Die Gartenlaube (1866)/Heft 14
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No. 14. | 1866. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Einer meiner Patienten war ein wohlhabender Gutsbesitzer in der Nähe der Stadt, den ich mit Verschweigung seines eigentlichen Namens „Brand“ nennen will. Derselbe hatte sich erst kurze Zeit in der Gegend niedergelassen und führte ein höchst zurückgezogenes und einsames Leben, da er ein entschiedener Sonderling war und zum Theil deshalb von allen seinen Nachbarn gemieden wurde. Es ließ sich auch in der That nicht leugnen, daß seine ganze Erscheinung einen unheimlichen Eindruck machen mußte. Man denke sich einen großen, mageren Mann mit einem starken Kopf, der über und über mit struppig rothen Haaren bedeckt war, während sein Gesicht durch eine große Narbe entstellt wurde. Diese auffallende Häßlichkeit wurde keineswegs durch sein Benehmen gemildert, da er in seinem ganzen Wesen etwas Rauhes, Eckiges und Menschenscheues hatte. Ich selbst konnte mich des allgemeinen Vorurtheils nicht erwehren, obwohl er mir in der Unterhaltung als ein gebildeter und wohlwollender Mann erschien.
Dieser häßliche, fast widrig zu nennende Gutsbesitzer hatte merkwürdigerweise eine der schönsten und liebenswürdigsten Frauen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Sie war eine jener sanften Blondinen mit goldenen Haaren und blauen Taubenaugen, aus denen die angeborene Herzensgüte strahlte. Ihre Bewegungen waren voll natürlicher Grazie, ihre Sprache klang wie Musik und ein eigenthümlich süßes Lächeln verlieh ihr einen bezaubernden Reiz. Ihr Gatte trug sie, wie ich beobachtete, auf Händen und bewahrte sie wie seinen Augapfel. Ich selbst war öfters Zeuge seiner Unruhe und Verzweiflung gewesen, wenn sie auch nur über das Geringste klagte. Jeder ihrer Wünsche war ihm ein Befehl, und während er gegen alle Welt zurückstoßend und herzlos erschien, zeigte er ihr gegenüber die innigste Liebe, die aufopferndste Hingebung. Auch sie war, so weit ich bemerken konnte, dankbar und voll Anerkennung für seine Zärtlichkeit und zufrieden mit ihrem Loose, obgleich ich mir darüber kein Urtheil zutraute, da das Herz einer Frau selbst dem erfahrensten Arzte ein ewig verschlossenes und unergründliches Räthsel bleibt.
Da sie öfters kränkelte, so wurde ich zu Rathe gezogen, bei welcher Gelegenheit ich sie kennen lernte. Ihre häufigen Leiden waren nervöser Natur, und ich rieth ihr deshalb mehr Bewegung in der freien Luft und Zerstreuung.
„Wo denken Sie hin, lieber Doctor!“ sagte sie mit ihrer sanften Stimme. „Mein Mann liebt die Gesellschaft nicht.“
„Aber ich halte es für nothwendig, daß Sie mit Menschen mehr verkehren. Die Einsamkeit nährt nur Ihre Hypochondrie und steigert Ihre Krankheit. Ich werde deshalb mit Herrn Brand sprechen.“
„Thun Sie das nicht!“ bat die reizende Frau. „Sie werden ihn nur besorgt machen und betrüben.“
Trotzdem ließ ich mich nicht abhalten, meine Pflicht zu thun, indem ich ihm vorstellte, wie nothwendig einige Zerstreuung für die leidende Frau sei.
„Wenn Sie dazu rathen,“ sagte er mit mehr Fassung, als ich ihm zutraute, „so soll es meiner Frau nicht an der nöthigen Gesellschaft fehlen, obgleich ich, offen gestanden, kein Freund derselben bin. Dennoch werde ich das Opfer bringen und mit ihr einige Besuche in der Nachbarschaft machen und auch zuweilen mit ihr in die Stadt fahren.“
Dies geschah auch, wie ich erfuhr, und die Welt war nicht wenig erstaunt, als der menschenscheue Sonderling mit seiner schönen Frau hier und da eine nachträgliche Visite machte und Bekanntschaften in der Umgegend mit den andern Gutsbesitzerfamilien anknüpfte. So angenehm und liebenswürdig man aber seine reizende Gattin fand, so wenig fühlten sich die Leute zu ihm hingezogen, da er auch im persönlichen Verkehr den Eindruck seiner widrigen Erscheinung nicht zu verwischen vermochte. Trotzdem fanden sich einige Familien, mit denen Herr Brand in eine Art von freundschaftlichem Verkehr trat. Zu diesen gehörte vor allen eine verwittwete Generalin von Tannenberg, welche seine nächste Nachbarin war und die eine wirkliche Neigung für die sanfte Frau des Gutsbesitzers faßte und deshalb den ihr keineswegs zusagenden Mann gleichsam mit in den Kauf nahm.
Auch hier bewährte sich die Macht der Gewohnheit, indem die alte, ebenso gutmüthige wie fein gebildete Dame mit der Zeit den abstoßenden Sonderling ganz erträglich fand und sich gern mit ihm unterhielt, da er in der That gut unterrichtet war und es ihm nicht an Geist mangelte. Sie hörte jetzt auch auf, die sanfte Frau zu bedauern, um so mehr, als diese mit der größten Achtung und selbst mit Liebe von ihrem Manne sprach.
Die Generalin besaß einen einzigen Sohn, der als Officier in der Residenz seit Jahren lebte. Sie liebte ihn mit der größten Zärtlichkeit, obgleich der junge Herr ihr durch sein tolles und wüstes Leben schon manche trübe Stunde verursacht hatte. Er galt für einen der schönsten, aber auch der übermüthigsten Roués der Hauptstadt und war wegen seiner galanten Abenteuer allgemein verrufen. Wie ich hörte, war er in Folge eines neuen Streiches nahe daran gewesen, seinen Abschied zu erhalten. Seine Mutter war jedoch nach der Residenz geeilt und hatte durch ihre Fürbitten das ihm drohende Geschick noch abgewendet. Um ihn den schädlichen Einflüssen der Hauptstadt und dem Schauplatze seiner bisherigen Abenteuer zu entziehen, sollte er nach einer andern [210] Garnison versetzt werden, die Zwischenzeit aber auf dem Lande bei seiner Mutter zubringen, zu welchem Zweck ihm ein längerer Urlaub ertheilt worden war.
Auch in dem Hause des Herrn Brand war zu dieser Zeit eine kleine, an sich unbedeutende Veränderung eingetreten. Bei einem meiner wiederholten Besuche fand ich daselbst ein junges Mädchen, das mir als eine entfernte Verwandte und die künftige Gesellschafterin meiner Patientin, welche sich jedoch bedeutend erholt hatte, vorgestellt wurde. Dieselbe hieß Mariane, und die feurige Brunette mit den frischen, rothen Lippen, schwarzen, brennenden Augen und etwas kokettem Wesen bildete in jeder Beziehung den Gegensatz zu der sanften Blondine. Immer heiter, fröhlich und gut aufgelegt, schien sie mir ganz geeignet, einen wohlthätigen Einfluß auf die stille Gutsbesitzerin auszuüben, der sie außerdem in der Wirthschaft zur Seite stand. Ich war förmlich stolz auf die Umwandlungen, welche ich mir zuschrieb, und freute mich, daß es mir gelungen war, den Sonderling geselliger gestimmt zu haben. Auch Frau Brand schien mir Dank deshalb zu wissen, indem sie mit jedem Tage mir ein größeres Vertrauen schenkte und in mir noch mehr den Hausfreund als den Hausarzt schätzte.
Bald erzählte sie mir, was sie bisher nie gethan, von ihrer Vergangenheit und ihren häuslichen Verhältnissen, von ihrer Jugendzeit und wie sie die Bekanntschaft ihres Mannes bei einer Gelegenheit gemacht, welche mir allerdings, wenn auch nicht ihre Liebe, doch ihre hohe Achtung für ihn vollkommen erklärte. Nach ihren Mittheilungen hatte ihr Gatte, der ein bedeutendes Vermögen besaß, ihren Vater vor einem schimpflichen Bankerott, ihre ganze Familie mit den größten Opfern vor dem Untergange bewahrt.
„Ich war damals noch ein Kind,“ fügte sie hinzu, „und wie alle Kinder, legte auch ich einen großen Werth auf äußere Schönheit. Bald aber gewöhnte ich mich an Brand’s Erscheinung, die mir mit der Zeit vollkommen gleichgültig wurde. Je älter ich ward, desto mehr lernte ich seinen Werth, die Güte seines Herzens, die Gediegenheit seines Charakters kennen und verehren. Eine gewisse Traurigkeit, deren Grund ich in seinen bitteren Erfahrungen suchen möchte, erfüllte mich mit Mitleid für ihn, das ja, wie Sie wissen, mit der Liebe nahe verwandt ist. Als er daher mir seine Hand bot, reichte ich ihm die meinige aus innigster Neigung und mit dem Wunsche, ihn so glücklich zu machen, wie er es verdient.“
Trotz dieses offenen und, wie ich glauben durfte, wahrhaftigen Geständnisses, zweifelte ich doch an ihrem Glück, und die folgenden Ereignisse schienen mir nur zu sehr Recht zu geben. Einige Wochen später erhielt ich eine Einladung auf das Gut des Herrn Brand, wo zu meiner größten Verwunderung das in unserer Gegend gebräuchliche Erntefest ebenfalls gefeiert wurde. Unter der Anführung des Amtmanns, eines noch jungen Mannes, bewegte sich der Zug sämmtlicher Knechte und Mägde nach dem Schlosse, um die mit Bändern und Goldflittern geschmückte Krone dem Gutsherrn und seiner Frau zu überreichen. Der Amtmann hielt eine poetische Ansprache an Beide, worauf ein improvisirter Tanz das kleine Fest beschloß.
Unter den anwesenden Gästen bemerkte ich die Generalin mit ihrem Sohn, der allerdings den ihm vorangehenden Ruf vollkommen rechtfertigte. Der Lieutenant war in der That ein ausgezeichnet schöner Mann, ein perfecter Tänzer und mit jener verführerischen Kühnheit ausgestattet, welche den meisten Frauen so gut gefällt. Wie in der Residenz, so fehlte es ihm auch hier nicht an Eroberungen, und besonders war die feurige Mariane von ihm entzückt. Beide tanzten viel und oft zusammen, und das schöne Paar überließ sich einer fast auffallenden Heiterkeit. Auch die Frau des Gutsbesitzers mischte sich, wenn auch seltener, in die frohen Reihen und tanzte einigemal mit dem verführerischen Officier, während ihr Mann finster in einer Ecke stand und mit seinen unheimlichen Blicken sie zu verfolgen und zu bedrohen schien. Nichtsdestoweniger verlief das Fest ohne jede Störung und dauerte bis spät in die Nacht hinein.
Ich selbst konnte nicht bis zum Ende bleiben. Deshalb ersuchte ich den mir bekannten Amtmann, den Wagen für mich anspannen zu lassen, indem ich mich bei ihm wegen der unwillkommenen Störung entschuldigte.
„O,“ entgegnete der junge Mann, „das hat nichts zu sagen. Ich wollte, daß die ganze Geschichte bald ein Ende hätte.“
„Ich dachte, daß Sie sich Gott weiß wie sehr amüsiren.“
„Ein schönes Amüsement!“ brummte der Amtmann. „Das ganze Jahr hat man sich auf das Erntefest gefreut, und nun kommt so ein Kerl und verdirbt einem den ganzen Spaß. Das Weibervolk rennt ja hinter ihm her, als wenn es verzaubert wäre!“
Erst jetzt wurde es mir klar, daß auch der Pächter auf den schönen Lieutenant eifersüchtig war und zwar Marianens wegen, die der junge Mann in sein Herz geschlossen und auf die er wohl ernstere Absichten haben mochte.
Bei meinem nächsten Besuche auf dem Gute fand ich das ganze Haus in einer auffallenden Verstimmung; Herr Brand blickte noch finsterer und unheimlicher, als gewöhnlich, seine Frau hatte einen Rückfall ihres früheren Nervenleidens, und die fröhliche Mariane begegnete mir mit vom Weinen gerötheten Augen. Als ich mit meiner Patientin allein war, erzählte sie mir unaufgefordert, daß es wegen des schönen Lieutenants zu ärgerlichen Auftritten gekommen sei. Derselbe hatte, nach ihren Mittheilungen, mit Mariane ein Verhältniß angeknüpft und das eitle, unerfahrene Mädchen überredet, ihm ein Rendezvous zu geben. Der eifersüchtige Amtmann, der Mariane wirklich leidenschaftlich liebte und ihr auf Schritt und Tritt nachfolgte, hatte das Stelldichein dem Gutsbesitzer verrathen und dieser deshalb den Officier zur Rede gestellt. Beide geriethen bei dieser Gelegenheit so hart aneinander, daß Herr Brand ihm den Besuch seines Hauses verbot und jeden Umgang mit der Familie der Generalin abbrach. Auch der Amtmann war in Folge dieser Vorfälle entlassen worden und Mariane von demselben Geschick bedroht. Nur auf die dringenden Bitten und Vorstellungen seiner sanften, guten Frau hatte Herr Brand ihr verziehen und eingewilligt, sie noch ferner in seinem Hause zu dulden.
Leider gelangte diese Geschichte mit den gewöhnlichen Entstellungen und Uebertreibungen bald in die Oeffentlichkeit und weckte von Neuem das kaum zum Schweigen gebrachte Vorurtheil gegen den häßlichen Brand. Merkwürdigerweise wurde nicht dem übermüthigen Officier, der ein junges, unerfahrenes Mädchen zu verführen gesucht hatte, sondern dem Gutsbesitzer, welcher nur die Ehre seines Hauses wahren wollte, alle Schuld beigemessen. Allgemein glaubte man auch, daß das Verhältniß des Lieutenants mit Mariane nur ein Vorwand wäre, um seine eigene Eifersucht zu verbergen, daß nicht diese, sondern die sanfte Frau das Zerwürfniß mit der Generalin und ihrem Sohn herbeigeführt und Grund zu dieser Trennung gegeben habe. Auch über den Streit selbst waren die verschiedensten Gerüchte verbreitet, wonach Herr Brand die furchtbarsten Drohungen gegen den Lieutenant ausgestoßen und ihm blutige Rache geschworen haben sollte.
Obgleich die Mittheilungen meiner Patientin ganz anders lauteten, war ich doch mehr geneigt, der öffentlichen Stimme Glauben zu schenken, da dieselbe meinen eigenen Beobachtungen entsprach, behielt jedoch meine Ansicht für mich. Im Stillen freute ich mich, daß die Sache ein solches Ende genommen hatte, da Herr Brand keineswegs ein Mann zu sein schien, der in solchen Dingen Spaß verstand, und ich ihm bei seiner mir nur zu bekannten Eifersucht das Schlimmste zutraute.
Eines Tages erhielt ich die Aufforderung, mich schleunigst nach dem Schlosse des Herrn Brand zu verfügen. Zugleich theilte mir der Bote mit, daß sich daselbst ein großes Unglück ereignet habe. Aus seinen verworrenen Reden konnte ich nur entnehmen, daß es sich um eine schwere Verwundung, wo nicht gar um einen Mord handelte. Ich fand das ganze Haus in der größten Zerstörung und Bestürzung, Herrn Brand selbst als Gefangenen, bewacht von einigen Gensd’armen, seine Frau in den heftigsten Krämpfen. Ein bereits anwesender Polizeibeamter forderte mich auf, die Wunden des Lieutenants von Tannenberg zu untersuchen, den man bewußtlos und in seinem Blute schwimmend vor wenigen Stunden, nach Mitternacht, in der Nähe des Schlosses gefunden hatte.
Niemand zweifelte, daß hier ein schweres Verbrechen begangen und kein Anderer als Herr Brand der Thäter sei.
Ausgestreckt auf seinem blutigen Lager, bleich und entstellt, lag der schöne, junge Mann, der mir noch vor wenig Wochen als ein Bild des frischen Lebens und der übermüthigen Jugend erschienen war. Zu seinen Füßen saß seine ebenfalls herbeigerufene Mutter, welche mich mit dem tiefsten Mitleid erfüllte. Ihre feinen [211] Züge verriethen den höchsten Schmerz, während in ihren thränenlosen Augen die unheimliche, düstere Gluth der Rache loderte. Leise näherte ich mich dem Kranken, der nur durch ein schwaches, unterbrochenes Athmen ein kaum bemerkbares Lebenszeichen von sich gab. Bei meiner genaueren Untersuchung entdeckte ich am Kopfe eine Schußwunde; die Kugel mußte nach meinem Dafürhalten in das Gehirn gedrungen sein, weshalb mir die Verletzung tödtlich erschien und keine Hoffnung auf Genesung zuließ.
Der anwesende Polizeibeamte forderte mich auf, mein ärztliches Gutachten, so wie meine Kenntniß von dem ganzen Vorfall zu Protokoll zu geben. Letztere beschränkte sich natürlich nur auf meine Wahrnehmungen und Beobachtungen aus früherer Zeit, wobei ich nicht verschweigen konnte und wollte, was ich über den Streit zwischen dem Lieutenant und dem Angeklagten wußte. Außer mir wurden noch einige Zeugen vernommen, verschiedene Bewohner des Hauses und der Schaffner des Gutes, dessen Aussagen besonders gravirend waren. Derselbe bekundete, daß er, durch das Bellen des Hofhundes geweckt und aufmerksam gemacht, gegen Mitternacht aufgestanden sei, indem er einen Einbruch von Dieben in das Schloß befürchtete. In der Nähe desselben bemerkte er im Mondenschein deutlich eine dunkle, in einen Soldatenmantel gehüllte Gestalt zwischen den Bäumen des Parkes schleichen. Ehe er jedoch sich nähern konnte, war ihm ein Anderer, in dem er den Gutsherrn zu erkennen glaubte, zuvorgekommen. Beide Männer waren bald in einen Kampf verwickelt, ein Schuß drang an sein Ohr und zugleich sank der Erste zu Boden, während sein Gegner zwischen den Gebüschen plötzlich verschwand. Der ganze Vorfall hatte kaum einige Minuten gedauert, und als er jetzt erschrocken hinzueilte, fand er den Lieutenant in seinem Blute. Auf sein Schreien um Hülfe und wiederholtes Pochen öffnete sich die Thür des Schlosses, aus der ihm der Gutsherr, vollkommen angekleidet und mit einem Revolver bewaffnet, entgegentrat. Andere Zeugen bestätigten und verstärkten noch diese Aussage des Schaffners durch ihre Wissenschaft, ohne jedoch etwas Erhebliches aus eigener Beobachtung hinzuzufügen.
Nachdem der Beamte sein vorläufiges Protokoll geschlossen hatte, forderte er den Angeklagten auf, der seine Unschuld wiederholt betheuerte, den bereitstehenden Wagen zu besteigen und ihm nach dem Stadtgefängniß zu folgen. Ich selbst blieb noch zurück, um für die unglückliche Frau und den Verwundeten Sorge zu tragen. Da die Generalin durchaus ihren Sohn nicht länger unter dem verhaßten Dache dulden wollte, so wurde eine Tragbahre herbeigeschafft und der fast sterbende Officier unter meiner Leitung auf diese Weise nach dem Schlosse seiner Mutter transportirt. Seine fernere Behandlung, wenn von einer solchen noch die Rede sein konnte, übernahm der mir befreundete Hausarzt der Generalin.
Alle Welt war von Brand’s Schuld überzeugt, nur nicht seine Frau, welche ihn allein von jedem Verdachte freisprach und ihm in seinem Unglück eine seltene Treue und Opferfähigkeit bewies, so daß ich an ihrer Liebe für ihn und ihrer Unschuld in Bezug auf den Lieutenant nicht länger zweifeln konnte. Sie war, sobald sie sich erholt hatte, in die Stadt gezogen, um ihrem Manne näher zu sein. So oft es ihr gestattet war, besuchte sie ihn in seinem Gefängnisse; auch ließ sie kein Mittel unversucht, um ihn zu befreien. Eine bedeutende Caution, die sie zu diesem Zwecke anbot, wurde jedoch nicht angenommen, da der Untersuchungsrichter das allgemeine Vorurtheil gegen den Angeklagten mehr oder minder zu theilen schien. Unter solchen Verhältnissen ließ sich fast mit Gewißheit annehmen, daß ihn die Geschworenen schuldig finden würden. Für diesen Fall hatte Brand eine lebenslängliche Zuchthausstrafe, wenn nicht gar den schimpflichen Tod durch das Beil des Henkers zu erwarten.
Einige Wochen vor der öffentlichen Schwurgerichtssitzung, in welcher der Fall zur Verhandlung kommen sollte, besuchte mich der Hausarzt der Generalin und machte mir eine interessante Mittheilung über den Zustand des verwundeten Officiers. Dieser war wider Erwarten noch immer am Leben, aber in fortwährender Todesgefahr, weshalb mich mein College aufforderte, den Patienten zu sehen und an einem Consilium über ihn theilzunehmen, zu dem auch ein berühmter Operateur und Wundarzt aus der Residenz berufen war.
Zur festgesetzten Stunde begab ich mich nach dem Schlosse der mir bekannten Generalin, wo ich bereits den Geheimrath und den Hausarzt vorfand. Wir traten in das dunkle Krankenzimmer, um den jetzigen Zustand des Patienten genauer zu untersuchen. Derselbe bot in der That ein eben so trauriges als wunderbares Bild dar, wie es gewiß nur selten dem Arzte vorkommen mag. Das Bewußtsein fehlte fast gänzlich und äußerte sich höchstens in thierischen Trieben; die rechte Seite war vollständig gelähmt, ebenso die Zunge, die nur unverständliche Töne zu lallen vermochte. Der Kranke kannte weder seine Mutter, noch seine übrige Umgebung; er lag den größten Theil des Tages mit halbgeschlossenen Augen in dumpfer Betäubung vor sich hindämmernd. Sein Gesicht war leichenblaß und gedunsen, der Körper im höchsten Grade abgemagert.
Nachdem die Untersuchung beendet war, zogen wir uns in das anstoßende Zimmer zurück, um uns über den eigenthümlichen Fall zu berathen. Es war kein Zweifel, daß die noch im Gehirn steckende Kugel und vielleicht vorhandene Knochensplitter oder Eiteransammlungen einen Druck auf das Organ ausübten und die Lähmung verursachten. Die Hauptfrage war nur die, ob unter diesen Umständen eine so verspätete Operation zu rechtfertigen wäre. Der berühmte Operateur war dafür und erzählte von einigen, wenn auch höchst seltenen Fällen, wo dieselbe unter ähnlichen Verhältnissen geglückt war. Ich selbst stimmte ihm bei und auch der Hausarzt gab schließlich nach, obgleich er anfänglich sich dagegen erklärt hatte.
Es handelte sich nur noch darum, die Einwilligung der verzweifelten und unglücklichen Mutter zu erhalten, der wir nicht die große Gefahr einer solchen Operation verschwiegen.
„Thun Sie,“ sagte diese, „was Sie vor Ihrem Gewissen verantworten können. Besser, daß mein Sohn stirbt und von seinen Qualen erlöst wird, als daß er in diesem traurigen Zustande fortlebt.“
Da der Geheimrath die nöthigen Instrumente zur Hand hatte, so wurde sofort von ihm an die Ausführung gegangen. Bekanntlich gehört die sogenannte Trepanation oder Eröffnung der Schädelhöhle, wenn auch nicht zu den schwierigsten, doch zu den gefährlichsten und mühevollsten Operationen. Es wird dabei mittelst einer Art von kreisförmiger Säge, die man durch einen besonderen hebelartigen Apparat in Bewegung setzt, ein rundes Knochenstück herausgeschnitten, vorsichtig herausgehoben und die darunter befindliche „harte Hirnhaut“ blosgelegt und eingeschnitten. Mit großer Geschicklichkeit vollbrachte der berühmte Operateur diese verschiedenen Manipulationen, wobei ich ihm zu assistiren die Ehre hatte. Während der ganzen Zeit gab der arme Patient keinen Laut, kein Zeichen von Empfindung, so daß er zu seinem Glück ganz gefühllos zu sein und den sonst furchtbaren Schmerz kaum zu spüren schien.
Nach Verlauf einer Viertelstunde, die mir eine Ewigkeit dünkte, war das betreffende Knochenstück in der Größe eines Thalers herausgeschnitten und entfernt, so daß man unter der bläulichen Haut das Gehirn durchschimmern und das Heben und Senken desselben bei jedem Athemzuge des Kranken deutlich bemerken konnte. Ein Schnitt in der Richtung der Wunde, von der sicheren Hand des Operateurs geführt, deckte jetzt den inneren, schmalen Schußcanal auf, in welchem die mit größter Vorsicht eingeleitete Sonde die noch darin verweilende Kugel nachwies. Erst jetzt kam der schwierigste Theil der ganzen Aufgabe, die Entfernung derselben durch die Kugelzange. Wider Erwarten gelang die Auffindung und Herausziehung in überraschend schneller Zeit; einige Knochensplitter, welche ebenfalls die Sonde verrathen hatte, wurden mit derselben Geschicklichkeit glücklich herausgezogen und entfernt. Zugleich fand eine nicht allzubedeutende Entleerung von Eiter und schwarzem halbgeronnenem Blute statt, worauf die Wunde wieder vorsichtig geschlossen und mit dem vorgeschriebenen Verbande bedeckt und geschützt wurde.
Gleich nach der Operation wurde der Kranke in sein Bett zurückgebracht und ihm ein Löffel Wein eingeflößt. Sichtlich zeigte sich bei ihm, trotzdem er sehr erschöpft war, das Wiedererwachen des Bewußtseins; auch schien die Empfindung zurückgekehrt zu sein, da er von Zeit zu Zeit einen tiefen, schmerzlichen Seufzer ausstieß und mit seiner linken Hand nach dem Kopfe griff, um den wahrscheinlich ihm lästigen Verband zu entfernen. Trotzdem hatte der Geheimrath wenig oder gar keine Hoffnung, da das Leiden schon zu lange Zeit gedauert hatte und in Folge des neuen Eingriffs heftiges Wundfieber und drohende Gehirnentzündung zu befürchten standen. Auf Bitten der bekümmerten Mutter blieb [212] der berühmte Arzt, der in der Residenz erwartet wurde, noch bis zum nächsten Morgen, um den Patienten zu beobachten. Da in dem Zustande keine wesentliche Veränderung eingetreten war, so reiste er ab, nachdem er noch einige Anordnungen getroffen und dem Hausarzte mit mir zusammen die fernere Behandlung übertragen hatte.
Einige Tage vergingen in Furcht und Erwartung. Das Wundfieber hatte sich eingestellt, aber im Ganzen einen milderen Verlauf genommen, als wir geglaubt. Als dasselbe geschwunden war, schlug der Kranke zum ersten Mal wieder die sonst immer halb geschlossenen Augen auf. Auch die Sprache war zurückgekehrt und mit ihr allmählich das lang vermißte Bewußtsein.
Wir durften Hoffnung schöpfen, wenn auch die Gefahr noch keineswegs beseitigt schien.
Unterdeß war der Termin für die nächste Schwurgerichtssitzung herangerückt. Noch immer schmachtete der angeklagte Brand in seinem Gefängnisse, obgleich seine Lage sich dadurch einigermaßen günstiger für ihn gestaltet hatte, daß sein Gegner noch am Leben war, wenn auch die Aussicht auf seine Erhaltung und Genesung noch immer bezweifelt werden mußte. Das Gericht hatte von diesem Umstande Notiz genommen und ein Gutachten von mir eingefordert, ob der Kranke zurechnungsfähig und überhaupt befähigt wäre, als Hauptzeuge gegen den Angeklagten vernommen zu werden.
Nach einer genauen Untersuchung und Berathung mit meinem Collegen mußte ich beide Fragen bejahen; in Folge dessen sich der Untersuchungsrichter in meiner Begleitung nach dem Schlosse der Generalin begab, da die Nähe eines ärztlichen Beistandes bei der noch vorhandenen Schwäche des Patienten dringend geboten war. In unserer Gegenwart bereitete die Generalin ihren Sohn vorsichtig auf den Zweck unserer Erscheinung vor. Anfänglich schien er nicht recht zu begreifen, wovon die Rede war, nach und nach aber weckten unsere Fragen sein nur schlummerndes Gedächtniß. Seine Erinnerungen wurden immer lebhafter, seine Antworten klarer und bestimmter. Wir selbst und vor Allen seine Mutter erwarteten mit der höchsten Spannung sein so wichtiges Zeugniß und die Bestätigung unserer Ansicht von der Schuld des Angeklagten.
„Was wollten Sie,“ fragte ihn der Richter nach einigen einleitenden Worten, „in jener Nacht auf dem Schlosse des Herrn Brand? Ich fordere Sie auf, die Wahrheit zu reden, da Sie Ihre Aussage später beschwören müssen.“
„Ich hatte die Absicht einen Besuch zu machen,“ erwiderte der Kranke nach einigem Zögern.
„Ein Besuch um Mitternacht? Wollen Sie nicht näher darauf eingehen?“
„Es handelt sich dabei um die Ehre, um den Ruf einer Frau. Erlassen Sie mir daher ein Geständniß, durch das eine dritte Person compromittirt werden kann.“
„Das Gericht kann Ihren Wunsch nicht erfüllen. Ich muß Sie vielmehr dringend um den Namen dieser Frau und um genaue Angabe ihres Verhältnisses zu derselben ersuchen.“
Einige Augenblicke schwieg der Officier, indem er sichtlich verlegen war und mit sich selbst kämpfte. Wir Alle glaubten im nächsten Augenblick den Namen der Frau Brand aus seinem Munde zu vernehmen, da auf ihr natürlich der meiste Verdacht ruhte.
„Sprich die Wahrheit,“ mahnte ihn die ebenfalls anwesende Generalin. „Du hast keinen Grund, diese Leute, welche meine Freundschaft so schlecht vergolten haben, zu schonen. Wer war die Frau?“
„Mariane!“ murmelte der Kranke in fast unverständlichem Tone.
„Mariane?“ wiederholte der Richter verwundert. „Die Wirthschafterin des Herrn Brand?“
„Dieselbe. Ich hatte mit ihr in jener Nacht ein Rendezvous im Park verabredet, da Herr Brand mir in Folge eines Streites sein Haus verboten hatte.“
„Und hat Sie Herr Brand in seinem Park angetroffen und zur Rede gestellt in jener Nacht?“
„Das war nicht Herr Brand,“ entgegnete der Officier mit der größten Bestimmtheit.
„Erinnern Sie sich,“ bemerkte der Richter, „und bedenken Sie, daß von Ihrer Aussagte die Verurtheilung oder die Freisprechung des Angeklagten abhängt.“
„O, ich weiß, was ich sage, und bin ganz sicher, daß es nicht Herr Brand, sondern ein Anderer war, mit dem ich rang.“
„Ein Anderer? Wer sollte es denn gewesen sein, wenn es Herr Brand nicht war?“
„Der fortgejagte Amtmann. Der Bursche war in Mariane verliebt und lauerte mir auf. Ich hatte ihn noch dazu einige Tage vorher beleidigt und gereizt. Wüthend vor Eifersucht vertrat er mir den Weg, und da ich den Rasenden von mir abhalten wollte, feuerte er sein Terzerol auf mich ab. Ich fühlte nur noch, wie ich zusammensank und mich mein Bewußtsein verließ.“
Der Eindruck dieser Worte, welche durchaus den Stempel der Wahrheit trugen, läßt sich nicht beschreiben. Da der Richter und wir Alle noch immer zweifelten, erbot sich der Kranke jetzt von freien Stücken seine Aussage zu beschwören. Auch erzählte er unaufgefordert die genaueren Umstände, welche sich in jener Nacht ereignet hatten, mit einer wahrhaft staunenswerthen Sicherheit und Kenntniß der Einzelheiten. Mir schienen seine Auslassungen von höchstem psychologischen und physiologischen Interesse, abgesehen von der Wichtigkeit, die sie für den unschuldig Angeklagten hatten. Der Kranke kam mir wie ein Mensch vor, der aus einem tiefen, wochenlangen Schlaf erwacht und die durch den Schlummer unterbrochene Gedankenreihe wieder aufnimmt, als hätte er nur wie gewöhnlich wenige Stunden geschlafen und keine nennenswerthe Störung der Geistesthätigkeit erlitten. Ja, ich glaubte zu bemerken, daß sein Gedächtniß, nachdem es einmal wieder geweckt war, eher an Kraft gewonnen als verloren hatte, wenigstens so weit seine Erinnerungen die Vorgänge jener Nacht betrafen. Gerade die letzten Eindrücke traten nach dieser unfreiwilligen Ruhe des Gehirns um so schärfer hervor, wie wir die am Abend halb gelernte Lection am Morgen weit besser wissen und ohne Anstoß hersagen, nachdem der Geist mehrere Stunden sich ausgeruht hat.
Doch ich will nicht diese seltene pathologische Erscheinung erklären, ebensowenig wie ich die Freude der Frau Brand schildern kann, als ich ihr die Aussage des Officiers mittheilte. Als ich ihr leuchtendes Antlitz, ihre frommen, zum Himmel gerichteten Augen und ihre gefalteten Hände sah, wußte ich, daß sie ihren Mann liebte und daß dieser trotz seiner abstoßenden Häßlichkeit ihre Liebe verdiente. Daß der Gefangene aus seiner Haft entlassen und von dem Gerichte von der Anklage entbunden wurde, bedarf kaum noch der Erwähnung. Die ganze Umgegend bat ihm gleichsam ihr Vorurtheil ab und ließ es nicht an Beweisen der innigsten Theilnahme und Achtung fehlen. Auch die Generalin stattete ihm einen Besuch ab und gab ihm die ihm gebührende Ehrenerklärung, so schmerzlich sie auch der Vorgang berührte, da der Kranke sich nicht wieder erholte und trotz der glücklichen Operation nach wenigen Monaten an allgemeiner Schwäche und Abzehrung starb. Der eigentliche Thäter aber war glücklich nach Amerika entkommen, von wo er einen reuevollen Brief an Herrn Brand und an Mariane schrieb, welche schwer für ihren Leichtsinn büßen mußte.
Da steht des Dorfes armes Kind
Und sinnt dem Frevel nach:
„O, schuldig ist allein der Wind,
Der rings die Zweige brach!
So weit das Auge schweift,
Mit seiner vollen Kronen Zier,
Die nach den Wolken greift;
Der junge Birkenbusch im Thal,
Noch schimmernd wie der Mondenstrahl,
Wenn schon der Mond versank;
Der hundertjähr’gen Eiche Zelt,
Weit greifendes Geäst,
Die hier sich schaukeln läßt;
Doch unser nur der Blumenduft,
Die Veilchen nur im Moos,
Der Vögel Sang, der fröhlich ruft
Ich nahm nur, was der Lüfte Hauch
Den Bettlern hingestreut,
Almosen nur von Baum und Strauch,
Die Ueberfluß mir beut.
Am Heerd erlosch der Brand –
Ich nahm’s für einen frommen Dank;
Und einen Druck der Hand.“
Der Förster blickt ihr in’s Gesicht,
Und zögernd folgt er seiner Pflicht
Und schreibt den Namen ein:
„Verbot’ne Lese hieltest Du
Im weiten Waldrevier,
Winkt ernste Strafe Dir.
Verbot’ne Lese hält bei Dir
Mein and’res Auge jetzt,
Und sammelt ein, was plötzlich mir
Geh’, armes Kind, getrost nach Haus,
Ich will Dir gern verzeih’n,
Hier streich ich Deinen Namen aus
Und schreib’ in’s Herz ihn ein.“
[214]
Schön und gesund wollen alle Mütter Ihre Töchter haben, aber ihren Fräulein Töchtern zur Schönheit und Gesundheit zu verhelfen, das ist den lieben Müttern viel zu unbequem, das überlassen sie dem lieben Gott. Freilich wird’s Frauen, die in der Regel für ihren Beruf als Gattinnen und Mütter nichts gelernt haben, unbequem sein müssen, eines Theils sich über die richtige Ernährung und Erziehung der Kinder zu unterrichten, und andern Theils das Erlernte bei ihren Kindern von Geburt an consequent in Anwendung zu bringen; aber Schönheit der Töchter geht vor Bequemlichkeit der Mütter.
Nur wenn das Fräulein Tochter die Schule verlassen hat und ballreif zu werden anfängt, dann wird dem Aeußern derselben von Seiten der Eltern mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als bisher. Jetzt mengt sich auch der zukünftige Ballvater mit in die Toilettenangelegenheiten der Tochter und stimmt über den Umfang der Crinoline mit ab. Leider hat aber bis dahin bei sehr vielen Mädchen die Schönheit und Gesundheit schon manchen Makel bekommen. Gegen Bleichsucht und schlechte Haut, schwarze Zähne und hohe Schulter, garstige Füße und schlechten Gang werden nun Eisentropfen und Bitterwasser, Zahnarzt und Perlenzähne von Email, Schneiderinnen und Schnürleibchen mit und ohne Roßhaarpolster, Tanzlehrer und Schuhkünstler in’s Feld geführt, so daß man schließlich noch erstaunt, wie durch dieses Ausputzen aus dem ziemlich garstigen Backfische scheinbar eine recht nette Jungfrau geworden ist. Aber wehe, wenn der jungfräuliche Duft verflogen, dann haben wir die Bescheerung, dann kriecht aus der angehübschten jungfräulichen Puppe für den Mann ein unlieblicher Falter heraus, der bei der Behandlung seiner Kinder da beginnt, wo die Frau Mutter aufgehört hat. Auf diese Weise werden wir aber sicherlich nicht so bald ein schönes und gesundes Frauengeschlecht bekommen.
Die weibliche Schönheit besteht nun aber nicht etwa blos in einem hübschen Gesicht, sondern in einer auf Gesundheit gestützten harmonischen Ausbildung (Haltung und Bewegung) des gesammten Körpers und seiner einzelnen Theile. Da also Gesundheit das nöthigste Erforderniß für die Schönheit ist, so versteht sich’s wohl von selbst, daß eine richtige Mutter ihrer Tochter schon von deren Geburt an eine naturgemäße Pflege zukommen läßt. Ja, was sage ich, „von Geburt an“? nein, schon vor der Geburt der Kinder muß eine richtige Mutter die nöthigen Rücksichten auf die zu hoffende Nachkommenschaft nehmen und Alles vermeiden, was derselben Schaden zufügen könnte. Ganz besonders darf die Kleidung einer hoffenden Frau nicht beengend sein, auch muß sie sich in ihrem körperlichen und gemüthlichen Gebahren hübsch leidenschaftslos verhalten. Ob nicht jetzt schon einiger Einfluß auf die Gestaltung (das Ansehen) des noch nicht geborenen kleinen Weltbürgers ausgeübt werden könnte? Diese Frage kann zur Zeit mit Sicherheit wohl noch nicht beantwortet werden, ebenso wie man vom sogenannten Versehen der Schwangeren auch noch nicht weiß, ob es wirklich existirt oder nicht. Doch scheint Manches dafür zu sprechen. Die alten Griechen stellten, um auf die Gestaltung ihrer Nachkommen einzuwirken, schöne Statuen in ihren Gemächern auf, und manche häßliche Eltern haben wahrscheinlich ihre schönen Kinder nur dem öfteren Anblicken hübscher Verwandten und Freundinnen von Seiten der Mutter zu verdanken, und umgekehrt könnten schöne Eltern durch eine häßliche Umgebung zu garstigen Kindern kommen. Dem Verfasser erzählten einige Mütter, daß sie während ihrer Hoffnung täglich längere Zeit im Spiegel ihr eigenes Gesicht aufmerksam angeblickt hätten, um dadurch Töchtern das Leben zu geben, die eine der mütterlichen ganz ähnliche Gesichtsbildung erhielten. Und allerdings sind die Töchter den Müttern wie aus den Augen geschnitten, bei denen Letztere jene Spiegelhülfe in Anspruch nahmen.
Nach der Geburt einer Tochter ist das Nöthigste, was die Mutter im ersten Lebensjahre (Säuglingsalter) des Kindes, nämlich in Bezug auf die spätere Gestaltung desselben, zu berücksichtigen hat, daß sie nicht von der naturgemäßen Ernährung durch Milch (der Mutter, einer Amme, Eselsmilch oder Kuhmilch, welche letztere aber nach dem Alter des Säuglings mehr oder weniger zu verdünnen und dann noch mit Sahne und Milchzucker zu versetzen ist) abweicht. Eine falsche Ernährung, zumal das Auffüttern durch Mehlstoffe, legt nämlich sehr leicht den Grund zur späteren Verkrüppelung des Körpers (durch die englische Krankheit und Entzündungen an der Wirbelsäule oder von Gelenken), sowie zu Drüsenleiden, Gesichtsausschlägen, häßlichen Erscheinungen an den Sinnesorganen. – Es hat ferner eine vorsichtige Mutter darauf zu achten, daß der Säugling ja nicht fest eingewickelt und bekleidet werde, sondern sich ordentlich recken und strecken könne, um seine Gliedmaßen gehörig frei bewegen zu lernen; daß er nicht zu zeitig aus dem Bettchen genommen und zum Aufsitzen gezwungen werde. Er darf gar nicht auf dem Arme, zumal stets auf dem einen Arme, herumgetragen werden, sondern mag auf einer auf dem Boden ausgebreiteten Decke herumkriechen, sitzen, aufstehen und sogar laufen lernen, so daß dadurch auch die Steh- und Laufübungen, welche, besonders wenn sie zu zeitig angestellt werden, von großem Nachtheile für die Knochenentwickelung sein können, überflüssig gemacht werden. Eine Menge kleiner Kinder sind schon auf dem Arme ihrer Wärterinnen schief geworden. – Daß auch die Augen und Haut des Kindes der richtigen Pflege bedürfen, versteht sich wohl von selbst, Ganz besonders ist die so gefährliche Augenentzündung von Neugebornen abzuhalten.
Bei der Weichheit und Nachgiebigkeit der zarten Kindestheile, selbst des Schädels, läßt sich auch schon im Säuglingsalter recht wohl durch vorsichtigen und behutsamen, aber immer und immer wiederholten Druck oder Zug einiger Einfluß auf die spätere Körpergestaltung ausüben; aber Ausdauer gehört dazu. Und wenn sich auch eine garstige, kurze, dicke, breite Stumpfnase nicht in eine schöne, schmale, römische oder griechische verwandeln läßt, sicherlich wird sie doch durch consequentes Zusammendrücken und Abwärtsziehen verbessert. Lassen sich doch auch schief und falsch stehende Zähne durch öfteres Drücken allmählich in ihre richtige Stellung bringen. So platten sich z. B. die Indianer in Oregon den Schädel ab und machen ihn niedrig, indem sie denselben von eben her pressen; die Natches drückten den Hinterkopf und die Stirn flach und machten so den Kopf kurz, hoch und breit; die Huanches und Agenaras preßten die Stirn herab, die Seiten zusammen und machten das Hinterhaupt unnatürlich lang. Eine enge Kopfbedeckung bei kleinen Kindern kann dem Wachsthum, der gehörigen Erweiterung und Gestaltung des Schädels sehr hinderlich sein, wie sie ja auch die Ohren in ihrer Form und Stellung beeinflußt. Was ein kleiner, dicker Stöpsel von Mädchen werden will, werde beim Großziehen auch langgezogen. Schlecht gestellte Augen und Augenbrauen können durch Streichen und Ziehen eine hübschere Stellung erhalten, und ebenso dürfte der Druck auf garstig vorspringende Kiefer die Mundpartie für die Zukunft verbessern. Ohne Zweifel werden einst ganz bestimmte Regeln für eine schon in der ersten Jugend beim Menschen anzuwendende Verhübscherung aufgestellt und die Kinderwärterinnen gleichzeitig auch zu Hübschmacherinnen werden. Zur Zeit verschandeln noch die Wärterinnen die Kinder. Auch der Arzt kann durch das Impfen, wenn es zu tief unten am Oberarme geschieht, die Schönheit der Jungfrau beeinträchtigen, indem er eine häßliche Narbe sichtbar macht, die das Tragen kurzärmeliger Kleider verleidet.
Kommen wir nun im Interesse des Schönwerdens auf das Kindes- und Schulalter der Mädchen, so muß jetzt von Seiten der Mütter die allergrößte Aufmerksamkeit und Sorgfalt angewendet werden, damit den Töchtern für später Garstiges erspart werde. Buckel, hohe Schulter und schiefe Hüften, in Folge von Verkrümmung der Wirbelsäule, spielen jetzt die Hauptrolle bei der Entschönerung der Mädchen. Ja, die Häufigkeit dieser Verkrümmungen hat in der neuesten Zeit auf eine schreckenerregende Weise beim weiblichen Geschlecht zugenommen. Zu vermeiden sind nun diese Verunstaltungen des Körpers leicht, zu curiren fast nie.[1] Und darum können Mütter nicht genug dazu angehalten [215] werden, auf ihre Töchter ein recht wachsames Auge zu haben, um sofort Alles abzustellen, was die Wirbelsäule verkrümmen oder was eine schon beginnende Verkrümmung verschlimmern könnte. Sie mögen sich doch einmal fragen, warum bei Knaben das Schiefsein so selten ist. Weil diese gehörig im Freien herumspringen, baden, Schlittschuh laufen, turnen etc. dürfen und von ihren Müttern nicht eingeschnürt, sowie zum Hübsch-, Ruhig- und Geradesitzen bei angreifenden Handarbeiten gezwungen werden. Ein Mädchen sollte in der Jugend in körperlicher Beziehung nicht viel anders als ein Knabe erzogen werden. Vor allen Dingen dürfen niemals Kleidungsstücke von einem kleinen Mädchen getragen werden, welche das Athmen (die gehörige Ausdehnung des Brustkastens) irgendwie stören könnten und welche die Wirbelsäule künstlich gerade zu halten bestimmt sind (wie Schnürleibchen mit Fischbein). Längeres und noch dazu gerades Ruhigsitzen (ohne Anlehnen des Rückens), häufig wiederholte und andauernde schiefe Haltung und Gewöhnung des Körpers bei den Schul- und weiblichen Arbeiten, überhaupt sehr ermüdende Körperanstrengungen (auch Spaziergänge) sind zu vermeiden, dagegen ist auf kräftige Nahrung, gehörig langen Schlaf, weite, nicht zu kühle Kleidung, Bäder, frische Luft, passende Bewegungen in freier Luft (besonders beim Turnen, was vom sechsten bis zwölften Lebensjahre getrieben werde) und Ausruhen in horizontaler Lage zu halten. Wenn Mädchen, die in der Schule (welche sich zur Zeit am meisten an den Kinderkörpern versündigt) oder auch im Hause stundenlang, ohne sich anlehnen zu dürfen, gerade gesessen und gelernt haben, in den Zwischenstunden auch noch durch Turnübungen angestrengt werden, so ist dies eine unsinnige Behandlung, ja ein Verbrechen an der Gesundheit der Schüler. Der Länge lang hinlegen (am liebsten in’s Freie) sollten sich solche Kinder, um den Rückenmuskeln Ruhe und Kräftigung zu gestatten. – Jede sorgsame Mutter muß den Rücken ihrer Tochter öfters von einem Sachverständigen controliren lassen.
Die ersten Spuren des Schiefwerdens zeigen sich in der Regel am untern Winkel des rechten Schulterblattes, welcher etwas anders und mehr als der auf der linken Seite hervorsteht. Auch findet sich das ganze rechte Schulterblatt etwas anders als das linke gestellt, was dadurch merklich wird, wenn man den hintern, gegen die Wirbelsäule gerichteten Rand desselben in seiner Stellung zu den in der Mitte des Rückens hervorragenden Stachelfortsätzen der Wirbel beachtet und dann mit dem der andern Seite vergleicht. Das von allen Kleidern entblößte Kind stehe bei dieser Untersuchung ganz gerade, mit geschlossenen Füßen und herabhängenden Armen. Merkt eine Mutter an ihrer Tochter diese ersten Spuren des Schiefseins, dann ist nicht mehr zu zaudern, dann muß das beginnende Uebel mit Ernst und Consequenz und so behandelt werden, als hätte es sich schon vollkommen entwickelt, denn es macht sehr oft ganz plötzlich rasche und bedeutende Fortschritte. Am gefährlichsten für die Ausbildung der seitlichen Rückgratsverkrümmung sind die Jahre, in welchen ein Mädchen ungewöhnlich rasch wächst, nämlich zwischen dem zwölften und sechzehnten Jahre.
Außer auf das Rückgrat ihrer Tochter (im Kindes- und Schulalter) hat eine sorgsame Mutter nun aber auch noch auf manche andere Theile derselben zu achten, damit der spätern Jungfrauen-Schönheit kein Eintrag geschehe. Fangen wir am Kopfe an. Das Gesicht ist im Sommer durch einen breitrandigen Hut oder Sonnenschirm vor der Einwirkung der Sonnenstrahlen gehörig zu schützen; auch ist es der Gesichtshaut (welche beim Waschen nicht unnützer Weise stark oder mit scharfer Seife abzureiben ist) dienlich, wenn der Schweiß von derselben öfters mit einem weichen leinenen Tuche abgewischt wird, rauhe (trockene, spröde, schuppige) Stellen auf derselben aber mit Fettigem (frischem ausgelassenen Rindstalge, Glycerin, Cold cream) bestrichen werden. Die sogenannten Mitesser, welche die Veranlassung zu den Blüthchen und Finnen geben, sind auszudrücken oder durch Bepinseln mit lauem Seifenwasser (wobei die Borsten des weichen Dachshaarpinsels in die Talgdrüsen eindringen und dieselben entleeren) zu entfernen. Man kann den übermäßig angehäuften schmutzigen Hauttalg, der den Mitessern die schwarze Färbung giebt, auch dadurch aus den Höhlen der Drüschen herausbefördern, daß man Collodium einige Male darüberstreicht und, wenn dieses durch Eintrocknen ein Häutchen gebildet hat, dieses sammt den daran klebenbleibenden Talgpfröpfchen abzieht. – Die Augen sind, zumal bei staubiger Luft, mehrere Male des Tages mit lauem, weichem (Regen-, Fluß- oder destillirtem) Wasser und weicher Leinwand zu reinigen; rothe, entzündete Augenlidränder übergebe man bei Zeiten der ärztlichen Behandlung. – Am und im Munde habe man besonders auf Lippen und Zähne acht; erstere und besonders auch die Mundwinkel sind recht rein zu halten; das Aufspringen sehr trockener Lippen verhüte man durch Bestreichen mit feinem Oel oder Glycerin. Von den Zähnen, die natürlich ordentlich zu putzen sind (mit Zahnspiritus und Pulver), muß jeder (schwärzliche oder grünliche) Ansatz (auch auf den Zahnkronen) sobald als möglich entfernt werden (durch vorsichtiges Abschaben), um das Hohlwerden derselben zu verhüten. – Die Haare sind den Sonnenstrahlen nicht auszusetzen, zumal wenn sie naß sind; beim Schwitzen müssen sie ordentlich abgetrocknet und dann gehörig eingeölt werden; eine einfache, ungekünstelte Behandlung ist einer zu großen Sorgfalt vorzuziehen; sie dürfen nicht zu fest gebunden werden, sind früh und Abends gut durchzukämmen und, um ihr Trocken-, Spröde- und Glanzloswerden zu verhüten, stets gehörig einzufetten. Die Kopfhaut, auf welcher die Haare wachsen, muß durch öfteres Waschen mit lauem Seifenwasser mit etwas Spiritus stets rein erhalten und von ihren Oberhautschüppchen befreit werden. – Da sich Schulmädchen nicht selten schon ein garstiges Mienenspiel und beim Essen eine häßliche Art zu kauen angewöhnen, auch manchmal mit den Fingern die Pforten der Sinnesorgane in unangenehmer Weise bearbeiten, so lasse die Mutter diese Unarten ja nicht zu Angewohnheiten (Grimassen) werden, welche später die Jungfrau sehr verunzieren.
Um der spätern Entwickelung der Büste keinen Eintrag zu thun, darf das Schulmädchen keine den Brustkasten einengende Kleidungsstücke tragen; um die Schultern herum sehr enge Kleider sind ebenso wie Schnürleibchen nachtheilig. Dagegen ist durch tiefes Athmen und passende Turnübungen (mit den Armen) der Brustkorb, besonders in der Gegend der Schlüsselbeine, hübsch auszurunden. – Da ein breites Becken durchaus zur weiblichen Schönheit gehört, so kann auch schon beim Schulmädchen durch passende Bewegungen mit den Beinen (Springen, Laufen, Turnen, Tanzen, Schlittschuhlaufen, Schwimmen) auf diesen Körpertheil verschönernd eingewirkt werden.
Hand und Fuß, Finger und Zehen setzen, wenn sie häßlich sind, auch die sonst schönste Schönheit herab, und deshalb muß eine Mutter schon beim Schulmädchen, ohne selbige aber dadurch zum eiteln Zieraffen zu machen, auf gute Conservirung dieser Gliedmaßen Bedacht nehmen. Zuvörderst sind dieselben vor dem Erfrieren (Erkälten) zu bewahren, ferner durch ordentliches Reinigen (mit gehörigem Abtrocknen) stets sehr sauber zu halten und mit zweckmäßiger Bekleidung zu versehen. – An der Hand müssen vorzugsweise die Fingernägel beaufsichtigt werden, denn nicht selten kauen und beißen Schulmädchen daran so herum, daß die ganze Hand dadurch schimpfirt wird. Es sind heim Abschneiden der Nägel besonders die Ecken abzurunden, auch muß das die Nagelwurzel überdeckende Häutchen öfters behutsam abgeschabt und zurückgeschoben werden. – Der Fuß ist von Jugend auf mit gut passenden (weder zu weiten noch zu engen) einbälligen Stiefelchen ohne hohe Absätze zu bekleiden, so daß weder durch Druck Hühneraugen entstehen, noch auch die Zehen sich übereinander legen und dicke Knöchel einen schiefen Plattfuß verunzieren. – Das Strumpfband darf nicht zu fest und zu tief unten, es muß über dem Knie gebunden werden.
Für eine angenehme Haltung und Bewegung, die aber nicht etwa in ein zieriges, kokettes Schwänzeln und Tänzeln ausarten darf, haben auch schon bei den Schulmädchen ebenso die Turn- und Tanzlehrer, wie die Mütter Sorge zu tragen. Desgleichen ist ein Mädchen von Jugend auf daran zu gewöhnen, aufmerksam auf ihre Kleidung zu sein, ohne aber ein Putznarr zu werden; nur Liebe zur Reinlichkeit und Nettigkeit neben Einfachheit in der Kleidung ist demselben anzuerziehen. Das Tragen von Ohrgehängen ist als höchst abgeschmackte, das Ohr verunstaltende Gewohnheit zu vermeiden. – Uebrigens paßt das bis jetzt Gesagte nicht blos auf die kleinen, sondern auch noch auf diejenigen Mädchen, welche auf dem Uebergange von den Schuljahren in das Jungfrauenalter stehen und die man „Backfische“ nennt. – In zwei spätern Aufsätzen sprechen wir dann von der eigentlichen Jungfrauen- und Frauenschönheit und ihrer Pflege. Auch werden die Mütter dort noch genauere Anleitung zur Behandlung der einzelnen Körpertheile ihrer kleinen Töchter finden.
Bismarck an Uhden? Ein garstig Lied! Pfui, ein politisch Lied!
Nichts weniger, lieber Leser, nichts weniger als das.
Aber „Bismarck an Uhden!“ Ist denn Herr von Bismarck nicht –
Minister Seiner Majestät des Königs von Preußen? Allerdings. Aber nicht der Annexionsgraf, nicht der „deutsche Cavour“ aus dem siebenten Decennium des neunzehnten Jahrhunderts. Auch ist unser Uhden an der Erschaffung brauchbarer Hülfsarbeiter für das königlich preußische Obertribunal noch unschuldiger, als der Herr Chefpräsident aus dem Jahre des Heils 1866. Die gänzliche Schuldlosigkeit Beider an allen Verfassungsconflicten und Obertribunalsbeschlüssen unserer Tage erhellt am besten aus dem, wenn nicht localen, so doch chronologischen Alibi, dessen Beweis dieselben beizubringen im Stande sind; denn der kurze Briefwechsel, an welchen die Ueberschrift der vorliegenden Erzählung sich anknüpft, datirt aus dem November des Jahres 1751.
Auch ist der Gegenstand unserer Mittheilungen ein völlig unpolitischer und höchst harmloser – nicht ganz harmlos freilich für unmittelbar dabei Betheiligte, aber doch harmlos gegenüber vielen Dingen, welche heute die Gemüther der Menschen beschäftigen und das öffentliche Interesse in Anspruch nehmen; harmlos auch, insofern die hier in Rede kommenden Ein- und Uebergriffe eines absoluten königlichen Willens sich nur auf die Reorganisation von persönlichen Verhältnissen, auf die Beilegung eines Conflicts zwischen Gliedern einer dem Throne nahestehenden Familie beziehen und bei aller Rücksichtslosigkeit des Verfahrens dennoch durch eine liebenswürdige Beimischung allerhöchster Theilnahme und Milde gekennzeichnet werden.
Die Heldin unserer Erzählung ist eine Tänzerin, deren interessante Verhältnisse und Beziehungen zu allerhöchsten Kreisen ihrer Zeit ein zwar weit anständigeres, doch kaum minder großes Aufsehen erregten, als in den Tagen unserer Erinnerung das Auftreten einer ihrer Kunstgenossinnen in der Hauptstadt eines Landes, dessen Regierung bis heute noch vergeblich sich um die Hegemonie der dritten Staatengruppe in der projectirten deutschen Trias bewirbt.
Die Schicksale unserer Heldin, der berühmtesten Tänzerin des vorigen Jahrhunderts, sind mehrfach Gegenstand irrthümlicher, ja sogar absichtlich gefälschter Darstellungen gewesen. Die ersten authentischen Angaben verdanken wir dem um die Geschichtsschreibung der deutschen Bühne mannigfach verdienten Herrn Louis Schneider, welcher die auf unsern Stoff bezüglichen, im geheimen Staats- und Cabinets-Archiv aufbewahrten Documente im Original durchgesehen, gesammelt und in wortgetreuem Abdruck als Beilagen zu seiner „Geschichte der Oper und des Königlichen Opernhauses in Berlin“ zum ersten Mal veröffentlicht hat. Diese Documente und noch einige aus anderen Quellen geschöpfte Mittheilungen bilden das Material zu der folgenden Skizze, deren Absicht ist, in kurzen, gedrängten Zügen einen kleinen Beitrag zur Sittengeschichte des vorigen Jahrhunderts zu liefern. –
Das neue Berliner Opernhaus war im Jahre 1743 in der Gestalt vollendet, in welcher die Aelteren der jetzt lebenden Generation dasselbe bis zu dem genau hundert Jahre später, nämlich im Jahre 1843, erfolgten Brande gekannt haben.
Die für jeden Andern erdrückende Last der Regierungsgeschäfte und die Führung des ersten schlesischen Krieges hatten dem jungen Könige Friedrich dem Zweiten noch hinreichende Muße, Frische und Spannkraft des Geistes genug gelassen, um neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten auch der Leitung und Verwaltung des Theaters, namentlich der Oper und des Ballets, bis in ihre kleinsten Einzelheiten das lebhafteste und eingehendste Interesse zu widmen. Kein Gesuch einer Sängerin, kein Gezänk unter Tänzern war dem großen Monarchen zu klein, um sich nicht persönlich mit der Erledigung desselben in einem oder dem andern Sinne zu befassen. So hatten die französischen Tänzer Marie Cochois und Tessier im August 1743 über Mißhandlungen von Seiten des Balletmeisters Poitier sich bei dem Könige beschwert. Zwar lautete die nächste Antwort des Königs an den Intendanten: „Ich melire mich nicht von allen diesen Sachen. Ich will das Plaisir haben sie tantzen zu sehen, das übrige kann er machen, wie er es gut findet, ohne mich davon zu meliren.“ Dennoch wurde wenige Tage später Poitier nebst seiner Geliebten, der sehr gern gesehenen Tänzerin Roland, auf königlichen Befehl entlassen, und diese Entlassung durch folgenden, vom Könige selbst verfaßten und in der Spener’schen Zeitung vom 22. August veröffentlichten Artikel dem Publicum verkündet: „Dieser Tage sind der Herr Graf von Gotter und der Herr Baron von Schwertz, Directores der Opera, genöthiget gewesen, den Balletmeister Herrn Poitier, welcher sich einer recht übermäßigen Botmäßigkeit über die Täntzer anmaßte und dessen Hochmuth sich so weit verging, daß er gegen besagte Directores tausend Insolentien verübte, fortzujagen. Man will hier keine umständliche Nachricht von allen Arten seiner üblen Aufführung mittheilen, indem deren Erzehlung bloß dazu dienen würde, bei dem Publico Verdruß und Eckel zu erwecken. Indessen bedauert man nichts mehr, als die Demoiselle Roland, eine sehr geschickte Täntzerinn, welche durch ihren stillen und angenehmen Charakter das unbescheidene Betragen ihres Compagnons einigermaßen wieder gut machte. Ohne hier genau zu untersuchen, in was vor Verbindungen die Demoiselle Roland mit dem Herrn Poitier sich etwa befinden möchte, so ist man doch bisher nicht im Stande gewesen, sie von einander zu trennen, und man kann den Besitz einer der größten Täntzerinnen von Europa nicht anders wieder erkaufen, man müste sich denn zu gleicher Zeit mit dem allerärgsten Thoren und dem allergröbsten Gesellen, den Terpsicore jemahls in ihrer Rolle gehabt hat, belästigen. Es ist also kein Gold ohne Zusatz, und keine Rose ohne Dornen.“
Daß der König diesen Artikel selbst verfaßt hat, geht aus einem eigenhändigen französisch geschriebenen Briefe desselben an Jordan hervor, in welchem er u. A. sagt: „Ich habe einen Artikel für die Berliner Zeitung verfaßt, in welchem Poitier in bester Manier ausgetrommelt (tympanisé) wird.“
Die durch Poitier’s Entlassung und namentlich durch den Abgang der Demoiselle Roland entstandene Lücke mußte möglichst bald ausgefüllt werden. Für den Ersteren wurde durch den preußischen Gesandten in Paris der Balletmeister Lany engagirt. Derselbe erbot sich, eine erste Tänzerin von dort mitzubringen; allein der König, durch die soeben gemachte Erfahrung belehrt, fürchtete, es könnte leicht wiederum ein zu vertrautes Verhältniß zwischen Balletmeister und Tänzerin entstehen. Er lehnte deshalb Lany’s Anerbieten ab und befahl, eine Künstlerin ersten Ranges in Italien zu engagiren. –
Die berühmteste Tänzerin Italiens war die damals in Venedig engagirte Barbara Campanini, von ihrem sie fast vergötternden Volke gewöhnlich La Barbarina genannt, ein ebenso schönes wie geistreiches und kühnes Weib, das trotz seiner Jugend den Lorbeer vollendeter Künstlerschaft schon an den Ufern der Themse gepflückt hatte. Der preußische Resident in Venedig, Graf Cataneo, welchem, wie vielen anderen diplomatischen Agenten Preußens, der Befehl des Königs, eine Prima Donna des Ballets zu suchen, zugegangen war, berichtete über seinen Fund nach Berlin und knüpfte bald darauf, von dem Könige dazu ermächtigt, Engagementsverhandlungen mit der Barbarina an. Ein Vertrag, durch welchen der Tänzerin bei einem fünfmonatlichen Urlaub ein Jahresgehalt von siebentausend Thalern gesichert war, wurde von ihr und ihrer Mutter unterschrieben und Behufs allerhöchster Genehmigung und Vollziehung nach Berlin gesandt.
Bei der Dürftigkeit und Schwerfälligkeit der damaligen Verkehrsmittel verging bis zur Ankunft der königlichen Cabinetsordre in Venedig einige Zeit – lang genug für die schöne Signora, um während derselben die Bekanntschaft eines jungen Lords Stuart [217] de Mackenzie zu machen und in dessen Herz die Fackel einer brennenden Leidenschaft zu werfen. Das jugendliche Paar mag glückliche Tage verlebt haben, so glückliche, daß, als der vom König vollzogene Vertrag endlich anlangte, die Schöne sich weigerte, denselben zu halten, und erklärte, sie zöge es vor, mit ihrem Lord nach Frankreich und England zu gehen. Umsonst versuchte Graf Cataneo sie zur Erfüllung der eingegangenen Verpflichtung anzuhalten. Alle Künste der Ueberredung, alle Androhungen von Zwangsmaßregeln scheiterten an der Hartnäckigkeit der stolzen Italienerin, welche, als ihr nach und nach jede Ausflucht genommen war, als letzten Trumpf die Lüge ausspielte, sie sei bereits mit Lord Stuart vermählt und könne ohne Genehmigung ihres Gatten überhaupt keinen gültigen Vertrag abschließen. Aus dem Bericht, welchen der Graf über diese Angelegenheit nach Berlin erstattete, geht hervor, daß er sich, um sein Recht durchzusetzen, vergebens an die Behörden der Republik Venedig gewandt. Es heißt in diesem interessanten Document: „Auf den Allerhöchsten Befehl Sr. Majestät vom 31. (December 1743), von dem Engagement der Barbarina mich durch kein Hinderniß zurückschrecken zu lassen, habe ich die Ehre, Ew. Excellenz (den Minister von Podewils) zu ersuchen, Sr. Majestät mitzutheilen, daß, da ich die Regierung bisher nicht geneigt gefunden habe, sich in diese Angelegenheit zu mischen, ich mich an die Gesandten von Frankreich und von Spanien gewandt habe. Der Erstere hat in Folge dessen genannte Barbarina für den nächsten Sonntag zu Mittag bei sich eingeladen, und wir werden ebenfalls dort sein, um ihr gütlich zuzureden. Sollte ihr Engländer auf seinem Widerstand beharren, so werden wir sie entführen lassen, um sie auf der Gesandtschaft unterzubringen und dann unter sicherem Geleit zu den Füßen des Königs zu führen; denn ich habe ein von ihr eigenhändig unterzeichnetes Papier in Händen, durch welches sie sich verpflichtet, in den Dienst des Königs zu treten, und ihre gute Mutter ist eine in ihren Entschlüssen sehr feste Frau, die ihr Wort hält. So haben wir das Recht und zugleich die Sittlichkeit für uns; denn das arme Mädchen würde durch eine Verbindung mit dem Engländer sich zweifellos unglücklich machen. Aber es bedarf der umgehenden Uebersendung einer von Sr. Majestät eigenhändig unterzeichneten Vollmacht für das Engagement gedachter Barbarina, welche die in meiner ergebensten Depesche Nr. 223 vom 13. November angegebenen Bedingungen enthält; ich bürge dafür, daß, sobald dies Mädchen erst in Berlin ist, es Sr. Majestät sehr leicht werden wird, sie durch ein lebenslängliches Engagement zu binden.“
Der Widerstand, welchen die kleine Tänzerin dem großen König entgegenzusetzen wagte, brachte diesen in den äußersten Zorn, und er beschloß, seinen Willen um jeden Preis, selbst um den eines officiellen Conflicts mit der Republik Venedig, durchzusetzen. Die Sache hatte ihre Schwierigkeiten. Friedrich Wilhelm der Erste, der Vater des großen Königs, laborirte nämlich an einer unheilbaren chronischen Republikenscheu. Sein Widerwille gegen die republikanische Staatsform hatte so pathologische Formen angenommen, daß ein directer diplomatischer Verkehr des jungen Königreichs Preußen mit der alten Republik Venedig geradezu eine Unmöglichkeit geworden war. Auch der junge König hatte während seiner ersten Regierungsjahre im Drange wichtigerer Geschäfte die Anknüpfung einer diplomatischen Verbindung mit der Republik versäumt. Graf Cataneo war nur preußischer Resident in Venedig ohne jeden officiellen Charakter und daher nicht in der Lage, mit der Staatsregierung unmittelbar zu verhandeln. Man sah sich deshalb genöthigt, einen weiten Umweg einzuschlagen und die Verhandlungen durch den Grafen Dohna, den preußischen Gesandten in Wien, mit Contarini, dem venetianischen Gesandten ebendaselbst, führen zu lassen. Graf Dohna erhielt den Befehl, dem Signore Contarini anzudeuten, daß der König von der Republik Venedig die Auslieferung der Signora Barbara Campanini sofort und alles Ernstes verlange. Contarini theilte dies seiner Regierung mit; der Senat der Republik aber wies die Sache sehr kühl von der Hand, indem er es unter seiner Würde hielt, sich um das Engagement einer Tänzerin zu bekümmern.
Darüber auf’s Aeußerste gereizt, ließ der König mit Umgehung alles Rechtes und Gesetzes durch einen unerhörten Gewaltstreich die Equipagen des venetianischen Gesandten Capello, welcher im Begriff stand, von London über Hamburg durch die preußischen Staaten zu reisen, an der Grenze mit Beschlag belegen. Das große Aufsehen und die allgemeine Entrüstung, welche dieses unglaubliche Verfahren in der ganzen diplomatischen Welt hervorrief, veranlaßte den Grafen Dohna, dem Könige seine allerunterthänigsten Vorstellungen über einen Schritt zu machen, der geeignet sei, die besorglichsten Folgen herbeizuführen.
Diesen Brief beantwortete der König durch folgende vom 17. März 1744 datirte, französisch geschriebene Cabinetsordre: „Das Gerücht, dessen Sie in Ihrer Depesche vom 7. d. M. erwähnen, als hätte Ich die Equipagen des venetianischen Gesandten Capello anhalten lassen, ist so falsch, daß jene Equipagen sogar ohne irgend eine Abgabe zu zahlen durch meine Staaten gegangen sind, da die Befehle, welche Ich zur Einforderung derselben erlassen, auf die erste Nachricht, daß die Republik Venedig Mich in Sachen der Barbarina zu befriedigen gesonnen, sofort widerrufen worden. Ich hoffe, daß sie nicht vergessen werde, ihr Versprechen zu erfüllen, und bitte Gott etc. etc. Friedrich.“
Zweierlei geht aus diesem königlichen Schreiben hervor: erstens, daß die Thatsache, die es bestreitet, nämlich die Beschlagnahme der Equipagen, unleugbar wahr gewesen und erst später rückgängig gemacht worden ist; zweitens, daß der Senat der Republik trotz seiner anfänglichen Weigerung dennoch später dem so energisch ausgesprochenen Wunsch des Königs nachgegeben hat. Das Letztere erhellt auch aus einer vom 4. April 1744 datirten Cabinetsordre an den Grafen Dohna, in welcher der König den Wunsch ausspricht, der venetianische Senat möge die Tänzerin durch ein paar Leute, welche aber die volle Verantwortlichkeit für sie zu tragen hätten, nach Wien befördern lassen. „Sie,“ so heißt es dann weiter, „werden sie dann auf die für ihre Sicherheit angemessenste Weise auf dem Wege durch Schlesien nach Berlin bringen lassen und für die Ausführung dieses Befehls Sorge tragen. Sie werden nicht verfehlen, Alles dieses dem venetianischen Gesandten mitzutheilen, und Ich hoffe, die Republik werde Mir diesen kleinen Beweis von Aufmerksamkeit, welchen Ich von ihr verlange, nicht verweigern.“ Unter dieser Depesche bemerkte der König noch eigenhändig, der Graf Dohna habe sich „mit dem venetianischen Gesandten in Einvernehmen zu setzen über die Mittel, dieses Geschöpf sicher an Ort und Stelle zu schaffen.“
Das Resultat der Unterhandlungen zwischen dem Grafen Dohna und Contarini war folgendes: Der Senat verpflichtete sich, die Signora Barbara Campanini während der Nacht, geleitet von einer Compagnie Reiterei, aus Venedig fort und bis zur österreichischen Grenze bringen zu lassen; von dort habe der Graf Dohna sie in Begleitung eines der italienischen oder französischen Sprache mächtigen Menschen weiter zu befördern. Dagegen mußte der Graf Dohna dafür bürgen, daß die Tänzerin nach Ablauf ihres Vertrags keinen Augenblick mehr in Berlin festgehalten werden sollte.
Graf Dohna hatte einen Haushofmeister Namens Mayer, einen vielgereisten und ebenso gewandten wie energischen Mann. Diesem wurde der peinliche Auftrag ertheilt, die Barbarina auf ihrer unfreiwilligen Reise zu begleiten. Von Contarini erhielt er eine dem Militär-Commando an der Grenze vorzuzeigende Vollmacht, welche also lautete: „Dem Vorzeiger dieses Scheines ist an der venetianisch-österreichischen Gränze in Friaul zwischen Palmada und Gorizia die Frau Barbara (ihres Gewerbes Tänzerin) ohne Weiteres auszuliefern.“ Gleichzeitig wurde Mayer von dem Grafen Dohna mit einer ganz genauen Instruction für den Transport der Barbarina versehen, welche der Graf noch durch folgenden eigenhändigen Zusatz vervollständigte: „Als welche Barberina er auf alle Weise zu flattiren, ihr die Reise bequem zu machen und sie in guten Humeur zu setzen suchen, auch ihr versichern wird, daß sie in eine schöne Stadt, an einen großen Hof und in eines gnädigen Königs Dienste käme, worin sie alle Ursache vergnügt und zufrieden zu seyn, haben wird.“
Mit dieser Instruction und seiner Vollmacht versehen, langte Mayer am 16. April in Palma nova an der österreichisch-venetianischen Grenze an, woselbst er die unglückliche Barbarina in Empfang nahm. Vergebens hatten Lord Stuart de Mackenzie und der junge Graf von Calenberg, sein Freund und gleich ihm ein Verehrer der schönen Tänzerin, in Venedig Alles aufgeboten, um den preußischen Residenten zur Freigebung der wider alles Recht und Gesetz verhafteten Dame zu bewegen; vergebens waren sie der Reisenden vorausgeeilt, um auf österreichischem Boden ihre Befreiung durch Gewalt, durch List oder Bestechung, kurz, durch Mittel zu versuchen, deren Anwendung auf venetianischem Gebiete durch die starke Cavalerie-Escorte unmöglich gemacht wurde. Alles umsonst. [218] Wohlbehalten und sicher bewacht, kam die Aermste in Palma an, um hier den Händen ihres neuen Begleiters zur Weiterbeförderung nach Wien überliefert zu werden. Ueber den Act der Uebergabe sowie die denselben begleitenden Umstände erstattete Mayer seinem Herrn folgenden curiosen Bericht:
„Reichshochgeborner Graf,
Gnädiger und hochgebietender Herr!
Granitz d. 21ten April 44 in Steyermark a. Windisch Land.“
Zu Wien angelangt, wurde das „betrübte Frauentzimmer“ von ihrem Begleiter in dem Hotel der preußischen Gesandtschaft abgeliefert. Ihr junger Anbeter war bereits vor ihr dort gewesen, hatte den Grafen Dohna zum Vertrauten seiner Liebe und seines Leids gemacht und ihn um seinen Schutz und seine Hülfe angefleht.
Schutzlos in London! Hülflos in London! Obdachlos in London! Welche Geschichte von Weh’ und Leid umfassen solche Worte! In einer großen deutschen Stadt war ich Zeuge der allgemeinen Bestürzung, als es verlautete, eine Familie sei dem Hungertode erlegen. Auf Wochen hinaus warf das Ereigniß einen trüben Schatten auf jede Unterhaltung; es war ein allgemeines Entsetzen, eine allgemeine Beschämung. Aber wer zählt die Hungertode in der Millionenstadt London? Ist es auch wahr, daß das englische Volk alljährlich sechs Millionen Pfund Sterling als Armensteuer entrichtet, die Hungertode bleiben doch, sei es unter Dach und Fach, durch welches der Novembersturm sanft, sei es in dunklem Winkel unter dem Viaduct einer Eisenbahn, sei es auf den Stufen vor dem Portale eines Palastes, sei es in einer leeren Hundehütte hinter dem Hause, wo die Leute von Qualität wohnen, die etwas zu beißen und zu brechen haben und jede Wunde des Mangels mit einer neuen Note der Bank von England bepflastern können.
Wohin sich diese Tausende und aber Tausende von Obdachlosen verlieren, wenn die Nacht kommt, wohin sie alle verschwinden, wer kann es sagen? Auf freiem Felde schlafen, verbietet das Gesetz; auf der Straße den Pflasterstein zum Kopfkissen wählen, verbietet das Gesetz; in einer leeren Scheune sich betten, verbietet das Gesetz, – und ein starres englisches dazu. Wäre nicht die Polizei in London barmherziger als das Gesetz, das Elend zur Nacht wäre noch viel elender als es ist. Zwar fegt sie mitunter in schönen Julinächten durch die Parks und treibt die Müden und Schlummernden aus Busch und Rasenwinkel – aber nur mitunter! Sie drückt wochenlang beide Augen zu und wendet die Laterne ab, wenn sie auf den Trümmern niedergerissener Häuser im Nebel ein Etwas erspäht, das ein menschliches Wesen sein kann, doch vielleicht auch ein Haufen weggeworfener Lumpen.
Eine deutsche Familie hat wohl ihre Hausarmen – dergleichen wäre in England unerhört. Der Unternehmungsgeist hat die Wohlthätigkeit in ein System gebracht, mit einem guthonorirten Beamtenstabe und respectablem Büttelthum, wie es Charles Dickens in seinem David Copperfield mit meisterhafter Feder skizzirt. Die Wohlthätigkeit ist ein Mechanismus geworden. So und so viel wird an Armensteuern entrichtet – und sie sind enorm. So und so viel geben Privatleute und Firmen an Weihnachtsbeisteuern und was darüber wäre, das wäre „vom Uebel“. Nur keine persönliche Unbequemlichkeit, es sei denn sie werde zur erfreulichen Gelegenheit eines Zweckessens arrangirt. Armenhäuser sind hier nicht Wohlthätigkeitsanstalten, sondern Abschreckungsmittel. „Wir nächtigen wohl in einem Armenhause, aber nur dann, wenn wir auf der Straße kein Lager finden können.“ Dies ist eine Antwort, die man von neun Armen unter zehn erhalten kann. Bei aller Mißverwaltung und trotz der unerforschten Canäle, in welche sich die Millionen an regelmäßigen und ausnahmsweisen Armensteuern verkrümeln, haben die Millionen von goldenen Sovereigns doch dazu geführt, daß wenigstens Tropfen auf den heißen Stein fallen konnten, und die Liste der Wohlthätigkeitsanstalten für Jung und Alt ist eine so lange, daß sie sich nicht in einem Westentaschenbuch drucken ließe. Aber wie sehr auch deren Zahl wächst, die Zahl der Armen nimmt nie ab, sondern wächst auch. Sie nimmt ab nur in den officiellen Mittheilungen der Presse aus der Armenstatistik. Sie hämmert mit dem Thürklopfer zehn Mal des Tages an Eure Thür und bietet Euch dieselbe Büchse Zündhölzer zum neunundneunzigsten Male zum Kauf an, mit der sie schon vor achtundneunzig Thüren erschienen. Sie streckt Euch die Hand ohne Worte entgegen, wenn ein Policeman naht. Sie erscheint auf dem Trottoir gekauert, im Schlaf am Mittage, und läßt sich den Penny in die zufällig offene Hand werfen. Sie schreibt auf den Pflasterstein „mich hungert“ und wartet. Sie erscheint an den Ecken als Greis im reinlichen schwarzen Rock, baarhäuptig, mit dem Besen in der Hand. Sie schlägt Rad vor Euch mitten in Regentstreet oder entsetzt die fashionablen Ladies in halbnacktem Costüm, um solchen Ausdruck zu gebrauchen, mit dem originellen Angstruf: „Ich brauche ein Hemde, Ladies!“ und die silbernen Sixpence fliegen!
Doch das sind Bettler, geschulte und ungeschulte. Sie kündigen sich mit ihrer Person an – sie sind zu zählen. Aber diejenigen, die nicht betteln, sondern aus der Hand in den Mund leben, oder aus der leeren Hand in den leeren Mund schmachten, die nicht Gassenhauer singen und nicht an Eure Thüren hämmern – für welche ein Schilling eine Rettung vom Sprung in die Themse; oder solche, die genau so viele Pence des Tages erworben, um Seele und Leib zusammenzuhalten, aber für kein Nachtlager die kleinste Münze des vereinigten Königreiches auftreiben können – deren Zahl geht in die Hunderttausend. Für diese giebt es nur einen Genuß: den Schlaf, die Ruhe, das Vergessen zwischen heute Abend und morgen früh.
[219] Dies wurde von Menschenfreunden erkannt und führte zur Gründung von „freien Nachtherbergen“ (Night Refuges) in London. Ihre Zahl ist noch sehr klein – drei oder vier. Die in den beifolgenden Abbildungen dargestellte ist die zweitgrößte im Süden von London, wo die Armen dichter beieinander wohnen, als Bienen in einem Korbe. Diese eine Nachtherberge hat in einem einzigen Jahre nicht weniger als 75,000 Obdachlosen den „Schlaf“ beschert und einen Trunk und ein Stück Brod eine Woche lang oder zwei hintereinander und dann nach gewissen Pausen wiederum eine Woche lang oder zwei, während die Einen den Andern Raum machen mußten. So und so oft Schlaf, Brod und Trank – eine Woche lang oder zwei unter den zweiundfünfzig Wochen des langen Jahres – das spielt eine große Rolle in den Gedanken Derer, die hülflos, schutzlos, obdachlos in London!
Es ist ein langes düsteres Haus in einer düstern Straße im düstern London. Aber so sehen fast alle Häuser aus an einem Februar-Abend um sechs Uhr, wenn das Tageslicht schon zwei Stunden vorher von den Gasflammen abgelöst worden. So früh wird Zulaß zu dieser Herberge gegeben und offenbar in weisester Absicht. Das Vagabundiren bei sinkender Nacht und später wird dadurch so Manchen verleidet, weil sie keinen Raum, keine Schlafstätte mehr unter dem gastlichen Dach finden würden, meldeten sie sich nicht frühzeitig. Schon um sieben Uhr ist fast Alles besetzt, was an Lagerstätten vorhanden; um acht Uhr bieten nur noch die Bänke an den Wänden eine Stätte und Nachzügler haben sich über dieselben zu strecken.
Schon lange vor der sechsten Abendstunde sammeln sich Gruppen von Wartenden, zumeist dem weiblichen Geschlechte angehörend, vor dem Eingange, Alte und Junge, Kinder und Säuglinge in der Mutter Arm. Diejenigen, welche „daran gewöhnt“, drängen sich dicht an die Thür, aber Andere, die vielleicht diesen Schritt zum ersten Male thun, halten sich in größerer Entfernung, an Laternenpfählen lehnend oder auf der andern Seite der Straße wartend, als gehörten sie nicht dazu. Einzeln passiren sie durch die Thür in einen kleinen Raum, der zur Nachtzeit als Remise für einen kleinen Schauwagen dient, aus welchem zum Besten des Instituts bei Tage vor der Thür der Herberge religiöse Bücher an die Vorübergehenden verkauft werden. Der Beamte des Hauses, ein Mann, dem Geduld und Milde auf dem Gesicht geschrieben stehen, liest die Gesichter bei jedem Eintritt, um zu sehen, ob keine Unberufenen darunter, d. h. keine, welche öfter, als verstattet, sich zur Aufnahme melden und durch solchen Mißbrauch Andere um ihre Reihe betrügen wollen. „Ich irre mich selten im Wiedererkennen,“ versicherte mir der Inspector. „Das Auge wird scharf und tief in solcher Uebung und erkennt die Hunderte in den Tausenden heraus.“
Verschiedene schmale Treppen führen aus dem untern Geschoß, wo sich die große Küche und die Badezimmer befinden, nach verschiedenen Richtungen in die Schlafsäle für Männer und in die für Frauen. Jeder Ankömmling muß sich seines Schuhwerks entledigen und Strümpfe und Gesicht, Hände und Füße in den Bade- und Waschzimmern reinigen, welche mit kaltem und warmem Röhrenwasser versehen und in mustergültiger Reinlichkeit erhalten werden. Das Schuhwerk wird bis zum nächsten Morgen aufbewahrt. In Reihen, wie auf Bücherbretern, stehen die Schuhe an den Wänden geordnet; schwere und leichte, große und ganz kleine, welche trostlosen Wanderungen haben sie durchmessen! Dort jene Matrosenschuhe kommen vom sturmerschütterten Verdeck vielleicht eines Ostindienfahrers; diese Frauenschuhe in der Nebenkammer wanderten wohl die Insel Britannien durch von einem Ende zum andern; jene Bettelschuhe eines Kindes standen tausendmal auf dem Pflaster von London-Bridge und die kleineren Füße darin zitterten vor Frost und der Leib darüber schwankte im Verschmachten. Auch der elegante Lackstiefel fehlt nicht, wenn auch nur als Ruine, denn es kommen auch Leute hierher, die einst „Gentlemen“ gewesen, aber im großen Jagen von den Hinterherdrängenden überholt und bei Seite getreten wurden in London, wo so oft das gräßliche Gesicht des Elends über die Schulter blickt, die in das feinste Tuch gekleidet ist.
Baarfüßig, die Kappe oder den Hut in der Hand, schreiten sie die Treppen hinauf, die Einen in die Männergemächer, die Andern in die der Frauen. Hier, so lange noch Platz, setzt sich Jeder still auf die an den Wänden entlang laufenden Bänke, zu Häupten der erwählten Lagerstätte, eines Holzkastens, am Kopfende ein wenig erhöht – Breter und Holz, aber reinlich gehalten. In zwei Reihen, wie auf den Boden genagelte lange Fächer, laufen diese Bettstätten durch die Länge jedes Schlafsaales, in einem sechszig in kleineren weniger. Gerade so viel Raum in jeder, wie in einem Sarge, wo auch der Aermste zuletzt sein Haus findet und der Unseligste, der zu Lebzeiten keine Stätte für sein Haupt finden konnte, für das Haupt, in dem eine unsterbliche Seele wohnt, Grundbesitzer wird über sechs Fuß geschaffener Erde. So sitzen sie sich gegenüber und warten, bis die Schlafensstunde schlägt. Welche Gesichter! Alle still! Keine unziemlichen Reden, kein Geräusch. Es ist, als achte die Armuth instinctmäßig den Platz als einen für sie heiligen.
Auch jener zottelige Vagabund in der Ecke hat sein wüstes Gesicht in anständige Falten gezogen. Neben ihm sitzt ein Arbeiter in der Manchesterjacke, die hornigen Hände auf die Kniee gelegt. Er sieht kräftig aus, vielleicht ist’s nur ein augenblicklicher Nothbehelf für ihn, einmal hier eine Nacht zu versuchen. Hier ein kleiner grauhaariger Mann, der die Augen niederschlägt, mit jedem Arme einen Knaben umfangend, Kinder in ärmlicher, aber sauberer Wäsche – zerbrochenes Glück steht auf diesen Zügen geschrieben. Es ist wohl das erste Mal, daß ihr hierher gekommen seid! Daneben ein verwegenes bleiches Gesicht, eine Art Fuchskopf, diebische Augen, doch hier bleiben die Finger müßig; wer stiehlt Lumpen? Und so geht’s fort, Kopf an Kopf bis zu einem breiten Negergesichte, das wie ein schwarzer Punkt diese lange Gesichtergeschichte abschließt, ein Bruder Misérable neben dem anderen. Hier und da haben es sich schon Knaben, die ohne Vater gekommen – „Araber der City“, die irgendwo, irgendwie des Tages über auf dem Pflaster leben – in den Schlafsärgen bequem gemacht. Da ist ein Paar entschlafen, in einer Umarmung, in Lumpen, aber mit feingeschnittenen, blühenden Gesichtern, schön wie die Söhne Eduard’s im Gemälde. Es fehlt nur die Schlummerdecke von Purpursammt und das Kopfkissen von Seide. Aber der Schlaf der Jugend kümmert sich nicht um das harte Bret.
So warten sie, bis ein Mann vom Dienstpersonal das Tischgebet spricht. Dann kommt ein Becher Kaffee und ein Stück guten, unverfälschten Weizenbrodes zur Labung, dann eine kurze Predigt, ein hundertstimmiges Amen und endlich der ersehnte, der erflehte, der heilige Schlaf.
Ebenso ist es bei den Frauen. Ich blieb hier an der Schwelle stehen. Es widerstand mir, wie ein Neugieriger hier durch die Länge des Saales Parade des Elends abzunehmen. Der Eindruck ist ein tieferer im Mitleid, ein vollerer im Erbarmen. Der Mann, wenn nicht ein Krüppel, erscheint nie so hülflos, wie das Weib der Armuth. Auch hier dieselben Variationen, wie im anderen Saale. Manche wohl, die schon mehr als einmal im gelben Nachtnebel an der Themse gestanden, den Frieden der Tiefe mit der Seele suchend, hier und da wohl Eine, die mehr als einmal den Wellen entrissen. Vom Trunk gefärbte Gesichter und andere hungerbleich, grobe Hände mit schwellenden Adern und feine, weiße, die mit der Nadel gegen das Ungeheuer Mangel kämpfen. Auch kleinere, ganz kleine Wesen, halbnackt, halb verwildert, halb noch von der Unschuld verschönt, mit oder Mutter, ohne Mutter, mutterseelenallein, wie eine verirrte Taube. Husch in die Ecke eines Bettkastens gekauert, den zerrissenen Shawl über das Gesicht gezogen! Hier sind die Gesichter lebhafter. Frauen kritisiren einander auch noch dort, wo alle Unterschiede ein Hohn wären, und doch kann der Nachbarin besseres Kleid noch Eifersucht erregen! Hier wird noch gesprochen; namentlich eine alte Irländerin, die sich der Hausregel des Stillsitzens durchaus nicht fügen will, entlastet ihr Herz von einer Fülle drolliger Rohheiten im breiten irischen Accent und mit jenem halbnärrischen Augenzwinkern, das einem Lachen unter Thränen zum Verwechseln ähnlich sieht.
Nach dem Gebet kommt auch hier das Mahl, ein Zinnbecher mit warmem Kaffee und ein Stück Brod. Wie in der Kirche bei der Austheilung des Abendmahls schreitet Eine hinter der Anderen an der Madame des Hauses und ihrer Magd vorüber, von denen die Eine den Kaffee schöpft, die Andere das Brod einhändigt, das von Jeder mit einer Neigung und einem „Thank you“ empfangen wird. Merkt auf diese zwei Worte! Die Eine dankt mürrisch, sie nimmt das Almosen an, nur weil sie muß, und grollt vielleicht der Geberin, der Unbekannten, die dazu das Geld hergegeben; eine Alte empfängt es mit zitternder Dankbarkeit; ein kleines Mädchen hat das Brod schneller in den Mund
[220][221] gesteckt, als sie dafür danken konnte. Hunger! Dann kehren sie auf ihre Sitze an den Wänden zurück. Nach dem Mahle kommt die kurze Predigt, dann das hundertstimmige Amen und endlich der ersehnte, der erflehte, der heilige Schlaf.
Und in all’ den Sälen wird es ganz still, die Schuldbeladenen schlafen neben den Unschuldigen, der Verbrecher neben dem menschlichen Wesen, das noch nicht untergehen will! Wer bucht die Träume?
Warm ist es in diesen wohlgelüfteten Räumen, die durch eiserne Röhren geheizt werden, welche als hohle Pfeiler die Decke stützen und durch welche die warmen Dämpfe passiren, zu diesem Behufe in einem Dampfkessel erzeugt, der zur gleichzeitigen Heizung der Küchenräume dient. Je näher eine Lagerstätte diesen wärmenden Säulen, je gesuchter von den Obdachlosen, wie ein Luxus sonder Gleichen.
Am Morgen, nach dem Gebet, wiederholt sich die Scene der Speiseaustheilung und dann werden sie entlassen, hinaus in die Welt, in den abenteuerlichen, den feindlichen Tag, dieser und jene mitunter mit Arbeitsbillets versehen, oder mit Suppenmarken, oder anderen Extravortheilen, die Menschenfreundlichkeit beschafft und für welche Begünstigung der die Gesichter lesende Inspector oder Hausvater die ihm am würdigsten Scheinenden aussucht, so weit die Mittel reichen.
So bringt eine Viertel-Million Menschen alljährlich die Nächte zu in der Weltstadt London.
Als Elisabeth in die Thür des Forsthauses trat, kam ihr Sabine mit angstbleichem Gesicht entgegen. Sie deutete stumm auf die Wohnstube. Der Onkel sprach drinnen laut und heftig, und man hörte deutlich, wie er dabei mit starken Schritten auf und ab ging.
„Ach, ach,“ flüsterte Sabine, „da drin geht’s schlimm her! … Die Bertha ist dem Herrn Oberförster in den letzten Wochen immer geschickt aus dem Wege gegangen; vorhin aber hat sie hier in der Hausflur gestanden und hat nicht gemerkt, daß er durch die Hofthür hereingekommen ist; das war ihm gerade recht. Er hat nicht lange Federlesens gemacht, hat sie von hinterrücks bei der Hand genommen und in die Stube gezogen. Sie sah aus wie eine geweißte Wand vor Schrecken, aber all’ ihr Sperren und Zerren hat nichts genutzt, sie hat mit gemußt… Herr meines Lebens, bei dem Herrn Oberförster möchte ich auch nicht zur Beichte gehen…“
Ein lautes Aufschluchzen, das fast wie ein erstickter Schrei klang, unterbrach Sabinens Geflüster.
„So recht!“ hörten sie jetzt den Oberförster mit bedeutend milderer Stimme sagen, „das ist doch wenigstens ein Zeichen, daß Du nicht gänzlich verhärtet und verdorben bist… Und nun sprich auch. Denke, daß ich hier an Stelle Deiner braven Eltern stehe. … Hast Du einen Kummer, so schütte ihn aus; ist er ohne Dein Verschulden über Dich gekommen, so kannst Du sicher sein, daß ich ihn redlich mit Dir tragen werde.“
Es erfolgte abermals ein leises Weinen.
„Du kannst nicht sprechen?“ frug der Oberförster nach einer kleinen Pause; „das heißt, ich weiß ganz genau, daß Dich kein körperliches Leiden verhindert, Deine Zunge zu gebrauchen, denn Du sprichst ja, wenn Du Dich unbeobachtet glaubst, mit Dir selbst; es ist also ein moralischer Zwang, dem Du Dich unterwirfst, wohl gar ein Gelübde?“
Jedenfalls mußte ein stummes Kopfnicken seine Vermuthung bestätigt haben, denn er fuhr heftiger fort: „Hirnverbrannte Idee! … Glaubst Du, dem lieben Gott eine Freude zu machen, wenn Du ihm seine herrliche Gabe, die Sprache, vor die Füße wirfst? … Und willst Du Deine ganze Lebenszeit hindurch schweigen? … Also nicht? Du wirst einmal wieder sprechen, auch wenn sich das nicht erfüllt, was Du durch Dein Gelöbniß zu erreichen suchst? … Nun gut; ich kann Dich nicht zwingen, zu reden, trage demnach allein, was Dich bedrückt und was Dich unglücklich macht; denn daß Du das bist, das steht leserlich genug auf Deinem Gesicht geschrieben… Aber das sage ich Dir, an mir hast Du einen unerbittlichen Richter, wenn es einmal klar werden sollte, daß Du etwas gethan hast, was das Licht scheuen und sich hüten muß, vor den Ohren rechtlicher Menschen laut zu werden; denn Du hast in Deinem grenzenlosen Hochmuth von vornherein jeden ehrlich gemeinten Rath, jede gute Lehre von Dir gewiesen und es mir unmöglich gemacht, Dir so zur Seite zu stehen, wie ich es als Vertreter Deiner Eltern gewünscht und gesollt hätte. … Ich will es noch einige Zeit mit Dir versuchen, aber sobald ich nur ein einziges Mal merke, daß Du Dich bei Nacht und Nebel aus dem Hause entfernst, dann kannst Du Dein Bündel schnüren… Noch Eines, morgen werde ich den Doctor hierher kommen lassen, er soll mir sagen, was Dir fehlt, denn Du bist in den letzten Wochen geradezu unkenntlich geworden. … Jetzt geh’!“
Die Thüre öffnete sich, und Bertha taumelte heraus. Sie bemerkte Elisabeth und Sabine nicht, und als sie die Thür hinter sich in’s Schloß fallen hörte, da streckte sie plötzlich in sprachloser Verzweiflung die gerungenen Hände gen Himmel und stürzte, wie von Furien gejagt, die Treppe hinauf.
„Die hat etwas auf dem Gewissen, es mag nun sein, was es will,“ sagte Sabine kopfschüttelnd. Elisabeth aber ging hinein zum Onkel. Er lehnte am Fenster und trommelte mit den Fingern gegen die Scheiben, was er gewöhnlich that, wenn er aufgeregt war. Er sah sehr finster aus, allein es flog sogleich ein heller Schein über sein Gesicht, als Elisabeth eintrat.
„Gut, daß Du kömmst, Goldelse!“ rief er ihr entgegen. „Ich muß ein klares, reines Menschengesicht sehen, das thut mir noth… Die schwarzen Augen von der, die da eben hinausgegangen ist, sind mir ganz fürchterlich… Na, nun habe ich doch mein Hauskreuz wieder aufgenommen, um es ein Stück weiter zu schleppen… Kann nun einmal solch’ ein Wesen nicht weinen sehen, und wenn ich zehn Mal weiß, daß ich mit dieser Zerknirschung über den Löffel barbirt werden soll.“
Elisabeth war herzlich froh, daß das gefürchtete Zusammentreffen zwischen dem Onkel und Bertha so glimpflich abgelaufen war. Sie beeilte sich, seine Gedanken völlig abzuziehen von der Unglücklichen, indem sie ihm von der heutigen Festlichkeit und, wenn auch in etwas hastiger und flüchtiger Weise, von der schnellen Abreise des Herrn von Walde erzählte. Auch Linke’s schauerliches Ende theilte sie ihm mit, eine Nachricht, die ihn nicht sehr überraschte, denn er hatte diesen Ausgang vermuthet.
Er begleitete das junge Mädchen bis an die obere Gartenthür.
„Sei hübsch vorsichtig und läute nicht zu stark am Mauerpförtchen,“ mahnte er beim Abschied, „Deine Mutter hat heute Nachmittag einen Anfall ihrer Migraine bekommen, sie liegt zu Bett … ich war vorhin noch einmal droben.“
Erschrocken lief Elisabeth den Berg hinauf. Sie brauchte nicht zu läuten; Miß Mertens kam ihr, in Begleitung des kleinen Ernst, auf der Waldblöße entgegen und beruhigte sie sofort. Der Anfall war vorüber, die Mutter lag in einem erquickenden Schlummer, als das junge Mädchen leise an das Bett trat.
Es dämmerte bereits stark, und die tiefste Stille herrschte in der traulichen Wohnung; die Schlaguhren waren in ihrem Gang gehemmt worden, an den geschlossenen Fenstern verhallte das leise Geflüster der Blätter draußen, nicht einmal das Summen einer naseweisen Fliege wurde hörbar, denn der Vater hatte Alles, was die Ruhe der Kranken stören konnte, unerbittlich entfernt.
Hätte die Mutter jetzt auf ihrem Lehnstuhl in der einen Fensternische der Wohnstube gesessen, zwischen dem schützenden Vorhang und der grünen Buschwand vor dem Fenster, auf die der dunkelnde Abendhimmel schweigend niedersah, dann wäre heute die traute Fensterecke zum Beichtstuhl geworden; Elisabeth hätte, knieend auf dem Fußkissen, den Kopf auf die Kniee der Mutter gelegt, ihr übervolles Herz dem mütterlichen Auge erschlossen… Nun zog sich das süße Geheimniß wieder in den innersten Schrein ihrer Seele zurück; wer weiß, ob sie je wieder den Muth fand, das [222] auszusprechen, was unter den obwaltenden Verhältnissen die Mutter voraussichtlich erschrecken und mit großer Sorge um die Tochter erfüllen mußte.
Die Ruinen von Gnadeck mochten wohl verwundert aufhorchen bei dem seltsamen Geräusch, das seit dem ersten Morgengrauen mit kleinen Unterbrechungen an ihre schiefen Mauern schlug. Das klang so ganz anders als das Zerstörungswerk der Regenfluthen, oder der Schneemassen, wenn sie in der Frühlingssonne schmolzen. Heute waren es Menschenhände, welche das Zerstörungswerk vollbrachten. Unglaublich schnell und rührig hoben sie Stein um Stein ab. Der Erker, der so kühn seinen Fuß vorgestreckt hielt und Jahrhunderte lang wie ein unerschütterlicher Wachtposten vor dem Flügel gestanden hatte, sah kläglich aus. Er hatte bereits ein beträchtliches Stück von seiner Höhe eingebüßt; sein Epheugewand war zerrissen, es wurden nun dunkle Fensterhöhlen und grünangelaufenes Mauerwerk sichtbar, dessen jetzt freilich verstümmelte und zerklüftete Steinzierrathen einst schön und kunstreich gewesen sein mochten. Die Arbeiter waren sehr fleißig. Es interessirte sie selbst, so halsbrechend auch die Aufgabe war, von oben herab in die dunklen Winkel und Ecken des alten Nestes sehen zu können, das der Gespensterglaube des Volkes mit zahllosen schauerlichen Erscheinungen bevölkerte.
Am Nachmittag saß nun wieder Frau Ferber mit Elisabeth und Miß Mertens auf dem Damm, als Reinhard, der sich stets Nachmittags zu einer bestimmten Stunde einfand, erschien und erzählte, daß Linke heute Morgen in aller Stille beerdigt worden sei. Währenddem rollte und prasselte es beinahe unaufhörlich drüben bei dem Erker. Bald darauf trat Ferber in den Garten. Er war im Forsthause gewesen und kam nun in Begleitung des Oberförsters zum Kaffeestündchen heim. Ernst lief ihm aufgeregt entgegen. Der Kleine hatte, obgleich den Cordon streng respectirend, den der Vater der Sicherheit wegen für ihn gezogen, bis dahin fast immer im Hauptweg gestanden und mit großem Interesse das Abtragen des Erkers verfolgt.
„Papa, Papa!“ rief er, „der Maurer will Dich sprechen, Du sollst hinaufkommen … er sagt, er habe etwas gesehen.“
Wirklich winkte einer der Arbeiter den beiden Männern eifrig zu, näher zu kommen.
„Wir sind auf eine Kammer, oder was es sein mag, gerathen,“ rief der Mann hinab, „und wenn ich recht sehe, so steht ein Sarg drin. Wollen Sie nicht erst einmal die Sache ansehen, Herr Ferber, ehe wir weiter arbeiten? … Sie können sich getrost heraufwagen; wir stehen auf einer noch recht festen Decke.“
Reinhard hatte den Zuruf gehört und kam eilends die Terrassenstufen herabgelaufen. Ein verborgener Raum, der einen Sarg enthielt, das klang fast berauschend für seine Alterthumsforscherseele.
Vorsichtig stiegen die drei Männer die Leiter hinauf.
Die Arbeiter standen da, wo der Erker aus dem Hauptgebäude hervorsprang, und zeigten auf eine ziemlich weite Oeffnung zu ihren Füßen. Bis dahin waren sie auf keinen verschlossenen Raum gestoßen. Dem Hauptgebäude fehlte ja zum Theil das Dach. Man sah, auf dem Erker stehend, nach allen Richtungen hin durch ein Wirrsal offener Zimmer, halb eingestürzter Gänge, und durch breite Spalten im Fußboden hinunter in die Schloßcapelle. Der Erker selbst sah ebenfalls in seinem Innern nicht halb so unheimlich aus, wie von draußen gesehen; der blaue Himmel lugte allerorten herein, und die frische Luft fegte hindurch, so viel sie Lust hatte … Und nun erschien plötzlich da unten ein Raum, umschlossen von scheinbar festen Wänden und geschützt durch einen ziemlich gut erhaltenen Plafond. So viel man von oben herab beurtheilen konnte, schob sich das Zimmer wie ein Keil zwischen die Capelle und den Raum, der hinter dem Erker lag. Jedenfalls mußte sich an der äußersten Spitze, welche die Wände bildeten und die in der Ecke des Erkers und des Hauptgebäudes mündete, ein Fenster befinden, denn von dort her fielen schwache Lichtreflexe durch gefärbtes Glas herein und huschten über den Gegenstand, den man nur zum Theil sah und den der Maurer für einen Sarg erklärt hatte.
Es wurde sofort eine Leiter von beträchtlicher Länge hinabgelassen, da das Zimmer eine bedeutende Höhe hatte, und in lebhafter Spannung stieg Einer nach dem Andern hinunter. Man hatte beim Herniedersteigen in nächster Nähe ein durch das Alter beinahe schwarzbraun gewordenes Wandgetäfel vor sich. Das Auge erschrak fast vor den wunderlichen Schnörkeleien, die hier aus der Hand des Holzschnitzers hervorgegangen waren. An der Decke hin lief eine schmale, kunstlose Holzleiste von viel späterem Datum, an der lange schwarze Tuchfetzen herabhingen; die andere Hälfte der Trauerbekleidung lag unten auf dem Boden, ein modernder, gestaltloser Klumpen.
Ohne Zweifel hatte der Raum vom Anbeginn den Zweck der Verborgenheit gehabt, denn es war auf seine Form nicht die mindeste Rücksicht genommen worden. Ein unregelmäßiges Dreieck, in dessen eine etwas abgestumpfte Spitze in der That das vermuthete, sehr schmale Fenster eingefügt war, schmiegte er sich so eng an die Capelle, daß Reinhard’s Vermuthung, man habe hier in alten, katholischen Zeiten die Kirchenkostbarkeiten verwahrt, sehr viel Wahrscheinlichkeit erhielt, um so mehr, als fünf bis sechs ausgetretene Steinstufen zu einer von innen vermauerten Thür in der Capellenwand hinabführten. Das Fenster lag hinter der Steineiche, die ihre dicken Aeste gerade hier fest andrückte; auch einige Epheuranken woben ein zartes Gespinnst über die Scheiben, trotzdem stahl sich die Sonne durch die zierlichen, farbenprächtigen Glasrosetten, welche auch nicht eine Spur der Zerstörung an sich trugen.
Es war in der That ein Sarg, ein kleiner, schmaler Zinnsarg, der, hell von der schwarzen Sammetdecke des Postaments sich absetzend, einsam und vergessen inmitten der drei Wände stand. Zu seinen Häupten erhob sich ein mächtiger Kandelaber, aus dessen Armen noch Reste von dicken Wachskerzen sichtbar waren; ihm zu Füßen aber stand ein Schemel, eine Mandoline lag darauf, die Saiten hingen zerrissen herab. Es war schon ein altes Instrument zu Lebzeiten des letzten Besitzers gewesen, denn das schwarze Griffbret zeigte viel helle, abgegriffene Stellen und der Resonanzboden war da leicht eingebogen, wo der Spielende den kleinen Finger aufzusetzen pflegt.
Die letzten Atome verdorrter Blumenspenden flogen bei Annäherung der Herabsteigenden vom Sarge nieder, auf dessen Deckel in vergoldeten Lettern der Name Lila stand.
An der tiefen Wand, zugleich auch der breitesten des Raumes, war ein großer, dunkler Schrank aus Eichenholz angebracht; zur Aufbewahrung der Meßornate bestimmt, meinte Reinhard im ersten Augenblick. Er schlug die beiden nur angelehnten Thüren zurück; infolge dieser Erschütterung rauschte und rieselte es drinnen, und kleine Staubwolken flogen aus den Falten einer Menge hier aufgehangener Frauengewänder … Es war das aber eine merkwürdig phantastische Garderobe; bunt und von fast leichtfertig kokettem Schnitt, contrastirten diese Maskeradenanzüge seltsam mit der Feierlichkeit und dem Ernst ihrer Umgebung.
Es mußte ein kleines, außerordentlich zartes Geschöpfchen gewesen sein, das diese Gewänder getragen hatte, denn die seidenen, meist mit einer reichen Goldstickerei bordirten Röckchen waren kurz wie ein Kinderkleid, und die Form der Mieder von purpurnem oder veilchenblauem Sammet mit den seidenen Bandschleifen und dem Latz von goldenem Zindel ließen auf eine bewunderswürdig biegsame, feine Mädchentaille schließen … Viele, viele Jahre mochten hier vorübergeglitten sein, ohne daß ein menschlicher Athemzug in dieser Abgeschiedenheit hörbar geworden wäre, eine lebenswarme Hand die hier eingeschlossenen Gegenstände berührt hatte. Die Haken im Schranke hatten allmählich die mürbe gewordenen Stoffe durchbohrt, und die Fäden, die einst Perlen und Goldflitter auf den seidenen Borden festgehalten hatten, hingen lose und zerrissen herab.
An eine der Seitenwände lehnte sich ein kleiner Tisch mit einer Marmorplatte. Er schien sich kaum noch auf den altersschwach gewordenen Füßen halten zu können und brachte durch seine schiefe Haltung einen auf seiner Platte stehenden Kasten in die Gefahr herabzustürzen. Dieser Kasten war ein wahres Meisterstück von eingelegter Arbeit in Metall und Elfenbein. Der Deckel schien nicht verschlossen zu sein, es sah vielmehr aus, als sei er nur lose niedergelegt, um ein breites Papier festzuhalten, das aus dem Kasten hervorragte und augenscheinlich mit großer Sorgfalt so placirt war, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war braun gefärbt vom Alter, auch lagerte, wie auf Allem, eine dicke Staubschicht darüber; aber die großen, steifen, schwarzen Schriftzüge schauten unvertilgbar darunter hervor und der Name „Jost von Gnadewitz“ war auch in weiterer Entfernung lesbar.
[223] „Potztausend, was steht denn da?“ rief der Oberförster, vor Ueberraschung kaum der Worte mächtig. „Jost von Gnadewitz, das ist ja der Held in Sabinens Geschichte von der Urahne!“
Ferber trat näher und hob behutsam den Deckel in die Höhe. Da lagen auf dunklem Sammetpolster Schmuckgegenstände von alterthümlicher Fassung, Armbänder, Nadeln, eine Schnur gehenkelter Goldstücke und mehrere Reihen echter Perlen.
„Das Papier war herabgefallen; Reinhard hob es auf und erbot sich, den Inhalt vorzulesen; er war, selbst für die damalige Zeit – vor ungefähr zwei Jahrhunderten – sehr unorthographisch und ungelenk geschrieben – der Verfasser hatte sicher das Schießgewehr besser zu führen verstanden, als die Feder – trotzdem wehte ein poetischer Hauch durch die Zeilen. Sie lauteten:
„Wer Du auch seiest, der diesen Raum betritt, bei Allem, was Dir heilig, bei Allem, was Du liebst und was je Dein Herz gerührt, störe ihre Ruhe nicht! … Sie liegt da, schlummernd wie ein Kind. Das süße Antlitz unter den dunklen Locken, es lächelt wieder, seit der Tod es berührt… Noch einmal, wer Du auch seiest, ob hochgeboren oder ein Bettler, ob Du ein Anrecht an die Todte hast oder nicht, lasse mein Auge das letzte sein, das auf ihr geruht!
Ich konnte sie nicht unter die schwere, dunkle Erde legen – hier spielen goldene Lichter um sie her, und draußen auf dem Baum läßt sich der Vogel nieder; auf seinen Flügeln ruht noch der Waldodem, und aus seiner Kehle strömen die Lieder, die ihre Wiegenlieder waren … Es sanken auch goldene Lichter in das Walddickicht herab, und die Vögel sangen droben auf den Zweigen, als das schlanke Reh das Gebüsch theilte und erschreckt die scheuen Augen auf den jungen Jäger richtete, der unter dem Busch ruhte. Da fuhr es jäh und heiß durch sein Herz, er warf das Geschoß weit von sich und folgte rastlos der Mädchengestalt, die vor ihm floh. Sie, das Kind des Waldes, eine Tochter jener Horden, die ein Fluch über die Erde treibt, die nirgends heimischen Boden unter den irrenden Füßen, nicht eine Scholle vaterländischer Erde haben, auf die sie das sterbende Haupt legen können, sie hatte das Herz des wilden, stolzen Junkers bezwungen … Um ihre Liebe bettelnd, streifte er Tag und Nacht um das Lager ihres Stammes, folgte ihren Schritten wie ein Hund und umschloß rasend vor Leidenschaft ihre Kniee, bis sie gerührt einwilligte, die Ihren zu verlassen und ihm heimlich zu folgen … Er trug sie in der Stille der Nacht hinauf auf sein Schloß – wehe – und wurde ihr Mörder! … Er achtete nicht ihr Flehen, als sie plötzlich die unbezwingliche Sehnsucht nach der Waldfreiheit erfaßte; wie der gefangene Vogel umherflattert und angstvoll sein zartes Köpfchen gegen die Stäbe des Käfigs stößt, so irrte sie verzweiflungsvoll zwischen den Mauern, die einst ihre berauschende Stimme, ihr wunderbares Saitenspiel gehört hatten und nun von ihren schmerzlichen Klagen und Seufzern wiederhallten. Er sah ihre Wangen bleich werden, sah, wie ihr Auge in Haß sich von ihm abwandte, sein Herz erlitt tausendfach den Tod, wenn sie ihn von sich stieß und vor seiner Berührung schauderte; er gerieth in Verzweiflung, aber er schob doppelte Riegel vor und bewachte in Todesangst die fest verschlossenen Thüren, denn er wußte, sie war für ihn verloren, wenn einmal ihr flüchtiger Fuß den Waldboden wieder berührte. … Da kam endlich eine Zeit, da wurde sie ruhiger; zwar glitt sie an ihm vorüber, als sei er ein Schatten, ein Nichts; sie hob keine Wimper, wenn er in ihre Nähe trat und bittend und schmeichelnd sie anredete; seit Tagen hatte sie kein Wort zu ihm gesprochen, und auch jetzt kam kein Laut über ihre Lippen, aber sie rüttelte nicht mehr wild an den Fenstern, die zarte Brust wund schlagend und in gellenden Tönen nach denen rufend, die draußen in goldener Freiheit durch den Wald zogen; sie jagte nicht mehr wie gehetzt durch Zimmer und Säle oder hinauf auf die Mauer, um den schönen Leib im trüben Grabenwasser zu betten. Unter der Eiche, neben dem Erker, saß sie geduldig mit dem lilienweißen Gesicht und sah still vor sich hin: sie wußte, daß sie Mutter werden sollte. Und wenn die Nacht hereinbrach, nahm er sie auf seine Arme und trug sie hinauf; sie litt es, aber sie wandte das Gesicht von ihm, daß sein Athem sie nicht berühre und kein Strahl seines heißen Auges auf sie falle.
Da klopfte eines Tages der Pfarrer von Lindhof an das Schloßthor. Das Volk fabelte, sein Beichtkind, der Jost, halte Verkehr mit dem Teufel, und da kam er, um die arme Seele zu retten. Er fand Einlaß und sah das Wesen, um dessen willen der wilde Jäger das lustige Leben im Walde und den Himmel vergessen hatte. Ihre Schönheit und Reinheit rührten ihn; er sprach zu ihr mit milder Stimme, und ihr in Schmerz erstarrtes Herz öffnete sich seinem Zuspruch. Um ihres Kindes willen ließ sie sich taufen und ließ es geschehen, daß jenes unselige Bündniß durch Priesterwort geheiligt wurde… Als ihre schwere Stunde vorüber war, da legte sie mühsam ihre Lippen auf die Stirn des Kindes, und mit diesem Kuß entfloh ihre Seele; sie war frei, frei, noch auf der entseelten Hülle strahlt der Abglanz dieses Triumphes! … Der Unselige sah ihre Wunderaugen brechen; er wand sich in den Schmerzen der Reue und Verzweiflung zu ihren Füßen und flehte vergebens um einen einzigen, letzten Liebesstrahl.
Der Knabe wurde getauft auf den Namen seines Vaters – auf meinen Namen… Ich sah schaudernd in seine Augen – er hat die meinen – er und ich haben sie gemordet… Mein alter Diener Simon hat den Kleinen fortgetragen; ich kann nicht für ihn leben. Simon sagt – der Pfarrer auch – es werde sich kein Weib entschließen, meinem Kind die Brust zu reichen, weil ich in den Augen des Volkes ein Verlorner, ein der Hölle Verfallener sei… Das Weib meines Forstwart Ferber nährt den Kleinen jetzt, ohne zu wissen, von wem er stammt –“
Der Vorleser hielt inne; und sah erstaunt über das Papier hinweg. Der Oberförster, der bis dahin, aufmerksam zuhörend, ihm gegenüber an der Wand gelehnt hatte, stand mittelst einer heftigen Bewegung plötzlich an seiner Seite und faßte krampfhaft seinen Arm. Sein braunes Gesicht war bleich geworden, als ob eine mächtige innere Erschütterung momentan seine Pulse stocken mache. Auch Ferber war mit allen Zeichen höchster Ueberraschung näher gekommen.
„Weiter, weiter!“ rief endlich der Oberförster mit fast erstickter Stimme.
„Simon hat ihn auf die Schwelle des Forsthauses gelegt, las Reinhard, „er hat heute gesehen, daß ihn die Ferberin herzt und pflegt, wie ihr eigenes Mägdlein… Nach den Gesetzen meines Hauses hat er keine Ansprüche an das Erbe Derer von Gnadewitz, aber mein mütterliches Erbtheil wird ihn vor dem Mangel schützen. Auf dem Rathhause zu L. liegen meine Verfügungen, die ihn als meinen Sohn und Erben bestätigen. Mag er als Hans von Gnadewitz ein neues Geschlecht begründen; der Allmächtige möge mitleidige Herzen lenken, daß sie seine Jugend beschützen! ich kann es nicht …
Alles, was jene liebliche Hülle in glücklichen Tagen geschmückt hat, es soll sie auch im Tode umgeben, soll mit ihr vermodern. Auf die Kleinodien hat ihr Kind Anspruch, aber Alles in mir empört sich, wenn ich denke, daß das, was auf ihrer glänzenden Stirn, ihrem reinen Nacken geruht hat, vielleicht durch treulose Hände auseinander gerissen und entweiht wird; eher soll es hier erblinden und verderben.
Noch einmal wende ich mich an Dich, den vielleicht der Zufall erst nach Jahrhunderten in dies Heiligthum führt: ehre die Todte und bete für mich!
Der Einsiedler von Guernsey. Victor Hugo’s neuester Roman, „Die Meeresarbeiter“ (Les Travailleurs de la mer), dessen erste Bände vor wenigen Wochen erschienen sind, ist das Tagesereigniß von Paris und hat die öffentliche Aufmerksamkeit wieder in höherem Maße auf den „Einsiedler von Guernsey“ – dies ist die gegenwärtig beliebte Bezeichnung für den Dichter – gerichtet. Es dürfte dem Leser daher wohl nicht unwillkommen sein, einen Blick in das Heiligthum zu werfen, in welchem der berühmte Schriftsteller den Musen huldigt und seine geistigen Schätze zu Tage fördert. Das Arbeitszimmer Victor Hugo’s liegt wie ein Nest, hoch oben auf den steilen Gestaden von Guernsey, einer der sogenannten Normannischen Inseln, die zu England gehören, und hat die freie Aussicht auf das Meer mit seinem fernen, endlosen Horizonte. Guernsey selbst und „Hauteville-House“, die Wohnung des gefeierten Mannes, sind schon öfter beschrieben worden, interessant ist es aber, den Dichter selbst einmal in seiner schweigsamen
[224] Thätigkeit, in der poetischen Einsamkeit der frühesten Morgenstunden zu belauschen, denn Victor Hugo steht regelmäßig mit der Sonne auf und findet in den ersten Stunden des Tages eine schönsten Inspirationen.
Sein Zimmer ist beinahe eine Dachkammer zu nennen; sein Bett, eine Art von Schlafsopha, das mit alten Stickereien überzogen ist, dient während des Tages zum Sitz. Neben diesem Zimmer liegt das Arbeitscabinet, das eigentlich ein Belvedere heißen muß, ein „look out“, wie die Engländer sagen, oder ein „Lug’ in’s Land“, wie es die Schweizer bezeichnen; in diesem Raume, der mit Glas überdeckt ist, befindet sich ein kleiner, unscheinbarer Ofen; mehrere alterthümliche Sessel, und eine große Menge von Büchern stehen und liegen in bunter Unordnung umher. Neben diesem Cabinet führt ein schmaler Durchgang nach der Treppe; er ist mit einem alten Sopha und mit einem Tische meublirt und dient dem Dichter zum Zufluchtsort, wenn die Sonne zu heftig auf sein Glascabinet scheint. Victor Hugo arbeitet stehend; da er aber kein alterthümliches Stehpult nach seinem Geschmack hat finden können und eine ganz unüberwindliche Abneigung gegen alle modernen Meubles hegt, so schreibt er auf einer aus mehreren alten Sesseln und mächtigen Folianten sehr kunstvoll zusammengesetzten Erhöhung, die mit einem Teppich überdeckt ist – die Bibel und eine alte Nürnberger Chronik dienen gegenwärtig dem Dichter zur unmittelbaren Unterlage beim Schreiben. Er ist dem Cultus des „edlen Gänsekieles“ treu geblieben, seine Schrift aber ist kaum leserlich; er streicht viel aus und unterwirft sein Manuscript zahllosen Correcturen und Abänderungen. Zuweilen schleichen sich auch mitten in den Text kleine Zeichnungen und oberflächlich entworfene Skizzen ein; Victor Hugo ist bekanntlich auch ein sehr talentvoller Zeichner, und so geschieht es, daß nicht selten, und zwar zum schärferen Ausdruck eines Gedankens, der Zeichner dem Poeten zu Hülfe kommen muß. Wenn Victor Hugo seine gewohnte Tagesarbeit vollendet hat, schließt er die hieroglyphischen Blätter sorgfältig ein, ohne irgend Jemandem eine Mittheilung daraus zu Theil werden zu lassen; von dieser unbedingten Geheimhaltung seiner täglichen Productionen macht er nur dann eine Ausnahme, wenn er das betreffende Werk als vollendet und abgeschlossen betrachtet. Diese Ausnahmen werden für seine Familie und für seine nächsten und vertrautesten Freunde stets zum Feste.
Die Manuscripte, wie sie unter der Feder des Dichters hervorgegangen sind, verlassen jedoch niemals sein Haus. Sie werden mit der allergrößten Genauigkeit und Sorgfalt abgeschrieben und verglichen; ein vergessenes Wort, ein entstellter Gedanke, sogar ein falsch angebrachtes Interpunctionszeichen setzen den Dichter in die größte Verzweiflung, und erst wenn er sein Werk nochmals genau durchgelesen und sich überzeugt hat, daß Alles in der schönsten Ordnung ist, übersendet er es seinen Verlegern. In Paris hat er dann Freunde, welche bereitwilligst die Pflicht übernehmen, den Druck zu überwachen; so kommt es, daß sämmtliche Bücher Victor Hugo’s sich schon durch ihre elegante und sorgfältige Ausstattung sehr vortheilhaft auszeichnen.
Trotz seiner großen Productionsfähigkeit scheint Victor Hugo jene rasche schöpferische Kraft, die z. B. Lamartine in hohem Maße eigen ist, nicht zu besitzen. Lamartine schreibt mit Stahlfedern, in raschen, eleganten Zügen, seine Schrift scheint das Papier kaum zu berühren, er streicht nie aus, ändert keinen Satz und seine Manuscripte sehen aus wie kalligraphische Uebungen. Victor Hugo dagegen schreibt mit fester, schwerer Hand, prüft jedes Wort und ändert oft einen Satz zehn, ja hundert Mal, bevor er ihn gelten läßt. So wie er eine neue Arbeit beginnt, schließt er sich hermetisch von der Außenwelt ab; die unbedingteste Einsamkeit ist ihm Bedürfniß, und er bleibt so lange unnahbar, bis das unternommene Werk in seinem Geiste wenigstens vollendet dasteht.
Man hat dem Dichter oft vorgeworfen, daß er engherzig und eigennützig nur den materiellen Vortheil im Auge habe, den er aus seinen Schriften ziehen könne. Wie ungerecht diese Vorwürfe sind, hat Victor Hugo gerade jetzt dargethan. Es waren ihm von den Besitzern mehrerer hiesigen Journale die glänzendsten Anerbietungen gemacht worden, die „Travailleurs de la mer“ vor ihrem Erscheinen im Buchhandel capitelweise in den Feuilletons der betreffenden Zeitschriften zu veröffentlichen. Victor Hugo aber hat alle diese Anträge, die sich auf die Summe von einer halben Million beliefen, entschieden zurückgewiesen, da diese stückweise Veröffentlichung der künstlerischen Einheit seines Romanes nachtheilig sein müsse. Er verweist dagegen die Bittsteller an das Werk, welches er gegenwärtig bereits wieder unter der Feder hat: „1793“ – ein vielversprechender Titel! – das sich für die gewünschte Veröffentlichungsweise besser eignen werde.
Die Achtstunden-Bewegung in den Vereinigten Staaten. „Wir wollen nicht mehr, wie bisher, zehn Stunden des Tages arbeiten,“ ruft in diesem Augenblicke fast die gesammte Handwerker- und Fabrikarbeiter-Bevölkerung der nördlichen Staaten der nordamerikanischen Union auf ihren allenthalben zahlreich besuchten Versammlungen, in ihren Denkschriften und Zeitungs-Eingesandts. „Wir wollen jetzt, nachdem wir die schwarze Sclaverei im Süden abgestellt, die letzten Reste der weißen Sclaverei im Norden brechen. Wer zehn Stunden oder wohl gar mehr des Tages mit dem Körper arbeiten muß, behält nicht Muße und Kraft genug, um seiner eigenen wahrhaft menschlichen Fortbildung und der Erziehung seiner Kinder zu leben, kann kein solcher Bürger sein, wie ihn die Union braucht, gebildet, selbstdenkend und selbstständig er muß etwas vom Sclaven an sich tragen. Nein, wir wollen künftig blos acht Stunden täglich arbeiten und uns zusammenschaaren, damit das Achtstundensystem durch unsere Volksvertreter zum Landesgesetze werde.“
„Very well, all right!“ entgegnen ihnen nicht blos die Arbeitgeber, die ausbeutende Classe, die Nationalökonomen von Profession, die Alles recht finden, was wirklich ist, sondern auch wohlmeinende Fortschrittsorgane, „Ihr habt als freie Bürger dazu ein vollkommenes Recht; verlangt nur nicht, daß man Euch für acht Stunden Arbeit soviel Lohn zahle wie bisher für zehn oder mehr Stunden, sondern entsprechend weniger.“
„So ist es nicht gemeint,“ rufen die Arbeiter. „Wir wollen allerdings von nun an für weniger Arbeitszeit, welche gesetzlich festgestellt werden, soll, denselben Lohn wie bisher.“
Aber lieben Freunde, das ist gegen alle Vernunft; das ist gegen das Gesetz, nach welchem sich aller Handel gerecht und am besten geregelt, gegen das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Wenn alle Arbeiter für dasselbe Geld weniger produciren, so wird ihr Product theurer. Folglich kann nur einer von zwei Fällen eintreten: entweder es vertheuern sich alle einheimischen Waaren, weil alle Arbeit theurer wird, es vertheuert sich also auch die Lebensweise des Arbeiters und er verliert an den höheren Preisen seiner Wohnung, Kleidung, Nahrung und Steuern genau soviel, wie er durch den erhöhten Arbeitslohn gewann; er ist also gegen jetzt an Lebensgenuß um gar nichts, als um einen Theil seiner Zeit gebessert. Oder aber, Ihr müßtet dann ferner soweit gehen, zu verlangen, daß die Zulage zu Eurem Arbeitslohne nicht auf den Preis der Waare geschlagen, sondern vom Gewinn des Arbeitgebers und des Capitals, mit dem er operirt, abgezogen werde.
„Das Letztere ist es natürlich, was wir verlangen,. sagen die Arbeiter, wenigstens die meisten. „Die Arbeitgeber und Capitalisten stecken einen verhältnißmäßig zu großen Antheil an dem Reichthum, den wir schaffen, in ihre Tasche.“
„Wenn Ihr das glaubt,“ ist die Antwort, „so werdet selbst Arbeitgeber! Werdet Arbeiter, Unternehmer und Capitalisten in Einer Person. Es ist leichter in diesem freien Lande, Arbeiter, als Arbeitgeber zu sein. Warum schafft Ihr nicht große Gewerbs-Associationen, welche selbst produciren und selbst Credit genießen, also allen Gewinn von ihrer Arbeit in die eigene Tasche stecken? Oder warum entzieht Ihr Euch, oder wenigstens Alle, die es können, nicht der Knechtschaft des bloßen Arbeiterlebens? Geht in den großen Westen und werdet als Grundbesitzer im kleinen Maßstabe, die nebenbei noch immer gewerblichen Verdienst haben können, selbstständig! Die Colonisation des Westens ist ja für Amerika die Lösung der socialen Frage!“
„Ei, das thun von uns Arbeitern ohnehin so viele, wie irgend können. Wir wollen für diejenigen besser gesorgt sehen, die es nicht können, und wollen unter ihnen die sonst unausbleibliche Entstehung eines europäischen Proletariats verhindern.“
„Aber wie soll das möglich sein, wenn die Nachfrage nach Arbeitern im Lande ohnehin so hoch ist, daß der roheste männliche Handarbeiter seine zehn, der geschickteste seine dreißig bis vierzig Dollars die Woche erhält?“
„Was hilft uns das, wenn wir für soviel Dollars nicht mehr Miethraum, Kleider, Brod und Fleisch erhalten, als zur Nothdurft gehört? Wir wollen leben, wie freie Bürger leben müssen – menschlich! Wie das möglich zu machen sei, ist Euere Sorge, Ihr Volksvertreter und Gesetzgeber. Euere erste Pflicht ist, eine Form der Gesellschaft und eine Volkswirthschaft zu erfinden, in welcher jeder Bürger ein wahrer Mensch sein kann. Wir wollen nicht zwischen den beiden Mühlsteinen des Angebotes und der Nachfrage zu Staub zermahlen sein. Wir haben die Union mit dem Schwerte in der nervigen Faust gerettet, den ewigen Menschenrechten durch unser Blut und unsern Schweiß eine ewige Freistatt geschaffen. Wir wählen künftig keinen Menschen mehr zum Volksvertreter, Gesetzgeber und Beamten, der nicht auf den heiligen Grundsatz sich verpflichtet hat, die Achtstunden-Bewegung siegreich, den Bürger zum Menschen, die Arbeit zur Herrscherin im Lande zu machen. Da habt Ihr unser Ultimatum!“
„Wie in aller Welt soll dann unser Land ferner im Stande sein, in der Production mit dem alten Europa zu concurriren das einen solchen Arbeiterüberfluß besitzt, daß dort die Arbeitslöhne durchschnittlich nur das Viertel der hiesigen Höhe erreichen?“
„Ihr hört es ja, das ist Euere Sorge. Wozu habt Ihr denn anders Nationalökonomie studirt, auf unsere Kosten studirt, als um die Welt für den freien Menschen, den freien Arbeiter wohnlich einzurichten? Kurz und gut, der Mensch ist Selbstzweck, und Euer Handelsgesetz vom Angebot und der Nachfrage muß entweder diesem Selbstzweck dienstbar gemacht werden können, oder es ist eine elende Lüge, Sophisterei und Heuchelei zur Entwürdigung des Menschen. Wenn Ihr es nicht wißt, wie man die Concurrenz, welche Europa mittels billiger Arbeitslöhne und Capitalien uns machen kann, besiegen muß, so wollen wir Euch eines von verschiedenen möglichen Mitteln nennen: Schraubt die Schutzzölle hoch genug hinauf, damit diese Concurrenz unschädlich werde! Amerika ist sich selbst genug zur Erzeugung aller seiner Bedürfnisse. Dadurch löst Ihr zugleich die Arbeiter- und die sociale Frage für Europa. Laßt der alten Europa den amerikanischen Waarenmarkt verloren gehen, und ihre Arbeiter werden durch die Noth auf unsern Gedanken verfallen, daß sie Selbstzweck sind, Menschen und Bürger, daß der Handel, die Industrie, die Nationalökonomie und ihre angeblichen Naturgesetze um des Menschen willen da sind, nicht der Mensch um ihretwillen.“
Halt, so geht es wahrhaftig; wir wollen uns die Sache überlegen, wollen sie sofort dem Congreß vorlegen,“ rufen die Politiker.
„Ja wohl, überlegt es Euch nur, denn wir sind fertig mit Ueberlegen. Wir sagen Euch, daß Euer Gesetz von Angebot und Nachfrage elende Sophisterei ist, wie es jetzt verstanden wird. Was kümmert sich der reiche Capitalist, der Lebensmittel massenhaft aufkauft und sie uns vertheuert und uns um Unsummen besteuert, um das Gesetz? Der große Westen bietet uns Mehl, Fleisch und alle ersten Bedürfnisse massenhaft an, die Nachfrage ist nicht übermäßig. Der Speculant aber nimmt das Gesetz in seine Hand und dreht ihm eine wächserne Nase. Er kauft das Angebotene auf, speichert es auf und vermindert dadurch künstlich das Angebot, steigert die Nachfrage künstlich um das Doppelte; und dann will uns der Sophist noch auf die unerschütterliche Gültigkeit dieses Naturgesetzes verweisen, daß der Preis sich gerecht durch Nachfrage und Angebot bestimme? Bah! macht das weis, wem Ihr wollt, nur keinem amerikanischen Arbeiter!“
Und so, geehrte Leser der Gartenlaube“ ist der Stand der Achtstundenbewegung im Augenblicke. Freilich hat der Farmerstand, der hier in der Politik entscheidend ist, sein Wörtchen noch nicht mitgesprochen (– und hoffentlich werden die volkswirthschaftlich barbarischen Schutzzollprojecte nicht zur Ausführung gelangen. D. R.).
- ↑ Geh. Med.-Rath Professor Günther in Leipzig, welcher längere Zeit einem orthopädischen Institute in Hamburg vorstand, erklärt geradezu, daß er niemals ein wirklich schiefes Mädchen wieder gerade curirt hat. Die Resultate seiner mehr als zehnjährigen Erfahrung hat er in einem nicht genug zu empfehlenden Schriftchen niedergelegt, welches den Titel „Bemerkungen über die Verkrümmungen und besonders über die Mittel, denselben vorzubeugen“ (Kiel 1839).
- ↑ Es gewährt uns besondere Freude, im vorstehenden Artikel die, unsers Wissens, bis jetzt einzige nicht dramatische und nicht metrische Arbeit des bekannten Redacteurs des „Kladderadatsch“ veröffentlichen zu können. Die Redaction.
- ↑ Copia (in französischer Sprache).
„Der Graf von Calenberg und Herr von St. André empfehlen sich der Mademoiselle Barberina und werden, wenn sie es ihnen gestattet, sich die Ehre geben, ihr vor ihrer Abreise im Morgenanzug ihre Aufwartung zu machen.“
„Goritzia, den 17. April 1744.
Herr Stouardt de Machinzie verspricht hierdurch direct mit der Post nach Wien zu gehen und noch heut abzureisen ohne weder dem Fräulein Barbarina Campanini noch irgend Einem ihrer Begleiter etwas Uebles zuzufügen, welches Versprechen ich durch Unterschrift meines Namens und Hinzufügung meines Wappensiegels bekräftige.
Stouardt de Machinzie.“