verwundete, während die Hessen 27 Todte und mehr als 100 Verwundete zählten. Um einem nochmaligen Brande vorzubeugen, ließ aber Görz alles Dachwerk abnehmen und die Magazine und Pulverhäuser mit Dünger bedecken.

Die Bürger von St. Goar nahmen an der Vertheidigung der Stadt den muthigsten Antheil. Namentlich bewiesen die mit der Vertheidigung des Wackenberges beauftragten und von dem muthigen Johannes Kretsch angeführten Schützen die größte Tapferkeit.

Mit größeren Kräften ward am 22. December der Sturm wiederholt. Von Nachmittags 3 Uhr bis in die Nacht unterhielten die Franzosen ein fürchterliches Feuer, bei dem die Werke und Gebäude sehr litten, und da Görz durch Gefangene erfuhr, daß dies das Vorspiel des Sturmes sein solle, so traf er kräftige Gegenmaßregeln. Namentlich ordnete er an, daß man die Franzosen ganz nahe an die Schanzen herankommen lassen und erst auf ein gegebenes Zeichen Feuer geben solle. Nachts um 11 Uhr zogen dann bei schwachem Mondlicht die französischen Colonnen aus dem Lager gegen Stadt und Festung. Ehe sie sich aber ausbreiten konnten, wurden sie auf 30–40 Schritte durch ein solches Geschütz- und Gewehrfeuer begrüßt, daß ganze Reihen niedergeschmettert wurden. Noch eine Salve folgte, und dann machten vier hessische Compagnien unter dem tapfern Major von Sacken einen Ausfall gegen die französische Uebermacht, mußten sich jedoch nach einigem [613] Erfolge bald wieder in die Schanzen zurückziehen. Jetzt begann der Sturm, während die französischen Batterien ein lebhaftes Feuer auf die Festung unterhielten. Drei Mal stürmten die Belagerer mit der furchtbarsten Wuth, Mann gegen Mann wurde zwei Stunden lang im erbittertsten Kampfe gerungen, doch endlich siegte die hessische Ausdauer und der Muth der Schützen von St. Goar, welche wieder den Wackenberg vertheidigten. Die Franzosen mußten mit Hinterlassung von 400 Todten und 700 Verwundeten weichen, die Belagerten hatten 48 Todte und 272 Verwundete verloren.

Nun fiel wieder für einige Tage dem Geschütz die Hauptrolle zu, und dies wüthete dergestalt, daß eine Menge Gebäulichkeiten, darunter die Commandantur und der große Schloßturm zusammenstürzten

St. Goar und Rheinfels im 17. Jahrhundert.
Nach einer alten Orginalzeichnung.

und hin und wieder den Graben ausfüllten. Görz sah sich genöthigt, seine Wohnung in einer Casematte zu nehmen, um aber die Belagerer aufzuhalten, ließ er durch acht Compagnien hessischen Fußvolks und eine Abtheilung der trierischen Mineurs einen Ausfall machen. Das Fußvolk brach von zwei Seiten hervor, nahm hierdurch die französischen Schutzcolonnen in die Mitte und vertrieb dieselben aus den Belagerungswerken, welche von den Mineurs zum Theil zerstört wurden. Hierbei verloren die Franzosen 200 Todte, viele Verwundete und 40 Gefangene, die Belagerten aber 35 Todte und 117 Verwundete.

Nachdem dann nochmals ein anhaltendes Feuer mit furchtbarer Wirkung bis zum 27. December fortgesetzt war, glaubte der französische Oberbefehlshaber, endlich der Einnahme der Festung sicher zu sein. Ja er war in dieser Annahme so sicher, daß er bereits mit französischer Schmeichelei das zu erreichen wähnte, was seinen Waffen bis dahin nicht geglückt war. Er sandte daher einen seiner Adjutanten nebst einem Trompeter an Görz zur Unterhandlung. Der Adjutant wurde mit verbundenen Augen in die Festung geführt. Görz empfing ihn in seiner Casematte.

Der Adjutant bemerkte auf das Höflichste, daß Choissy es bis jetzt nicht gewagt habe, einen so ausgezeichneten Officier wie Görz zur Uebergabe der Festung auffordern zu lassen, daß er hierzu auch nur durch die Ueberzeugung von der Unmöglichkeit eines längeren Widerstandes bewogen sei, und daß daher Görz, um fernerem Blutvergießen Einhalt zu thun, jetzt, wo derselbe seiner Ehre Genüge gethan, die Festung übergeben möge, und eröffnete zugleich die ausgedehntesten Vollmachten, wonach Görz und die ganze Garnison mit allen Kriegsehren, aller Munition, ja selbst mit sämmtlichem Geschütz abziehen könne.

Görz blieb von diesen Artigkeiten ebenso unbewegt, wie von den feindlichen Kanonenschüssen. Er dankte für die ihm wegen der Vertheidigung erwiesene Ehre, welche er nicht verdiene, da er dabei nur seine Pflicht gethan, bemerkte, daß er auch die Ansicht des französischen Oberbefehlshabers von der Unmöglichkeit, die Festung länger zu halten, nicht theilen könne, indem er ja vom letzten Vertheidigungsmittel, nämlich die Festung in die Luft zu sprengen, noch keinen Gebrauch gemacht habe, und fügte schließlich ironisch hinzu, daß, wenn er doch wider alles Erwarten die Unmöglichkeit einer längeren Behauptung der Festung einsehe, er dies den französischen Oberbefehlshaber wissen lassen wolle.

Der Adjutant ward mit verbundenen Augen zurückgeführt, und man rüstete sich nun auf beiden Seiten mit aller Macht zum Entscheidungskampfe. Choissy ließ gleich nach dem Empfang der Antwort ein schreckliches Feuer eröffnen und während dessen Dauer drei Sturmcolonnen von je 1000 Mann, an deren Spitze je vier Compagnien Grenadiere gingen, vorrücken, und denselben noch die [614] gleich starken Sturmcolonnen folgen. Görz dagegen stellte alle verfügbaren Truppen auf dem Paradeplatz in Bereitschaft, um die Werke viermal mit frischer Mannschaft versehen zu können, und ordnete für den äußersten Fall an, daß die eigentliche Festung in die Luft gesprengt werde und man sich in das Schloß zurückziehen solle.

Die Heftigkeit des Kampfes entsprach den Vorbereitungen. Mit der furchtbarsten Wuth drangen die Franzosen vor, und obgleich ihnen das heftig anhaltende Feuer ganze Reihen niederschmetterte, so gelang es ihnen doch nach einem lebhaften Kampfe, während dessen die französischen Batterien ohne Unterschied auf Freund und Feind spielten, die Belagerten bis in die inneren Werke zurückzudrängen. Hier warf sich ihnen aber Görz persönlich an der Spitze seiner Truppen entgegen, und es gelang demselben nach der Heranziehung von Verstärkungen die Franzosen wieder aus den Werken herauszutreiben. Alsbald rückten die zweiten Sturmcolonnen an, auch sie wurden geworfen. Aber zum dritten Male begann der wilde Sturm. Die Franzosen füllten an entfernten Stellen die Gräben aus und erstiegen hier die Wälle. Mann gegen Mann wurde gekämpft, jeder Fuß breit Erde mit Blut erkauft. Die Belagerten bedienten sich des Bajonnets, der Sense und des Morgensterns. Vier Mal waren die Feinde zurückgeschlagen, vier Mal drangen sie von neuem vor, bis sich endlich der aus mehreren Wunden blutende Görz abermals an die Spitze der Truppen stellte und die Feinde warf. Die Nacht machte eine Fortsetzung des Kampfes unmöglich.

Dieser Tag hatte schwere Verluste gekostet. Die Franzosen hatten 1200 Todte und über 2000 Verwundete, welche am anderen Tage auf 120 Wagen nach Montroyal gebracht wurden, verloren, und namentlich waren die Grenadiere so gelichtet, daß, um dieselben zu ergänzen, von jeder der übrigen Compagnien zwei Mann zu Grenadieren gemacht werden mußten. Die Belagerten zählten 134 Todte und über 400 Verwundete. Es war ein Ehrentag für Görz, der überall war, wo der Kampf am heißesten tobte, drei Feinde niederstach, viele verwundete, mit dem Degen in der Hand die Seinen ermunterte und jeden Weichenden niederzustoßen drohte. Aus vier Wunden blutend, vom Pulverdampf geschwärzt, Haupthaar und Uniform verbrannt, war er, wie sich eine gleichzeitige Handschrift ausdrückt, „schreckbar und grauserich anzuschauen“.

Durch diesen Kampf war die Festung gerettet. Die Wuth der Franzosen war gebrochen, und von der anderen Seite nahte endlich der Entsatz. Am 28. Abends baten die Franzosen um einen sechsstündigen Waffenstillstand zur Beerdigung der Todten. Görz aber, argwöhnisch, daß dieser Waffenstillstand zu einem Angriff mißbraucht werden möchte, schlug die Bitte ab, da es gegen den Kriegsgebrauch sei, einen Waffenstillstand am Abend zu bewilligen. Und sein Argwohn war gegründet, denn während der Verhandlungen näherten sich einige hundert Franzosen den Schanzen und zogen sich erst nach einem unter sie gethanen Kartätschenschuß zurück. Vom 29. bis 31. December unterhielten die Franzosen noch ein lebhaftes Feuer; aber schon am 29. zogen 300 Mann niederrheinischer Kreistruppen als Vorhut des Entsatzheeres in Rheinfels ein. Tallard ließ daher in der Sylvesternacht alles Geschütz bis auf drei Stück fortschaffen, aus diesen aber, um den Rückzug zu verbergen, am 1. Januar 1693 die Festung bis zur Nacht beschießen. Dann wurden auch diese fortgebracht und die Linien vor der Festung verlassen – am selben Tage, an welchem Tallard seinem Könige Ludwig XIV. die Schlüssel von Rheinfels hatte überreichen wollen.

Am 2. Januar ließ Görz den Feind durch die Kreistruppen verfolgen, um auch diesen Gelegenheit zum Kampfe zu geben. Im französischen Lager fand man einen großen Vorrath Munition und Schanzwerkzeug.

Es ist erfreulich, zugleich berichten zu können, wie Landgraf Karl, welcher am 4. Januar mit dem Entsatzheere in Rheinfels eintraf, den tapfern Helden seinen Dank zollte.

Am 5. Januar ließ er in der Stiftskirche ein Tedeum singen, wozu die Festung und alle Batterien drei Salven gaben. Um 12 Uhr nahm er dann eine Heerschau über die Vertheidiger ab, hielt eine Dankrede an dieselben, umarmte Görz unter dem Donner der Geschütze vor allen Truppen und ernannte ihn zum lebenslänglichen Gouverneur von Rheinfels, während demselben zugleich vom Landgrafen Ernst von Rotenburg die Ernennung zum Oberamtmann und Statthalter der Grafschaft Niederkatzenelnbogen überreicht wurde. Sodann bestätigte Karl den wackern Schützen Kretsch als Hauptmann der städtischen Schützencompagnie und gründete eine Stiftung, damit die Schützengesellschaft zur bleibenden Erinnerung an Tallard’s Verwundung alljährlich ein Fest feiere. Dies Fest wurde auch bis 1758 alljährlich in St. Goar gefeiert. In jenem Jahre verhinderten es die in St. Goar liegenden Franzosen, und es unterblieb seitdem. Zum Andenken an die Gefallenen ließ er in der Hauptkirche zu Marburg einen gewaltigen Marmorlöwen aufstellen, und endlich ließ er drei prachtvolle Silbermünzen schlagen, deren Inschriften beißende Anspielungen auf Tallard’s Versprechen enthielten.

Leider aber drängen sich zum Schluß noch einige wehmüthige Betrachtungen auf. Görz genoß seinen Ruhm nicht lange. Nachdem er die Festung hatte herstellen lassen, starb er in Folge seiner bei der Vertheidigung erhaltenen Wunden bereits am 3. Febr. 1696 in einem Alter von 39 Jahren. Als er seinen Tod nahe fühlte, ließ er sich auf die Stelle tragen, von wo aus er die Vertheidigung geleitet, um, wie er scherzend sagte, dem Feinde gegenüber zu sterben. Und hier starb er, sein Auge nach Frankreich zu gerichtet; sein Leichnam ist in Schlitz im darmstädtischen Oberhessen begraben.

Auch die Festung erfreute sich ihres Rufes nicht lange. Es kamen Zeiten noch tieferer Schmach. Durch die Uneinigkeit im Reiche gewannen die Franzosen bereits im siebenjährigen Kriege Rheinfels ohne Schwertstreich, sie drangen selbst bis Marburg vor und zerstörten auch das dort errichtete Marmordenkmal. Und als 100 Jahre nach jener ruhmreichen Belagerung Rheinfels abermals in ihre Hände fiel, wurde die Festung von ihnen gänzlich zerstört.

Aber wie diese Schmach uns jene Heldenthat nur noch erhabener erscheinen läßt, so läßt sich auch andererseits der Verlust jener Denkmäler verschmerzen. Denn auch die Zeiten der tiefen Schmach sind vorüber, von neuem ist der alte Geist des deutschen Volkes erwacht, der in steter Erinnerung an die Heldenthaten der Väter Deutschland vor fernerer Erniedrigung bewahren wird.

O. G.



Die seitliche Rückgratsverkrümmung.
Ein Wink für Eltern und Lehrer.
Von Dr. Schildbach in Leipzig.

Die Skoliose, wie man die Seitwärtskrümmung des Rückgrats bezeichnet, ist in der ärztlichen Literatur bis jetzt von einem ganz besonderen Unglück verfolgt worden. Es giebt wenig Capitel in der Medicin, über welche so viel schöne Worte und Ermahnungen an das Laienpublicum gerichtet worden sind, und vielleicht keines, wo das so geringen Erfolg gehabt hätte. Täglich und jeden Tag von Neuem kann man die Kinder in den Schulen Stunden lang in derselben einseitig ausgebogenen Haltung beim Schreiben verharren sehen; ja fast mit jedem Anblicke eines Kindes ist für das aufmeksame und kundige Auge das Bemerken einer einseitigen Gewohnheit verbunden. Noch heute wird in unzähligen Schulen durch lehnenlose Bänke die unsinnige Zumuthung an die Kinder gestellt, sich mehrere Stunden nach einander ohne Stütze aufrecht, und zwar „gerade“ aufrecht zu erhalten, „damit der Rücken nicht krumm wird“, und noch jetzt kann man es erleben, daß selbst Aerzte einer beginnenden Schiefheit gegenüber erklären: „es hat nichts zu sagen; es wird sich verwachsen.“

Wenn ich trotzdem mich den Predigern in der Wüste zugeselle, so geschieht es im Gehorsam gegen die innere Mahnung: Du sollst Deine Schuldigkeit thun auch ohne Aussicht auf Erfolg; – und nebenbei doch auch in der leisen Hoffnung, durch meine Worte hier und da einem Kinde seine Wohlgestalt erhalten zu helfen.

Der Rumpf mit Kopf und Armen ruht bekanntlich auf einer Säule von runden Bausteinen, den Wirbelkörpern. An jeden derselben setzt sich hinten ein knöcherner Ring an, welcher in verschiedenen Richtungen sieben knöcherne Auswüchse oder „Fortsätze“ [615] zeigt, deren hinterster, der Dornfortsatz, in der Mittellinie des Rückens sich deutlich unter der Haut markirt. Bei der Skoliose nun sind diese Nackenwirbel auf die Seite getreten, so daß die Krümmung der Wirbelsäule nicht in der von vorn nach hinten gerichteten senkrechten Halbirungsebene des Körpers verläuft, sondern in einer zum Beispiel von rechts hinten nach links vorn gerichteten. Dieser Richtung der Wirbelsäule entspricht aber nicht auch die Stellung der Wirbel; diese haben vielmehr zugleich mit der Seitwärtsbewegung eine Drehung in der Art erlitten, daß bei der beispielsweise erwähnten rechtseitigen Skoliose ihr vorderer Theil noch viel weiter nach rechts gerückt ist, als ihr hinteres Ende. Beträgt z. B. die größte Abweichung der Wirbelsäule von der Senkrechten nach rechts äußerlich, von den Dornfortsätzen gemessen, drei Linien, so wird der ursprünglich vorderste Punkt der Wirbelkörper ungefähr neun Linien weit abgewichen und viel mehr nach rechts als nach vorn gerichtet sein.

Mit den Brustwirbeln sind die Rippen ziemlich starr verbunden, müssen daher der Verschiebung und Drehung der Wirbel folgen. Dieser Umstand bedingt die Entstellung, welche die Körpergestalt durch die Skoliose mit der Zeit erleidet. Die Erhöhung auf der einen, die Einsenkung auf der andern Seite des Rückens haben ihren Ausgangspunkt in der Wirbelsäule selbst. Aber auch wenn noch keine bemerkbare Drehung des Brustkorbes vorhanden ist, wenn der Formfehler auch nur als hohe Schulter oder schiefe Hüfte erscheint: auch dann ist die Ursache in einer Skoliose, einer seitlichen Abweichung der Wirbelsäule zu suchen.

Groß ist die Mannigfaltigkeit der Wege, auf welchen eine Skoliose zu Stande kommen kann.

Ich glaube indeß hier von allen feinern Unterschieden absehen und auch die von ursprünglicher Erkrankung der Wirbelknochen herrührende Skoliose ausscheiden zu dürfen, welche gewöhnlich noch von andern Erscheinungen, von Zeichen eines Allgemeinleidens begleitet ist. Dann kann ich sagen: die häufigste Ursache der Skoliose ist eine einseitige Gewohnheitshaltung oder -Thätigkeit. So kann einseitiges Tragen der Kinder auf dem Arme, ungleiche Benutzung der Beine oder Arme, hängende Haltung beim Sitzen, wie sie besonders während des Schreibens gewöhnlich eingenommen wird, u. a. m. Skoliose erzeugen. Es ruht nämlich während einer solchen seitwärts ausgebogenen Haltung die Last des Oberrumpfes mit Kopf und Armen ausschließlich auf der einen, der senkrechten Achse des Körpers zunächst gelegenen Hälfte der Wirbelkörper, während ihre andere, äußere Hälfte, nichts zu tragen hat. Diese Belastung bewirkt auf der betreffenden Seite mit der Zeit Druckschwund, eine Abflachung des Wirbelkörpers in Folge des häufig wiederkehrenden Drucks und somit eine keilförmige Verbildung desselben, nach demselben Gesetze, welches am Schienbein eine Rinne unter dem Strumpfband entstehen läßt. Damit ist die seitliche Abweichung eine dauernde geworden.

Weil einseitige Gewohnheiten viel häufiger sind, als völlig gleichmäßiger Gebrauch beider Beine oder Arme, vielleicht auch, weil von Geburt an beide Seiten nicht gleich entwickelt sind, zeigt eine genaue Beobachtung die große Mehrzahl unserer Jugend schief. Zum Glück bleibt es in den meisten Fällen bei einer geringen Ungleichheit beider Seiten, und nur bei einer kleinen Minderzahl schreitet das Uebel weiter. Auf die Frage aber, welche Verhältnisse dieser Minderzahl gemeinsam sind und die Zunahme der Verbildung bedingen, habe ich keine Antwort; wir kennen sie nicht. Wir vermögen niemals mit Gewißheit vorauszusagen, ob ein Kind, welches sich „schief hält“, eine entstellende Verwachsung davon tragen wird, wenn es sich selbst überlassen bleibt, oder nicht. Aber eine Grenze giebt es, nach deren Ueberschreitung das Uebel nicht mehr stehen bleiben kann, sondern sofern es nicht mit Geschick bekämpft wird – zunehmen muß, und nur das beschleunigte oder langsamere Zeitmaß dieser Zunahme, worüber nur ein sehr geübter Orthopäd im Voraus einige Auskunft ertheilen kann, bedingt einen Unterschied des mit vollendetem Wachsthum erreichten Grades der Verkrümmung.

Diejenigen Eltern werden immer am sichersten gehn, welche, sobald sie die ersten Spuren einer schiefen Haltung an einem ihrer Kinder entdecken, sofort Maßregeln dagegen ergreifen. Wenn ihnen aber diese ersten Anfänge nicht entgehen sollen, so müssen sie zuweilen ihre Kinder untersuchen, indem sie eines nach dem andern mit entblößtem Oberkörper, so daß auch die Hüften noch sichtbar sind, vor sich hinstellen und, besonders von hinten, besehen. Das Kind soll dabei in militärischer Haltung, mit geschlossenen Fersen, gestreckten Knieen und beiderseits gleichmäßig herabhängenden Armen dastehen, ohne jedoch die Schultern zurückzunehmen, vielmehr ohne allen Zwang. Man beobachtet nun vergleichsweise die Höhe der Schultern, die Seitencontouren des Oberkörpers und hauptsächlich den Lauf der Wirbelsäule. Da diese nicht überall sichtbar hervortritt, so hat man sie zwischen zwei Fingern zu verfolgen. Findet man an ihr eine seitliche Abweichung, die meist auch durch ungleiche Höhe der Schultern und ungleiches Herumtreten der Hüften angedeutet ist, so mache man den weiteren Versuch, daß man das Kind sich bei gestreckt gehaltenen Knieen und immer senkrecht schlaff herabhängenden Armen so weit vorbeugen läßt, bis die Handgelenke in der Höhe der Kniee sich befinden. Hierbei kommt eine geringe Skoliose zum Verschwinden; eine stärker entwickelte macht sich auch hier noch durch die seitliche Abweichung der Wirbelsäule und ungleiche Höhe der Rückenwölbungen bemerkbar. Dieser höhere Grad der Skoliose ist auf jeden Fall einem mit der Orthopädie vertrauten Arzte zur Behandlung zu übergeben, wenn ein günstiger Erfolg erlangt werden soll, der geringere Grad kann im elterlichen Hause behandelt werden, wird es aber selten mit Erfolg. Wenn ich trotzdem im Folgenden einige Regeln für die häusliche Behandlung der entstehenden Skoliose gebe, so ist das nur ein Nothbehelf, weil noch sehr wenige Aerzte eine genügende Kenntniß der Orthopädie und besonders der gymnastisch-orthopädischen Heilmittel besitzen und daher für viele Eltern gar nicht die Möglichkeit vorliegt, sich an richtiger Quelle Rath zu holen. Solchen gilt mein Rath, wie ich ihn hier geben will, der ihnen aber nur dann etwas nützen wird, wenn sie selbst der Sache eine gründliche und ausdauernde Sorgfalt widmen.

Die gewöhnlichen Skoliosen – denn seltenere Formen kann ich hier nicht berücksichtigen – sind zweierlei Art: entweder zeigt sich in der Höhe der Schulterblätter eine Krümmung nach rechts, oder unterhalb der Schulterblätter eine solche nach links. Erstere beschränkt sich auf wenige Wirbel, ist zuweilen gleich anfangs von einer Gegenkrümmung in der Weichengegend nach links und in der Regel von einem Tieferstehen der linken Schulter begleitet; die zweite Form dagegen besteht aus einem weitgedehnten flachen Bogen nach links, ohne Gegenkrümmung, und zeigt zugleich einen tieferen Stand der rechten Schulter.

Gegen die erstgenannte Form, die rechtseitige Skoliose, hat sich mir folgende Uebung bewährt, die wie alle Freiübungen im geschlossenen straffen Stehen vorzunehmen ist. Der Patient (um ihn der Kürze wegen so zu nennen) streckt den linken Arm, die Hohlhand nach vorn gerichtet, senkrecht neben dem Kopfe in die Höhe, aber ohne den Oberkörper nach rechts zu neigen und die linke Schulter zu heben, legt den rechten Unterarm quer über den Rücken und beugt nun den Oberkörper abwechselnd nach vorn und hinten. Ueber einer solchen Vor- und Rückbeugung sind 8–10 Secunden zuzubringen. Beim Rückbeugen ist ein-, beim Vorbeugen auszuathmen. Der linke Arm hat dabei keine selbstständige Bewegung zu machen, ist vielmehr in seiner Stellung zum Oberkörper, dessen Verlängerung er in dieser Haltung bildet, unverrückt, wie angelöthet, zu erhalten. Wenn er bei der Vorbeugung selbstständig abwärts geht, so ist das ein Fehler. Auch ist alle Beugung des Arms im Ellbogengelenk, so wie das Einknicken der Kniee bei der Vorbeugung, zu vermeiden. Der Kopf darf sich nicht nach links neigen, dem Arme entgegen, sondern muß seine aufgerichtete Haltung behaupten.

Ist bei der rechtseitigen Skoliose zugleich eine Gegenkrümmung der Lendenwirbel nach links vorhanden, so erleidet die Ausgangsstellung für diese Uebung eine Veränderung; der Oberkörper ist nämlich, sobald die Arme ihre Haltung eingenommen haben, ein klein wenig nach links zu neigen. In dieser Haltung soll der Körper bei der Vor- und Rückbeugung nicht nur, sondern auch bei dem Uebergange von der einen in die andere, also unausgesetzt, verbleiben.

Dieses „Rumpf vor- und zurückbungen in Linksstreckhalte“ welches täglich 2–3 Mal, jedesmal 10–30 Mal zu wiederholen ist, sieht sehr einfach aus, ist aber in richtiger Ausführung nicht leicht, muß daher stets beaufsichtigt werden. Gut ist es, wenn der Patient seine Uebung vor dem Spiegel macht, um schiefen Stand der Schultern und des Kopfes oder gekrümmte Haltung des linken Armes zu vermeiden.

[616] Eben wegen der Schwierigkeit dieser Uebung empfehle ich sie nicht für die zweite Form der Skoliose, die linkseitige, obgleich sie, natürlich mit Hochstreckung des rechten statt des linken Armes, hier ebenfalls ganz nützlich wirken würde. Es giebt aber eine leichter zu erlernende Uebung, welche bei der oben beschriebenen Abweichung der Wirbelsäule nach links, die ja nicht blos durch den Gegensatz der Richtung, sondern auch durch die Form wesentlich von der rechtseitigen verschieden ist, ebenfalls zum Ziele führt, nämlich das in Schreber’s Zimmergymnastik unter Figur 8 abgebildete „einseitige Tiefathmen“. Der rechte Arm wird so weit über den aufrecht gehaltenen, nicht nach rechts geneigten Kopf gelegt, daß die Hand das linke Ohr berühren kann, und die linke Hand, Daumen hinten, Finger vorn, möglichst hoch, der Achselhöhle nahe in die linke Seite eingestemmt. In dieser Haltung erfolgt 10–30 Mal langsames, tiefes, bis an die Grenze der Möglichkeit ausgedehntes Athemholen; während jedes Athemzuges wird der Druck der linken Hand verstärkt. Auch diese Uebung bedarf täglich mehrmaliger Wiederholung.

So wirksam aber diese Uebungen beim ersten Anfang der Skoliosen sind, so werden sie doch die Formveränderung nicht beseitigen, höchstens nur ihre Zunahme aufhalten, sobald die Ursache des Uebels fortbesteht. Diese aufzuspüren und, wenn sie noch besteht, abzustellen, ist erste Vorbedingung für Heilung jedes, so auch des hier in Frage stehenden Gebrechens.

Ein sehr wichtiges Unterstützungsmittel der Cur ist ein fleißiges Selbstrichten des Patienten. Er stelle sich des Morgens und des Abends mit entblößtem Oberkörper vor den Spiegel und bringe den Rumpf in eine ganz gerade, gleichmäßige Haltung, gehe so in möglichst wenig gezwungener Weise durch das Zimmer und controlire dann seine Haltung wieder vor dem Spiegel. (Leichter erfolgt die Annahme der richtigen Haltung durch fremde Nachhülfe, welche aber schriftlich nicht gut zu lehren ist und daher hier nicht empfohlen werden soll.)

Gleichfalls Unterstützungsmittel, nicht aber Heilmittel, wie Viele annehmen, und besonders dann nützlich, wenn dabei der Körper kräftig zurückgenommen und recht tief geathmet wird, ist der Streckhang: die Hände sind nach oben gestreckt und halten eine wagrechte Stange oder Sprosse so umfaßt, daß der ganze gestreckte Körper von den Händen getragen wird.

Alle diese Vorschriften sind, ich wiederhole es, nur für den Nothfall und den ersten Anfang der Seitwärtsverkrümmung gegeben. Wer es kann, wird auch im Anfange freiwillig dasselbe thun, was er später wahrscheinlich thun muß: sein Kind für einige Zeit – zum Einlernen der nöthigen Uebungen – oder für die ganze Dauer der Behandlung einem fachkundigen Arzt anvertrauen.




Aus den Rechtshallen des Mittelalters.
Zusammengestellt von George Hiltl.
1. Der Scharfrichter.
Josua: „Siehst Du, mein Sohn, der Mann, welcher die Geschichte seiner Zeit am besten kennt: es ist der Schließer des Gefängnißthurmes.“
Simon Renard: „Sie irren sich hierin, Meister: es ist der Henker.“

               Victor Hugo in: Maria Tudor.

Das Urtheil ist verlesen. Die Thüren des Kerkers haben sich hinter den Richtern und Beamten geschlossen, welche dem armen Sünder angekündigt, daß sein Leib der weltlichen Gewalt anheimgefallen, um den Mord zu sühnen mit seinem Blute. Der Verfallene ist allein.

Noch immer schmeichelt er sich mit der Hoffnung auf Errettung, mit Begnadigung, mit Milderung, welche die Todesstrafe in ein lebenslängliches Gefängniß verwandelt. So vergehen einige Stunden. Auf’s Neue öffnen sich die schweren Kerkerthüren. Es tritt, von dem Gefängniswärter geleitet, ein kräftiger Mann in die düstere Zelle. Sein Kommen gilt dem Verurtheilten, den er sorgsam betrachtet. Er befühlt dessen Halswirbel, er mißt mit forschendem Blicke die Stärke der Muskeln; trägt der Verurtheilte langes Haar, so fällt es wohl unter der Scheere des einsylbigen Besuchers, der sich endlich mit kurzem Gruße empfiehlt.

Jetzt ist die Aussicht aus Rettung verschwunden. Der Besucher ist jene fürchterliche Person, die Handhabe des Blutgesetzes, das personifiziere „Aug’ um Auge, Zahn um Zahn“, es ist der Henker. Seine Beobachtungen des armen Sünders vollführt er mit Geschäftskenntniß, die Handgriffe verrathen den Meister in der entsetzlichen Praxis, der morgen ein neues Stück Arbeit vollenden soll.

Durch die ganze Weltgeschichte hindurch läßt sich die düstere Gestalt des blutigen Vollstreckers der Gerechtigkeit verfolgen. Ueberall taucht sie auf wie ein unheimlicher Bewohner des Hades. Sie fehlt bei keinem Triumphzug; das classische Alterthum hatte seinen Scharfrichter, wie das Mittelalter und die neueste Zeit ihn hatten und haben – gleichviel, ob das Richtschwert in seiner Hand blitzte oder ob diese Hand die Feder einer Maschine in Bewegung setzte, welche dem Todeskandidaten den Hals zerschnitt.

Die Beschäftigung des Henkers erreichte ihren Höhepunkt im Mittelalter. Nicht nur waren die Anzahl und Arten der Strafen vielfältiger, es waren auch die Ansichten über den Begriff „Verbrechen“ so mannigfach verschieden, daß fast für jedes Vergehen eine besondere Ahndung – eine besondere Qual geschaffen wurde. Hier ist vorzüglich jene Nachtseite der menschlichen Natur in Betrachtung zu ziehen, welche bis heute zum Theil noch nicht erhellt wurde, die Manie, gewisse Mitmenschen des Umganges mit dem Erzfeind – dem Teufel zu beschuldigen, eine Sucht, welche ein neues Verbrechen feststellte: die Zauberei. Unerklärlich in sehr vielen Fällen ist die Selbstanklage jener unglücklichen Verdächtigen, die, der Hand des Scharfrichters überliefert, in quälende Instrumente gepreßt, die übertriebensten Aussagen machten, um nur auf Augenblicke von der Pein erlöst zu werden, welche die Hand des Folterers ihnen durch Anlegung grausiger, mit teuflischem Scharfsinne zusammengesetzter Maschinen verursachte. – Der Henker war auch hier nur der Vollstrecker des Gesetzes. Er schraubte, quetschte und dehnte die Glieder seiner Opfer nur auf Befehl des peinlichen Richters. Aber die Menge warf einen tödtlichen Haß auf dieses Werkzeug der Gewalt. Sein Beruf ward für einen unehrlichen erklärt, jede Berührung von seiner Hand verpestete, und wenn er bei öffentlicher Ausübung seines Amtes auch mit schaudernder Bewunderung, mit angstvoller Neugier betrachtet wurde, so spähte doch zugleich emsig der Volkshaufe, ob nicht ein Fehler bei Vollstreckung der Hinrichtung zu entdecken sei, und wehe dem Henker, der nicht vollkommen kunstgerecht die Schnur um des Verurtheilten Hals schlang, oder dessen Hand nicht mit grausiger Fertigkeit das Haupt vom Rumpfe trennte, – er war der Volksjustiz ohne Erbarmen verfallen!

Vorzüglich durch diesen allgemeinen Haß ist es wohl üblich und nothwendig geworden, das Amt des Scharfrichters von Vater auf Sohn zu vererben. Wir finden in Frankreich, England und Deutschland berühmte Scharfrichterfamilien, die gleich kunstreichen Handwerkern, Gießern und Steinschneidern etc. auf ihre Nachkommen die Fertigkeiten des Scharfrichteramtes und damit das Amt selbst vererbten. – Dieses Amt war nicht von jeher in Händen einer Person gewesen, welche das Gesetz bestimmt hatte. Willkürlich ward irgend ein Trabant aufgerufen, die Strafe an dem Verurtheilten zu vollziehen. Selbst Fürsten vertraten häufig die Stelle des Scharfrichters, obwohl die Römer schon einen Diener der Gerechtigkeit hatten, der die Todesstrafe vollzog. Soldaten versahen in Kriegs- und Friedenszeiten meist das Amt des Henkers. Die also auserlesenen Personen waren dann mit der Scharfrichterwürde bekleidet und zwar so lange, als ihre Functionen währten. Merkwürdigerweise finden sich Beispiele, daß vor Belehnung mit dem Nachrichterpatente verschiedene Individuen Todesstrafen vollzogen, deren Beschäftigung sonst der grauenhaften Hantirung sehr entgegengesetzt war. So ließen im Kloster Heilbronn die Laienbrüder sich zu Scharfrichterdiensten gebrauchen, und 1562 henkte noch ein Franziskanermönch, mit der Kutte bekleidet, die Plünderer von St. Cyr und Chateaubilain. Das Stadtrecht von Reutlingen bestimmte, daß der jüngste Rathsherr Henkersdienste [617] verrichten müsse, und beim Uebergeben des Richtschwertes fand eine besondere Ceremonie statt. Höchst originell sind die Hinrichtungen, an denen sich ganze Gemeinden betheiligen mußten. Das Seil, woran der Missethäter gehenkt wurde, ward über eine Rolle gezogen. An das untere Ende knüpfte man den Verurtheilten. Diese Procedur vollzog der Schultheiß. Sobald der zu Hängende bereit stand, zog die ganze Rathmannschaft ihn an der Rolle in die Höhe, und das lange Seil lief durch die Hände sämmtlicher Gemeindemitglieder, „auff daß Niemant dem andern vorwerffen könne, er hab einen Dieb erhenket.“ Das Verfahren hielt z. B. die Gemeinde Weißenbrunn bei Castell in Franken lange Zeit inne.

Das entsetzliche Rechtsmittel der Folterung war ohne Zweifel Veranlassung, die Dienste des Blutrichters einer bestimmten Person zu übertragen, da zuletzt sich denn doch die Meisten weigerten, den Mitmenschen unerhörte Qualen zu bereiten.

Einmal in den Geruch der Unehrlichkeit gekommen, war es natürlich, daß die Würde des Nachrichters erblich ward, denn dem Sinne des Mittelalters gemäß übertrug sich die vermeintliche Schande des Vaters auf die Kinder. Zu keiner ehrlichen Beschäftigung zugelassen, blieb dem Sohne des Henkers Nichts übrig, als ebenfalls das Richtschwert zu ergreifen. Missethäter konnten in gewissen Fällen sich dadurch vom Tode retten, daß sie Scharfrichterdienste leisteten. Gewöhnlich heiratheten die Töchter der Nachrichter wieder Männer desselben Handwerkes, und so erhielten sich, wie oben gesagt, die finsteren Beschäftigungen bei ganzen Familien, ja Generationen. Ein interessantes Beispiel hierfür liefert die berühmte Nachrichterfamilie Lauson in Frankreich, die bis auf die neueste Zeit unter dem Titel „Messieurs de Paris“ Henkersdienste verrichtete. Auch in Deutschland sind bei Uebertragung des Nachrichteramtes ähnliche Beispiele vorhanden.

Mit der Zeit ward das Amt der von den Gerichten eingesetzten Henker sehr einträglich. Nicht allein blieb ihnen durch die peinliche Execution ein Gewinn, sie übernahmen auch zugleich die Besorgung der Stadtreinigung, die Abführung und Beerdigung des gefallenen Viehes, die Beaufsichtigung der feilen Dirnen, von denen jede dem Henker – nach besonderer Verordnung der Stadtobrigkeit – eine gewisse Buße zahlen mußte. Endlich aber setzten sie sich in besonderen Respect durch die verschiedensten Curen, die sie an Menschen und Thieren, namentlich an Letztern in ihrer Eigenschaft als Thierärzte oft und glücklich machten. Menschenkrankheiten heilten sie nach dem Aberglauben der Zeit oft durch übernatürliche Mittel, namentlich sympathetische. Auch trieben sie Handel mit zauberischen Dingen, als: Diebsdaumen, Galgenmännlein etc., worauf schwere Strafe gesetzt war, die jedoch nicht den Vertrieb hinderte, sondern vielmehr dazu beitrug, daß der Henker sich das zu verkaufende Object desto theurer bezahlen ließ.

Die Anstellung des Scharfrichters war Sache des hohen peinlichen Gerichtes „des Kraises“. War die Bestallung entschieden, so schwor der Erwählte einen Eid. Nach bambergischer Formel, die im Wesentlichen in Deutschland überall angenommen ward, lautete der Schwur:

„Ich sol und wil meines gnädgen Herrn von Bamberg und Sr. Gnaden Stifft Schaden warnen, Frommen werben, in meinem Ambt treulich dienen. Peinliche Straffen, und Fragen wie mir von Sr. Gnad weltlichen Gewalt jedesmahl befohlen wird, auch darum nicht mehr denn ziemliche Belohnung nehmen, alles nach Laut der bambergischen Hals-Gerichts-Ordnung. Was ich auch in peinlicher Frage höre, oder mir sonst in Geheim zu halten befohlen wird, dasselbige will Niemandten ferner eröffnen, auch ohne Erlaubniß meines gnädigen Herrn, Hofmeisters, Marschalls oder Hausvogtes nicht verreisen oder wegziehen und derselben Geschäfften und Geboten gehorsam und willig sein, alles getreulich und ohne allerley Gefähre, als helffe mir Gott und seine Heiligen.“

An andern Orten, z. B. Nürnberg, München, auch in Norddeutschland ward der Scharfrichter verpflichtet:

„Bei Torturen, Voltern und peinlichen Fragen keine Arglist noch Gefährde zu gebrauchen, nicht gelinder noch schärfer zu foltern als das Urtheil ansaget, namentlich aber keine zauberischen Mittel vorzunehmen und zu gebrauchen, das Bekenntiß der Gevolterten, sonderlich der Hexen und Zauberer zu erpressen.“ Ferner „soll der Henker mit den armen Sündern glimpflich und nicht grausam umgehen, überhaupt aber einen rechtlichen, christlichen Wandel führen.“

Auf diese Vorhaltungen antwortete der Henker mit „Ja, ich gelobe also zu thun“, und bei dem Gelöbniß legte er die Schwurfinger auf den ihm entgegengestreckten Gerichtsstab. Die Eidesformel lautete dann auch wohl:

„Ich N. N. schwöre hier zu Gott dem Allmächtigen einen leiblichen Eid, daß ich all demjenigen, so mir jetzo vorgehalten, ich auch verstanden, gelobet und versprochen habe, in allen treu, fleißig und unverbrüchlich nachkommen und nicht dawider handeln will, so wahr mir Gott helfe und ich hoffe selig zu werden, durch Jesum Christum meinen Erlöser und Seligmacher. Amen.“ [1]

Der also Beeidigte war nun bestallte „blutige Hand“ des hohen Gerichtes und erwartete seine Opfer. Die Richter übergaben ihm sein Zeichen, das Richtschwert, welches er bei allen feierlichen Anlässen trug. Doch war ihm unbenommen sich bei Hinrichtungen eines andern Schwertes zu bedienen. Der Henker mußte nun die vorgeschriebene Kleidung anlegen. Sie war an verschiedenen Orten ebenso verschieden. Es steht hierüber nur fest, daß die Blutrichter nicht gewisse Farben tragen durften, die im Mittelalter zu den Privilegien bevorzugter Classen gehörten. So ward z. B. in Paris der Scharfrichter Lauson zur Untersuchung gezogen, weil er sich in blaue Farbe, welche die der Hofleute war, kleidete. – In Deutschland war die Tracht der Henker meist roth und an den Hüten trugen sie gewisse Abzeichen. Namentlich ward ihnen ein kurzes Schwert zu tragen gegeben, an dessen Gefäß gelbe und rothe Schleifen befestigt waren, wodurch sie kenntlich wurden. Sie durften sich nicht in eleganter Kleidung sehen lassen, und obgleich die Gerichtshöfe verschiedene Male die Ansicht, daß der Henker unehrlich sei, bekämpften, dagegen schreiben und sprechen ließen, sorgten sie dennoch dafür, daß der Nachrichter nicht mit dem Publicum in Berührung kam. Selbst in den Kirchen hatten die Henker, deren Knechte und Familien einen besonderen Stand. – Allgemein gebräuchlich blieb für den Henker der rothe Mantel, den er während des Zuges zur Richtstätte tragen und unter welchem er das Richtschwert verbergen mußte, „daß er den armen Sünder nicht vor der Zeit schröcke.“ Im Halberstädtischen trug er eine Thierpfote auf dem Hute.

Durch die Erhebung des Nachrichters zu einer Justizperson ward es nothwendig, in das Getriebe der Scharfrichterei eine Ordnung zu bringen. Von jenem Augenblicke an erhielt der Henker seinen Platz bei den Gerichts-Verhandlungen. Es ward actenmäßig festgestellt, wie weit seine Verrichtungen beschränkt werden durften, wie weit er nach eignem Ermessen gehen durfte, ohne durch den peinlichen Richter gehemmt zu sein. Noch 1754 lautet, schrecklicher Weise, die Leipziger, Braunschweiger und Hannoversche Instruction für den peinlichen Richter: [2]

„Daß bei den Schnürfoltern, wo es auf’s Sehen und Fühlen und Ermessen ankommt, der Scharfrichter zu prospiciren hat, ob der Reus genug oder zu wenig gefoltert ist, und wäre es von einem Richter zu viel gewaget, in die Erfahrung artis eines Scharfrichters, der zumahlen beeidigt, die Erfahrung der Jahre hat und im Lande von höheren Collegiis gebraucht wird, wie der Schuster außer seinem Leisten Einreden zu thun.“

Gewöhnlich hatten sich die Nachrichter genau mit Allem bekannt gemacht, bevor sie zur Uebernahme ihres Amtes schritten, da sie sich der höchsten Gefahr ausgesetzt wußten, wenn eine Hinrichtung mißlang. War das theoretische Examen bestanden, so ging die schauerliche Praxis an. – Vielfache Sagen sind über die zur Erlangung der Henkerfertigkeit nothwendigen Vorübungen verbreitet. Gewiß ist es, daß einige Henker die Uebungen an Leichen vollzogen, wozu Selbstmörder und Cadaver dienten.

Indessen lag der Vortheil besonders in der Beschaffenheit der zum Richten erforderlichen Waffe, deren nähere Beschreibung hier sogleich folgen soll. Die berühmte Sammlung des Herrn Geuder in Nürnberg bewahrt alle Arten von Richtschwertern. Das deutsche Richtschwert hatte die einfache Form des Kreuzes, besaß keinen Daumenring, war von blankem Eisen und hatte einen belederten Griff. Wie in jener Zeit Alles mit außergewöhnlichen Einflüssen in Verbindung gebracht und denselben unterworfen ward, so geschah es auch bei den Richtschwertern. Dieses Symbol und Hauptwerkzeug des Henkers ward den verschiedensten Gebräuchen und Weihungen unterzogen. Die Länge des deutschen Richtschwertes war im 15., 16. und 17. Jahrhundert durchschnittlich 28–30 Zoll, bei 2 Zoll [618] Breite. Die Schwerter des 16. Jahrhunderts zeigen häufig an der Daumenseite den ganzen Rosenkranz eingeschlagen auf der Klinge. Die Gebete werden durch Perlen bezeichnet, gewöhnlich 60 an der Zahl. Die Perlen sind vertieft, wie Grübchen; in gewissen Zwischenräumen bemerkt man auf der Klinge kleine Kreuze, von dem Heft bis zur Spitze läuft eine Rinne, in der Sprache der Waffenschmiede Blutrinne genannt. Die Klingen enden meist in einen gedrückten Bogen. Die Grübchen haben zu der Annahme geführt, daß solche Schwerter ihren Inhabern den Rosenkranz ersetzten und daß die Gebete im Finstern gesprochen wurden, wobei der Betende seine Finger in die Grübchen legte und so die Perlen des Rosenkranzes ersetzte. Man nennt daher diese Klingen „Paternosterklingen“.

Unter den Richtschwertern der Sammlung des Herrn Geuder in Nürnberg zeichnen sich einige besonders aus. Der älteste und am häufigsten anzutreffende Spruch, der die Richtschwerter ziert, ist:

„Wenn ich thu’ mein Schwert aufheben,
Wünsch’ ich dem Sünder das ewige Leben.“

Darüber gewöhnlich die Figur eines zu Richtenden mit verbundenen Augen. Zwei andere Schwerter enthalten die Inschrift:

„Die Herren steuren dem Unheil,
Ich vollstrecke ihr Urtheil.“

Ein Spruch, der fast wie eine Entschuldigung lautet. Auf einer sehr schön gearbeiteten Klinge des Ansbacher Nachrichters steht der Spruch:

„Hüte Dich, thu’ kein Unrecht nicht,
So hast Du nicht zu fliehn das Gericht.“

Einzelne Klingen zeigen nur die eingeätzte Figur der Gerechtigkeit mit der Unterschrift: „Justitia.

Sämmtliche Klingen sind von besonders feiner Arbeit und sehr dünn geschmiedet. Beim Gebrauche hielt der Henker die Spitze des Schwertes oder den unteren „Ort“ in die Höhe, so daß beim Hiebe die ganze Klinge sich senkte.

Die Kürze der Schwerter bezeugt, daß eine nervige Faust sie führte, doch wußten die Scharfrichter auch mancherlei Stücklein anzubringen, welche ihrer Kraft zu Hülfe kamen. Unter den Richtschwertern der Geuder’schen Sammlung in Nürnberg befindet sich eines, an dem man die Vorrichtung zu solcher Künstelei sieht. Das Schwert zeigt am Klingenende drei Löcher, in welche der Richter Bleikugeln legte, deren Gewicht den Schwung beim Hiebe vermehrte. Indessen hielten sich die alten Scharfrichter von solchen Umständlichkeiten fern.

Nur eines seltenen Falles aus dem 15. Jahrhundert sei hier noch gedacht: der Anwendung des Quecksilbers. In dem rundgewölbten Rücken des Richtschwertes war eine Rinne angebracht, welche vom Griffe bis zur Spitze lief. Diese Rinne barg Quecksilber. Beim Ausholen hielt der Scharfrichter das Klingenende höher als die Faust, so daß während des Hiebes das Quecksilber mit aller Kraft gegen die Spitze geschleudert ward.[3]

Die Schwerter der mittelalterlichen Scharfrichter besaßen gewöhnlich keine Scheide. Auch hier war ein Aberglaube vorhanden, der in der Idee beruhte, man dürfe das Schwert nicht in die Scheide stecken, um dem Urtheile Gottes nicht vorzugreifen. So zeigen denn die meisten der älteren Richtschwerter am Klingenende ein zuweilen dreieckiges Loch, mittelst dessen sie an die Wand gehängt wurden[4]. Diese furchtbaren Waffen, von denen einige auch zum Kriegsgebrauche bestimmt waren[5], diese Zeichen des Blutrichters hingen in den Zimmern der Scharfrichter im „schwarzen Laden“ oft in den verschiedensten Gruppen und bald stärker, bald feiner, denn der Scharfrichter hatte im Mittelalter, ja bis tief in’s 18. Jahrhundert hinein noch so häufig einen armen Sünder „abzuthun“, daß er Richtschwerter für starke und schwache Hälse der Delinquenten besaß; außerdem sammelten die Meister gern renommirte Schwerter berühmter Handwerksgenossen, welche lange Zeit Dienste verrichtet hatten. – Der oder die „schwarze Laden“ war ein ungeheurer Schrank, der gewöhnlich die ganze Wand eines Wohnzimmers des Nachrichters einnahm.

War der Meister ein gesuchter und berühmter, so hatte er auch seine Häuslichkeit mit einem gewissen Luxus eingerichtet, und wie der Künstler die Wände seiner Gemächer mit den heitern Erzeugnissen seiner Kunst, der Gelehrte seine Studirzimmer mit Bücherschränken zierte, so prangten an den Mauern des Henkerzimmers oft die erschreckenden Instrumente zur Peinigung. Die schwarze Laden war häufig mit dunklem Tuche ausgeschlagen. Oeffneten sich nun die Thüren, so blitzten die blanken Klingen der Richtschwerter desto unheimlicher von der düsteren Hinterwand dem Beschauer entgegen, dessen Auge in den Tiefen des Schrankes außerdem noch allerlei unheimliches Geräthe entdeckte.

Die Schwerter hatten ihre Altersclassen. Ein hinlänglich bekannter Brauch war es, nie mit einem Schwerte hundert Menschen zu köpfen. Der Henker bediente sich einer und derselben Klinge nur für 99 Opfer. Erst nach einer gewissen Reihe von Jahren durfte das Schwert wieder in die Hand genommen werden.

Beim Schmieden des Schwertes mußte der Henker gegenwärtig sein, wenn der letzte Hammerschlag auf die Klinge gethan ward. Aus der Werkstätte ward es sorgfältig eingewickelt in die Behausung getragen und dann dort bis zum ersten Gebrauche verwahrt. Eine noch nicht gebrauchte Klinge war eine „Jungfernklinge“. Unmittelbar nach der Hinrichtung eines Delinquenten band man drei Tage und drei Nächte ein Bündel Kreuzdornzweige an die Klinge, nachdem dieselbe äußerst sorgfältig gereinigt war, damit keine Zauberei an dem Schwerte hafte, und der ruhelose Geist des Gerichteten dem Zimmer des Henkers fern bleibe. Das Schwert, welches der Henker bei seiner Einsetzung empfing, ward ihm vom Gerichte übergeben. Nach einer gewissen Anzahl damit vollzogener Hinrichtungen ward es sein Eigenthum, und er durfte es bei einer Versetzung oder Aufgebung seiner Stelle mitnehmen, wofür er drei Kreuzpfennige zahlte. In einigen Städten verwahrte man das Richtschwert auf dem Rathhause, von wo es zwei Gerichtsboten in einer verschlossenen Kiste zum Henker trugen, wenn es gebraucht werden sollte.

Außer diesen unmittelbar zur Henkerspraxis gehörigen Gebräuchen diente das Richtschwert dem Träger noch als Geleit und Beglaubigung; dann aber war es in gewisser Beziehung ein Maßstab für die Ansprüche, welche der Henker bei einigen Vorgängen erheben durfte. Einer der bemerkenswerthesten Fälle dieser Art war das alte Recht des Freimanns, die Habe des Selbstmörders, welche er als Nachrichter der Stadt, auf dem gefundenen Leichnam stehend, mit seinem Richtschwerte im Kreise um den Cadaver herum erlegen konnte, sein eigen nennen zu dürfen. Noch im 18. Jahrhundert ereignete es sich, daß ein Kornwucherer sich erhängte. Derselbe hatte alle seine Geldsäcke rund um sich gehäuft und in deren Mitte seinem Leben ein Ende gemacht. Der Freimann nahm Alles laut Richterspruch in Besitz.

Mit dem Richtschwerte belehnt, vereidigt und geprüft erwartete der neu bestellte Scharfrichter nur den Augenblick, der ihn in die Praxis einführen sollte. In der Handwerkssprache hieß dies: „das Meisterstück machen.“ Auch hier gab es einen Gewerksstolz. Der Scharfrichter machte sein Meisterstück nicht durch Hängen, sondern durch Köpfen. Der Strick war niedriger als das Schwert. Zur Noth verrichteten die Knechte die Arbeit mit dem Strange, aber das Schwert zu schwingen auf den Nacken des Verurtheilten, das ließ sich der Meister nicht nehmen.

Der Tag, wo die erste Kraftprobe abgelegt werden sollte, war ein feierlicher. So verhärtet die Natur des jungen Meisters auch schon sein mochte – war er doch von Jugend auf an Schauerscenen aller Art gewöhnt –: es bewegte ihn dennoch wundersam der Gedanke, daß ein Mitmensch von seiner Hand sterben mußte, daß die schnelle Beförderung vom Leben zum Tode, die einzige Wohlthat, welche der zitternde, angsterfüllte Sünder noch erwarten durfte, in seine, des Scharfrichters, kraftvolle und geübte Faust gelegt war. Andererseits fürchtete er wiederum im Falle des Mißlingens die Volksrache. So wichtig das Amt des Scharfrichters war, es bedurfte dennoch mannigfacher Vorkehrungen, um beim Mißglücken einer Execution die verhaßte Persönlichkeit vor thätlichen Angriffen zu schützen. Die Aufgabe war, mit einem sichern Hiebe den Kopf vom Rumpfe zu trennen, oder den Strick so richtig zu schlingen, daß der Verurtheilte kaum noch eine Bewegung machte. Häufig genug war es vorgekommen, daß der Hals des Schlachtopfers durch ungeschickte Hiebe zerfleischt wurde, daß der Strang riß, daß die Festbindung des Delinquenten nicht regelrecht vorgenommen war, und daß derselbe in der Todesangst aufsprang und dergl. Dann [619] wendete sich die Wuth der Menge gegen den Scharfrichter und durchbrach alle Dämme. Steine flogen auf die Blutbühne, die Knechte und der Meister wurden gemißhandelt, und so ereignete es sich zu Lübeck, daß bei einer verfehlten Hinrichtung fünf Scharfrichter erschlagen wurden. Am 7. August 1611 ward in Magdeburg der Nachrichter Albrecht Galle erschlagen. Von seinen beiden Knechten erhenkte der Pöbel den einen, der andere kam, ganz mit Wunden bedeckt, davon.

Dies Alles bewegte denn doch das Gemüth eines Jungmeisters am Tage der ersten Blutprobe. Um sich zu stärken, wurden in der abergläubischen Zeit allerlei Mittel versucht. Zumeist war der Glaube vorhanden, man könne sich am besten gegen die Zaghaftigkeit, als Hauptgrund des Mißlingens, wahren, wenn man vor dem Richten Menschenblut trinke. Es sind Fälle vorgekommen, wo der Vater sich die Ader geöffnet, um dem Sohne, der sein Meisterstück machen wollte, den muthmachenden Trunk reichen zu können. Weniger abergläubische Henker betrachteten die Sache als ein Geschäft, und noch Andere stärkten sich durch ein Gebet in der Kirche des Ortes, wobei sie das Richtschwert mit sich führten.

Eine besonders große Feierlichkeit war es, wenn die Ablegung einer Meisterprobe mit der Aufrichtung eines neuen Hochgerichtes zusammenfiel. War die Aufstellung einer gezimmerten Blutbühne (Schaffot) nothwendig (wie das immer bei Städten der Fall, welche keine gemauerten Hochgerichte besaßen), so rief ein Befehl die Maurer und Zimmerleute zur Arbeit. Sobald man bis zum Richten des hölzernen Schaffotes gekommen war, schrieb der Rath der Stadt eine Feierlichkeit aus, bei der sämmtliche Maurer und Zimmerleute, welche an dem Erbauen des Hochgerichtes Theil genommen, sich einzufinden hatten. Von den übrigen Handwerkern: Schlosser, Steinmetz etc., brauchten sich nur die Meister und Altmeister zu stellen. Sie mußten sich auf dem Rathhause versammeln, um „den neuen Galgen zu richten“. Ein Commando Stadtmiliz oder Soldaten ward ebenfalls bestellt. Voran zogen: Richter, Amtleute, Vögte und Schöppen, eine Abtheilung Gerichtsdiener mit Spießen; die Soldaten mit klingendem Spiele; der Oberrichter mit dem Schreiber; die Alt- und Obermeister nach Rang und Ordnung mit ihren Waffen und Wehren gliederweise; die Maurer und Zimmerleute, letztere mit ihren Aexten, deren Schneiden in die Höhe gekehrt; wieder eine Rotte Soldaten mit Spiel.

An dem bestimmten Ort angelangt, wurden sie von dem Scharfrichter empfangen, der mit seinen Knechten die Schaufeln und Hacken bereit hielt, um die Löcher zu graben oder die Vertiefungen zu hauen, in welche die Balken gelegt werden sollten. Diese Werkzeuge stellte der Oberrichter, und sie blieben im Besitze des Nachrichters, weil sie gewissermaßen anrüchig geworden waren. Der Oberrichter ritt nun auf den Platz, entblößte sein Haupt und bewillkommnete die sämmtlichen Anwesenden, bedankte sich bei ihnen, daß sie pünktlich erschienen, und bat sie, Hand anzulegen und nunmehr das Werk zu vollenden. Hierauf las er einen Paragraph aus der peinlichen Hals-Gerichtsordnung Kaiser Carl’s V., wonach es Niemandem an seiner Ehre, guten Namen und Ruf schaden solle, beim Aufrichten des Galgens geholfen zu haben. Sofort begann die Richtung oder Setzung der Balken.[6] War ein eiserner Arm zur Aufhängung der Verurtheilten angebracht, so setzte der Nachrichter diesen ein. Wurden neue Balken auf die Untermauerung gelegt, so zog man diese mittelst Kloben heraus, woselbst sie dann von den Maurern festgekittet wurden. Das Aufwinden der Balken geschah durch die sämmtlichen Altmeister. Nach geendigter Arbeit zog man in derselben Ordnung zurück. Die Maurer und Zimmerleute erhielten vom Rathe doppelten Tagelohn, das Hochgerichts-Personal gab einige Tonnen Bier zum Besten. In einigen Ländern waren es gewisse Zünfte, denen die Erhaltung und Erbauung der Hochgerichte oblag. So mußten in Baiern die Weber das Hochgericht bauen lassen, die Müller lieferten die Galgenleiter.

Die blutige Einweihung des Galgens oder Rabensteines durch ein Meisterstück war ein Festtag für die Stadt. Am Morgen des Executionstages begab sich der peinliche Richter in die Zelle des Gefangenen. Hier fragt er ihn, ob er auf seinem Bekenntniß beharre.

Sünder erwidert. „Ja, ich beharre.“

Hierauf rufet der Richter: „Meister Hans (der Scharfrichter), so ist der Reus der Eurige.“

Hiernach lässet der Richter die Armen-Sünderglocke läuten. An manchen Orten stößet man auch in die Posaunen. Es soll, nach Carl’s V. peinlicher Gerichtsordnung, ein solch Gericht unter freiem Himmel Morgens zwischen 9 und 10 Uhr ergehen. Sodann führet man den Sünder in den Saal vor die Schöppentafel, allwo der Richter sitzet in Mitten der Schöppen und einen weißen Stab oder ein bloßes Schwert in der Hand hält. Nach dem sächsischen Inquisitionsrecht „ziehet der Richter das Schwertt nicht allsogleich aus, sondern er entblößet es erst, wenn er sich niedersetzet, auch soll er von Rechts wegen eine gewappnete Hand (d. h. einen Blechhandschuh) haben. Doch ist dieses an den Orten verschiedentlich. Hernach nun heget der Richter das peinliche Gericht, befraget nochmals den Sünder, und wenn dieser Alles gestanden, so bricht der Richter den weißen Stab entzwei, nachdem der Schreiber das Urtheil verlesen. Die Stücke des Stabes hebet der Frohnbote sorglich auf, dieweil damit sonsten mancherlei Hexenwerk getrieben wird. Hierauf giebt der Richter dem Henker den armen Sünder. Der leget die Hand auf seine Schulter. Spricht der Richter: „Thuet, Meister, nach buchstäblichem Inhalt des Urtheils.“ Hierauf bindet der Henker den Maleficanten, und soll es seine Sache sein, dem Sünder zuzureden, ihn zu bitten, sich nicht für dem Tod zu fürchten, denn er wolle ihn schnell abthun mit dem Schwertte, oder glimpflich von der Leiter werffen und im schweren Augenblicke noch ein Gebetlein ins Ohr ruffen.“ Der erste Knecht des Henkers führt nun den Sünder an einem Strick, der von den gebundenen Händen herabhängt, zur Richtstatt. Der Meister „gehet im rothen Mantel hinterher“ und hat sein Schwert versteckt. Am letzten Hause reicht der Nachrichter dem Sünder einen Trunk Wein mit den Worten: „Gebet Wein denen, die umkommen sollen, und stark Getränk den betrübten Seelen, daß sie ihres Unglücks nicht gedenken.“ „Doch soll der Richter zusehen, daß der Henker kein berauschendes Mittel hineinwerfe, auf daß er nicht den Sünder um seine Andacht bringe.“

Kommt nun der Verurtheilte in den Kreis oder auf das Hochgericht, so führt der Henker ihn drei Mal herum, bis er drei Paternoster gebetet. Der Priester absolvirt und segnet den Sünder. Während dessen machen die Knechte den Stuhl zurecht, auf welchem die Execution geschehen soll. Nun ist der letzte Augenblick nahe. Die Scharfrichter pflegten vor den Verurtheilten hinzutreten und ihn um Verzeihung zu bitten, „da sie nur handeln müßten, wie es das Gesetz gebeut.“[7]

Die Knechte setzen den Verurtheilten nun auf den Stuhl und binden ihm die Arme rückwärts fest, schlingen auch eine Binde um die Augen und binden das Haar auf, wenn es nicht abgeschnitten worden ist. Vorher hat der Meister schon den Hals des Sünders entblößet. Während dessen spricht der Nachrichter zum Volke: „Ich gelobe den hier befindlichen N. N., einen Mörder, der verurtheilt ist, von Rechtswegen zu köpfen, daß er es nicht mehr thun soll.“

Letzteres war die alte gebräuchliche Formel, noch in der Mitte vorigen Jahrhunderts üblich. – Nach dieser Ansprache grüßt der Henker mit dem Schwerte und tritt zu dem Verurtheilten, ruft ihm Muth zu und unter dem Zurufe des Priesters „Herr Jesu, dir leb’ ich, Herr Jesu dir sterb’ ich“ fällt das Haupt. Ist der Nachrichter ein Meister in seiner Kunst, so schlägt er mit einer Hand, die linke Handfläche auf den Kopf des Verurtheilten legend, oder seine Haare fassend. Wo keine Blutbühne war, kniete der Missethäter vor einem Sandhaufen. Ebenso wenn die Hinrichtung im Felde oder Lager geschah. Sobald die Execution vorüber ist, stützt sich der Henker auf sein blutiges Schwert und rufet dem Richter zu:

„Herr Richter, habe ich recht gerichtet, wie Urtel und Recht spricht? wie Urtel und Recht gegeben hat? wie es der arme Mann verschuldet hat?“

Antwortet der Richter. „Ja, Du hast recht gerichtet, wie Urtel und Recht spricht.“

Antwortet der Henker: „Das danke ich Gott und meinem Meister, der mich diese Kunst gelehrt.“ Zum Schluß thut er eine Vermahnung an das Volk, daß Jedermann sich hüten möge unter seine Hände zu kommen. Die Knechte bestreuen unterdessen den Platz mit Sägespähnen und unter Absingung eines Liedes legen sie die Leiche des Gerichteten in den Armensündersarg.

[620]
Ein neuer Ehrentag der Wartburg.
Festerinnerungen von Livius Fürst.

Es ist noch nicht lange her, daß die Augen von ganz Deutschland auf die freie Reichsstadt, das alte Frankfurt gerichtet waren, in dessen Mauern die deutschen Fürsten sich versammelt hatten, um die Wiederherstellung eines einheitlich gestalteten Vaterlandes aus eigenem Antriebe zu bewirken. Aufmerksam lauschte die Presse den Ergebnissen jenes Congresses; alles Andere schien für einige Zeit in den Hintergrund gedrängt.

In diesen Tagen – vom 17. bis 21. August – fand im Herzen Deutschlands ein Fest statt, das jedem Theilnehmer unvergeßlich bleiben wird. Wir meinen die achte allgemeine deutsche Künstlerversammlung zu Weimar. Dieselbe hatte während der vergangenen Jahre im kunstprächtigen Antwerpen und im lieblichen Salzburg getagt. Jetzt war sie in der Wahl ihres Versammlungsortes auf eine von den Schutzgeistern der Poesie, Wissenschaft und Kunst geweihte Stätte geleitet worden, die freilich weder die Kunstschätze Belgiens und der Niederlande, noch die imposanten und einzigen Naturschönheiten des Salzkammergutes darbietet, aber durch den Zauber ihrer Erinnerungen und durch die von einem kunstsinnigen Fürsten wiedererweckte Zeit der classischen Blüthe Deutschlands ehrenvoll dasteht.

Hier auf geweihtem Boden, inmitten von Denkmälern einer ewig unvergeßlichen Zeit, wo jeder Stein dem Wanderer von Geistesheroen erzählt, wo jedes Rauschen der schattigen Wipfel im Park oder auf dem reizenden Belvedere uns gewaltige Namen in’s Ohr flüstert und über den grünen Ufern der Ilm noch ein Hauch aus glänzenden Tagen weht, hier mußte es deutschen Künstlern wohl sein. Aber es wäre doch nur jene halb traurige Empfindung gewesen, deren wir beim Besuche einer denkwürdigen Ruine uns nicht erwehren können, jenes Gemisch von Ehrfurcht und Mitleid, das man einstigen Größen zu widmen pflegt, gehörte Weimar unter die nur durch das ihnen anhaftende Andenken werthen Trümmer. Dem ist nicht so. Sind auch die Zeiten von Weimars unerreichtem Glanze ein wohl nie wiederkehrendes Bild, so erfüllte es doch jeden Besucher des diesmaligen Festes mit innigem Vergnügen, zu sehen, wie unter der Hand des jetzigen Großherzogs Carl Alexander, eines von Pietät für das Ererbte und von künstlerisch-begabtem Streben nach Neuem gleich erfüllten Fürsten, Weimar einer hinsichtlich der Kunst schönen Zukunft entgegen geht. Es ist unnöthig, in die Rolle des Lobredners eines Fürsten zu fallen, wenn man sieht, wie es ihm um die Wiederbelebung des geistigen Elementes, um die Förderung künstlerischer Interessen und um die rege Theilnahme am Anordnen und Schaffen so tiefer Ernst ist, wie bei dem Regenten Weimars. Hier trifft das Auge des Künstlers nicht auf jenes willkürliche Spielen mit verbrauchten oder halbverstandenen Ideen, nicht auf jenes Haschen nach schimmerndem Wechsel und blendender Ueberfülle. Was jedem Besucher die Stadt so werth macht, ist der aus allen neuen Schöpfungen und Aeußerungen des Kunstsinnes sprechende Grundsatz, daß Weimar unter ehrfurchtsvoller Schonung des Alten durch reges und ernstes Streben auf eine künstlerische Höhe gelangen soll, welche seines Namens und seiner von Carl August überkommenen Bedeutung würdig ist. Daß dies die schönste Gesinnung ist, in welcher das Erbe jenes Fürsten übernommen und ausgebaut werden konnte, daß der Enkel jenen Geist treffend erfaßt und richtig verwerthet hat, wird ihm persönlich aus der innersten Befriedigung hervorgehen, mit welcher die in Weimar versammelten deutschen Künstler jene Bestrebungen erkannt und gewürdigt haben.

Ich will es nicht unternehmen, dem Leserkreise der Gartenlaube eine ausführliche Schilderung jener Festtage zu bieten. Mit Fug konnte ich dies den zahlreichen Tagesblättern überlassen, deren Berichte mehr oder weniger als historisches Material gelten mögen. Wo man für eine Million von Lesern schreibt, bemächtigt sich des Geistes ein Gefühl von Weihe, das die Feder über die Einzelheiten und den Verlauf eines solchen Festes schnell hinweggehen läßt. An dieser Stelle gilt es, einen höheren Gesichtspunkt einzuhalten und im Vollgefühle der empfangenen Eindrücke, sowie mit beschaulicher Ruhe das Erlebte seiner geistigen Bedeutung nach zu schildern.

Weimars Künstler waren mit großer Aufopferung in den Vorbereitungen thätig gewesen, so daß man nur bedauern konnte, durch Wetters Ungunst manches Schöne vereitelt sehen zu müssen. In ungetrübter Stimmung sind Allen jene Tage verrauscht, nachdem Dichtergruß und Ansprachen Seitens der Behörden sie in wohltuendster Weise eingeleitet hatten. Angenehm, ungezwungen, ja herzlich war der Ton, in welchem sich hier die Genossen der nach einem Ideale strebenden Kunstrichtungen zusammenfanden. In diesem Sinne rief Hans Köster den Gästen zu:

„So – durch Begegnen, Finden, Namennennen,
Als einer Mutter Söhne sich bekennen,
Und aus dem Eins im engeren Verband
Das Eins empfinden mit dem Vaterland,
Das ebnet mehr den Weg zur Festesreise
Als Dampfesroß und eiserne Geleise!“

In demselben Sinne begrüßte auch Weimars Regierung die Kunstgenossen, indem sie den Grundsatz aussprach, „daß eine wahrhaft edle Kunst ihre tiefsten Wurzeln in der Liebe zum Vaterlande schlägt und aus der Größe des Vaterlandes ihre edelste Nahrung saugt.“

Und – wahrlich – nöthig war dieser Alles erregende Geist, besonders da im Stern des Weimarischen Parkes das poetische Festspiel Wilhelm Genast’s „Der Deutschen Hort“ so wie die darauf folgenden und mit viel Aufopferung angeordneten Volkslustbarkeiten im wahrsten Sinne des Wortes zu Wasser wurden. In weihevoller Stille lauschten Tausende jener Fest-Dichtung, die inmitten rauschender Waldeswipfel auf hoher Bühne in erhebender Darstellung zum Ausdrucke kam und in ihrer schönen Einfachheit an die Schauspiele der Alten erinnerte. Bild und Wort vergegenwärtigten jenen Hochgedanken, daß Kunst und Wissenschaft stets mit den Geschicken unseres Vaterlandes Hand in Hand gegangen sind, daß sie in den Tagen des Unglücks das deutsche Volk ermuthigt, in den Zeiten der Blüthe es veredelt haben.

Leider trieb ein Regenguß, gerade als die „Germania“ von dem umwölkten politischen Horizonte sprach, die harrende Menge auseinander, und nur hier und da fanden sich später wieder engere Kreise zusammen, um sich in traulicher Vereinigung über gemeinsame Interessen auszusprechen. So schwand die Zeit in Weimar dahin, in einer besonders beim Festmahle gehobenen Stimmung, aber doch im Gefühle peinlicher Unsicherheit über das Gesicht, das der Himmel zeigte. Jeden belebte die ahnungsvolle Hoffnung, daß der Tag auf der Wartburg, zu welcher der fürstliche Burgherr die Künstler geladen hatte, die Spitze des ganzen Festes bilden würde.

Und der Morgen kam. War es auch nicht einer jener Sommermorgen, an welchen die Sonne hell und freundlich über die von Frühthau blitzenden Wiesen scheint, die frisch-grünen Zweige der Bäume sich in leisem Hauche wiegen und in der Ferne die Berggipfel wie in leichten Nebelschleier gehüllt dastehen, so war es doch ein frischer, duftiger Morgen, zum Bergsteigen wie geschaffen. Also froh hinauf zur Wartburg!

Durch wenige holprige Straßen des alten Eisenach windet sich der in Ungebundenheit dahinschreitende Künstlerzug, mit grünem Eichenlaube geschmückt und vom Künstlerbanner geleitet. Noch eine Biegung des Wegs – und da steht sie vor uns, die alte, sagenreiche, ehrwürdige Wartburg – die Königin deutscher Burgen!

Rings, welche herrliche Fülle grüner Wälder und Höhen, die sich – wie ein reicher Teppich um den Altar – ausbreitet! Je höher wir steigen, desto mehr vergrößert und verschönert sich das uns umgebende Bild. Die Ferne mit ihren Felsen, Waldesgründen und lachenden Fluren taucht uns auf. Bald sind wir vom Dickicht des Waldes umgeben, bald stehen wir frei auf dem Felsen und fühlen uns von einem seltsamen Zuge emporgehoben. Und horch! – Jetzt donnern von der beflaggten Veste die Geschütze uns ihren Gruß, und wieder, und abermals. Der weiße Dampf verfliegt langsam, und von den fernen Bergen hallt ein langes Echo die Donnerstimmen nach, daß sie erwachen in ihren Schluchten und Klüften, die Geister der Sage, das Volk im Hör-Seelen-Berge mit dem verzauberten Frankenritter Tannhäuser, der treue Eckart und der seit lange schlummernde wilde Jäger. Und verwundert reiben sie sich die Augen, erstaunt ob des befremdenden Anblicks.

Ehe wir die Burg betreten, gilt es, in mittelalterlicher Weise Einlaß zu begehren. Ein „Wer da?“ ertönt vom Commandanten,

[621]

Der Empfang der Künstler auf der Wartburg.

dem bekannten, kunstverständigen Arnswaldt. Und auf die Antwort: „die deutsche Kunstgenossenschaft!“ und den Gegenruf: „Thore offen!“ rasselt die alte Zugbrücke nieder, über welche schon manch’ würdige Gestalt geschritten, und jubelnd zieht die Schaar der Künstler ein in die alten Hallen.

Vorbei geht es an dem noch völlig im Gewande der Reformationszeit dastehenden Ritterhause, in welchem die denkwürdige Wiege der Bibelübersetzung, die Stube Luthers, sich befindet. Der mit Wappen geschmückte Burghof empfängt uns. Und weiter schreiten wir durch den Raum der ehemaligen Vorburg nach dem im Sinne der Vorzeit neu erstandenen und wieder hergestellten Theile der Wartburg, kaum ahnend, daß noch Manches im Schooße der Erde schlummert, die jetzt unser Fuß betritt. Aber bald wird auch hier Alles so schön vollendet sein, wie der Prachtbau des Landgrafenhauses, vor dem in weitem Halbkreise die Künstlerschaft sich aufstellt.

Der umzogene Himmel ist indessen auf einige Augenblicke freundlicher geworden. Vor dem in seiner stylvollen Wiederherstellung imponirenden Gebäude herrscht mit einem Male lautlose Stille. Jetzt werden die Künstler von der Freitreppe herab durch die Herrin der Burg, die Frau Großherzogin, und durch den Erbgroßherzog in herzlichster Weise begrüßt. Ein Jubel antwortet diesem Willkommen. Die Mauern schallen von dem freudigen und begeisterten Dankesrufe der Menge; die feurigen Töne der Musik ertönen durch Hallen und Räume; lustig weht das Banner über die vielen kunstgeweihten Häupter hin – kurz, das Bild ritterlichen Wartburgslebens scheint neu erwacht.

Der Augenblick war in der That erhebend. Das reichgeschmückte, durch Ritgen so herrlich wiederhergestellte Landgrafenhaus, unten mit seiner alten Vorhalle oder Laube, wo sich einst Knappen und Diener mit den Edelfalken tummelten, mit seinen einen tief-symbolischen Sinn andeutenden Capitälen und Ornamenten, oben mit [622] den alterthümlichen Fensterbrüstungen, in denen einst die holden Frauen gesessen, und dann rings das im alten Gewande Neugeschaffene, die Thürme mit ihren schützenden Zinnen, mit ihren vom Morgenregen lebhafter gefärbten und schimmernden Mauern – alles dies gewährte ein Bild, das, belebt von der geschmückten Künstlerschaar, wie ein Nachklang aus vergangenen Zeiten erschien.

Stern edler Ahnen! Ludwig, kühner Springer,
Dem diese Halle Sein und Namen dankt;
Du, Landgraf Hermann, und Ihr Meistersinger,
Die Ihr Euch um den Heldenstamm gerankt;
Du, Geist Elisabeth’s, der heil’gen Mutter,
Die gläubig hier gelitten und gelebt,
Und Du, verklärter Schatten eines Luther –
Wie habt Ihr uns an jenem Tag umschwebt!

Wahrlich, man brauchte kein übersentimentales Herz zu besitzen, um zu dieser Stunde in einem Hochgefühle aufzugehen. Jeder – das sah man – war bemüht, dieses in unserer oft recht abstoßenden Gegenwart seltene Bild für immer dem Gedächtniß einzuprägen.

Da tönt es: „Zu den Tafeln!“ Und in alle zum Speisen ausgeschmückten Räume ergießt sich die Schaar der Gäste. Bald werden die im edelsten künstlerischen Geschmacke des Mittelalters decorirten Schenk- und Speisetische umlagert, und kaum gewinnt man Raum und Zeit, einen Blick auf den überaus reichen und originellen Schmuck, die Humpen, Schleifkannen, Geräthe, die gewaltigen Bären- und Auerochsenfelle, kurz auf all das mittelalterliche Tafelzeug zu thun. Und welche Fülle ausgesuchter Genüsse, bei deren Anblick freilich dem Feinschmecker – wegen der Schwierigkeit der Wahl – das Herz ganz besonders klopfen mag!

Doch wozu soll ich alle jene Freuden, die der Gäste hier harrten, noch aufzuzählen versuchen? Es dürfte mir wohl Niemand für eine noch so lebhafte Erinnerung Dank wissen. Steigen wir daher lieber hinauf in den Sängersaal, damit wir an derselben geweihten Stätte, wo im Jahre 1207 jener gewaltige Sängerkampf stattgefunden, die Erinnerung an dies erhabene Moment aus der Wartburggeschichte auffrischen, das uns im Bilde verkörpert lebhaft vor Augen tritt. Hier ist noch die Sängerlaube, wo die Dichter auftraten; dort stehen noch die Stufen, von wo sich die Landgräfin niederbeugte, um Ofterdingen zu schützen, da die andern Meister nebst Stempfel, dem Henker, auf ihn einstürmten, um ihn in patriotischem Eifer für das Lob zu strafen, das er dem Herzog Leopold VI. von Oesterreich gespendet hatte. Hier haucht uns noch die Sage von Klingsor, dem siebenbürgischen Meister der schwarzen Kunst, an, welcher durch seine überirdischen Kräfte und mit Hülfe seines Höllengeistes Nasian nach Jahresfrist Ofterdingen den Kampf bestehen geholfen. Jetzt hallen jene Wände nicht mehr wieder von Gesang und Saitenspiel; aber zu dem Wanderer, der ein Herz mitbringt, sprechen sie in Zaubertönen deutlich und verständlich, so daß er wähnt, das alte Leben erwache wieder. Das ist das selige Träumen, das Jeden auf dem sagenreichen Boden dieses Felsens beschleicht.

Wieder ertönen Trompetenklänge und rufen alle Gäste hinauf in den Festsaal. Wir steigen die Wendeltreppe hinan, oben begrüßt von alten Steinbildern, einem gewappneten Wächter, einem lustigen Spielmann und einem von dem Treiben sich entsetzt abwendenden Mönche. Noch einige Schritte, und wir begrüßen sie, die schimmernde Halle mit ihrem lustigen Söller, ihren Symbolik athmenden Ornamenten, die in den verschiedensten Beziehungen zu Glauben, Sage und Volksleben stehen. Ueber uns die den Himmel versinnlichende Decke und die von scheinbar abenteuerlichen, aber vielbedeutenden Gestalten ausgehenden Dachbinder. Hohe, würdige Gestalten blicken von den Wänden auf uns herab. Hier Karl der Große, der Stammvater der thüringischen Fürsten, dort Ludwig der Springer, dort wieder Hermann I. und Elisabeth, seit dem Mai 1234 die Heilige benannt. Und hinaus schweift unser Blick aus den nach Süden gelegenen Fenstern, und wir treten auf den Balcon, auf dem auch eine leidende Mutter und flüchtige Fürstin oftmals gesessen und in die Ferne geblickt hat. Hier war das Lieblingsplätzchen der Herzogin Helene von Orleans. – Doch genug der Betrachtung. Eine geistige Feier harrt hier unser, eine Feier durch Wort und Lied im Sinne entschwundener, uns jetzt verklärt erscheinender Zeiten. Das war nicht eine streng-künstlerische Feier, keine Aufführung, kein zu berechnendes Programm. Hier brach die vaterländische Begeisterung, nachdem sie, wie die Flamme am Hause, an einzelnen Stellen hervorgeleuchtet hatte, endlich mit Macht durch und schlug aus allen Herzen lodernd empor. Hier wurde das Künstlerfest im edelsten Sinne ein vaterländisches, bei dem sich alle Gäste als Brüder eines Stammes, als Deutsche die Hand drückten. Darum zündeten jene Worte so, mit welchen der von einem Sängerchor uns entgegengebrachte Wartburggruß schloß:

„Und regt sich einst sehnsüchtig leise
Im eignen Herz die Schöpferkraft,
Daß Ihr in vaterländ’scher Weise
Ein Werk schafft, kühn und heldenhaft:
Dann seid gewiß, Ihr deutschen Meister,
Wo Ihr auch weilt im deutschen Land,
Daß Euch der Wartburg gute Geister
Von Neuem ihren Gruß gesandt.“

Und als Niemann aus Hannover in hinreißendem Vortrage das populär gewordene Lied des Ivanhoe aus Marschner’s „Templer und Jüdin“ mit einem trefflich unterlegten Texte sang, wovon die eine Strophe der Kunst, die andere dem Fürsten, die letzte dem Vaterlande galt: da war die Theilnahme der den Saal füllenden Menge so gewaltig, daß der Sänger kaum enden konnte, vielmehr Alles von selbst in die Schlußworte einstimmte. Von den Wänden dröhnte der Ruf „dem deutschen Vaterland!“ wieder, begeistert schwenkte Jeder – der Erbgroßherzog voran – den Hut, und Jeder fühlte und gestand es, daß hier das schöne Fest seinen Gipfelpunkt gefunden haben müsse.

Und so ist es auch gewesen. Fröhlich und befriedigt sind bald darauf die deutschen Künstler von der alten, Allen so lieb gewordenen Wartburg herabgestiegen in die grünen thüringischen Thäler. Sie haben sich wieder in alle Winde verstreut, Jeder nach seiner Heimath, um im gewohnten Kreise weiter zu schaffen und zu wirken. Aber Eins haben sie mitgenommen, das ist ein Gefühl der frischen Zusammengehörigkeit, ein Gefühl der Verehrung für ein von echter Kunst- und Vaterlandsliebe beseeltes Fürstenhaus, ein Gefühl festlicher Stimmung, das sie bis zum nächsten Beisammensein geleiten und ihnen das Andenken an diesen neuen Ehrentag der Wartburg frisch erhalten wird.

Als wir später durch’s Thal zogen, schimmerte die Wartburg in feurigem Glanze, wie verklärt. Mancher gedachte dabei der schönen Worte Tiedge’s, die er in das Gedenkbuch der Veste geschrieben und mit denen auch wir vom Leser Abschied nehmen wollen:

Das, was die Zeit verschlungen,
Geht morgenröthlich aus,
Und aus Erinnerungen
Blüht helles Leben auf. –




Blätter und Blüthen.

Berliner Originale. Mit Recht klagt man gegenwärtig darüber, daß die Zahl der interessanten Originale immer seltener wird. Das großstädtische Leben schleift die Charaktere ab und verwischt das eigenthümliche Gepräge leider stark ausgesprochenen Individualität. In früherer Zeit fehlte es auch in Berlin nicht an originellen Erscheinungen, unter denen der berühmte Theolog, Professor Neander, und seine ihm ebenbürtige Schwester einen hervorragenden Rang einnahmen. In den dreißiger Jahren begegnete man häufig unter den Linden dem seltsamen Paare, das allgemein durch seine Kleidung und Haltung Aufsehen erregte. Die zärtlichste, innigste Liebe verband die Geschwister, welche in der That Inseparables waren und sich nie von einander trennten. Der große Gelehrte litt an einer wirklich außerordentlichen Zerstreutheit und war trotz seines Geistes in allen praktischen Verhältnissen des Lebens ein wahres Kind, so daß er ohne seine Schwester keinen Schritt thun konnte. Sie sorgte mit bewundernswürdiger Hingebung und Aufopferung für sein Hauswesen, für seine Nahrung und Kleidung und begleitete ihn auf allen seinen Spaziergängen. Eines Tages hatte Neander es gewagt, ohne Wissen seiner Schwester ein neues Paar Beinkleider anzuziehen und die alten abzulegen. Während er nach der Universität ging, um daselbst sein Collegium zu lesen, fand seine Schwester die abgelegten Hosen ihres Bruders in dessen Studirstube. Sogleich schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, daß der zerstreute Gelehrte dieses nothwendige Kleidungsstück vergessen und als Sanscülotte ausgegangen sei. Sie beschloß ihm nachzueilen, nachdem sie die zurückgelassenen Beinkleider unter ihrem Tuche verbarg. Athemlos stürzte sie nach der Universität und ließ durch einen gefälligen Studenten ihren erstaunten Bruder aus dem Hörsaale herausrufen, um ihm die vermeintlich vergessenen Beinkleider verschämt zu überreichen.

Neander’s Zerstreutheit war so groß, daß er einmal in Gedanken [623] mit dem einen Fuß auf dem Trottoir ging, während er den andern im Rinnstein nachschleppte, indem er einem ihm begegnenden Freunde klagte, daß er plötzlich lahm geworden sei. Ein andermal beschloß er seine bisherige Wohnung aufzugeben, weil sie ihm von der Universität, wohin er sich täglich begeben mußte, zu entfernt lag. Er wandte sich zu diesem Behufe an den ihm befreundeten Professor Steffens, der ihm eine ganz nahe, seinen Wünschen vollkommen entsprechende Wohnung verschaffte. An dem Tage, wo Neander dieselbe bezog, holte ihn Steffens nach dem Collegium ab, aus Furcht, daß der zerstreute Freund den Weg verfehlen möchte. Unglücklicher Weise hatte Steffens noch eine Besorgung in einer entlegenen Straße zu machen, wohin ihn Neander im eifrigen Gespräche begleitete. Nach einigen Wochen erkundigte sich Steffens, wie er mit seiner Wohnung zufrieden sei. Zu seinem Erstaunen beklagte sich Neander, daß er jetzt noch weiter nach der Universität zu gehen habe, als von seiner früheren Wohnung aus. Bei genauer Nachforschung ergab sich, daß er denselben Umweg, den er zufällig damals mit Steffens gemacht, täglich wiederholte und über jene entfernte Straße nach der Universttät in seiner Zerstreutheit nach wie vor gegangen war.

Derselbe Mann aber, der im gewöhnlichen Leben sich wie ein Kind leiten ließ, nahm in der Wissenschaft nicht nur den ersten Rang ein, sondern zeigte auch bei mehr als einer Gelegenheit eine seltene Charakterfestigkeit und den Muth der Ueberzeugung. Als die preußische Regierung damit umging, das „Leben Jesu“ von David Strauß zu verbieten, und zu diesem Zwecke das Gutachten des berühmten Theologen forderte, erklärte sich Neander trotz seiner wahrhaft christlichen Gesinnung und seiner großen Frömmigkeit gegen jede derartige Beschränkung der Wissenschaft und der freien Forschung als dem Geiste des Protestantismus widersprechend und verfocht sein Urtheil mit solch schlagenden Gründen, daß die Regierung von ihrer beabsichtigten Maßregel Abstand nahm.

Nicht minder originell wie Neander war seine Schwester Johanna, die eben so viel Geist als liebenswürdigen Humor besaß. Sie war keineswegs eine pietistische Kopfhängerin, obgleich sie die religiöse Richtung ihres Bruders vollkommen theilte; sie liebte Scherz und Witz und gefiel sich in der Gesellschaft geistreicher Männer und Frauen. Zu ihren näheren Freunden zählte sie Männer wie Chamisso, Varnhagen, Sieveking, Carl Mayer etc. Gern neckte sie die jungen Theologen, welche sich bei ihrem wahrhaft frommen Bruder durch pietistische Reden, Augenverdrehen und Muckerwesen zu empfehlen suchten, indem sie plötzlich die Frage an sie richtele: „Lieber Herr Candidat! Haben Sie auch eine Braut?“ – Einen jungen anmaßenden Mann, der über ihre Vaterstadt Hamburg sich in absprechender Weise äußerte, unterbrach sie mit den Worten: „Ach, was wissen Sie von Hamburg!“ – Als derselbe darauf entgegnete, daß er selbst in Hamburg geboren und erzogen sei, rief sie rasch: „Geboren, das mag sein, aber erzogen sind Sie nicht.“ Von demselben Mann sagte sie, die menschenfreundlichste Handlung seines Lebens sei, daß er sich nie verheirathet habe.

Als ein sehr langweiliger Herr von ihr Abschied nahm, indem er ihr mittheilte, daß er eine Reise zu seinem Vergnügen antreten wollte, sagte sie: „Er irrt sich, denn er reist nur zu meinem Vergnügen.“ Bei der großen Revue, welche zu Ehren des Kaisers von Rußland in der Nähe von Berlin abgehalten wurde, war auch sie mit einigen Damen ihrer Bekanntschaft hinausgefahren, um dem Schauspiele beizuwohnen. Im Gedränge sprang ein Mann aus dem Volke auf ihren Wagen und pflanzte sich ungenirt so vor ihr und ihren Begleiterinnen hin, daß ihnen jede Aussicht benommen wurde. Ruhig wandte sie sich an den unwillkommenen Gast mit der komischen Frage: „Glauben Sie etwa, wir wären nur deshalb heute so früh aufgestanden und ausgefahren, um Sie anzusehen?“ Der Mann mußte über diese naive Frage lachen und verließ den Wagen sogleich, indem er sich wegen seiner Ungezogenheit höflich entschuldigte.

Nach dem Tode des geliebten Bruders zog sich Johanna Neander gänzlich von der Welt zurück, sie verließ ihre bisherige Wohnung und zog nach einer am Hallischen Thore gelegenen Straße, um dem Kirchhof und seinem Grabe näher zu sein. Seitdem legte sie bis zu ihrem Ende nicht mehr die dunklen Trauerkleider und ihre schwarze Schnebbenhaube ab. Nie mehr erschien sie unter den Linden und im Thiergarten, wo sie täglich am Arme Neander’s ihren gewohnten Spaziergang gemacht hatte. Sie lebte nur noch in der Erinnerung an den Verstorbenen, mit dessen Portraits und Büsten ihr Zimmer ausgeschmückt war. Wohin man sein Auge richtete, sah man nur Bilder und Reliquien des Verewigten. Vier Jahre noch lebte sie voll Sehnsucht nach dem unendlich geliebten Bruder. Als sie erkrankte, sprach sie beständig in ihren Fieberphantasien nur mit ihm, sie sah ihn vor sich und redete ihn an, als ob er noch am Leben wäre. Ihre Nichte machte sie auf ihre Täuschung aufmerksam, indem sie ihr zurief: „Besinne Dich doch! er ist ja schon vor vier Jahren gestorben, nachdem Du ihn wie ein Engel gepflegt hast.“ – „Wie wäre das möglich?“ fragte die Kranke. „Wie hätte ich es wohl so lange ohne meinen Bruder aushalten können? Ich hätte ja darüber den Verstand verlieren müssen. Nein, ich habe nie ohne ihn gelebt!“ – Sie starb und wurde neben ihrem Bruder beerdigt, im Tode wie im Leben mit ihm vereint, das rührendste Beispiel treuester Schwesterliebe, wie sie nur noch selten in der Gegenwart gefunden wird. Auf dem Kirchhof vor dem Hallischen Thore ruht das originelle Paar, der berühmte Gelehrte und seine liebenswürdige Schwester, die gewiß auch im Himmel und unter den Seligen seine zaghaften Schritte leitet und für ihn sorgt.


Die Lage der Büreaubeamten. Während unter dem eminenten Aufschwunge, welchen in Folge der vielfachen Erfindungen der neueren Zeit und bei den total veränderten Verkehrsverhältnissen die Industrie in der gegenwärtigen Zeit genommen hat, die äußere Lage des Bürgers im Allgemeinen eine weit behäbigere geworden ist, während in Folge der fast überall durchgeführten Separationen und einer intelligenteren Cultivirung des Ackers der Bodenwerth seit zwei Jahrzehnten fast um das Doppelte gestiegen ist, und bei der stärker gewordenen Nachfrage auch das Angebot der ländlichen Erzeugnisse eine bedeutende Steigerung im Preise erfahren hat, während unter diesen veränderten Zeitverhältnissen die Lage des Bauern im Ganzen bedeutend sich gehoben hat, während selbst der Tagelohn des Handarbeiters nicht unbeträchtlich gestiegen ist, – hat sich die Lage der Beamten nicht allein nicht verbessert, nein, sie ist weit, weit schlechter geworden, als ehedem. Obschon aber diese unerhörte Lage der Beamten ein öffentliches Geheimniß ist, wagt Niemand frei und offen darüber zu sprechen, und es mag wohl sein, daß den Beamten selbst ein gewisses Zartgefühl zurückhält, über Zustände zu sprechen, bei deren näherer Erörterung Fragen der delicatesten Natur sich nicht vermeiden lassen.

Wir wollen nicht bestreiten, daß die Quelle der bekannten und auffallenden Erscheinung, daß der Drang nach Reform auf poetischem und socialem Gebiete gerade aus der Beamtenwelt am stärksten hervortritt, zum größeren Theile in einer hervorragenderen Geistesbildung und einer idealeren Richtung der Seele ihren Ursprung nimmt; dennoch glauben wir, daß die durch anhaltendes Elend in allen Schichten der Beamtenwelt hervorgerufene tiefe Mißstimmung ein nicht minder treibendes Motiv hierzu gebildet hat.

Fassen wir einmal die Lage der Beamten näher in das Auge und richten wir unseren Blick zunächst auf die Büreaubeamten der Justiz – die Secretaire und Actuarien.

Nachdem er eine Reihe von Jahren unentgeltlich und dann gegen eine geringe Remuneration gearbeitet hat, erhält der Referendarius, Auscultator oder Actuarius dann, wenn er sich dem Schwabenalter nähert, eine Secretair-Stelle; die Secretaire beziehen einen Gehalt von 450–650 Thlr., avanciren aber langsam, und nur wenige erreichen daher die höchste Gehaltsstufe.

Angekommen an dem längst und heiß ersehnten Ziele führt nunmehr der neucreirte Secretair die Verlobte seines Herzens heim – und wir glauben, daß gerade hier derartige Verbindungen noch am häufigsten vorkommen – aber von diesem Augenblicke ab datirt auch sein trauriges Geschick, welches sich als ein dunkler Faden durch seine ganze künftige Lebensbahn hindurchzieht, wenn er nicht kinderlos bleibt oder eigenes Vermögen besitzt.

Will er seinen Kindern eine entsprechende Ausbildung gewähren, so muß er sich persönlich die schwersten Opfer auferlegen; kommen aber Krankheiten in seiner Familie vor, oder brechen gar noch andere Unglücksfälle über sein Haus herein, dann ist er auf immer derangirt und vermag sich finanziell nimmer wieder zu erheben. Die drückende Noth, in welcher sich eine solche Familie befindet, übersteigt in der That alle Grenzen. Während sie nach außen hin bemüht sein muß, ihre bejammernswerthe Lage zu verbergen, während in der äußeren Erscheinung Alles aufgeboten wird, um dieses Geheimniß auf das Strengste zu wahren, während die Familie selbst den gesellschaftlichen Cirkeln nicht ganz fern zu bleiben vermag, während auf diese Weise Alles geschieht, um den Schein des Wohlbefindens nach außen hin zu retten – wie elend, wie traurig ist es um das Innere des Hauses bestellt!

Dienende Personen können nicht gehalten werden, und selbst die gebildete Frau muß mit ihren zarten Händen sich den gröbsten Handverrichtungen unterziehen, sie muß des Nachts bei den kranken Kindern wachen, die Kleidungsstücke der Kinder anfertigen und ausbessern, die Stuben reinigen, die Küche besorgen, und es gehört in der That der ganze sittliche Muth einer deutschen Hausfrau dazu, um unter diesem traurigen Loose nicht zu erliegen.

Um Unterstützung zu bitten, gilt unter den Standesgenossen für unehrenhaft, und um dem bittersten Nothstande vorzubeugen, benutzt so mancher Beamte die Nachtzeit, um durch literarische oder sonstige Nebenbeschäftigung einen kleinen Nebenverdienst sich zu sichern. Doch der Blick auf die ungewisse Zukunft seiner Kinder, die Frage über die Lage seiner Familie nach seinem Tode beunruhigen seine Seele unaufhörlich; denn die Pension, welche er aus seinen Gehaltsabzügen seiner Frau zu sichern vermag, reicht noch nicht aus, den nothdürftigsten Unterhalt der Wittwe zu bestreiten, die noch in jugendlichem Alter stehenden Kinder werden nach seinem Tode bei gutwilligen Verwandten oder Gott weiß wo untergebracht, die älteren Söhne aus ihren mit Erfolg eingeschlagenen Lebensbahnen herausgedrängt, die älteren Töchter aus der mütterlichen Pflege in eine öde, liebeleere Welt hinausgestoßen, um sich umringt von Gefahren unter fremden Leuten ihr Brod zu verdienen.

Ja der Fluch dieses elenden Daseins reicht oft noch über das Grab hinaus, wenn der unglückliche Mann bei seinem Tode Schulden hinterlassen hat, welche seine arme Wittwe nicht zu bezahlen vermag. Unter Spott und Hohn schließt sich das geöffnete Grab über der Hülle des armen Mannes. Gesenkten Hauptes verlassen dasselbe die Hinterbliebenen und fliehen vergebens vor dem frechen Blicke des Spötters, der selbst den heiligen Schmerz nicht scheut!

So steht es mit dem Secretair, nicht minder beklagenswerth ist die Lage der Actuarien. Indem diese mit einer guten Gymnasialbildung ausgerüsteten jungen Männer eine lange Reihe von Jahren hindurch für 16–20 Thaler monatlichen Gehalt arbeiten, rangiren sie kaum mit dem gewöhnlichsten Tagearbeiter, der in mannigfacher Beziehung weit glücklicher zu preisen ist. Während die Vorbildung des Actuar seine letzten Mittel absorbiert hat, während er stets in anständiger Kleidung erscheinen muß, während er acht Stunden des Tages die dumpfe Luft des Bureaus athmet, hat der Arbeiter auf seine Vorbildung wenig oder gar keine Kosten verwendet, fragt kein Mensch nach der Beschaffenheit seiner Kleidung, und in der freien frischen Luft, welche er täglich in vollen Zügen einathmet, schöpft er immer und immer wieder neuen Lebensmuth.

Kommt nun aber – was leider nur zu häufig der Fall – ein Actuar auf die unselige Idee, ein armes Mädchen zu heirathen, dann entrollt sich vor unseren Blicken ein Bild des Elendes, wie es kaum größer gedacht werden kann. Man muß sie gesehen haben, die Frau dieses Beamten, wie [624] sie mit den Kindern auf den Armen und unter dem Geschrei nach Brode dem unglücklichen Manne in das Bureau gefolgt war, wie er unter dem Drucke des Moments in seinem Arbeitssessel zusammenbrach und wie endlich sein tiefer, brennender Schmerz in heiße Thränen sich ergoß!

In die dunkelsten Farben müßte man die Feder tauchen, um ein solches trauriges Bild zu zeichnen; selbst das vollendetste Gemälde – wie weit würde es hinter die Tragik der Wirklichkeit zurücktreten müssen! Und nun denke man sich einen solchen Mann auf dem Posten eines Sportelerhebers. Einen Finger nur braucht er zu rühren, um den Hunger seiner Familie zu stillen, welch ein sittlicher Muth gehört dazu – ein treuer Mensch zu bleiben!

Ist es unter solchen Umständen ein Wunder, wenn alljährlich die Zahl der pflichtvergessenen Beamten größer wird? ist es ein Wunder, wenn andere wieder in dumpfer Verzweiflung hinsiechen, weil ihre Kraft gebrochen ist, weil sie kein Mittel, keine Waffe in ihren Händen fühlen, um den über sie hereinbrechenden Schicksalsschlägen Trotz zu bieten? In der That, es ist unbegreiflich, daß sich noch Menschen für diese traurige Laufbahn finden, und wir können es nur als eine erfreuliche Erscheinung begrüßen, daß der Mangel an jüngeren Actuarien schon jetzt immer fühlbarer wird.

Zeit ist es bei Gott, daß dieser traurigen Lage der Bureaubeamten ein Ende gemacht wird, und es ist wirklich eine räthselhafte Erscheinung, daß in unserem Zeitalter der Humanität Zustände andauern, die der Menschlichkeit Hohn sprechen und unter deren fortgesetztem Drucke ein sonst so ehrenwerther Stand dem sittlichen Ruin entgegengeht.

J. S.


Deutsche Nationalfeier der Völkerschlacht bei Leipzig. Während in manchen Schichten der Leipziger Einwohnerschaft noch heute der Eindruck des großen Turnfestes so nachhaltig wirkte, daß sie einer Feier der fünfzigjährigen Wiederkehr der Schlachtentage nicht ohne Bedenklichkeit entgegenblickten, und während das Leipziger Festcomité noch über die Art der Feier berieth, deren Theilnehmerschaft sich kaum weit über die Dörfer des Schlachtengebietes ausgedehnt haben würde, erhebt plötzlich der Entschluß der ersten Stadt Deutschlands das Fest zu einem nationalen, das seine Gäste aus allen Städten des gesammten Vaterlandes abermals nach Leipzig berufen soll.

Vier Männer, die Jeder, der in unseren Tagen weiß, was er soll, wenn er sich einen Deutschen nennt, mit stolzem Herzen begrüßt, die Berliner Stadträthe Dunker und Löwe und die Stadtverordneten Delbrück und Professor Dr. Virchow, brachten am 12. Septbr. vom Magistrate von Berlin an den Stadtrath von Leipzig die Aufforderung: „mit ihm gemeinsam die erforderlichen Schritte einzuleiten, daß die fünfzigjährige Wiederkehr des ruhmvollsten Tages der deutschen Geschichte auf den Schlachtfeldern Leipzigs durch ein allgemeines nationales Fest in einer seiner würdigen Weise gefeiert werde.“ In vollem Einverständniß erließen demgemäß der Rath der Stadt Leipzig und der Magistrat der königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin unterm 14. September zunächst an 107 deutsche Landes- und Bezirkshauptstädte die Einladung: „sich mit ihnen zu verbinden, um am 18. und 19. October dieses Jahres auf dem Leipziger Schlachtfeld ein Volksfest im höchsten Sinne des Wortes zu veranstalten.“

Ehe unsere Leser dieses Blatt in die Hand bekommen, ist bereits (in der Sitzung am 23. Septbr. auf dem Rathhause zu Leipzig) aus den Abgesandten der deutschen Städte der permanente Festausschuß ernannt, welchem nun in Gemeinschaft mit dem in Leipzig bestehenden Local-Festcomité die Ausführung des Ganzen obliegt.

So steigt nun abermals die Sonne eines nationalen Festes vor uns auf, dem jedes deutsche Herz mit höherer Regung entgegenschlägt. Diese höhere Regung ist hervorgerufen durch die immer mächtiger hervortretende Sehnsucht der Deutschen nach einem Vaterlande! Die Dynastiensouverainetätssucht hat manchem Begriffe Gewalt angethan, keinem aber mehr, als dem des heiligen Wortes „Vaterland“. An der Denksäule der 30,000 Bayern, die in Rußland für napoleonisches Weltbeherrschergelüste zu Grunde gegangen sind, steht geschrieben: „Auch sie starben für’s Vaterland.“ Für welches? fragt erstaunt der Deutsche. „Für das bayerische!“ – Das neue Fest zu Leipzig wird es mehr als alle bisherigen deutsch-nationalen Feste lehren, daß jeder rechte Mann mit wärmstem Herzen an seiner preußischen, an seiner bayerischen, sächsischen, wie an seiner lippischen und reußischen Heimath hängen kann, aber daß über Alles ihm gehet die Liebe zu dem Vaterlande, das Deutschland ist! – Vergeblich haben sie fünfzig Jahre lang daran gearbeitet, uns jede einzelne Heimath zu einem besondern Vaterland zu machen; es konnte nicht gelingen, weil keine Macht, keine List, keine Zeit die Sehnsucht aller Deutschen vertilgen kann, die Sehnsucht aus der Heimath nach dem Vaterlande!

Fr. Hfm.


Beitrag zum polnischen Pitaval. Ein alter Leser der Gartenlaube im Königreich Polen erzählt uns nachfolgende Geschichte und steht uns mit seinem ehrlichen Namen für deren actenmäßige Wahrheit ein. In der Woiwodschaft K. hatte das Criminalgericht einen Verbrecher zum Galgen verurtheilt und ließ an einem schönen Herbstnachmittag die Execution ausführen. Längst ist die landübliche Zuschauerschaft verlaufen, als ein polnischer Gutsbesitzer aus der Stadt nach Hause fährt. Der Weg führt ihn am Galgen vorüber, und da sieht er, wie der Gehenkte sich noch mit den Füßen bewegt. Rasch entschlossen befiehlt er seinen Leuten, den Menschen abzuschneiden und auf den Wagen zu laden. Kutscher und Bedienter sind bald mit dieser Arbeit fertig, und bei dem tüchtigen Stoßen und Rütteln des Wagens kommt der Mann des Galgens bald wieder zum Leben. Auf dem Gute angelangt, läßt der Edelmann seinem sonderbaren Gaste Abendbrod und dann ein Nachtlager anweisen. In derselben Kammer lagen die Einkäufe, die der Gutsherr aus der Stadt K. mitgebracht, auf einem Tische, und darunter ein Paar Halbstiefeln von grünem Saffian, wie sie damals zur Nationaltracht des polnischen Adels gehörten.

Bald schlief Alles im Hause, nur unser Galgenvogel fand keine Ruhe. Mitten in der Nacht steigt er auf, zieht die grünen Stiefel an, schleicht sich aus der Wohnung in den Pferdestall und will eben mit ein Paar Pferden das Weite suchen, als er vom Gutsnachtwächter erfaßt wird. Dieser Sicherheitsmann schlägt den Flüchtling mit dem Wächterspieß so kräftig über den Kopf, daß er zu Boden sinkt, und wie er das Werk seiner Hände nun näher untersucht, findet er, daß er Einen todt geschlagen hat. Sofort meldet er diesen Vorfall dem Beamten des Gutes, und dieser meldet ihn dem Gutsherrn, der, ohne viel zu fragen, befiehlt, den Todten wieder an den Galgen zu hängen, von dem er ihn genommen hatte. Alles dies wurde noch in der Nacht glücklich besorgt, nur an die grünen Stiefel hatte in der Eile Niemand gedacht, und das war schlimm, denn kaum hatte der nächste Morgen einige Gutsbesitzer desselben Wegs hergeführt, als diese nach K. zur Polizei stürmten, um wegen einer entsetzlichen Verhöhnung des gesammten polnischen Adels Klage zu erheben. Eine Commission fährt zum Galgen, findet in der That die grünen Adelsstiefel an den Füßen des Gehenkten, zieht sie diesem sofort ab und nimmt sie mit nach K. Hier wird der Oberälteste der Schuhmacherzunft von der Polizei citirt und erhält den Befehl, das ganze Handwerk zusammenzurufen, und nachdem die Schaar der ehrsamen Meister vom Pfriem zusammengebracht ist, wird ihnen das entehrte Stiefelpaar vorgezeigt und der Verfertiger desselben aufgefordert, sich zu nennen. So trat denn der richtige Mann hervor und war auch im Stande, als seinen Kunden den betreffenden Gutsbesitzer zu bezeichnen. – Die einfache Aufklärung, die dieser vor der Polizei gab, genügte bei Weitem nicht zur Beruhigung des empörten Stolzes, die Klage ging an die höheren Gerichte über, und jenen Gutsbesitzer traf eine äußerst kostspielige Strafe, nicht weil er ein dem Tode verfallenes Menschenleben unbefugterweise zu retten gesucht, und auch nicht, weil auf seinem Gute an dem Geretteten ein Todtschlag begangen worden, sondern Alles nur wegen abscheulicher Schändung der grünsaffianenen Nationalstiefelchen des polnischen Adels.


Zur Nachricht!

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

[Anm. WS: weiterer Text nicht transkribiert, enthält summarische Vorankündigung der im 4. Quartal zu erwartenden Beiträge]


Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Für gewisse Torturen waren besondere Scharfrichtereide gebräuchlich.
  2. De Applicatione tormentorum, besonders vom Schnüren etc. Hannover 1754 bei Richter.
  3. Im siebenjährigen Kriege kamen bei der österreichischen Armee Husarenklingen in Gebrauch, welche ebenfals mit Quecksilberrinnen versehen waren.
  4. Dergleichen Klingen sind sehr selten geworden. In der Nürnberger Sammlung befinden sich auch neuere Richtschwerter mit Scheiden.
  5. Solche Schwerter zeigen einen Daumenring und haben zuweilen das Paternoster aufgeätzt.
  6. Dieselbe Ceremonie fand auch bei den gemauerten Hochgerichten, den sogenannten Rabensteinen statt, oder wenn auf gemauerte Unterlagen die höheren Balkengerüste gesetzt wurden.
  7. Diese Ceremonie stammt aus England. „Dorten,“ sagt ein alter Berichterstatter, „müssen die Scharfrichter Standespersonen richten, wobei sie oft masquiret sind, und bitten sie um Verzeihung.“