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Die Gartenlaube (1865)/Heft 30

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[465]

No. 30.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Balbina.
Sittenbild aus unsern Tagen.
Von Franz Hedrich.
(Fortsetzung.)

„Ist es da drinnen gar so schön, Michel?“ fragte Balbina’s Mutter den aus der Kapelle heraustretenden alten Bauer.

„Nachbarin,“ erwiderte der alte Michel in Ekstase, „das ist schon prächtig. Der Hauptaltar, dann die Schnitzerei – das ist sehr schön, aber gefällt mir lange nicht am Besten! Denn sieh, geschnitzte Engel sieht man alle Tage, aber die Malerei auf der Hinterwand ist so ausgefallen, daß Du meinst, Du kannst auch greifen, was Du siehst! Das ist überaus künstlich, und sobald Du eintrittst, merkst Du schon, daß es nicht vom Schmierpeter ist! Da wirst Du die Augen aufreißen!“

„So?“ rief die Alte hochgespannt. „Ein so schönes Bild?“

„Weißt Du, Oberangerin,“ gab Michel zur Antwort, „eigentlich ein Bild ist es nicht. Die Sache ist so. Wie die Hinterwand klafterhoch und -breit hinläuft, ist sie von der Malerei ganz bedeckt. Wenn wir es doch am Ende ein Bild nennen wollen, so ist es eines, das keinen Rahmen hat, aber auch keinen braucht! Du wirst Dein Wunder daran sehen! Wenn es oben auf der Dreikönigsspitz aufgehängt wäre, so ginge ich mit meinen alten Beinen hinauf! Also behüte Dich Gott und laß Dich die Mühe nicht reuen!“

Es war Thatsache, daß das Wandgemälde, von welchem die Rede war, das allgemeine Interesse ausschließlich an sich gerissen halle und daher der Wahl des Stoffes, so wie der Ausführung eine künstlerische Leistung zu Grunde liegen mußte, um einen so durchschlagenden Erfolg zu erzielen, wenn auch die Schwärmerei des alten Michel nicht als Maßstab des Kunstwerthes betrachtet werden konnte. Den Beifall des Landvolkes theilten aber auch die Gebildeten, worunter der Hofrath, die höheren Beamten und Geistlichen zu zählen waren. Der Guardian, ein unterrichteter und kunstsinniger Mann, unter dessen Protection das Werk zu Stande gebracht worden war, hielt es sogar für ein großes Meisterwerk.

Das Wandgemälde stellte nämlich das jüngste Gericht in einer ganz selbständigen und gewiß geistvollen Auffassung vor, und zwar nicht den Moment der Scheidung der Seligen und der Verdammten, sondern lange Zeit, vielleicht Jahrhunderte darnach.

Der Himmel, welcher das oberste Drittel des Raumes einnahm, war, allen Abbildungen entgegen, welche ihn in seligem Selbstgenügen oder gar in Wonne schwelgen lassen, von Trauer erfüllt. Es war hohes, himmlisches Mitleid mit den ehemaligen Mitmenschen, welche nun für ewig in die Hölle gestürzt waren. Dieser Gedanke vereitelte die Seligkeit der Auserwählten, und selbst Gott Vater wendete sein ehrwürdiges Greisenhaupt bei Seite und schien die Pein seiner unerbittlichen Gerechtigkeit zu fühlen.

Der Himmel war sonach der Reflex der Hölle, auf welche der Künstler die ganze Kraft seines Talentes geworfen hatte und die sich auch auf einem doppelt größeren Raume ausbreitete. Hier war ein lebendiger Jammer, eine künstlich genährte Verzweiflung, ein psychologischer Reichthum aller Schmerzen, welche das Herz empfinden kann, eine ganze Stufenleiter innerer Qualen zu erblicken. Um zwei Hauptgruppen herum reihte sich eine Fülle kleinerer Scenen, meist pathetischer, nur selten humoristischer Natur.

Bei der einen Gruppe, welche reich an Figuren war, sprang ein König mit seinem Gefolge in die Augen. Er hatte einen brennenden Pechkranz auf dem Haupte und die Flammen bildeten seine Krone. Die Hände waren am Rücken gebunden, und er stand im geschmolzenen Silber erpreßter Steuern. Vor ihm gaukelten einige als Hofschranzen verkleidete häßliche Teufel, welche ihn unter Grimassen tiefster Devotion verhöhnten und sogar anspieen. Zu seinen Füßen spielten einige noch unausgewachsene, kinderähnliche Teufelchen mit seinem Reichsapfel Fangball. Einige Minister, im Leben gewöhnt sich mit der Unverantwortlichkeit der Krone zu decken, waren auf diesem Platze nicht so glücklich, sich hinter dem Rücken des Monarchen vor den Griffen der Ungeheuer sicher zu stellen. Einer derselben ließ sich in feigster Angst wie ein Kautschukmann beliebig zusammendrücken; eine andere Excellenz hielt ein Teufel im linken Arm, wie eine Baßgeige, welcher sie auch frappant ähnlich sah, während seine Rechte mit dem Behagen eines passionirten Musikers dieselbe über den Rücken mit einem Schwerte strich, eigentlich sägte. Der König, von solchen Excessen umgeben und von eigenen Qualen gepeinigt, stand dennoch unverzagt da, das Gesicht mit einem knirschenden, blasphemischen Ausdruck gegen den Himmel gekehrt, auf welchen er im Leben so sicher gerechnet und der ihn nun so im Stiche ließ.

Bei der anderen Gruppe sah man einen See, über welchem eine Unzahl auf das Dichteste aneinandergedrängter Weiberköpfe in Hohlkugelform hoch in der Luft schwebte und gleichsam das Firmament bildete. Es waren Köpfe gefallener Mädchen, von Sünderinnen und Verbrecherinnen aller Art, mit dem abwechslungsreichsten Ausdrucke von Verzweiflung und Entsetzen und Reue, meist jung und schön. Aus aller Augen perlten Thränentropfen [466] hervor, welche, unten in einem weiten Becken aufgefangen, jenen Thränensee bildeten. Dieser See half eine von allen Seiten von unzugänglichen Felsen umringte, kerkerartige Einöde abschließen. Das durchweg nackte Gestein und das grünliche, durchsichtige Wasser, an dessen Ufer wenig blattloses Krüppelholz stand und einige Legföhren hinkrochen, zeigten an, daß dieses Terrain in hoher, frostiger Bergregion gelegen war.

Diese Landschaft war der grauenvolle Aufenthalt eines jungen, reizenden Weibes in poetisch ausgeschmückter Bauerntracht. Es floh in wildester Eile vom Ufer in den Hintergrund hin, die eine Hälfte des lieblich sanften, seelischen, aber von Entsetzen entstellten Gesichtes zurückwendend. Es war, als wollte es noch einmal zurückschauen, ohne jedoch den Muth und die Kraft dazu zu finden, denn dahinter aus dem See blickten die Füße eines Kindes oder Säuglings hervor, welcher hineingeworfen worden war und zu Grunde sank. Ueber dem Kopfe des schönen unglücklichen Weibes und über dem Haare, das sich auf der Flucht ganz gelöst hatte, schwirrten phantastische Insecten, welche das Opfer gleich wüthenden Hornissen und Bremsen verfolgten und die schrecklichen Gedanken und Gewissensbisse symbolisirten.

Um diese beschriebenen drei Hauptgruppen herum schlang sich noch ein reicheres Detail kleinerer Scenen, welche gleichfalls innerhalb des Ideenkreises und Fassungsvermögens des Landvolkes lagen und hauptsächlich deshalb ihre sofortige Wirkung hervorbrachten.

Der alte Nachbar Michel war schon eine gute Weile fortgewesen, ehe es Balbina’s Mutter gelungen war, an die Schwelle der Kapelle zu treten, oder vielmehr hineingeschoben und hineingestoßen zu werden.

In diesem Augenblicke erschallte aus dem Hintergrunde der Kapelle ein geller, das Mark durchdringender Weiberschrei, dem das laute Gemurmel der versammelten Menge folgte. Gleichzeitig war eine Bewegung im Innern des Kirchleins entstanden, die Leute mußten zurückweichen und Platz machen. Auch die alte Frau war wieder in’s Freie bei Seite geschoben worden. Bald darauf trugen vier Männer eine Frauensperson hinaus.

Die alte Frau, die auf ihrem Platze nichts sehen konnte und nur gehört hatte, was vorging, fragte einen vor ihr stehenden großen Burschen mit athemloser Hast:

„Es wird doch nicht Balbina sein?“

„Die ist es schon,“ war die kurze Antwort.

Die alte Frau stürzte blindlings nach, erreichte aber den Zug erst in des Küsters Hofe, wo ein Brunnen stand, in dessen Nähe Balbina auf einen Rasen soeben hingelegt worden war.

Das Aussehen des Mädchens war erschreckend; es war bleich, entfärbt, ein wahrhaftes Wachsgesicht, wie todt.

.Du darfst Dich nicht so ängstigen,“ sagte einer der Männer, die Balbina getragen hatten, zu deren Mutter, welche unter tiefen Wehklagen alle Anstrengungen machte, ihr Kind zur Besinnung zurückzuführen. „Bei dem Gedräng’ und der Hitze ist nichts leichter! Während des Hochamts ist die Müllerin gerade so hingefallen. Sie kommt schon zu sich.“

Dieses Prognostikon traf ein, hatte aber ein besorgtes Mutterherz zu lange auf sich warten lassen. Endlich regte und rührte sich Balbina, hatte die Augen aufgeschlagen und wurde mit der Mutter Hülfe in eine sitzende Stellung gebracht, in welcher sie tiefe Athemzüge that und eine Weile mit gesenktem Kopfe sprachlos verblieb. Mit dem Eintritt dieses Moments hatten sich die Neugierigen, die sich angesammelt, entfernt und Mutter und Tochter allein gelassen.

„Mutter,“ sagte Balbina mit schwacher Stimme und düsteren Blicken, „das thut wohl! Ja, daheim ist daheim! Ich habe es vorhergesagt, wie schrecklich mir unter den Leuten ist. Du bist schuld!“

„Hätt’ ich das vorher gewußt!“ seufzte die Mutter.

„Aber,“ sagte Balbina, plötzlich sich ringsherum scharf umsehend, „wir sind ja nicht zu Hause! Wo hast Du mich wieder hingeführt?“

„Sprich nicht so viel, liebes Kind,“ bat die Mutter, die Tochter zärtlich an sich drückend. „Du bist noch voll Schwindel! Halte Dich nur ein Weilchen ganz ruhig, dann geht Alles vorüber!“

„Nein,“ rief Balbina, indem sie sich wie ein Blitz erhob. „Ich bin nicht so schwach und bleibe nicht, ich will nach Hause!“

Mit den letzten Worten im Munde eilte sie schon zu der Thür, die aus dem Hofe in’s Freie führte, hinaus, ohne sich von den Rufen der Mutter zurückhalten zu lassen. Draußen aber, sobald sie die Menschenmenge erblickt hatte, prallte sie zurück und sagte, auf die Mutter zueilend, ganz bestürzt:

„Die Leute! Da kann ich nicht durch und nicht vorbei! Lieber hier in diesen Brunnen, als unter die Leute! Ich müßte mich zu Tode schämen!“

„Fahre nicht gleich so auf,“ beschwichtigte sie die Mutter. „Das ist ja sonst nicht Deine Art, aber daraus siehst Du, daß Du Dich noch still verhalten mußt, damit Dein Blut aus seiner Unruhe kommt. Wir wollen zum Hinterpförtchen hinausgehen, wenn Du es willst. Mir ist es ja recht. Wir wollen uns führen, Balbinchen!“

Sie nahm die Tochter am Arm, und Beide gingen auf einem Umwege rückwärts hinaus.

„Warum hättest Du Dich zu schämen?“ brach die Mutter das bisherige Schweigen, als sie auf einen einsamen Feldweg gekommen waren. „Eine Ohnmacht ist ja keine Schande und kein Verbrechen! Das kann auch der Frau Hofräthin und sogar der Kaiserin geschehen.“

„Der Feldweg ist schmal,“ sagte Balbina darauf. „Laß mich los!“

Sie entzog der Mutter ihren Arm und ging voran, erst in ziemlich gleichem Schritte, bald aber schneller und immer schneller, ohne auf die Zurufe der Mutter zu hören, und bald war sie auf dem beholzten Fußsteig, der die Halde hinaufführte, entschwunden. Die Mutter erblickte sie nicht eher wieder, als bis sie zu Hause angekommen war.

Balbina war schon lange in ihrer Kammer, die im oberen Stockwerk lag, als die Mutter dort eintrat. Das Mädchen war noch in ihrem ganzen Sonntagsstaat, ohne ein einziges Stücklein abgelegt zu haben.

„Wo willst Du denn hin?“ fragte die Mutter, darauf anspielend, mit erzwungenem Lächeln, während sie die Tochter ängstlich beobachtete.

„Ich danke dem Schöpfer, daß ich hier bin!“ sagte Balbina und gleichzeitig brach ihre tiefe Aufregung ganz hervor. „Von hier bringt mich Niemand mehr heraus! Ich muß dableiben! Ich kann mich in diesem Leben nicht mehr öffentlich zeigen! O, diese Schande – ach, wär’ ich gestorben, ehe ich so Etwas erlebt!“

„Aber, liebe Närrin,“ wollte die Mutter ihr zureden, als die Tochter wieder sagte: „Hast Du es nicht selbst gehört? Alles hat auf mich gedeutet, mich groß angeschaut, laut und heimlich sich es gesagt! O, stelle Dich nicht so, Mutter! Wo hättest Du die Ohren gehabt? ‚Balbina ist es,‘ schrie Alles um mich her wie aus einem Munde! ‚Balbina ist es,‘ das sagte man ohne Ende! Ja, es ist wahr, ich bin es! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Wer hat mich an die Wand einer Kirche für ewige Zeiten so hingemalt? Lange, lange hab’ ich darauf geschaut und nicht geglaubt, daß ich es bin, da aber alle Leute gerufen haben: ‚Balbina ist es!‘ so hab’ ich eingesehen, daß ich nicht blos träume! Ich bin es und ich bin es!“

Sie rang verzweiflungsvoll die Hand, sich zu Boden krümmend.

„Aber nein,“ sagte die Mutter, über den Zustand der Tochter auf’s Höchste beunruhigt, „Du bist es nicht! Kein Mensch hat es gesagt! Niemandem ist es eingefallen, als Dir, weil Du noch im Schwindel redest und durch Dein tolles Nachhauselaufen Dein Blut wieder rebellisch gemacht hast! Ich hätte es ja gehört –“

„Hast Du es denn nicht selbst gesehen,“ sagte Balbina, „und die Aehnlichkeit herausgefunden?“

„Ich habe die Malerei freilich nicht gesehen,“ versetzte die Alte, „denn als ich eintreten sollte, da haben sie Dich, unglückseliges Kind, eben herausgetragen!“

„Dann hast Du es doch gehört,“ sagte Balbina rasch. „Da war schon aller Leute Mund voll davon!“

„Einbildung, nichts als Einbildung,“ erwiderte die Mutter. „Unsere Kuhmagd war auch in der Kapelle. Ich gehe, sie zu rufen und zu fragen!“

„Bleib!“ rief die Tochter. „Ich habe sie bereits gefragt. [467] Sie leugnet es, wie Du, weil sie mir gut ist. O, gäbe der Himmel, daß ich es nicht gewesen wäre! Ich bin es aber, ich bin es! Wenn ich an diese Schande denke, so können sich alle meine Gedanken verkehren und ineinander verwirren!“

„Kein Wunder!“ rief die Mutter jammernd. „Du sprichst im Fieber, Du mußt einen Löffel voll von den Tropfen einnehmen. Wo hast Du die Flasche? Das wird Dich ruhiger machen. Aber noch besser, ich schicke gleich hinunter zum alten Balthasar –“

„Ich will ihn nicht!“ fuhr Balbina ganz schreckenbleich zusammen. „Ich brauch ihn nicht! Willst Du mich todt machen?“

„Also nicht,“ versetzte die Mutter, allen Launen der Kranken nachgebend. „Sei ruhig; er soll nicht kommen, bis Du ihn haben willst!“

„Laß mich allein,“ sprach Balbina, „das hilft mir am Besten. Ich lege mich – ich bin so müde – ein Stündlein Schlaf und mir wird wieder gut werden, so gut, als es sein kann, wenn man in einer Kirche an die Wand gemalt ist!“

Sie taumelte bis an’s Bett und fiel hinein. Die Mutter nahm ihr die Golddraht-Haube und alle lästigen Kleidungsstücke ab, worauf sie sich entfernte, da Balbina inzwischen die Augen geschlossen und sich nicht mehr geregt hatte.

Als die Mutter dann herabgekommen war, sagte sie zur Kuhmagd:

„Sag’ mir, um Gotteswillen, was ist denn mit der Malerei in der Kapelle? Balbina ist wie närrisch!“

„Nichts ist es,“ versetzte die Kuhmagd. „Gar nichts. Ich habe es der Balbina auch schon gesagt. Sie rappelt! Sie rappelt, wenn sie es sagt! Keinem Menschen ist so Etwas in den Sinn gekommen, ich bin lange genug in der Kapelle vor dem Bild dagestanden. Aber, Frau, merkst Du denn nicht, was mit ihr ist? Ich bin jetzt den dritten Sommer hier und habe selbst gesehen, daß Balbina um Himmelfahrt herum jedesmal ganz aus dem Häuschen ist!“

„O, Du hast Recht, Du hast Recht,“ stimmte die Alte klagend ihr bei.

„Sobald aber die Zeit weiter kommt,“ fuhr die Kuhmagd fort, „wird es besser und geht vorüber, und so wird es auch diesmal sein.“

„Gott geb’ es!“ wünschte die Mutter, die Hände faltend. „Gott geb’ es!“

„Die Leute müssen doch Recht haben,“ sprach die Kuhmagd weiter, „wenn sie sagen, daß sie noch immer an den Veit denkt. Es soll gerade Himmelfahrt gewesen sein, als er auf und davon ist.“

„Sehr möglich,“ erwiderte die Frau, „aber an dem Unglück ist nur mein Mann – Gott hab’ ihn selig! – schuld. Er war zu streng, zu hart und konnte den Veit nicht leiden –“

„Nach so langer Zeit,“ bemerkte die Kuhmagd, „sollte es auch schon ruhen. Die gestrige Nacht kann Balbina auch nicht viel geschlafen haben. Ich hörte sie, so oft ich erwachte, über mir herumgehen und sich bewegen.“

„O ich auch, ich auch,“ sagte die Mutter. „Mein Gott, mein Gott! Ein einziges Kind hab’ ich, aber ich weiß nicht, ob ich mehr Sorgen hätte, wenn ich ihrer zehn, wie meine Schwester, hätte!“

Sie hatte sich darauf in die Stube begeben, wo sie sich zu den ersten Bissen zwang, da sie seit dem Morgen Nichts zu sich genommen hatte. Die Nacht war hereingebrochen und Balbina hatte sich in ihrer Kammer noch immer nicht gerührt, wie oft auch die besorgte Mutter heraufgekommen war und an ihrer Thür gelauscht hatte. Der Himmel hatte sich umzogen. Die Wolken gingen zwar noch sehr hoch, weissagten aber den Ausbruch eines Gewitters. Ein wüthender Sturm heulte an den Felswänden, die Bäume auf den Höhen rauschten, wie wilde Wasserfälle.

Die alte Frau hatte lange gewacht, um bei der Hand zu sein, wenn Balbina sich melden oder herunterkommcn sollte, bis ihr auf ein Mal die Augen von selbst zugefallen waren. Es war Mitternacht längst vorüber, als sie plötzlich munter wurde. Ohne Zweifel war sie von den Tritten geweckt worden, welche sie schon im leisen Schlafe mütterlicher Besorgniß durch die Decke hindurch vernommen hatte. Sie griff nach der Oellampe, um sich sogleich hinauf zu verfügen, als in dem Moment die ganze Zimmerdecke widerhallte, wie wenn in der oberen Kammer ein schwerer Gegenstand zu Boden geworfen worden wäre.

Athemlos kam die Alte oben an. Die Kammer war stockfinster, aber der Schein der Oellampe zeigte ihr sofort Balbina, welche auf dem Rücken, der ganzen Länge nach, auf dem Boden lag.

„Balbina!“ rief die Mutter außer sich, allein ihre Mienen ebneten sich, als die Tochter auf den Ruf sich zusammengerafft hatte und sogleich emporgesprungen war.

Balbina’s Aussehen war verstört, das Haar wirr, das Gesicht von einer eigenthümlichnn, von höchster Aufregung zeugenden Blässe, auf der Stirn und um die Nase herum hingen leichte Schweißperlen.

„Gottlob, daß Du kommst, Mutter!“ rief sie mit wilder Lebhaftigkeit. „Um mich wär’ es sonst geschehn! Laß mich nie mehr allein, o es ist gräßlich, ich halte es nicht aus! Sie kommen – sie kommen gewiß wieder und schleppen mich mit sich fort! Laß mich nicht allein, liebste Mutter, oder Du siehst mich nie wieder! Sie kommen gewiß und passen mich ab – ach, lieber sollte mich der Satan anfassen, als diese Kerle mit solchen entsetzlichen Gesichtern!“

„Grundgütiger Heiland!“ schrie die Mutter, die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend. „Bist Du bei Trost? Niemand will Dir Etwas thun, alle Leute haben Dich lieb, nur Du quälst Dich allein und mich mit Dir! Das ist sauber! Ich denke, Du schläfst –“

„Ich habe geschlafen,“ fiel ihr Balbina in’s Wort, „aber die Träume, die Träume! Das sollte nicht sein! Wie in Verzweiflung bin ich aus dem Bett gefahren und bin hier an das offene Fenster getreten und habe die Hände gefaltet und drüben auf die drei Kreuze geschaut und zum Erlöser gebetet und ihn mit Thränen inbrünstig um Hülfe angefleht, daß sich ein Stein meiner erbarmt hätte! Da – höre doch, Mutter! – da fangen sich drüben die Kreuze zu bewegen an, ja – schüttle nicht den Kopf – die Kreuze gingen herum, ich habe es nicht blos gesehen, sondern auch gehört, wie das schwere Holz auf den Steinplatten angeschlagen hat! Da kommen sie heran, immer näher, immer näher, und als ich ganz deutlich sehen kann, sind es nicht drei Kreuze, sondern nur zwei! Es sind die Kreuze, auf welchen die Schacher hängen – diese kommen heran, Christus hat sich garnicht gerührt, er allein hat sich von seinem Fleck nicht gerührt!“

„O hör’ auf!“ schrie die Mutter, die es kalt überlief.

„Wenn es nur aus wäre,“ fuhr Balbina noch exaltirter fort. „Die Schächer kommen und stellen sich hier an diesem Fenster ganz knapp vor mich hin. Ich war wie starr. Ihre Gesichter kann ich in diesem Leben nie wieder vergessen! Sie erheben die Köpfe, sie arbeiten sich einen Arm aus den Stricken los, mit dem andern halten sie sich an den Kreuzen – ich sehe, wie sie nach mir langen wollen, dennoch kann ich nicht vom Fenster fort! Ich habe Todesangst, ich will davonrennen, aber meine Füße sind Blei. Endlich kommen die zwei schrecklichen Arme fast bis an mich heran – da fall’ ich vor Entsetzen zurück und das war das Glück! Mit ihren Fingerspitzen haben sie mich schon berührt!“

„Unglückliche,“ klagte die Mutter, „aber doch nicht unglücklicher, als ich es bin! Wie soll ich Dir von diesen tollen Einfällen helfen! Komm’ und setze Dich auf das Bett neben mich und sage mir und beichte mir einmal aufrichtig, was Dir ist und was Dich auf solche Gedanken bringt! Vor Deiner Mutter sollst Du nicht immer wie das Buch mit den sieben Siegeln sein. Komm’, komm’, meine einzige Balbina!“

„Ja, Mutter,“ sagte Balbina mit einer beinahe schüchternen Fügsamkeit, als wenn ihr sonst starker Wille vollständig gebrochen wäre. „Doch sei so gut und schließe das Fenster zuvor recht fest zu!“

Die Mutter hatte das Fenster geschlossen und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett, auf welches sich Balbina bereits niedergelassen hatte.

„Nicht wahr,“ begann die Mutter vertraulich, „Du denkst immerfort an den Veit –“

„Ja,“ versetzte die Tochter, sehr lebhaft auffahrend, „an ihn und Alles, was darumhängt, und das ist mein Fluch!“

„So haben die Leute wirklich Recht,“ warf die Mutter hin.

„Die Leute haben Recht!“ sagte Balbina, „und auch der Maler hat Recht! Ich habe geschwiegen, so lange es Niemand gewußt hat, als ich allein, und wenn ich es Dir noch immer nicht gestehe, so hörst Du es morgen von allen Leuten an allen Ecken ohnedies! Hilf mir, rathe mir! Ich will es Dir so erzählen,

[468]

Nach der Natur gezeichnet von Adolf Eltzner in Leipzig.
Antons (Villa Kaskel).   Sängerhalle.   Dresden und der Sängerplatz aus der Vogelschau.  
Felsner’s Villa.   Bautzner Straße.   Linkesches Bad. Schillerschlößchen (früher Felsners).   Waldschlößchen.

[469] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [470] wie wenn ich schon vor Gottes Richterstuhl stehen würde und bekennen müßte! Ich freue mich sogar, Dir Alles mitzutheilen, es wird mir gewiß leichter, denn Du glaubst gar nicht, welche Last ein solches Schweigen ist und wie ein so verstecktes Herzleid am Herzen frißt! O hätte ich Dir längst Alles anvertraut, o hätte ich gleich von allem Anfang an Alles gestanden, dann wäre es vielleicht ganz gut und ganz glücklich ausgegangen, dann hätt’ ich auch nie einen Tag wie den heutigen erlebt und die beiden Schächer wären gewiß nicht gekommen.“

Sie sank nach den Worten, in Schmerz und Wehmuth zerflossen, auf das Kissen. Die alte Mutter stand, auf die Enthüllungen wartend und vor ihnen zitternd, da, bis sich Balbina gesammelt und wieder erhoben hatte.

„Jetzt höre Alles,“ sagte Balbina, während sie die Hand der Mutter ergriff, „versprich mir aber, daß Du mir Alles glaubst!“

„Geschwiegen hast Du oft,“ versetzte die Mutter, „gelogen noch nicht!“

Balbina wollte beginnen und hatte schon das Wort auf der Lippe, schluckte es aber rasch hinab, wie wenn sie den Muth verloren hätte. Eine Pause war eingetreten, als sie plötzlich den Kopf wieder erhob und, die Worte furchtsam hinhauchend, sagte:

„Einen einzigen Sommer im Leben war ich auf unserer Alm Almerin –“

„Das ist wahr,“ versetzte die Mutter voll Erwartung. „Ich und der Vater wollten es gar nicht zugeben.“

„Hast Du Dir Nichts dabei gedacht,“ fragte Balbina, ängstlich auf die Antwort lauschend, „daß ich damals darauf so bestanden habe?“

„Gewiß,“ sagte die Mutter. „Du wärst aber mit dem Veit doch zusammengekommen, wenn Du auch nicht oben gewesen wärst.“

„Ach, hättest Du es mir nicht erlaubt!“ schrie Balbina laut auf und brach jammernd die Hände. „Ich bin einem größeren Unglück entgegengegangen, als sonst zu befürchten gewesen wäre! Ich habe eine schwere Ursache gehabt, auf die Alm zu gehen. Ich habe gewollt, daß ihr mich nicht länger seht, Nichts von der Schande wißt, die ich über Euch und mich selbst bringe –“

„Mein Gott!“ rief die Mutter mit schreckengleicher Ueberraschung emporfahrend. „So weit –“

„So weit ist es mit mir gekommen!“ ächzte Balbina unter dem Tuche, mit welchem sie ihr schamerglühtes Gesicht bedeckt hatte, dumpf hervor. „Gerade den Tag vor Himmelfahrt kam das Kind zur Welt – –“

„Und –“ fragte die Mutter, das entsetzliche Gewicht ihrer Frage fühlend, mit bebender Stimme, „und was ist aus dem Kind geworden?“

„O Mutter!“ schrie Balbina auf, indem sie emporsprang und alle ihre Gesichtszüge, die seither beruhigt waren, den früheren Ausdruck fieberischer, wilder Aufregung annahmen. „Jetzt erst wird es schlimm! Ich liege auf dem Heuboden, das Kind schläft neben mir. Da hör’ ich die Stimme des Vaters. Er flucht, weil er mich nirgends findet. Ich kann mich nicht rühren, kann auch nicht antworten. O, wäre Veit einige Stunden früher gekommen, als der Vater, so hätte er das Kind mitgenommen und es wäre in den besten Händen aufbewahrt gewesen! Da seh’ ich, daß der Vater auf den Heuboden hinaufkommt – die Leiter rührt sich – und in diesem Augenblicke giebt das Kind einen Laut von sich.

Da schießt Kraft in mich. Ich verberge das Kind unter dem Heu und lege die Hand auf seinen Mund. Da schaut schon der Kopf meines Vaters herein. ‚Bist Du taub?‘ schreit er mich an.

‚Ich bin krank,‘ geb’ ich nach Gott weiß wie viel Zeit zur Antwort. ‚Wo fehlt’s?‘ sagt er darauf. ‚Du siehst wirklich recht übel aus?‘ Ich sagte: ‚O mir ist auch übel! Geh geschwind hinab und laß den alten Balthasar kommen!‘ ‚Gut,‘ sprach der Vater, ‚mir scheint selbst, daß es vonnöthen ist. Aber warum hast Du Dich auf den Heuboden gelegt?‘ ‚Ich weiß gar nicht,‘ sag’ ich mit einem gescheidten Einfall. ‚Ich gehe hinab, geh nur voran!‘ Der Vater stieg hinab, meine Glieder zitterten so, daß er mir von der Leiter hinabhelfen und mich in die Kammer hineintragen mußte. Der Vater ist nicht lang geblieben wegen Balthasar – “

„Das war also damals Deine Krankheit!“ rief die Mutter, der ein spätes und fürchterliches Licht aufgegangen war, sich auf die Stirn klopfend.

„Eilends bin ich auf den Heuboden wieder hinauf,“ fuhr Balbina, wie von dem Entsetzen ihrer Geständnisse fortgerissen, fort, „um nach dem Kinde zu sehen. O hätte es mir doch von Weitem entgegengeweint! Mutter – – es war erstickt –!“

Die Alte that einen Schrei.

„Es war erstickt!“ wiederholte die Tochter mit noch stärkerer Betonung, ohne Rücksicht auf die zurückfahrende Mutter, nur dem unheimlichen Genius gehorchend, welcher ihr heute mit sinnverwirrender Gewalt die finsteren Geheimnisse abpreßte. „Ich war wie verrückt. Stunden vergingen auf Stunden – was half das? Es war erstickt. Da wickle ich es in ein Tuch – ich wußte noch nicht, was damit – ich laufe das breite Geröll hinauf – immer höher und höher, und mein Bündel war so schwer! Ich komme so weit hinauf, bis unter die Dreikönigsspitz und wußte noch immer nicht wohin, aber immer höher treibt’s mich, als wollte ich auf meinen Händen das Kind bis in den Himmel tragen! Da – da steh’ ich plötzlich vor dem kleinen grünen See und ohne mich weiter zu besinnen, werf’ ich das Kind hinein und ohne zu warten, renne ich, vom Satan gejagt, wieder zurück. Ich liege im Sterben darauf in meiner Kammer, als der alte Balthasar kommt. Ich lüge ihm Allerlei vor, er aber sagt: ‚Du, das ist anders. Wo ist das Kind?‘ Ich hab’ ihm gleich die Wahrheit gesagt. Er sagte: ‚Hast Du nicht warten können, bis ich komme? Ich hätte es untergebracht. Wenn es nach ein paar Tagen ausgeworfen wird und aus dem Wasser schaut, wie dann?‘ Dieser Gedanke hat mein Hirn durchbohrt und steckt noch darin. Gleich am anderen Morgen hab’ ich zum Dreikönigssee hinauflaufen wollen, und an jedem Tage bis heut, doch vermocht hab’ ich es nicht – drum ängstigt’s mich, drum schlaf ich nicht – drum geh ich zu Grund und das Kind kommt vom Grund über das Wasser hinauf! Das begreifst Du –“

Sie stierte die Mutter an, wie eine Geistesabwesende.

„Du erzählst mir ein schreckliches Unglück,“ sagte die Alte, „aber es ist nicht so, daß es nicht schlimmer hätte ausfallen können, denn Deine Hand hat sich an Nichts vergriffen, was leben soll, sondern ist selbst unglücklich gewesen! Fasse Dich und Gott wird Dir verzeihen, wie ich Dir verzeihe!“

„Warum hat mich aber Veit verflucht?“ rief Balbina jammervoll. „Er ist an’s Ende der Welt gelaufen, um nicht jemals wieder meine Hände zu berühren! Mir sollten auch die Hände abgehauen werden, wenigstens die eine ungeschickte Unglückshand!“

„Ach, leg’ Dich, leg’ Dich, unglückliches Kind!“ rief die Mutter, von dem Zustande der Tochter nicht weniger, als von den Enthüllungen entsetzt. „Du brauchst Ruhe, schlaf’, oder Du kommst noch von Sinnen!“

Sie faßte sie am Arme und wollte sie in’s Bett drängen.

„Ruhe?“ sprach Balbina in tiefster Betrübniß. „Wer könnte ruhen und schlafen, wenn alle Leute um ihn herum ‚Balbina ist es!‘ schreien? Balbina ist es! und wer stopft der ganzen Welt den Mund?“

„Es weiß es Niemand –“ sagte die Mutter zum Troste. „Nur Du fühlt’st es –“

„Es ist heraus,“ rief Balbina, „für immer heraus! Der Dreikönigssee ist in die Kapelle hinuntergeflossen und steht dort an der Wand! Das Kind schwimmt oben und ich werde dabei erwischt! Alle Kirchenleute sehen mich – Mutter, ist denn das Nichts? Doch horch –“

Sie horchte, plötzlich von einer entsetzlichen Angst ergriffen.

„Es ist ja Nichts,“ sagte die Mutter im Tone der Beruhigung.

„Es hat geklopft!“ flüsterte Balbina, sich mit zitternder Hand an die Mutter anklammernd.

„Der Wind, der Wind,“ sagte die Mutter.

„Nein,“ rief Balbina mit der Energie, die einem hochgestiegenen Paroxysmus eigen ist, „an’s Fenster hat’s geklopft! Oeffne, um Himmelswillen, nicht! Siehst Du dahinter die Gesichter? O, die Schächer, die Schächer! Sie steigen ein – ich sehe den Fuß des einen und auch schon des anderen – weh mir!“

Sie that ein paar Schritte, als wollte sie die Flucht mit rasender Eile ergreifen, und stürzte besinnungslos zu Boden hin. Die Unglückliche erholte sich wieder, nachdem sie mit Hülfe der herbeigerufenen Magd in’s Bett gebracht worden war und einige Zeit geruht hatte, aber ihr Geist war gestört, und die Schächer verließen sie nicht mehr.

(Schluß folgt.)
[471]
Zwei deutsche Nationalfeste.

Als wäre im lieben deutschen Vaterlande eitel Lust und Glück, eitel Friede und Eintracht zu finden; als gäbe es keinen Bruderstamm im Norden, der noch immer verlassen ist, kein bodenloses Deficit in Oesterreich, kein Bismarck’sches Regiment, keinen Zwiespalt zwischen Krone und Volk in Preußen, keine Mittelstaaten und keinen Bundestag, kein Mecklenburg, kein Kurhessen und kein Nassau, nicht aller Orten und Enden Schmerzensschreie und Schmerzenskinder, keine Rivalitäten und Piquanterien zwischen Nord und Süd – so laut und jubelvoll ist der Monat Juli in’s Land gerückt, ein wahrer Festmond. Noch hallen die Büchsen der deutschen Schützen hinaus in die Niederungen und Marschen am Weserstrande, und schon ziehen von allerwärts, wo die deutsche Zunge klingt und singt, selbst über das Weltmeer herüber, die Vorposten der deutschen Sänger ein in die reizende Königsstadt an der Elbe zu heiterem, liederreichem Feste.

Folgen wir ihren Schaaren, drängen wir einmal zurück Alles, was uns auf der deutschen Brust lastet, zurück die Sorge und Kümmerniß ob unserer staatlichen Wirren und Fesseln; vergessen wir die mancherlei Bedenken, die über das Zeitgemäße einer solchen Doppelfeier in uns aufsteigen wollen, erkennen wir vielmehr an, wie diesen Nationalfesten mindestens das tröstliche Moment nicht abgestritten werden kann, daß sie wieder und immer wieder das Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit unter den verschiedenen deutschen Stämmen und Stämmchen wachrütteln und nähren, ein Bewußtsein, das uns schließlich doch zum heißerstrebten Ziele, zur nationalen Einheit, führen muß. Gewiß sind dergleichen von Zeit zu Zeit wiederkehrende Volksfeste, mögen sie ausgehen von Turnern, von Schützen oder von Sängern, ein mächtiger Hebel zur Belebung des Patriotismus, jenes Patriotismus, der sich hinausschwingt über die zwei- und dreifarbigen Schlagbäume und Markpfosten der einzelnen größeren und kleineren Vaterländer und nicht abläßt in seinem Ringen, bis es Wahrheit, lebendige glückliche Gegenwart geworden ist, das tausend und abertausend Male gesungene Wort des alten treuen Arndt: „Das ganze Deutschland soll es sein!“ Und darum grüßen wir die beiden großen Feste, mit welchen sich der ganze Juli von 1865 roth einzeichnet in unsere Kalender und unvertilglich eingräbt in unser Gedächtniß, aus vollem, freudigem, hoffnungsreichem Herzen!

Im gesegneten Franken war es, unter den Burgwällen der alten Veste zu Coburg, wo man am 21. Sept. 1862 den bereits 1861 auf dem Gesangsfeste zu Nürnberg beschlossenen großen deutschen Sängerbund, eine Vereinigung der sämmtlichen einzelnen Gau- und Kreisbünde, wirklich in’s Dasein rief und zugleich Dresden als den Festort für die erste gemeinschaftliche Sangesfeier in Aussicht nahm, obschon den sächsischen Sangesbrüdern, den vielgeneckten „Schmerzenssächsern“, selbst erst im Jahre 1863 der Beitritt zu dem neuen Bunde hochbeustlich gestattet wurde.

Dresden! Weckt nicht der bloße Name schon das günstigste Vorurtheil für die getroffene Wahl? Wir brauchen nicht zu schildern, wie entzückend die Scenerie ist, welche die Natur in wechselreichster Fülle um den Festort gruppirt hat; ein gut Theil unserer Leser kennt aus eigenem Augenscheine – gar viele aus häufigem Augenscheine – die lieblichen Umgebungen, welche, im Verein mit einer Reihe der seltensten Kunstschätze, die sächsische Residenz zu einem Hauptziel der Touristen aller reisenden Nationen, zu einer der bevölkertsten Fremdencolonien auf deutschem Boden gemacht haben. Wer ist nicht schon manch liebes Mal durch das herrliche Stromthal gezogen, das von hier aus sich auf- und abwärts öffnet, durch das romantische Hochland mit den wunderbaren Sandsteingebilden, den grünen Schluchten und weitschauenden Höhen gewandert, welches als „sächsische Schweiz“ Ruf hat weit über Deutschlands Grenzen hinaus? Wem aber noch nicht vergönnt war, sich Aug’ und Herz an dieser Landschaft zu erquicken, den wird ein Blick auf unsere Abbildung mindestens mit einer Ahnung von der Anmuth und Schönheit der erkorenen Festlocalität zu erfüllen im Stande sein.

Wir gehen vom Mittelpunkt der Stadt, dem Schloßplatze aus. Das ist ihr eigentlicher Brennpunkt, hier gruppirt sich fast Alles zusammen, was den Fremden zunächst in Dresden anzieht: Schloß, katholische Kirche, Museum, Zwinger, Theater, Brühl’sche Terrasse und vor Allem auch – Helbig, Helbig die weltbekannte Restauration an der Elbe, mit ihrem Conglomerat von Häusern, mit dem Gewirr ihrer von früh bis spät gefüllten Zimmer, Säle und Galerien und dem langgedehnten prächtigen Platze am Flusse. Hier, vor einer von Helbig’s Thüren, steigen wir in den Omnibus; er trägt uns über die Brücke, die alte berübmte Elbbrücke, – seine „große Brücke“ nennt sie der Dresdener mit Stolz – auf das rechte Ufer in die heitere, weitstraßige Neustadt hinein. Freundlicher und freundlicher werden die Häuser, die Plätze, immer mehr und immer größer drängen sich Bäume und Gärten zwischen die Wohnungen, elegante Lustorte, vornehme Villen winken rechts und links, wir wenden uns näher dem Strome zu, der Wagen hält – wir sind am Festplatze. Ein Blick zeigt uns, wie dieser hinwieder einen der prächtigsten Punkte der prächtigen Gegend einnimmt. Es ist ein imposanter Raum, der sich vor uns ausbreitet, etwa vierundzwanzig Acker groß, und dazu ist jenseits der sogenannten Bautzner Straße behufs Aufstellung der an- und abfahrenden Wagen noch ein Areal von fünfzigtausend Quadratruthen geschlagen, auch die ganze Uferfläche abwärts bis zu dem bekannten Linke’schen Bade in das Bereich gezogen.

Wie grandios und malerisch sich die Festhalle selbst, zu deren Erbauung am 23. März d. J. der erste Spatenstich gethan ward, dem Auge darstellt, hat unsern Lesern bereits eine frühere Nummer der Gartenlaube veranschaulicht. Ein gewaltiger Bau ist’s von größten Dimensionen, einschließlich der Vorbauten und der vier Haupt- und acht Nebenthürme über 270 Ellen lang und 120 Ellen breit, und jeder der vier Hauptthürme mißt von der Grundfläche bis zur Spitze nahe an 130 Fuß; das Ensemble vielleicht noch imposanter als die schöne Festhalle des unvergeßlichen großen Leipziger Turnfestes. Daß der Plan zu dem Bauwerk, wie er von der Prüfungscommission schließlich adoptirt wurde, aus einer Combination der Entwürfe zweier Dresdener Architekten, Ernst Giese und Eduard Müller, hervorgegangen ist, auch das haben wir schon früher erwähnt. Dem erstern der genannten Künstler verdanken wir den artistischen Entwurf, die künstlerische Idee des Ganzen, dem letztern namentlich die originelle und zweckmäßige Construction der Bedachung, für welche er hölzerne Gitterträger empfahl, die von Drahtseilen, nach Art des Kettenbrückensystems, gehalten werden. Wohl Mancher schüttelte anfangs bedenklich den Kopf über dies Wagniß, allein die angestellte Probe hat Müller’s Gedanken glänzend gerechtfertigt, die hinreichende Tragfähigkeit seiner Drahtseile hat sich vollkommen bewährt. Wenn man einem der gespannten Drahtseile eine Last von 145 Centnern aufbürden und wenn eine Kraft von fast 150 Centnern an ihm ziehen durfte, ohne daß sich ein Weichen des Seiles bemerken ließ, viel weniger eine Verletzung desselben eintrat, alsdann darf sich wohl jeder deutsche Sangesbruder und Sangesfreund mit Gemüthsruhe niederlassen unter dem gastlichen Festdache, unter welchem eine Menge von dreißigtausend Menschen mehr oder minder bequem Platz finden wird, sei es im eigentlichen Festraum selbst, sei es in einer der vier Bierhallen oder vor einem der vier Bierbuffets, vor den beiden Weinschänkstätten oder bei den Süßigkeiten der Conditorei, die sammt und sonders der große Holzbau beherbergt.

So wäre denn auch für die verschiedensten stofflichen Bedürfnisse gesorgt, welche neben der Kraft ihre Ansprüche geltend machen, wie man, um die fremden Gäste vor Verlusten infolge der verschiedenen vaterländischen Münzsorten zu bewahren und den Verkehr im Allgemeinen zu erleichtern, hunderttausend besondere Sängerzahlmarken im Werthe von je 1/12 oder 1/20 Thaler (den Preisen des Bieres, des kohlensauren Wassers, des Festweines in den Hallen entsprechend) aus vergoldetem Messing mit eingeprägten Tonzeichen beschafft hat, auch nach einem aus dem fünfzehnten Jahrhundert und aus Ingolstadt stammenden Trinkgefäße eigens gefertigte alterthümlich geformte Festgläser, sogenannte „knorrige“ Becher, als zierliche Andenken an die Jubeltage um billigen Preis feilbieten wird. Nur Eines dürfte Mancher beklagen – daß er in der Festhalle seine gastronomischen Studien nur auf kalte Küche beschränken kann, weil das Festcomité, ängstlicher als das vor zwei Jahren in Leipzig wirkende, kein Heerdfeuer innerhalb der Schranken des Festbaues dulden zu dürfen glaubt, obwohl bei [472] der unmittelbaren Nachbarschaft des Stromes uns diese Vorsicht etwas übertrieben und „staatsanwaltlich“ erscheinen will.

Lasse sich indessen darum Niemand abhalten gen Dresden zum großen Bundesfeste zu pilgern. Er braucht wahrhaftig nicht zu fürchten, daß er nach den Strapazen des Hörens und des Singens mit leerem Magen sein Lager aufsuchen müsse, denn rings um den weiten Festplatz reiht sich Erfrischungszelt an Erfrischungszelt, Restaurationsbude an Restaurationsbude, und in nächster Nähe grüßt von seiner Terrasse herab anheimelnd der stattliche Häusercomplex des „Waldschlößchens“, jene große Labsalsquelle, die Jahr aus Jahr ein Tausende von Eimern goldenen Gerstensaftes spendet und weit hinaus in’s Land schickt. Sicher eine hochwillkommene Nachbarschaft für die, nach dem alten küchen- oder mönchslateinischen Dictum, ewig durstigen Sängerkehlen und eine unvergleichliche Zuflucht für active und passive Festgenossen, falls – was Schutzpatron Apollo gnädig abwenden möge! – der Himmel sich nicht ebenfalls festlicher Stimmung erfreuen sollte, denn die Räume des wohlthätigen Etablissements, Keller und Böden dazu gerechnet, können im Nothfall etwa zwölftausend geduldigen Personen Obdach gewähren. Im Uebrigen bietet die Elbe mit ihren Kähnen, Gondeln, Dampfbooten und Dampffähren stündlich und viertelstündlich vollauf Gelegenheit zur Verbindung mit der kaum eine Viertelmeile weiter thalwärts an beiden Flußufern sich hinstreckenden Stadt, so daß man von der Ausführung des ursprünglich in’s Auge gefaßten Planes, eine Schiffbrücke lediglich zum Behufe des Festes und unmittelbar vom Festplatze auf die andere Stromseite hinüber zu schlagen, füglich absehen konnte.

Ein unvergleichliches Bild wird es geben, wenn sich, umflossen vom erhofften blauen Julihimmel, am Morgen des 24. der gewaltige Festzug entrollt, wenn vielleicht zwanzigtausend Sänger aus allen deutschen Gauen und aus der fernsten Fremde – leider ist es nur den österreichischen Ländern nicht verstattet, sich in Vereinen officiell am Feste zu betheiligen – unter den Klängen von zwanzig starken Musikbanden und umflattert von den zahllosen Fahnen und Standarten ihrer Vereine hinauswallen auf die Feststätte am rechten Elbufer, Allen vorauf das neue große Bundesbanner, auf das sich mit Bewunderung die Augen heften überall, wo sich die Procession vorüberwälzt. Auch wir wollen uns dies kostbare Banner etwas näher beschauen, es hat vollgültigen Auspruch auf unsere Aufmerksamkeit, denn es ist ein Kunstwerk im vollen Sinne des Wortes.

Bereits im Februar des letzten Jahres hatte der Gesammtausschuß des deutschen Sängerbundes eine Concurrenz ausgeschrieben für den Entwurf einer Bundesfahne und fünfzehnhundert Gulden für die beste und in jeder Beziehung annehmbarste Zeichnung bewilligt. Der Maler Adalbert Müller in Berlin war es, der, infolge einer im September des vorigen Jahres zu Dresden abgehaltenen Sitzung dieses Ausschusses, mit dem Preise gekrönt wurde; sein Entwurf ist zur Ausführung gekommen, genau so, wie es unsere Illustration darstellt, welche wir dem Künstler selbst verdanken. Wie man sieht, ist das Banner, das eine Breite von vier Fuß und eine Länge von sechs Fuß besitzt, in altdeutschem, sogenanntem gothischen Style gehalten. Das Bannerblatt selbst besteht aus weißer Moirée antique; in seiner Mitte, umrahmt von einer in Gold auf rothen Sammet gestickten altdeutschen Einfassung, prangt ein von Müller in Oel gemaltes Bild. Wir erblicken darauf einen alten Barden mit lang herabfallendem weißen Barte. Die Linke des greisen Sängers stützt sich auf die goldene Harfe, während seine Rechte in Begeisterung erhoben ist und hindeutet auf das in ein himmelblaues Band gestickte Motto: „Das ganze Deutschland soll es sein!“ Hinter ihm am Meeresstrande wölbt sich der Hügel eines Hünengrabes. Ueber den obern Theil der Fahne hängt ein mit Goldstickerei geschmückter rothsammetner Ueberfall herab, darüber thront auf gothischem Ornament die von Eichenzweigen umlaubte Leier.

Die Rückseite des Banners, wenn auch einfacher, entspricht der vordern; inmitten eines goldenen Feldes wacht hehr und stolz der einköpfige deutsche Adler. Sämmtliche Stickereien machen dem Atelier von Albert Sander in Berlin, aus dem sie hervorgegangen sind, nur Ehre, wie auch die von dem Berliner Bildhauer Schiele ausgeführten Holzschnitzereien unser uneingeschränktes Lob verdienen.

Der Zug ist angekommen auf dem Platze, mit ihm, neben, vor, hinter der Procession eine unabsehbare Menschenmenge, und allstündlich gießen die verschiedenen Eisenbahnen neue Fluthen von Hör- und Schaulustigen über Dresden aus. Die Standarten sind aufgepflanzt und aufgehangen, als der herrlichste Schmuck der mit Fenstermalereien von Sachse und Ritscher kunstvoll decorirten Halle, gewaltig erbrausen die Klänge des großen Concerts, des zweiten, denn schon Tags vorher hatte die Halle erbebt unter mächtigen Männerchören, zweihundert Sänger tragen die Soli vor und zweihundertundneun Militärmusiker der Dresdener Garnison, Infanterie und Artillerie, mit zusammen einundfünfzig Klappenhörnern, fünfunddreißig Waldhörnern, vierzig Trompeten, sechsunddreißig Tenorhörnern, achtzehn Posaunen, zwanzig Tuben und vier Paar Pauken bilden das Orchester.

Inzwischen ist es Abend geworden auf dem Festplatze, ein lauer wonnevoller Sommerabend, darum aber noch nicht still und einsam. Rundum noch Sang und Klang, noch Lust und Jubel, überall noch Drängen und Treiben fröhlicher Menschenschaaren. Von Neuem entzückt schweift unser Auge über das reiche Gemälde, noch einmal suchen wir jeden seiner Züge, jede seiner Tinten uns recht fest in’s Gedächtniß zu prägen, ehe wir scheiden. Links der blauduftige, schon halb im Dämmer liegende Saum eines ausgedehnten Nadelwaldes, darüber hinaus die Höhen des Elbthals mit ihren Weinbergen, Villen, Landsitzen, Schlössern, Dörfern, am linken Ufer Dresdens Altstadt mit der Kuppel des Frauendomes und den Thürmen des Schlosses, der katholischen und der Kreuzkirche – unsern Lesern aus mancher Abbildung längst vertraute Gestalten und Contouren – und näher noch auf hoher Bastei der Rundbau der weltberühmten Brühl’schen Terrasse; dazwischen der Strom mit den vielen buntbeflaggten Schiffen und Fahrzeugen und den beiden Brücken, zu alledem endlich die unzähligen Lichter auf dem Festplatz selbst, in und vor den umher verstreuten Zelten und Buden – ist’s nicht genug, übergenug uns zu dem Rufe zu begeistern: „Auf nach Dresden!“?

Auf nach Dresden also, Ihr Sänger, die Ihr’s vermögt, und wer sonst sich ein paar Tage oder ein paar Stunden, je nach Nähe oder Ferne seiner Heimath, losmachen kann aus dem Tretrad des Werkeltagslebens – Ihr Alle werdet willkommen sein den gastlichen, freundlichen, höflichen Dresdenern, und was Ihr etwa von Massenquartieren und kaiserlich österreichischen Militärdecken gehört und gelesen habt, – fürchtet es nicht. Rastlos ist der Wohnungsausschuß bemüht gewesen, den Gästen es nach Möglichkeit behaglich und heimisch zu machen am schönen Festorte, und Bau-, Empfangs-, Ordnungs-, Wirthschafts- und Preßausschuß – sammt und sonders haben sie unablässig geschafft und gesorgt, alle sind sie noch jetzt gewissermaßen in Permanenz, ein Fest herzustellen, das sich würdig anreihe an ähnliche Vorgänger, zur Ehre Dresdens, vor Allem aber zum Preise deutschen Liedes, Landes und Volkes!




Minder bunt, minder reizend, minder heiter stellt sich die Scenerie dar um das andere große deutsche Nationalfest, von dem wir, zumeist für die Menge unserer Leser jenseit des Oceans, noch einige Worte sagen wollen, wie das Fest selbst und seine Bedeutung gewissermaßen ernsteren Charakters sind. Wenn diese Blätter aus der Presse hinausflattern in alle Welt, ist schon der Jubel verklungen, mit welchem die Feier des zweiten deutschen Bundesschießens die alte Hansestadt an der Weser erfüllte, knattern nicht mehr die Büchsen und Stutzen nach den Feld- und Standscheiben, sind die Preise gewonnen, ziehen Sieger und Nichtsieger mit vollen und mit leeren Händen wieder ab in ihre Heimath, in die Berge von Steiermark und Tirol, nach Sachsen und nach Schwaben, nach Pommern und nach Oesterreich, nach Brandenburg und nach Thüringen, ja über die See hinüber nach England und nach Amerika, erfrischt, erhoben, gefestigt von dem Stück deutschen Volkslebens, das sie soeben mit gelebt; haben die Zeitungen und Zeitschriften, voran das Festblatt des zweiten deutschen Bundesschießens selbst, schon ausführlich berichtet über Gang und Verlauf, Einzelheiten und Zwischenfälle des Festes. Wir können daher den deutschen Schützen kein „Auf nach Bremen!“ zurufen, wie wir den deutschen Sängern unser „Auf nach Dresden!“ zuriefen, wir können uns auch kurz fassen und wollen blos die Ansicht, die wir von Festplatz und Festhalle bringen, mit wenigen Zeilen der Erläuterung begleiten.

Wie Bremen selbst nicht das Centrum zahlreicher Bahnen und Verkehrswege bildet, wie es nur durch einen einzigen Schienenweg [473] mit Binnendeutschland verbunden am äußersten Nordwestzipfel des Vaterlandes sich einsam aus kahler Weserniederung erhebt, so läßt sich auch Bremens Natur nicht im Entferntesten vergleichen mit der herrlichen Landschaft um Dresden; der Schützenfestplatz liegt verhältnißmäßig öd und reizlos, nur umgeben von dem saftigen Grün weitgedehnter Weideflächen. Es mußte denn die Kunst versuchen, einigermaßen schadlos zu halten für die Kargheit der Natur. Und das ist trefflich gelungen, die Festhalle ist ein Bauwerk von wahrhaft monumentalem Charakter geworden, und der große grüne Platz darum bot mit seinen üppigen Laubgewinden, seinen Bäumen, Fahnen und Kränzen einen höchst grandiosen und zugleich lieblichen Anblick, in seinen sämmtlichen Bauten und Anordnungen durch und durch harmonisch, Alles das Werk des Bremers Heinrich Müller.

Die Sängerbundesfahne.
Nach dem Entwürfe von Adalbert Müller in Berlin.

Mitten auf dem eine Million Quadratfuß bedeckenden Festplatze, der Bürgerweide, fesselt uns zunächst ein elegantes Achteck, das sich nach oben zu einem Thurme verjüngt. Es ist der Gabentempel, der Ort, in welchem die von allen Theilen der Welt, von überall her, wo Deutsche siedeln, eingelaufenen Siegespreise aufgestellt sind. Wir schauen durch die Fenster hinein, wahrhaft geblendet von dem Glanz da drinnen, der eine Summe von nahe an 27,000 Thalern repräsentirt, und schreiten auf breiter Treppe von der Terrasse hinab, von der sich das Octogon erhebt. Da prangt sie, einhundert und dreißig Schritte vor uns in ihrem vollen reichen Schmucke, die Festhalle. Ihre Façade, die Vorhalle, ist von rein griechischer Architektur, imposant in ihren einfach edlen Verhältnissen.

Durch die Vorhalle führt das Hauptportal über mehrere Stufen hinauf in das Halbrund der eigentlichen Festhalle selbst, einen Riesenraum, in welchem viertausend Festgenossen tafeln konnten. Das Centrum dieses gigantischen Speisesaales nimmt die Rednerbühne ein, von der so manches tapfere Wort hinausscholl in das Volk; darunter reihen sich zunächst die Plätze für vierundzwanzig Berichterstatter aneinander, weiterhin die Tafel für den Bundesvorstand und die Ehrengäste und nun strahlenförmig auseinander laufend die übrigen Festtische. Auch die Nebenräume der Festhalle, die Weinlager, die Küche mit ihrem Dampfkessel, welcher den großen Heerd mit seinen achtzehn Bratröhren fortwährend in der nöthigen Röst- und Siedehitze erhält, die kleineren Räume, die sich zu beiden Seiten an die Halle anbauen, als Conditoreien und Restaurationen, als Lesesaal, als Post- und Telegraphenbureau benützt, sind einer Besichtigung werth. Vor Allem aber haben wir unsere Schritte noch einem anderen Bauwerke zuzulenken, das den Festplatz ziert und den besten Ueberblick gewährt über das muntere Getümmel, welches sich hier von früh bis spät entfaltet. Wir meinen die Sänger- und Fahnenhalle, gleichfalls in antikem Style errichtet, wie die anderen Gebäude des Festplatzes alle. Wir möchten sie die Perle der gesammten Festbauten nennen, und ihr plattes Dach wird nimmer leer von Schauenden, die sich an dem Fluthen und Wogen ergötzen, das sich unter ihnen nimmer erschöpfen und leeren will. Mitten in dieser Fahnenhalle, dem großen Eingangsportale gegenüber, ragt, von dem Bremer Bildhauer Kropp modellirt, das Standbild der Germania empor, mit vorwärts blickendem Antlitz, den Eichenkranz auf dem langen Lockenhaare, unter den Falten des Mantels den Kettenpanzer auf Brust und Leib, die Rechte am Schwerte, die Linke auf das Schild gelegt – ein Bild ruhiger Majestät. An die Rückseite der Fahnenhalle fügt sich endlich die Schießhütte selbst, sechszehnhundert Fuß lang; von ihr aus können wir die Ziel- und Angelpunkte des ganzen Festes wahrnehmen, die neunzig Feld- und die sechszig Standscheiben, die erstern dreihundert, die letztern einhundertundfünfundsiebenzig Meter entfernt. Von diesen Scheiben, von Feld- wie von Standscheiben, sind je fünf der Ehre theilhaftig geworden als specielle Festscheiben zu gelten. Die Hauptfestscheibe – wie konnte sie anders heißen, als „Deutschland“? Auch die andern führen Namen, die das deutsche Herz bewegen, „Hermann“, „Barbarossa“, „Guttenberg“, „Stein“.

Jenseits des Schützenfestplatzes öffnet sich der Volksfestplatz, ein ungeheures Areal von 500,000 Quadratfuß. Hier steht unter Anderm das Gebäude für die Gewerbe-, Marine- und Productenausstellung, hier giebt es Restaurationen und Trinkbuden in Menge.

Das war der Schauplatz, auf welchem sich das zweite große deutsche Bundesschießen bewegte. Sein Gewühl ist verrauscht, seine Fahnen und Wimpel wehen nicht mehr – aber seine Wirkung wird nicht enden mit den Tagen der Feier, nicht versprühen wie die Begeisterung des Momentes, nein, jeder der heimkehrenden Schützen wird, das hoffen wir, wie unvergängliche Erinnerungen, so neubelebt und neugekräftigt das Bewußtsein rücktragen an seinen häuslichen Heerd und in die Kreise, in welchen er lebt und strebt, daß wir Alle Eins sind, wohnen wir in Süd oder Nord, Eins durch nationale Sitte und Denkweise, daß uns endlich werden muß das Schwarz, nach dem wir lange zielen, die staatliche Einheit, und daß Jeder einzutreten hat mit seiner Büchse und seinem Stutzen, „mit kaltem Blick und fester Hand“, wenn es gilt, im blutigen Ernste dies hehre Ziel zu erkämpfen.
S.

[474]

Net Glück net Stern.

„Du, lieber Gott, will’s denn auf Erde,
      Wo Jedes doch sei Plätzle findt,
Mit mir net au’ mol anderst werde?
      Bin doch a recht verlasse Kind!

Geht’s Herz mir au von Hoimweh über,
      Gibt’s doch für mi koi Noh und Fern,
An jeder Freud’ muß i vorüber,
      Mit mir ischt weder Glück no Stern.

Mir blüht koi Blümle allerwege,
      I stand in weiter Welt allei’,
Und Keiner streckt mir d’ Hand entgege,
      Heist herzlich mi willkomme sei’.

Mei Vatter ischt im Krieg verkomme,
      Weiß net wie mir um’s Herz so weh,
Und d’ Mueder hot der Dod mir g’nomme,
      Jetzt han i Liebs koin Mensche meh.

’s ischt traurig auf der Welt, zum Sterbe,
      Wenn’s Herz so ganz an Lieb’ verarmt,
Und i muß sterbe und verderbe,
      Wenn Gott sich meiner net erbarmt.

Thal auf und ab in Sturm und Rege,
      Und doch koi Hoimet weit und breit!
I wollt, i könnt mi schlofe lege
      Und schlummre bis in Ewigkeit.“ –

Leis rauscht’s im Laub, ’s will Obed werde
      Und Vögele singet wie im Traum –
Jetzt ruhst au Du in kühler Erde
      Wol unterm grüne Lindebaum. –

I woiß derhoim a friedlich Plätzle,
      Grad wo der Weg um’s Kirchle biegt,
Sucht’s Mancher heimlich mit sei’m Schätzle,
      Doch Keiner weiß, wer drunter liegt.




Verkümmerte Existenzen.
Aus den Aufzeichnungen eines alten Wanderers.
Mitgetheilt von Roderich Benedix.
3. Halbes Talent.

Man hat gesagt, der Lorbeerkranz eines Dichters sei eine Märtyrerkrone, man hat umgekehrt diesen Ausspruch als unrichtig angegriffen. Je schärfer man von einer Seite das Loos des Dichters als ein Märtyrerthum zu schildern versucht hat, destomehr ist man von anderer Seite beflissen gewesen, diese Schilderungen in’s Lächerliche zu ziehen, und namentlich hat man bestritten, daß Dichter und Künstler andere Ansprüche an’s Leben zu machen hätten und anders beurtheilt werden müßten, als andere Leute. Die Wahrheit mag hier wohl wie immer in der Mitte liegen. Allerdings hat der Dichter und der Künstler Kämpfe zu bestehen, die Leute in anderer Lebensstellung gar nicht oder nicht in dem Maße kennen, Kämpfe gegen Mißgunst, Gleichgültigkeit des Publicums, Vernachlässigung, der deutsche Dichter insbesondere noch die Kämpfe des leidigen Broderwerbs, und oft mögen diese Kämpfe bittere, bittere Stunden erzeugen. Allein auf der andern Seite hat der Dichter und Künstler gewiß auch Stunden der Erhebung, des Schaffens, die ihm einen Genuß gewähren, welcher durch Nichts zu ersetzen ist. Hier wird also wohl Eines das Andere ausgleichen, und demnach ist das Geschenk des Genies oder der bedeutenden schaffenskräftigen Kunstbegabung eines der schönsten und edelsten, das die Natur einem Menschen verleihen kann. Ein gefährliches, ein unglückliches Geschenk aber ist das eines halben Talents.

Ein halbes Talent ist eine mehr als gewöhnliche Empfänglichkeit für die Kunst, der aber die Fähigkeit des Erzeugens mangelt; ein halbes Talent ist die Lust, ja der Drang Etwas zu schaffen ohne die Kraft dazu. Solcher halben Talente giebt es viele, sehr viele, mehr als man gewöhnlich glaubt. Sie mühen sich ab, sie schaffen, sie erzeugen, aber ihren Erzeugnissen fehlt nicht nur der Stempel der Vollkommenheit, es fehlt ihnen meistens das, was das Talent überhaupt kennzeichnet. Seitdem in den Künsten die erlernbare Fertigkeit (Technik) so ungemein ausgebildet ist, seitdem in Bezug auf die Dichtkunst unsere Sprache die hohe Stufe der Bildung erreicht, die wir der classischen Zeit unserer Dichtung verdanken, ist das Erzeugen an sich viel leichter geworden. Menschen mit halbem Talent werden durch diese Leichtigkeit wiederum weit mehr zum Erzeugen angeregt, fast möchte man sagen verführt, als es sonst der Fall sein würde. Wenn nun halbe Talente irgend einen Beruf, ein Amt des bürgerlichen Lebens haben und nur in den Mußestunden, zu ihrem Vergnügen sich mit der Kunst beschäftigen, wenn sie nur Dilettanten sind und nichts weiter sein wollen, so mag sich ihnen durch die Kunst das Leben vielfach verschönern und es mögen sich ihnen Genüsse bieten, die edler und reiner sind als die gewöhnlichen Vergnügungen. Sobald indeß solche Menschen auf ihr halbes Talent ihre Lebensstellung gründen wollen, sobald sie als Künstler von Fach auftreten und eben durch die Kunst auch den Lebensunterhalt erwerben wollen, entsteht ein trauriges Mißverhältniß.

Die Kämpfe, die dem begabteren Künstler nicht erspart sind, der Unmuth über das Mißlingen, die Verbitterung über den Mangel an Anerkennung hat der ungenügend begabte Mann doppelt und dreifach durchzumachen. Die Folge davon ist, daß Neid, Verbitterung, tiefer Unmuth sich seiner bemächtigen. Und sonderbar ist es, daß die Fehler, die man den Künstlern, einigen mehr, andern weniger, mit Recht vorwirft, Selbstüberschätzung, Eitelkeit etc., bei den wenig Begabten immer im vollsten Maße sich vorfinden. Der Mangel an Anerkennung ist ein Wurm, welcher am Gemüthe nagt und die edelsten Blüthen desselben zerstört. Wenige sind ehrlich genug, kennen sich selbst genug, um die Ursachen dieser mangelnden Anerkennung in der Schwäche ihrer Werke zu suchen, die meisten – und dazu gehören alle Menschen von halbem Talent – suchen sie in der Ungerechtigkeit des Publicums, in dem Vordrängen anderer Mitstrebender, in deren Neid und Ränken, kurz überall, nur nicht da, wo sie liegen.

Ich habe viele derartige Menschen gekannt, die in dem fruchtlosen Streben, Künstler sein zu wollen, zu Grunde gingen, indem sie entweder zur tiefsten Verbitterung gelangten, oder auch gar dem Kampfe mit Mangel und Noth erlagen. Ich will eines dieser Beispiele aufzeichnen.

Als ich im Anfange der vierziger Jahre nach **** kam, fand ich eines Tages im Feuilleton der dortigen Zeitung eine kleine Ballade im niederdeutschen Dialekt, die mich ungemein ansprach. Im echten Volkston, kurz und bündig, stellte sie eine kleine geschichtliche Anekdote dar, und zwar war Alles in ihr, Ton, Darstellung, Form, so treffend, daß ich mich nicht enthalten konnte sie als ein Meisterstück in ihrer Art zu betrachten. Ich fragte nach dem Verfasser. Er war in **** ziemlich bekannt und nicht schwer war es, ihn kennen zu lernen. Bei einem Glase Maitrank traf ich zuerst mit ihm zusammen. Mittelgroß, etwas beleibt, war Holder eine anspruchslose Persönlichkeit. Leicht erregt, mit vielem Sinn für Kunst war er lebhaft im Gespräch, und wenn er auch seine Meinung standhaft verfocht, war er doch harmlos gutmüthig und weit entfernt Jemanden zu beleidigen. Ich ward rasch mit ihm bekannt und besuchte ihn bald darauf. Dabei zeigte er mir mehrere kleinere lyrische und epische Dichtungen, die indessen jener Ballade sehr weit nachstanden. Nur ein Vaterlandslied machte eine Ausnahme, das voll Feuer und Schmerz den besten Liedern dieser Art an die Seite zu setzen war, an denen jene Zeit so reich sich erwies. Jene Ballade und dieses Lied halte ich noch heute für ein paar Perlen deutscher Dichtung. Sie hatten damals nicht nur mir, sondern allgemein gefallen, Holder bekam viel Schmeichelhaftes darüber zu hören, sie wurden componirt, gesungen, in vielen Zeitschriften nachgedruckt, kurz, Holder’s Name wurde damals genannt. Das war sein Unglück.

Einige Monate nach unserer ersten Bekanntschaft kam Holder eines Tages zu mir und begehrte meinen Rath zu hören. Er theilte mir mit, daß er ein kleines Geschäft besäße, das ihm wenig Arbeit mache und ihn, wenn auch nicht glänzend, doch anständig ernähre. Allein er fühle sich nicht behaglich in seinem Wirkungskreise, die Dichtkunst sei es, die ihn anziehe. Nun wisse er wohl, daß es ihm an classischer Bildung fehle. Diesem Mangel müsse er allerdings abhelfen, ehe er wirklich Schriftsteller werden könne, das fühle er wohl. Indessen müsse das gehen, obwohl er schon dreißig und etliche Jahre alt wäre. Er wolle sein kleines Geschäft verkaufen, mit dem dafür erhaltenen Gelde nach Heidelberg gehen und dort studiren.

Ich erschrak über diesen Vorsatz. Lebenslustig wie er war, besaß er durchaus nicht die Ausdauer, um in seinem vorgerückten Alter nachzuholen, was er an wissenschaftlicher Bildung in der Jugend versäumt hatte. Ich sagte ihm das offen. Ich stellte ihm [475] vor, wie unendlich schwer es für einen Mann wäre, durch schriftstellerische Arbeiten sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Man könne das nur durch größere dramatische Arbeiten oder erzählende Schriften, oder auch als geistreicher Publicist und Feuilletonist, wozu aber unbedingt Leben und Bewegen in einer großen Stadt gehöre. Mit kleinen Gedichten, und wären sie noch so schön, ließe sich nicht viel verdienen. Ich bat ihn, sich zu prüfen, ob er glaube, größeren Arbeiten gewachsen zu sein; ich bat ihn geradezu, sich nicht dadurch verleiten zu lassen, daß ihm ein paar hübsche Gedichte gelungen seien. Diese bewiesen noch nichts für die Nachhaltigkeit seines Talents. Ich erinnerte ihn an Schiller’s trefflichen Ausspruch:

„Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein.“

Holder hörte mich an, widersprach, gab zu, widersprach wieder und schied endlich von mir etwas empfindlich, aber von meinen Worten nicht überzeugt.

Bald darauf erfuhr ich, er habe seinen Vorsatz ausgeführt, sein Geschäft verkauft und sei nach Heidelberg gegangen, um dort zu studiren.

Nach einigen Jahren kam er zurück. Anfangs vermied er mich, ich erfuhr nur von Andern, daß er wieder da sei und nach seiner alten Gewohnheit fleißig „kneipe“. Indessen suchte er mich bald auf. Er brachte mir ein Lustspiel in zwei Aufzügen und bat mich um meine Vermittelung bei der Theaterdirection, daß es zur Aufführung käme. Aus seinen halben Andeutungen entnahm ich, daß er das Geld, welches er für sein Geschäft erhalten hatte, in Heidelberg glücklich verstudirt habe und daß ihm viel an dem Erfolge seines Stückes läge – da er eine Einnahme brauche. Ich las das Stück. Es war tief unter der Mittelmäßigkeit, es konnte keinen Erfolg haben. Zu den unangenehmsten Aufgaben im Leben gehört es, von einem Autor zur Beurtheilung eines seiner Werke aufgefordert zu werden und dasselbe tadeln zu müssen.

Will man sich nicht mit allgemeinen Redensarten durchhelfen, will man redlich sein und seine volle Ueberzeugung aussprechen, so erwirbt man sich regelmäßig einen Feind. Ich konnte mich dennoch nicht entschließen, Holder meine Meinung vorzuenthalten – er hat mir meinen Tadel später niemals vergessen. Indessen im Augenblick bedurfte er meiner Vermittelung, er unterdrückte seine Empfindlichkeit und bat mich trotz meines ungünstigen Urtheils das Meinige zu thun, um das Stück auf die Bühne zu bringen. Holder war ein bekannter Mann in ****, seine Name auf dem Zettel versprach ein besuchtes Haus, das kleine Stück war leicht zu geben und so ging die Theaterdirection auf seinen Wunsch ein. Der Erfolg bestätigte mein Urtheil. Das Stück fiel durch.

Es verging darnach längere Zeit, in der ich Holder nicht sah. Es kam das Jahr 1848. Auch in **** waren Aufregung, Unruhe, kurz alle die Erscheinungen, die jene Zeit bot. Da begegnete ich eines Tages Holder. Er ging dicht an mir vorüber, maß mich von oben bis unten mit verächtlichem Blicke und grüßte mich nicht. Ich war erstaunt, doch das Räthsel seines Benehmens war leicht gelöst. Holder gehörte der äußersten Linken an und war, obschon kein guter Sprecher, doch einer der lebhaftesten Agitatoren. Die Bewegungen in **** hatten eine entschieden communistische Färbung. „Bei der Theilung bekommt Jeder achtzehntausend Thaler,“ war das Axiom, an das ein zahlreiches Proletariat glaubte, wie an das Evangelium. Im Sinne dieser communistischen Partei erschien ein kleines Sudelblatt, das eine rothe Fahne als Vignette trug und in cynischer Weise zum tausendsten Male wiederkäute, was zum Ueberdruß schon neunhundert neunundneunzig Mal gesagt worden war. Von Geist, von Phantasie, von eigenen Gedanken war in dem Blättchen nicht die Rede, nur vom Nachbeten dessen, was andere große Zeitungen in besserer Form gaben.[1]

Der Redacteur und Herausgeber jenes Blättchens war Holder. Seltsamer Umschwung! Holder, ein Mann, der sich nie um den Staat, um Politik gekümmert hatte, der ohne alle Kenntniß der Geschichte war, der bis dahin nichts wollte und konnte, als mit guten Gesellen beim Näpfchen sitzen, der harmlose, gutmüthige Mensch, dessen frühere Lieder nach ganz andern Richtungen gingen, war ein rother Communist der cynischsten Art geworden. Hätte er sein kleines Geschäft noch gehabt, ich bin überzeugt, die Politik wäre ihm fern geblieben oder er wäre nicht zu dieser Partei gerathen. Aber so war er arm, er war von seinem Talent überzeugt, er fühlte sich zurückgesetzt, verkannt, er war durch und durch verbittert, und so kehrte sich sein Unmuth gegen die Besitzenden. Diese verkannten ihn ja, diese zollten ihm nicht den Tribut, den er zu verdienen meinte, diese waren demnach seine Feinde. Und so schloß er sich denen an, die den Besitzenden gleichfalls feindlich waren und die ihm als einem der Führer der Partei Geltung gewährten. Denn Geltung zu gewinnen ist das Streben aller halben Talente, mag es zuletzt sein in welcher Richtung es wolle.

Die Zeit der Aufregung ging vorüber, die Reaction gewann die Oberhand, jenes kleine Blättchen war schon früher verschwunden. Die Proletarier wollten wohl theilen, aber sie wollten die Kraftergüsse Holder’s nicht bezahlen, deren sie genug umsonst in jeder Volksversammlung hören konnten.

Wieder mochten einige Jahre vergangen sein, in denen ich von Holder nichts hörte, ihn nicht sah. Seine Pläne für die Laufbahn eines Schriftstellers blieben unausgeführt. Kein Gedicht, keine Erzählung, kein Drama kam von ihm zum Vorschein. Da fand ich eines Tages in der Zeitung einen kleinen Aufsatz mit einem Vorschlage – über Sprachverbesserung. Der Aufsatz war so geistlos, so albern, so ohne alle Sprachkenntniß, daß ich mich ärgerte, ihn in der sonst so trefflichen Zeitung zu finden. Als ich ausging, traf ich den Redacteur des Blattes und fragte ihn, von wem der Aufsatz sei. Er erwiderte mir: „Von Holder.“ „Aber wie können Sie etwas so Albernes aufnehmen?“ frug ich weiter.

Der Redacteur zuckte mit den Achseln und entgegnete nur: „Je nun, er brauchte die paar Thaler Honorar.“

Es war ein braver Mann, der Redacteur, der keine Beleidigung nachtrug, denn er besonders war von Holder in jenem Sudelblättchen mit Schmutz und Koth beworfen worden. Ich ging weiter. Als ich um die nächste Straßenecke bog, stieß ich auf Holder. Es war im kalten Winter. Er trug einen dünnen Sommerrock, seine Stiefeln waren zerrissen, er war mager geworden und sah blaß und elend aus. Ich stutzte und blieb unwillkürlich stehen, ich wollte ihn anreden. Doch ohne mich anzusehen, zog er höflich seinen Hut ab und ging an mir vorüber. Ich begriff jetzt, warum der Redacteur jenen Aufsatz abgedruckt hatte. Welch ein Abstand! Als ich Holder das erste Mal sah, war es im Kreise munterer Gesellen. Eine Bowle Maitrank bildete ihren Mittelpunkt. Heiter und fröhlich flog das Gespräch von Munde zu Munde. Alle Anwesenden waren in Verhältnissen, die ihnen eine Behaglichkeit des Daseins gewährleisteten. Und jetzt begegnete mir Holder hungernd und frierend! Ich forschte nach seinen Verhältnissen, ich besprach mich mit Andern, ob ihm nicht zu helfen wäre. Da rief mich plötzlich ein Antrag von **** weg. Holder kam mir aus dem Gedächtnisse. Nur noch einmal wurde ich wieder an ihn erinnert, als ich ein paar Jahre später in der Zeitung las, er sei im Armenhause gestorben.

Und seltsam: an demselben Tage, wo ich diese Nachricht fand, kam ein mir sehr nahe stehender Mann zu mir, der mir, genau wie Holder siebenzehn Jahre früher, seinen Plan mittheilte, Schriftsteller werden zu wollen. Ich redete ihm ab, ich erklärte ihm offen, daß sein Talent, das ich wohl kannte, durchaus unzureichend sei, ich bat und beschwor ihn, von seinem Vorsatze zu lassen, ich erzählte ihm Holder’s Geschichte und zeigte ihm die Nachricht von dessen Ende im Armenhause. Was war die Folge? Er ging beleidigt von mir hinweg und am andern Tage schrieb er mir einen groben Brief – und brach jede Beziehung mit mir ab. Ein halbes Talent ist die unglücklichste Gabe, welche die Natur einem Menschen verleihen kann!



[476]

Gabentempel. Schützenfestplatz in Bremen. Festhalle.
Aufgenommen von der Galerie der Fahnen- und Sängerhalle.

[477] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[478]
Die deutsche Submarine und – Napoleon der Dritte.
Auch ein Festwort!

Wir bitten alle Leser der Gartenlaube, den nachstehenden Artikel nicht zu überschlagen, weil sie vielleicht etwas rein Technisches oder bereits mehrfach Besprochenes darin zu finden fürchten, sondern, wenn sie patriotischen Herzens sind, das Schicksal eines deutschen Mannes und einer deutschen Ehrensache an dieses Herz pochen zu lassen, damit es für Beide zu Theilnahme und That erwärme.

Die Hoffnung, daß die deutsche Erfindung der unterseeischen Schifffahrt vom Staate Preußen ausgeführt werde, ist nicht in Erfüllung gegangen; das verheißungsvolle Wort des königl. Kriegs- und Marine-Ministers, das er am 2. November 1864 an den Verfasser dieses Artikels gerichtet: „Uebrigens verkenne ich die in Ihrem gefälligen Schreiben hervorgehobene Wichtigkeit der Erfindungen des Herrn Bauer für das Marinewesen keineswegs, beabsichtige vielmehr von denselben für die preußische Marine denjenigen Gebrauch zu machen, der sich nach eingehender Prüfung als nützlich erweisen wird, und zweifle nicht über die dazu erforderlichen Fonds seiner Zeit verfügen zu können“ – ist ohne Folge geblieben – trotz der einstimmig günstigen Urtheile, welche sowohl die Fachmännercommissionen in Leipzig, Dresden und Breslau, als die vom Kriegs- und Marine-Ministerium aufgestellten Prüfungskommissionen in Berlin und Danzig über dieselben aussprachen. Wieder ist ein Jahr verloren für die Erfindung und für den Erfinder, dessen Gesundheit sogar unter den fortgesetzt niederdrückenden Erfahrungen zu leiden beginnt.

Von ministerieller Seite wurde allerdings im Landtage auf eine Interpellation hinsichtlich der Bauer’schen Erfindung erklärt, daß sie nicht zurückgewiesen sei. So ist es auch wörtlich; sachlich ist es so: Zu den Commissionssitzungen zur Prüfung der Erfindung, namentlich des Küstenbranders, der neuen für denselben bestimmten Motionsmaschine und eines rückstoßfreien Geschützes, waren vorn Kriegs- und Marine-Ministerium nur Officiere von der Marine, der Artillerie und dem Genie beordert, nicht auch die Herren Marine-Räthe. Den Officieren, welchen Bauer mündlich Vortrag hielt und Zeichnungen und Modelle erklärte, war nicht nur Alles klar, sie gestanden als ebenso hochgebildete wie redliche Männer ihr freudiges Erstaunen über die Sinnigkeit, Großartigkeit und Wichtigkeit der Erfindung ein und empfahlen der Regierung zunächst die Erprobung des Geschützes und der Maschine, deren Kosten sie zu nicht ganz fünftausend Thalern veranschlagten. Bauers unterseeisches Schiff selbst bedarf keiner Erprobung mehr, es ist hinlänglich erprobt hinsichtlich seiner Fähigkeit, beliebig zu sinken, zu steigen, zu wenden und zu incliniren; nur die Fortbewegung durch Menschenkraft war ungenügend, und diese sollte eben durch die neue Motionsmaschine zu einer selbst die Dampfkraft übersteigenden Vervollkommnung gebracht werden. So verhielten sich die Officiere zu der Erfindung. Anders die Herren Marine-Räthe, welche dieselbe nach dem Referat der Commission und der schriftlichen Darstellung Bauer’s prüften. Sie vermißten an der Erklärung der Erfindung Verständlichkeit und Präcision, fanden darin zu viel Problematisches und verlangten von Bauer eine wissenschaftlichere Darstellung. Man kann dieses Verlangen vom Standpunkt gewissenhafter Staatsdiener gerechtfertigt finden. Allein Bauer, der geniale Erfinder, ist ein Mann der Ausführung, der That, kein Mann, von dem man, trotz seines reichen, schwer errungenen Wissens, die Ausarbeitung streng wissenschaftlicher Abhandlungen verlangen sollte. Dazu fehlt es doch in Preußen nicht an Gelehrten, die man hätte beauftragen können, sich mit dem Erfinder zu diesem Behufe in Verbindung zu setzen. Statt dessen überließ man ihm diese Sorge allein, während man ihm zugleich die Remuneration, mit welcher man ihn einige Monate unterstützt hatte, und damit die Mittel entzog, eine solche, wegen dazu nothwendiger Experimente und zahlreicher Berechnungen sehr zeitraubende Arbeit auf eigene Faust durchzuführen, ohne wieder auf die dort so sehr mißliebige nationale Unterstützung angewiesen zu sein. – Von einer solchen Behörde konnte Bauer für die Ausführung der Submarine nichts mehr hoffen.

Desto mehr aber von dem Volke dieses Staats, mit dessen Geldbeutel die Erfindung in innigster Beziehung steht.

Es sind von der preußischen Regierung Millionen beansprucht worden zur Anschaffung einer starken Panzerflotte. Haben die Panzerschiffe sich wirklich schon so bewährt, daß eine Verwendung so großer Summen für sie gerechtfertigt ist? Die Stimmen englischer Marineofficiere bestreiten das. Sie sprechen es ohne Vorhalt aus, daß in England die schöne Summe von fünfundsechszig Millionen Pfund für Panzerschiffe verschwendet worden sei. Sie sagen von ihren dermaligen Schiffen selbst, daß sie so geschwind wie die Schweine schwämmen und vortreffliche Taucher seien, nur mit dem Unterschied, daß sie, wenn einmal drunten, nicht wieder heraufkämen. In Frankreich hat man ohne Zweifel dieselben Erfahrungen gemacht, muß jedoch darüber schweigen. Daß man aber in England wie in Frankreich mit der größten Zuvorkommenheit für deutsche Regierungen so viele Panzerschiffe baut, als diese nur wünschen, ist nicht schwer einzusehen, denn je mehr wir für Marinezwecke Summen vergeuden, desto freundlicher sind unsere Nachbarn.

Eben deshalb muß es gerade dem preußischen Volke, dem diese Panzerbeglückung am stärksten droht, vom höchsten Interesse sein, sich von dem Experiment zu überzeugen, daß Bauer mittelst seines rückstoßfreien Geschützes, welches zur Ausrüstung seines unterseeischen Kriegsschiffs, des Küstenbranders, gehört, die stärksten Panzerplatten durchschießt. Mit einer einzigen solchen unterseeisch durchschossenen Panzerplatte in der Hand kann die Volksvertretung dem Staate Millionen ersparen – Millionen, die für das trügerische Wagniß flüssig gemacht werden sollen, während der Bauer’schen Erfindung gegenüber der deutsche Staat der Intelligenz erklärt: „daß er für Experimente kein Geld habe!“

In diesen paar Worten ist ein großes Stück unsres deutschen Jammers ausgedrückt. „Der Staat hat kein Geld für Experimente!“ Was sagt England, Frankreich, Nordamerika, was sagt Italien und Rußland dazu? Wo wäre deren Größe, wenn sie selbst auf solche Weise sich zur ewigen Nachahmung und zum Nachmachen des auswärts Erprobten (und natürlich dann auch zumeist Ausgebeuteten) verurtheilt hätten! – Wer fragt nun noch, was unsere größten Erfindungen erst in’s Ausland getrieben hat und warum gerade darin unsere Abhängigkeit vom Ausland kein Ende findet? Das Dampfschiff, der Telegraph, die Schiffsschraube – wir mußten es als Fremdes zu uns hereinziehen, wo es seinen ersten Ursprung gehabt, und kaum ist die Schnellpresse diesem Schicksal entgangen, und wahrlich nicht durch irgend eine Regierungssorge, sondern einzig und allein durch die deutsche Bürgertüchtigkeit.

An diese appelliren wir auch abermals für unsern Wilhelm Bauer und seine großen und wichtigen Erfindungen. – Und weil es der tüchtige Bürger vor Allem ist, der Wahrheit verlangt und Wahrheit verträgt, so darf unserer Bitte ohne Befürchtung vor nachtheiliger Wirkung das Folgende vorausgehen.

Wenn wir recht klar erkennen wollen, warum Erfinder einen so schweren Stand in Deutschland haben, so müssen wir Vergleiche mit Nationen ziehen, mit denen wir auf gleicher Höhe der Cultur stehen: mit Nordamerika, England und Frankreich. – In den beiden ersten Staaten nimmt die Nation sich sofort jeder großen Erfindung an, in letzterem die Regierung. Dies Alles geschieht rein im nationalen Interesse, aus Einsicht in die kulturhistorische Tragweite großer Erfindungen und kluger Rücksicht aus Vermehrung des Nationalcapitals. Man betrachte die Opfer, welche das Volk der nordamerikanischen Union während seines Bürgerkriegs für neue Erfindungen brachte; sie sind nicht geringer, als die, welche der Krieg selbst kostete, aber sie sind der bleibende und wachsende Segen desselben. Nicht blos neue furchtbare Kriegswaffen schuf der Erfindungsgeist, sondern auch neue Kräfte für die Industrie und Landwirthschaft, die für die ihr durch den Krieg entzogenen Männerarme Maschinen verlangte, mit der auch Kinder und Greise die nothwendige Arbeit vernichten konnten. Wie hoch England in dieser Hinsicht dasteht, braucht man Niemandem zu sagen. Und sinnt man in beiden Staaten zuerst auf die Ausbeute neuer Erfindungen zum eigenen Vortheil, so hat uns Frankreich das Beispiel gegeben, wie der Staat bedeutende Erfindungen an sich kauft, die Erfinder würdig belohnt und den neuen Culturfortschritt, der durch sie errungen ist, durch Veröffentlichung zum Gemeingut der eigenen Nation wie aller anderen zugleich macht. Wir erinnern [479] nur an Daguerre und Morse; – die Photographie und der elektrische Draht sind durch Frankreich Allgemeingut der Erde geworden.

Wie gering zeigt sich dagegen bei uns die Einsicht in die Wichtigkeit großer Erfindungen für den geistigen wie für den materiellen Fortschritt! Und hierin sündigen die Fachleute erfahrungsmäßig so stark, wie unsere Regierungen, welche solche Erfindungen der beliebigen Behandlung der betreffenden Fachleute überlassen, und ebenso sehr das Volk, das Beiden theilnahmlos zusieht. Nimmt man die Menschen, wie sie sind, nicht, wie man sie sich wünscht, so erkennt man, daß die große Mehrheit der Fachleute Das, was sie gelernt und erprobt, viel zu lieb haben und daß sie viel zu stolz darauf sind, um einer Erfindung, die einen völligen Umsturz des Alten droht, leicht zugänglich zu sein. Nicht die ehemaligen Krieger von Geburt und Stand, nicht die Ritter, sondern die Bürger führten das Schießpulver ein, – und nicht die fortschreitende Cultur, sondern das Pulver brach die Burgen der Feudalherren. – Nicht die Mönche, die einstigen Schreiber der Bücher und Bewahrer und Verbreiter handschriftlicher Weisheit, führten die Buchdruckerkunst ein, sondern die Bürger, und nicht die sogenannte Morgenröthe der Wissenschaften und Künste, sondern diese Erfindung führte das Licht einer neuen Zeit herauf. – Nicht die Herren des alten Verkehrs, die Fuhrleute, bauten die ersten Eisenbahnen, sondern sie waren die erbittertsten Feinde derselben, und das Volk war es, das dem Dampfroß auf den Eisenschienen entgegenjubelte, – und ebenso ist es nicht zu verwundern, daß, mit sehr ehrenwerthen Ausnahmen, gerade unter den Seekriegsleuten sich die entschiedensten Gegner der Bauer’schen Erfindung der unterseeischen Schifffahrt hervorthun. Aber eben darum ist es wiederum Pflicht des Volkes, wie einst die Ritter, die Mönche, die Fuhrleute, jetzt die Seeleute zur Anerkennung der neuen Stufe der Cultur zu zwingen, auf welche Bauer’s Erfindungen hinaufführen.

Erst in jüngster Zeit hat endlich eine deutsche Stimme von gutem Klang auch im Namen der Naturwissenschaft ein Wort für Bauer’s Submarine gesprochen. „Die Naturwissenschaft,“ sagt Roßmäßler, „ist in hohem Grade bei der Ausführung der Bauer’schen Erfindungen, wenigstens zunächst seiner Taucherkammer (vergl. Gartenlaube 1862, Nr. 21) betheiligt, denn nur sie ermöglicht dem Forscher einen Besuch in Neptuns Gärten und Menagerien. Was wir jetzt von den Bewohnern des Meeres wissen, ist nicht viel mehr, als was uns das Gerathewohl zuwarf. Wir kennen sie mit wenigen Ausnahmen nur losgelöst von ihrer Heimstätte; wie es unten auf dein Meeresgrunde knebelt und krabbelt, wie es huscht und dahinschießt oder in ewiger beschaulicher Regungslosigkeit ein zwischen Thier und Pflanze schwankendes Leben träumt – davon wissen wir kaum mehr als nichts. Wie gewaltig, wie räthselhaft schön muß es sein, wenn man in fünfhundert Fuß Meerestiefe, worauf Bauer’s Taucherkammer berechnet ist, in grünem Dämmerlicht hinausblickt in nie gesehene Thier- und Pflanzengärten! Der sprüchwörtlich gewordene Zauber der Tropenwälder des Festlandes ermangelt in dem Wissenskreise der Menschen seines Gegenstückes unter dem Wasser. Und doch sagen uns schon die armseligen Bruchstücke, welche uns Taucher und das Schleppnetz herausbrachten, welch eine Fülle von Pracht und Neuheit dort unten des Besuches der Forscher harre. Wohlan, Wilhelm Bauer will der Vermittler sein. Wo sind die kühnen Besucher? O! die wären schon da; aber wo ist die Größe der Auffassung, die mit voller Hand sich zwischen Beide stellt?“ – –

Ist auch dieser fragende Schluß fast trostlos, so darf doch dies uns nicht beirren, unsere Hoffnung abermals auf das zu setzen, was schon einmal geholfen hat: die deutsche Bürgertüchtigkeit. In ihr concentrirt sich, was in Deutschland in nationaler Kraft werkthätig ist. Das deutsche Bürgerthum wird jetzt um so energischer für Wilhelm Bauer, für die Ehre der deutschen Erfindung der Submarine und für die erste Ausführung derselben in und für Deutschland eintreten, sie wird um so opferfreudiger dazu beisteuern, je größer und mächtiger der Rivale ist, der gerade für das äußerste und glänzendste Ziel aller submarinen Erfindungen Bauer’s plötzlich mit dem Anspruch auf Erfinderebenbürtigkeit neben ihm steht: Napoleon III., der Franzosen-Kaiser!

Einige Worte zum Verständniß. Wie ich in der Gartenlaube schon mehrfach angedeutet, ist nicht die Verwendung im Krieg der Hauptzweck der unterseeischen Schifffahrt. Der Brandtaucher wie der Küstenbrander sollten nur, wie einst die Heerwege zu den Landstraßen des friedlichen Verkehrs, zum unterseeischen Dienst für eine Industrie führen, von deren möglicher Großartigkeit wir jetzt so wenig ein klares Bild haben können, als der Naturforscher von den Wundern des Meers, durch welche einst die erschlossene Tiefe des Menschen Auge entzücken wird. Das Nächste waren die zukünftigen Arbeiten der Taucherkammer: das Heben untergegangener Schiffe und Güter, Perlen- und Korallenfischerei, Bauten unter Wasser, sturmfreie Fahrten für Reisende, Naturforschung etec.; die höchste Aufgabe der Submarine, die wir bis jetzt als solche unseren deutschen Landsleuten kaum hinzustellen wagten, aus Besorgniß, Bauer dadurch in den Verdacht eines phantastischen Projectenmachers zu bringen, war für ihn jedoch die unterseeische Kabellegung, verbunden mit sturmsicheren Stationen auf dem Meere und ausgerüstet mit unterseeischen Controleschiffen zur Besichtigung der schwebenden Kabel und der Stationen zur Sturmzeit. Für diesen Theil seiner Erfindungen nahm Wilhelm Bauer schon 1860 ein englisches Patent.

In demselben thut derselbe mit überzeugenden Gründen dar, daß jedes Bemühen, ein Kabel auf denn Meeresboden durch den Ocean zu legen, ein vergebliches sein werde, daß unterseeische vulcanische Eruptionen und in großen Tiefen der ungeheuere Druck der Wassersäule, Verstrickung des Kabel in unterseeischen Felsenmassen, Wäldern und Korallenlabyrinthen und selbst vielleicht große uns noch unbekannte Thiere des Meeres als ewige Feinde das gegen sie nur allzu schwache Menschenwerk bedrohen; nur das an Ballons in der Region des ewig ruhigen Meeres schwebende Kabel werde als ein menschenmögliches Unternehmen von möglichster Sicherheit anerkannt werden.

Da durchläuft plötzlich die Zeitungen folgende Nachricht: „Ein schwimmender unterseeischer Telegraphen-Apparat. Herr Armand, der berühmte Schiffsbauer zu Bordeaux, hat ein neues unterseeisches Telegraphen-Kabel vollendet; die Erfindung soll dem Kaiser Napoleon angehören. Dies Kabel soll nicht auf den Boden des Meeres gelegt werden, wo der felsige Boden es häufig verdirbt und zerstört, sondern es soll in eine Tiefe von 30 bis 40 Meter, wo das Meer selbst bei heftigen Stürmen ruhig bleibt, schwimmend erhalten werden. Es wird berichtet, daß Amerika und England bereits mit Herrn Armand wegen Anwendung dieser neuen Erfindung unterhandeln.“ – Was sagen nun unsere Leser, die der Bauer’schen Sache bisher ihre Aufmerksamkeit und Theilnahme geschenkt haben? Der deutsche Bauer geht mit deutscher Gründlichkeit Schritt vor Schritt auf seiner Erfinder-Dornenbahn vorwärts, und nur Wenige begreifen ihn, die Spitze seines Strebens wird als Träumerei verlacht – der französische Kaiser greift’s gleich bei dieser Spitze an – und siegt! –

Die Errichtung und Erhaltung einer unterseeisch-schwebenden Kabel-Linie ist auf die Dauer nicht möglich ohne unterseeische Schifffahrt, und Kaiser Napoleon wird sehr bald gezwungen sein, rückwärts nach derselben zu greifen. Das ist sonnenklar vorauszusehen, und eben deshalb gilt es jetzt, wenigstens die Ehre der ersten Ausführung der Taucherkammer, des industriellen Triumphs der Submarine, für Bauer und damit für Deutschland zu retten! Ermanne sich endlich das deutsche Bürgerthum zu Gaben und Opfern, die, bei den Millionen, welche Geber sein können, die Einzelnen nicht drücken und zum Besten des Ganzen etwas so Großes ausrichten. Möge kein großes Nationalfest gefeiert werden, ohne daß dabei dieser deutschen Ehrenpflicht Genüge gethan werde, mögen Schützen, Sänger, Burschenschafter, möge endlich auch der Nationalverein an diese Nationalschuld denken; es ist die höchste Zeit, daß Deutschland sich aufrafft, um nicht die größte aller neuesten Erfindungen seinem Schooße entreißen zu lassen, abermals zu seinem unberechenbaren Nachtheil und diesmal zu seiner – bei den fast unendlichen nationalen Festlichkeiten, Reden und Resolutionen – ganz besonderen Schande.[2]
Friedrich Hofmann.
[480]
Blätter und Blüthen.


Der Junkersturm auf Mirow. Nachdem die ergötzliche Erzählung von der Heldenthat des Junkers von Arenstorff gegen die mecklenburgische Stadt Mirow schon die Presse verlassen hatte, gingen uns von dem Verfasser des Artikels noch verschiedene sehr interessante Einzelheiten aus dem merkwürdigen Strauße zu, die wir, weil sie auf das Gebahren der mecklenburgischen kleinen Herren ein neues Licht werfen, hiermit nachträglich veröffentlichen. –

Als Herr von Arenstorff vernahm, wie schmählich man seinen Dienstmann in Mirow behandelt, ließ er die Sturmglocke läuten und sammelte alle streitbaren Männer seiner Herrschaft. Es waren deren etwa sechszig, welche sich mit Mistgabeln, Dreschflegeln und Wagenrungen wehrhaft machten, während Herr v. A. selber und seine Hausdienerschaft sich mit Säbeln und Pistolen bewaffneten und fünf Mann stark die Cavalerie der Armee abgaben. Zwei von den fünf Geschützen der Burg wurden auf Mergelkarren befestigt und nun ging es vorwärts in der Richtung auf Mirow. Als der Ort fast erreicht war, wurden die Geschütze auf einem Hügel günstig postirt. Dann rückten Reiter und Fußvolk in die Stadt, und Herr von A. ließ zwanzig Mann den Platz vor dem Schullehrer-Seminar besetzen, während das Hauptcorps an der Zugbrücke Posto fassen mußte. Nunmehr begab der edle Ritter selber, gefolgt von seiner Cavalerie, sich zu dem Commandanten der Burg, dem ersten Beamten des Domanialamtes Mirow, Kammerherrn von Sch…, und forderte die sofortige Freilassung seines Dieners. Herr von Sch… zog es aber vor sich nicht persönlich sprechen zu lassen.

Hierauf wurde das Haus des Polizeidieners, worin Jean detinirt war, erstürmt und Jean wurde frei. Inzwischen bliesen die Nachtwächter des Städtchens Feuerlärm und der Küster zog die Sturmglocke an, worauf sich dann die Einwohner auf dem Damm versammelten. Mehreremale sprengte Herr v. A. mit seinen Reitern dieselben auseinander, wobei einige Städter überritten wurden; dies hatte zur Folge, daß die Mehrzahl derselben sich wieder in ihre Häuser begab. Schuster- und Schneidergesellen thaten sich jedoch zusammen und traten mit Knitteln den Ritterlichen entgegen, worauf letztere denn ihre Säbel zogen und einen Choc ausführten. Ein Schneider Wolfram leistete mannhaften Widerstand. „Hau dem Kerl den Kopf herunter!“ rief Herr v. A. seinem Jean zu, und der Schneider wurde denn auch so bedroht, daß ihm, um sich zu salviren, nichts übrig blieb, als sich von oben herunter in den Wallgraben zu stürzen und sich durch Schwimmen an’s andere Ufer zu retten.

Allmählich wurde nun aber auch in den Bürgern die Galle rege, und so wurden denn Steinwürfe häufig und Schimpfreden noch häufiger. „Wöllt den Kierl den Grind besehn!“ „Wöllt em de Pier (Pferde) dodtstäken!“ scholl es. Inzwischen gewahrte Jean den Böttigermeister Schlange, dem er schon lange nicht grün war. Er sprengte mit dem Säbel auf ihn ein und hetzte ihn zehn bis zwölfmal um das Spritzenhaus herum. „Schlag den Hund auf den Bregen!“ (Hirnschädel) brüllte Herr von A. – „Dit’s mie Dod!“ schrie Schlange, rettete sich aber doch noch glücklich unter die Brücke des Wallgrabens.

Inzwischen hatten die Seminaristen, etwa fünfzig an Zahl, ihren Schlafsaal verlassen und sich vor dem Seminar aufgestellt. Arenstorff sprengte mit seinen Reitern auf sie ein, doch sie wichen nicht. Er ritt nun an die jungen Leute hinan. „Ihr seid tüchtige Kerle! Recht so. im Kampfe feststehn! Alliirt Euch mit mir!“ Dazu verspürten die Aufgeforderten jedoch keine Lust, und bald darauf, nach drei Uhr Morgens, commandirte Herr v. A. seinen Truppen „Kehrt Euch! Marsch!“, und nachdem denn noch einige Gartenzäune und so weiter demolirt waren, kehrte er und die Seinen in das Krümmel’sche Reich zurück.

Am 6. Mai kamen Herr v. A. und Jean wieder in Mirow eingaloppirt, Ersterer mit einem eisernen Knittel von der Stärke eines Forkenstiels bewaffnet. Herr v. A. ließ sich zunächst für zehn Thaler kleine Münze geben und warf dieselbe dann, als die Knaben aus der Schule kamen, unter diese aus, hin und wieder aber auch Eier, faule Aepfel und dergleichen. Dann begann er im Gasthof, wo er abgestiegen, mit seinem eisernen Knittel die Fenster einzuschlagen, forderte auch die Schulknaben auf, ein Gleiches zu thun, und gab denen, die Folge leisteten, pro Mann sechs Groschen. Darauf setzten er und Jean sich zu Pferde und vor das Haus des Amtsgerichts-Auditors Kammerjunker von M… gekommen, forderte er die Anwesenden auf, ihm diesen und den Polizeidiener K… zu binden und herauszubringen; wer’s ausführe, solle zehn Thaler haben. Dieses blieb jedoch fruchtlos, und nun begaben Ritter und Knappe sich vor das Haus des Kaufmanns L… „Zamel (Samuel) raus!“ schreit Herr v. A., und da Zamel nicht erscheint, beginnt er ihm die Fenster einzuschlagen. Endlich schmettert er die eiserne Keule gegen das Schaufenster, so daß dieses vollständig zertrümmert wird. Schlimmeres noch fürchtend, erscheint Zamel jetzt in der Thür und fleht um Gnade. „Leck mir die Pfote, Caliban!“ heischt nunmehr der Ritter, und nachdem der Jude solches gethan, muß er, auf den Knieen rutschend, dem gestrengen Herrn die eiserne Keule zurückbringen. Am nächsten Morgen empfing er jedoch dafür von Herrn v. A. zwanzig Thaler.

Jetzt erschienen indeß der Kammerjunker von M…, der Landreiter Z…, Gerichtsdiener D… und Amtsdiener K… Herr v. A. brüllte: „Jean, Pistolen her! Pistolen her!“

„Herr,“ entgegnete Jean, „diese Herren sind unsere Freunde.“

Das erkannte denn auch nun der edle Ritter, und er begab sich an die Beamten der öffentlichen Sicherheit hinan und reichte Allen die Hand. Auch ein Herr von Linstow kam herzugeritten, und auf das Andringen aller dieser respectabeln Personen entschloß sich denn der Ritter, für heute seiner Thaten genug sein zu lassen. Gegen neun Uhr Abends verließ er endlich Mirow. Am folgenden Tage wurden einige Husaren von Strelitz aus in den Ort gelegt, später dann auch ein Proceß gegen Herrn v. A. angestrengt, der, nachdem er drei Jahre lang gedauert hatte, damit endete, daß Ritter und Schildknappe auf vier Monate nach Dömitz in Festungshaft kamen, während die gemeinen Zuzügler in verschiedenen Abstufungen zu Wasser und Brod condemnirt wurden. –

Man wäre wohl zu dem Glauben berechtigt, daß der Herr v. A. mit seinen Ritterzügen in unseren Zeiten ebenso vereinzelt dagestanden habe, wie weiland Don Quixote mit den seinigen. Dies verhält sich jedoch anders, wie ich selber erst neuerlichst erfahren habe.

Vor dreißig bis vierzig Jahren geschah es mehrfach in der Seestadt Wismar (12,000 Einwohner), daß der Besitzer des eine Meile entfernten Gutes W., Herr v. B., an der Spitze seiner mit Forken, Knitteln und Piken bewaffneten Tagelöhner und Dienstleute daselbst einrückte und das Haus seines Schwagers, des Hauptmanns v. W., überrumpelte oder erstürmte. Dieses Haus bildete eine Ecke von zwei der belebteren Straßen.

Mißlang die beabsichtigte Ueberrumpelung, so wurde Sturm beschlossen, dem aber eine Aufforderung an die Besatzung des Castells, sich gutwillig zu ergeben, vorausging. „Langbeiniger Hund, heraus! Ich schlage Dich sonst in tausend Granatstücke!“ scholl es. Gewöhnlich hatte diese Drohung aber nur die Wirkung, daß der so Aufgeforderte durch anliegende Gärten sich flüchtete oder auch hinterm Schornsteine oder in einem Kamine einen Verteck suchte, selten, daß er die Festung sofort übergab, noch seltener, daß er sch in Vertheidigung setzte. Wurde er schließlich abgefaßt, so wurde er seitens des Herrn von B. mit der Hetzpeitsche „höllisch abkalascht“. Ein oder vielleicht einige Male schleppte man ihn aber auch als Gefangenen nach W., sperrte ihn dort ein und peitschte ihn daselbst in aller Ruhe und Gemüthlichkeit. Wunderbarer Weise suchte der Gemißhandelte nie eine gerichtliche Genugthuung und ebenso mischte sich die städtische Polizei nie in diese Sachen. Dem Herrn von W. wurden übrigens von Niemandem, am wenigsten von seiner Frau und seinen Töchtern, die Auspeitschungen mißgönnt.

Komisch soll nach Erzählungen von Augenzeugen bei diesen Fahrten auch das gewesen sein, daß dem zu Roß den Zug anführenden Kriegsherrn immer sein Jäger Haberdack seitwärts schreiten mußte, ein Lechel (Tönnchen) auf dem Buckel tragend. Alle Augenblicke scholl es: „Habersack, einen kühlen Trunk!“ So vernothwendigte es sich denn, daß das Fäßchen neu gefüllt wurde, bevor man den Rückmarsch antrat. Vom Dursten war Herr von B. überhaupt kein Freund, wohl aber von guten Getränken. Hatte er sich in Wismar ein Fäßchen Wein geholt, so wurde immer schon unterwegs das Spundloch geöffnet und fleißig probirt. Dabei ließ man sich genügende Zeit, wie er und Habersack denn einst mit einem Ohm Rheinwein zwei Tage und drei Nächte von Wismar nach W. unterwegs waren. Selber voll, aber höchst durstig, kamen Herr und Diener schließlich mit leerem Fasse auf der Burg an.




Joseph Staudigl, der berühmte und zuletzt im Irrsinn gestorbene Künstler, sang im Frühling 1853 in Pierson’s Oratorium „Jerusalem“, welches unter Benedict’s Leitung in Exeterhall zu London aufgeführt wurde, und zwar mit so großer Innigkeit und Hingebung an die Tondichtung, daß bei dem schönen und ergreifenden Quintett: „Selig sind die Todten“, im Saale viele Augen voller Thränen standen. Dies mochte nicht eben Wunder nehmen; daß aber über Staudigl’s Wangen ebenfalls die Thränen perlten, mußte auffallen, denn wer so viel singt, ist selbst bei den rührendsten Stellen, wenn er sie ohnedies schon mehrfach gesungen, wohl nur selten eine Beute seiner Empfindungen; im Allgemeinen denkt ja der Sänger immer weniger an die Empfindung, welche die Musik ausdrückt, als an die Mittel, wie er sie am schönsten und correctesten dem Publicum gegenüber zur Geltung bringe.

Als nach der Vorstellung ein deutscher Musiker den ihm befreundeten Künstler nach der Ursache dieser seltsamen Erregung während seines Vortrages fragte, antwortete dieser:

„Es ist etwas Eigenthümliches in dieser Musik. Mich verfolgte dabei gestern außerdem ein eigenthümlicher Gedanke. Vor einigen Tagen speiste ich nämlich bei einer in London lebenden deutschen Familie; später wurde musicirt, und da mehrere Mitglieder derselben gut musikalisch sind und außer mir auch noch eine englische Sängerin da war, sangen wir auch dieses Quintett aus „Jerusalem“. Eine junge, blasse Dame, welche erst nach dem Diner erschienen war und still in einer Ecke dem Vortrage zugehört hatte, brach in Thränen während desselben aus. Auf dem Heimwege sagte mir ein Freund der Familie, daß die Miß ihren Bräutigam durch den Tod verloren habe und sich seitdem in einer Geisteslähmung, einer traurigen Apathie befinde; seit seinem Tode, der vor zehn Monaten erfolgt war, hatte sie noch keine einzige Thräne gefunden, die ihren Schmerz erleichtert, ihre Apathie gebrochen hätte. Die Thränen nun, welche ihr der Gesang entlockt, gaben die sichere Hoffnung der Genesung von ihrer bedenklichen Melancholie. Und seitdem verfolgt mich der Gedanke, daß ich auch einmal in meinem Geiste zerstört sein werde; wieder und immer wieder drängt er sich mir auf, und als ich gestern das Quintett sang, sagte ich aus innerstem Herzen zu mir: ‚Sänge man doch über meinem Sarge dieses rührende Quintett!‘“

Und sein Wunsch ward erfüllt, wie sich seine unheilvolle Ahnung erfüllt hatte. Bald darauf deckte die Nacht des Irrsinns den großen Sänger.


Deutsche Blätter, literarisch-politisches Sonntagsblatt (auch Beiblatt zur Gartenlaube), 1865 enthalten in ihren neuesten Nummern:

27. Das Opfer des Ministers. – Umschau: Unsere leeren Kirchen. – Ein Artikel, der uns spanisch vorkommen wird. – Literarische Wochenschau.

28. Ein alter und doch recht zeitgemäßer Brief. – Umschau: Der feudale Poststaat. II. – Der Tropfenmesser. – Deutsch-Russisches. – Wind-Eisenbahnen. – Literarische Wochenschau.

29. Ein Abend bei Julius Mosen. – Umschau: Aus dem Reiche der Geister. – Eine Revolution. – Das Jubiläum der Burschenschaft in Jena – Literarische Wochenschau.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Das Jahr 1848 brachte neben vielem anderen auch das Gute mit, daß es unter den obengeschilderten halben Talenten – namentlich unter den Journalisten und Publicisten gründlich aufräumte. Vor achtundvierzig ersetzte bei vielen Schriftstellern die Gesinnung, was ihnen an Talent abging. Man half sich mit Ausfällen, mit banalen Angriffen auf Persönlichkeiten und einzelne Behörden, spielte den Märtyrer und entschuldigte die Massenhaftigkeit der Phrase mit der Censur, die das Beste unterdrücke und das Talent nicht zur freien Entwickelung kommen lasse. Als endlich durch die Erhebung des Volkes die polizeilichen Censurschranken fielen und der „freien Entwickelung“ nichts mehr im Wege stand, als es nunmehr galt nicht mit Gesinnung allein, sondem auch ein klein wenig Talent zu haben, d. h. die Gesinnung mit Talent zu vertreten, und die Entschuldigung der Censurstriche ein Unsinn geworden, da wurden über Nacht viele dieser „Talente“ ihres Heiligenscheines beraubt und ihre innere Gehaltlosigkeit trat glänzend zu Tage. Es ist einer der segensreichsten Erfolge der freien Presse, daß sie das wahre Talent in der eklatantesten Weise heraufgefördert und dem halben Talent alle Entschuldigung genommen hat.
    D. Red.
  2. Zur Bildung von Comité’s in möglichst vielen deutschen Städten ist schon mehrfach aufgefordert. Gaben sind an den Cassirer des „Comité für Bauers unterseeische Schifffahrt“, Herrn Banquier Maxim. Epstein (Firma: S. Fränkel sen.) in Leipzig zu adressiren, da es Herrn Ernst Keil bei seinen vielen Geschäften an Zeit gebricht, sich wieder der Sammlung zu unterziehen. Die Generalquittungen werden in der Gartenlaube veröffentlicht. Ein illustrirter Artikel über Bauers unterseeisches Kabel erscheint in nächster Zeit.