Die Gartenlaube (1867)/Heft 47

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[737] No. 47.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Der Habermeister.
Ein Volksbild aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Nachdem Susi in die Kammer gegangen war, wandte die alte Oedhoferin beklommen das Antlitz in die Richtung, wo sie des Aichbauers hin und wieder wandelnden Schritt vernahm, als könne sie ihn sehen und in seiner Miene Beruhigung finden vor der Sorge, die sich plötzlich wie mit Krallen an ihr Herz klammerte …

Ein wilder durchdringender Schrei ertönte aus der Kammer – dann kam Susi wieder heraus gestürzt, zitternd, bleich, ohne Haube, mit losgegangenem, wild herabfallendem Haar … „Jesus Maria,“ keuchte sie, dem Umsinken nahe, „das Bett’l ist leer und kalt … wo ist das Mariele? Was ist’s mit dem Kind?“

„Was wird es sein!“ entgegnete Sixt mit erzwungener Kaltblütigkeit; der Schmerz der Schwester war so unverkennbar groß, daß er sich abwenden mußte, um nicht erschüttert zu werden. „Es ist gut aufgehoben, Du brauchst keine Sorge zu haben wegen des Kinds …“

„Sei nit so wild, Susi, und so außer Dir,“ rief die Base milder, „es ist nichts – komm’ her zu mir und laß Dir sagen …“

„Nichts, nichts laß ich mir sagen …“ rief Susi mit bebenden Gliedern und rollenden Augen … „nichts, eh’ ich nicht weiß, was es mit dem Kinde ist … Redet, Bas’, habt Barmherzigkeit mit mir – sagt’s und stoßt mir nur gleich das Messer in’s Herz … dem Kind ist ein Unglück gescheh’n – es ist todt …“

„Was für ein unvernünftiges, überspanntes Betragen!“ rief Sixt unwillig. „Hast Du das übertriebene Wesen in der Stadt gelernt, so wollt’ ich, Du wärst nie hineingekommen! Das Kind lebt und ist frisch und gesund, aber es ist fort …“

„Fort? Aus dem Haus’?“ rief Susi, indem sie wie erleichtert aufathmete und doch wieder von einer neuen Bergeslast bedrückt. „Bas’l, was soll das heißen? … Habt Ihr das Kind nit auf- und angenommen, wie Euer eigenes? Wie kann’s fort sein aus dem Haus, wo es hingehört?“

„Ich hab’s angenommen,“ sagte die Bäuerin, „und ich bin meinem Wort noch nie umgestanden … aber im Oedhof hab’ ich’s nimmer behalten können … Es ist einmal zu viel Gered’ wegen dem Kind in der ganzen Gegend, man kann’s nit mehr länger ruhig mit anseh’n …“

„Das Amt, die Gerichte sind neuerdings hinter der Sache her,“ sagte Sixt bestätigend, „sie wollen durchaus dahinter kommen, wer das Kind gelegt hat und wem es angehört …“

„Das Gered’!“ murmelte Susi und preßte beide Hände vor die Stirn. „Ja, ja, was thut man nicht Alles, um dem Gerede der Leute auszukommen … man will sich nicht mit Nadeln stechen lassen und rennt sich lieber selbst den Dolch in die Brust! Aber das kümmert mich Alles nicht … soll das arme Kind leiden müssen unter dem boshaften Gered’? …“ fuhr sie wieder in der vorigen Leidenschaftlichkeit auf. „Ich will wissen, wo das Kind ist! Ich will hin zu ihm, ich will bei ihm bleiben … wo habt Ihr das Kind hingebracht?“

„Das geht Dich nichts an,“ entgegnete Sixt strenge, „Du wirst Vernunft annehmen und Dich beruhigen, oder ich, als Dein Bruder, ich werd’ dafür sorgen, daß Du durch Deine überspannte Thorheit nicht wieder verdirbst, was ich gut gemacht habe … Das Kind bleibt, wo es ist, und Du giebst Dich damit zufrieden, wenn ich Dir sage, daß es in den besten Händen ist, und wirst ruhig sein! …“

„Nein, nein, ich werde es nicht sein,“ rief Susi in immer wachsender Erregung, „ich kann es nicht! Ich muß das Kind um mich haben, muß es warten und pflegen … O, es ist so an mich gewöhnt, es wird sich zu Tode weinen, wenn es mich nicht sieht. … Wo ist das Kind, Sixt … ich habe es so unendlich lieb – ich kann nicht leben ohne das Kind …“

„Du wirst es lernen müssen …“

„Niemals, niemals! Glaube nicht, daß das Uebertreibung ist, was ich sage … es ist mir an’s Herz gewachsen … reiß es nicht hinweg, wenn ich nicht verbluten soll! Sag’ mir, wo das Mariele ist! Gieb es mir wieder! Wenn Du wirklich mein Bruder bist, so zeig’s und habe Barmherzigkeit mit mir … Gieb mir das Mariele wieder, ich muß sterben ohne das Kind …“

Sie hatte des Bauern Hand gefaßt und wollte vor ihm in die Kniee sinken; er riß sich zürnend los und rief: „Thorheit – man stirbt nit so leicht … auf das hin will ich’s wagen …“

„Also ist keine Gnade?“ rief sie wild. „Nun, wenn Bitten nichts hilft, dann will ich anfangen zu fordern … Wo ist das Kind, Sixt? Sag’ es mir – gieb es mir zurück! Du darfst es mir nicht verweigern … es ist – mein Kind, ich bin seine Mutter!“

„Dein Kind …“ schrie der Bauer auf und stand wie versteint.

„… Susi,“ stammelte die Base; sie stand hoch aufrecht vor ihrem Stuhle, wie emporgeschnellt von unsichtbarer Gewalt.

Susi lag auf den Knieen; mit dem entscheidenden Worte [738] waren Zorn und Entrüstung von ihr gewichen – sie war ganz dem Schmerze dahin gegeben, der in zahllosen schweren Thränen aus ihren Augen strömte. „Es ist gesagt,“ schluchzte sie, „das Wort, von dem ich geglaubt habe, daß es nie über meine Lippen kommen würde, … ich habe es ausgesprochen. … Ja, es ist wahr!“

„Wahr!“ rief Sixt und knickte kraftlos auf die Bank zusammen. „Meine eigene Schwester! … O, welche Schand’“ Auch die alte Frau sank wieder zurück. … „Ich weiß nit, mir wird so übel,“ lallte sie, „ich glaub’ es ist … aus … mit mir…“

„Die Stadt, die Stadt,“ fuhr Susi fort, „die ist an Allem schuld … ich sag’ auch, ich wollt’, daß ich nie hinein gekommen wär’! In unsrem Hause war ein junger Mensch – ein Student – der Bruder ging den ganzen Tag seinen Geschäften nach, ich war mir selber überlassen … der junge Mann hat sich an mich gemacht, hat mir Schönheiten gesagt, hat mir alles Mögliche versprochen und geschworen, bis er mir Kopf und Herz verdreht hatte… Aber einmal, an einem Morgen, da war er fort, heimlich fort, war abgereist, Niemand wußte wohin, und wie ich in meiner Todesangst, die ich doch Niemand verrathen durfte, nach ihm fragen ließ, wie ich mich zu spät nach seiner Herkunft, nach seiner Heimath erkundigte … da …“

„Nun?“ rief Sixt in athemloser Spannung, da sie eine Secunde, mit einer Ohnmacht ringend, inne hielt.

„Da – da erfuhr ich … daß er nirgends zu finden war … daß er ein Abenteurer war, der … unter einem falschen angenommenen Namen in die Stadt gekommen…“

„Auch das noch!“ jammerte Sixt, sich in die Haare fahrend. „O mein Kopf, mein Kopf!“ Die Greisin in ihrem Lehnstuhl vermochte nur zu ächzen.

„… Niemand,“ begann Susi sich zusammenraffend wieder, … „Niemand wußte um mein Geheimniß und um meine Schmach … Niemand, als eine Frau, die im Hintergebäude wohnte und sich mit Näharbeiten fortbrachte, mit Gängen für die Leute im Hause und mit Pfänderversetzen… Bei ihr hatte der Verführer gewohnt; von Eigennutz verlockt, hatte sie unsere Zusammenkünfte befördert und geduldet… In meiner Verzweiflung drohte ich mit Selbstmord; um der Strafe zu entgeh’n, mußte sie mir weiter behülflich sein … sie behielt mein Kind … um sein Dasein zu verbergen, nahm sie ein anderes Kind in Pflege und Kost; es mußte zum Deckmantel für das meinige dienen, und während sie in ihrer abgelegenen Wohnung das ihr anvertraute Kind zeigte und ernährte, ahnte Niemand, daß sie noch ein zweites verbarg…“

„Entsetzlich!“ rief Sixt. „Welch’ ein Abgrund von Verderben und die eigene Schwester in der Tiefe des Abgrunds!“

„In der tiefsten der Tiefen!“ rief Susi schmerzlich. „O wie ich gerungen, was ich gelitten habe, allein mit mir selbst und dem Bewußtsein meiner Verworfenheit … verzehrt von glühender Sehnsucht nach dem unseligen Wesen, dem ich das Leben gegeben, und doch ohne Muth, meine Schande bekennend es offen an mich zu zieh’n – gemartert von den immer steigenden Zumuthungen meiner Genossin und doch an sie gekettet durch die Unmöglichkeit eines andern Auswegs! … Das immerwährende Schwanken zwischen Hoffnung und Angst; der Wechsel von Entzücken, wenn ich bei meinem Kinde sein konnte – von Verzweiflung, wenn ich es lassen mußte, überwältigte zuletzt meine Kraft – ich erkrankte, und als ich genesen, war das Erste, was ich vernahm, der Entschluß des Bruders, die Stadt zu verlassen und wieder auf’s Land zurückzukehren… Ich weiß noch nicht, wie ich mich losgerissen, wie ich meine Mitschuldige beschwichtigte und vertröstete … in einem Zustande des Taumels und der Sinnlosigkeit … eine halb Sterbende verließ ich die Stadt und der Schmerz hätte mich sicher getödtet, hätte mir der Himmel nicht einen Engel entgegen geschickt … Franzi!“

„Franzi!“ rief Sixt und sprang auf. „O Gott, woran mahnst Du mich! Und an sie – an die Unglückselige denk’ ich erst jetzt…“

„Sie kam mir liebevoll und mit all’ der alten Güte entgegen,“ sagte Susi, unter sanfterem Weinen. „… Zum ersten Male begegnete mir in der vertrauten Jugendgefährtin ein mildes wohlwollendes Gemüth … ich hatte den Muth nicht, vor ihr ein Geheimniß zu bewahren … in ihrer einsamen Kammer warf ich mich vor ihr auf die Kniee und habe ihr Alles gestanden… Sie schalt mich nicht – sie redete und fragte nicht viel, aber sie gab mir die Hand und sagte: ‚Ich will Dir helfen, Susi … ich weiß, was das heißt, keine Mutter haben … der arme Wurm soll nit so aufwachsen … er soll bei Dir sein, der liebe Gott wird mir wohl ein Mittel einfallen lassen, daß Du das Kind bei Dir haben kannst und das Geheimniß doch bewahrt bleibt…‘ Und sie hat’s redlich gehalten, was sie versprochen hat! Sie ist hinein in die Stadt und hat das Kind geholt bei der Frau, die zu Tod froh war, die Angst und das Geheimniß los zu werden … sie hat sich, damit sie Niemand mit dem Kind sehen sollt’, auf der Eisenbahn auf einem Packwagen hinter den Kisten und Fässern versteckt und hat’s auf den Oedhof getragen… Sie hat einer Mutter das eigne Kind gelegt… Das ist Alles, was ich zu sagen hab’. … Jetzt thut mit mir, was Ihr wollt, ich will’s Alles ertragen … bring’ mich um, wenn ich’s verdient hab’, Bruder, aber dann sorg’ für mein liebes, liebes Kind, oder gieb mir’s wieder, wenn Ihr mir verzeihen könnt!“

„Verzeihen? Dir?“ rief die Alte und suchte vergebens, sich in ihrem Stuhle aufzurichten. „Niemals!“ kreischte sie auf, um den Ruf des Hahnes auf der Uhr zu überbieten, der wieder an die Ewigkeit mahnte. „Niemals, in Ewigkeit! Dein Kind will ich wieder zu mir nehmen, ich will’s Deine Schlechtigkeit nicht entgelten lassen, will’s nicht statt Deiner strafen – aber Dich kenn’ ich nit mehr und will nichts mehr wissen von Dir! Du sollst von mir nichts mehr hören und haben als meinen …“

Sie vollendete nicht; ohnmächtig, einer Sterbenden gleich, glitt sie in den Stuhl zurück.

„Verzeihen?“ rief Sixt, indem er hinzutrat und die Knieende am Arme empor zerrte. „Weißt Du denn auch, was Alles auf Dir liegt? Die Franzi ist unschuldig durch Dich in Schand’ und Spott gekommen … der eigene Bruder hat sie fälschlich angeklagt und sie ist ungerecht verurtheilt … ungerecht, sie, der ich so viel zu danken hab’, die vor mir dasteht leibhaft wie ein guter Geist und wie ein Schutzengel! … Schau’ zu, Schwester, ob Dir unser Herrgott verzeiht … ich, ich kann es nicht!“

Er stürmte in die Nacht hinaus, unbekümmert um die wie leblos zusammen Stürzende – es war kein stilleres Haus in dem ganzen Gebirg, als der Oedhof.


6.

Es hatte völlig eingewintert in den Bergen.

Wenn man die enge Dorfgasse von Osterbrunn hinabsah, gewahrte das Auge nichts als den weichen, frischgefallenen Schnee, der ringsum sich hinzog, gleich einer ungeheuren Decke Alles verhüllend und doch den Formen der Dinge sich anschmiegend, daß sie in verschwommenen Umrissen noch immerhin erkenntlich waren. Die Dächer der Häuser waren in Hügel verwandelt, unter welchen die braunen Holzwände ernsthaft hervorblickten und doch errathen ließen was für ein trauliches Versteck sie boten vor Winter und Wetter und Frost. An den Dächern hin glitzerten Eiszapfen in allen Längen und Formen, wie eine eigens aufgehangene und kunstvoll gearbeitete Verzierung, und wo die Rinnen vollends gegen die Mitte der Gasse zu und einander gegenüber die Drachenmäuler aufsperrten, waren die phantastischen Thierköpfe mit einem noch phantastischeren Eisbarte geziert, der in langen, starren Krystalllocken herniederhing. Das Steigrohr des Dorfbrunnens hatte sich eine mächtige Haube übergestülpt und die große Linde, unter deren Schatten sonst das Wässerlein so frisch hervorplätscherte, hatte an jedem Aste den Schnee wie einen wärmenden Aermel aufgestreift, und stand so starr und ernst, als traure sie um das junge Leben unter ihr, das nun wie versiechend tropfenweise an dem aufgethürmten Eisstocke herniederschlich. Darüber hinaus, am Ende der Gasse, über die Schneehügel und durch die kahlgewordenen Baumwipfel der Gärten, ragten wie die Eisriesen der Sage die Berge herein und ließen ihre Häupter im Widerschein der Sonne erglänzen, welche sich eben anschickte, die kurze Bahn des winterlichen Nachmittags zu beenden. Nichts regte sich in dem weiten, weißen Bilde, als hie und da ein verwunderter Spatzenschwarm, welcher die gewohnte reichliche Nahrung nicht zu finden wußte, oder ein Rabe, der mit glänzendem Gefieder krächzend über das Dorf hinwegstrich; alles andere Leben hatte sich nach innen gezogen und ließ sich in den tactmäßig abwechselnden Schlägen erkennen, welche von den Dreschtennen aus den Stadeln und Scheunen stark und scharf durch die klare, kalte Luft ertönten.

[739] Der rund vorspringende Erker des Osterbrunner Wirthshauses bot ein Plätzchen zur gemüthlichen Betrachtung des Wintergemäldes, wie es kaum geschützter und behaglicher gedacht werden konnte. Die Stube war leer, in dem Erker aber saß der alte Grubhofer verkehrt auf dem hölzernen dreibeinigen Stuhl und drehte den weißen Schnauzbart oder sah, die Hände mit der glimmenden Stummelpfeife um die Stuhllene gekreuzt, in den Winterabend hinaus. Manchmal sprach er auch einige Worte, welche der am großen grünen Kachelofen eingenickten Wirthin gelten sollten, von dieser aber so wenig beachtet wurden, wie er von ihr ernstlich eine Antwort darauf erwartete.

„Die Sonn’ geht ganz roth ’nunter,“ sagte er, „und der Bach rauscht ordentlich; die Kälten wachst tüchtig, man merkt’s wohl, daß es auf Martini zugeht, ich werd’ mich auch auf den Weg machen, sonst gefrier’ ich an, bis ich auf die Gruben hinunter komm’… Aber schau, da kommt noch Einer um das Schulhaus herum … wer muß denn der sein? Er muß ordentlich waten im Schnee, es ist halt noch nirgends eine Bahn geschaufelt … mir scheint, er kommt auf’s Wirthshaus zu und will mir noch gar Gesellschaft leisten; dann kostet’s noch ein Maß’l! Es ist schon so,“ rief er lauter und klappte mit dem Krugdeckel, daß die Wirthin aus ihrem Halbschlummer auffuhr. „Einschenken, Frau Wirthin … das ist kein Mensch, als der Vorsteher von Westerbrunn, der alte Finkenzeller … was mag der noch so spät in Osterbrunn suchen?“

Während der Alte sich erhob und neugierig der Thür zuwandte, war der Finkenzeller schon auf der Schwelle, stampfte sich den Schnee von den Schuhen und schaute verwundert in die Stube. „Ja, wie wär’ mir denn das?“ sagte er, indem er den Reif von Haar und Bart schüttelte. „Ich lauf’ noch im Zwielicht den Weg von Westerbrunn herüber und denk’ mir nit anders, als ich werd’ die ganze Stuben noch voller Leut’ finden, und derweil ist Alles leer und der einzige Grubhofer hockt in der großmächtigen Stuben, wie ein dürrer Nußkern in seiner Schalen! Bin ich denn irrig? Ist denn heut’ nit die Vorsteherwahl in Osterbrunn?“

Die Wirthin kam mit Bierkrügen die Stiege herauf, die gleich von innen in den Keller führte. „Was meinst’, Finkenzeller?“ sagte sie. „Glaubst, ich hab’ mein Holz gestohlen, daß Du da mitten unter der offenen Thür stehen bleibst und Dein Disputat abhalt’st? Du lass’st mir ja so viel Kälten h’rein, daß ich gleich einen ganzen Wald in den Ofen nachschieben darf!“

„Ist ja kein Wunder, wenn man ganz versteinert stehen bleibt,“ sagte der Finkenzeller, indem er eintrat und die Thür mit spöttischer Behutsamkeit hinter sich schloß. „Das ist ja so gut wie ein Mirakel! Ich hätt’ mir eingebild’t, man müßt’ vor Völle Thür und Fenster aufreißen, damit ein frischer Luft in die Stuben kommt; statt dessen ist’s da so licht, wie in ein’ Stadel um Jacobi! Brauchst Dich aber meinetwegen nit zu giften, Wirthin, wie ich wiederkomm’, nehm’ ich einen Mantel voll Wärm’ mit von daheim und bring’ Dir’s, dann gleicht es sich aus! Zeh bin nur froh, daß doch ein Christenmensch da ist, der Einem ’was erzählen kann… Grubhofer, alter Rebeller, da, setz’ Dich her zu mir und hilf mir aus dem Traum… Ist denn nit heut’ die Vorsteherwahl?“

„Gewesen, alter Spezi!“ erwiderte der Alte mit pfiffig vergnügtem Lächeln. „Ist Alles schon in Ordnung – Alles vorbei!“

„In Ordnung? Vorbei? Aber wie, das ist die Hauptsach’! Es hat mir keine Ruh’ gelassen daheim, ich hab’s nit erwarten können, bis ich’s morgen fruh durch die Botengret’l erfahren hält’, ich hab’s heut’ noch wissen müssen, denn Du weißt, was ich auf Denselbigen halt’, den ich mein’, und wenn ich denk’, was das die letzte Zeit her für ein Gezischel gewesen ist und für ein Gewisper, da ist mir oft völlig heiß ’worden im Kopf… Also h’raus mit der Farb’! Wer ist Vorsteher von Osterbrunn? Muß ich schelten oder darf ich juchezen?“

„Du darfst, Finkenzeller,“ lachte der Alte, „wenn Dir der Stimmstock noch nicht umgefallen ist … kein Anderer ist Vorsteher von Osterbrunn, als Derselbige, den Du meinst!“

„Juchhe!“ rief der Finkenzeller, indem er auf den Tisch schlug, den Ton so frisch und kräftig hielt und zog, als wär’ er ein lediger Bursch, der auf’s Wildern ausgegangen und von der Bergschneide herunterjodelt zu den Sennhütten und der wartenden Almerin davor. „Da sollt Ihr schon gleich leben, Ihr Osterbrunner! Das ist ein gescheidtes Stück’l von Euch, daß Ihr Euch die Courage nit habt abkaufen lassen! Ich hab’s alleweil g’sagt, der Aichbauern-Sixt ist ein ganzer und ein richtiger Bursch und an dem ganzen Gered’ ist nit ein Sterbenswörtl wahr!“

Der Alte machte wieder ein pfiffiges Gesicht und hatte viel mit dem Schnauzbart zu schaffen. „Na, na,“ sagte er, „was die Courage anbetrifft, so wollen wir uns nit schöner machen, als wir sind. Es hat bei uns auch Niemand recht an alles das Zeug ’glaubt, aber Du weißt ja, wie das mit so einer Sach’ geht: wenn der Regen auch noch so fein fallt, wenn er halt nit nachlaßt, geht er zuletzt durch das dickste Laub; etwas bleibt halt doch allemal hängen, und wenn man sich noch so stark dagegen spreizt! Zudem hat der gestrenge Herr, der Amtmann, nit aus’lassen und hat immer wieder hineingestochen in das Wespennest, und ich möcht’ nit gut stehen, was zuletzt doch noch geschehen wär’, wenn der Sixt nit ’kommen wär’ und selber das Maul aufgemacht hätt’!“

„Aber wie denn? Erzähl’ doch …“ drängte der Finkenzeller, indem sich Beide wieder in den Erker setzten, durch dessen Fenster der Abend immer kälter und glanzloser hereindämmerte.

„Es ist geschwind geschehen gewesen,“ sagte der Grubhofer, „und wird auch geschwind erzählt sein! Die Männer von der Gemeind’ waren alle da, bis auf den Einzigen, auf den Alles am meisten gespitzt hat, bis auf den Aicher-Sixt … das ist aber dem gestreng’ Herrn ganz recht gewesen und da hat er eine Ansprach’ gehalten, was der Vorsteher für ein großes Thier sei in der Gemeind’ und daß er ein Mann sein müßt’, dem man nit so viel nachsagen könnt’, wie das Schwarze unterm Nagel ausmacht, und hat uns den alten Binder recommandirt und herausgestrichen, das wär’ ein richtiger und christlicher Mann, noch einer von der alten Welt, und den sollten wir wählen, und einen bessern Vorsteher könnten wir gar nit kriegen. Der Binder, der schon bald seinen Siebziger auf dem Buckel hat, hat sich dagegen gewehrt mit Händen und Füßen und hat gesagt, daß er nimmer recht fort könnt’, daß er mit’m Lesen und Schreiben seiner Lebtag über’s Kreuz g’standen ist – es hat Alles nichts geholfen, der Herr Amtmann hat schon anfangen lassen wollen mit der Abstimmung … da ist auf einmal die Stubenthür auf’gangen und der Aichbauer ist herein’kommen…“

„Der Blitzbursch!“ sagte der Finkenzeller und vergaß den Krug, dessen Deckel er schon geöffnet hatte, zum Munde zu führen.

„Du weißt, was er sich für ein Ansehen geben kann,“ fuhr der Alte fort, „gerad’ als wie einer von den Herrischen oder aus der Stadt, und so ist er herein und ‚Grüß’ Gott‘ hat er gesagt, ‚Grüß’ Gott, Nachbarn alle miteinander, und seids nit harb auf mich, wenn ich erst jetzt komm’ und wenn ich Euch jetzt auch noch aufhalten muß … aber ich hab’ Euch was zu erzählen …‘ ‚Erzählen?‘ hat der Gestreng-Herr gesagt und hat dazu ein Gesicht gemacht, wie ein Feld voller Teufel. ‚Die guten Leut’ sind jetzt beieinander wegen der Vorsteherwahl und nicht um Ihre Erzählungen anzuhören… Derlei fremdartige Dinge gehören nicht in die Amtshandlungen hinein…‘ Der Sixt aber hat sich nicht irr’ machen lassen und hat sich mitten in die Stuben hingestellt und hat gesagt, die Geschicht’, die er zu erzählen hätt’, die gehörte auch zu der Gemeindewahl; ‚Sie selber, Herr Baron, haben das letzte Mal gesagt, Sie wollten Alles aufbieten, daß Sie uns bei der heutigen Zusammenkunft den Stammbaum von dem Kind sagen könnten, das bei meiner Bas’ auf dem Oedhof gelegt worden ist, und wer das Kind dahin gebracht hat … also muß die Sach’ doch auch zu der Gemeindewahl gehören.‘ Der Gestreng-Herr hat’s wohl noch einmal probirt, dagegen zu reden, und hat gesagt, das wären Familiensachen, die der Gemeind’ nichts angeh’n … aber die Bauern sind schon unruhig worden und haben gesagt, sie wollten zuvor, eh’ sie wählen, den Sixt anhören, und so hat er denn richtig zu erzählen angefangt.“

„… Aber was denn? Ruck’ nur einmal heraus mit der Farb’!“

„Was sonst, als daß er’s jetzt heraus’bracht hätte, wer die Mutter ist von dem Kind und wer’s auf den Oedhof vertragen hat… ‚Es ist freilich eine harte Buß’‘, hat er gesagt, ‚wenn man so was erzählen und sich selber in’s Gesicht schlagen muß, aber wenn’s darauf ankommt, daß man einem Unschuldigen helfen kann, der drunter leiden muß, dann muß man reden, dann wär’ das Schweigen [740] noch eine viel größere Schand‘ … Darauf hat er erzählt, daß seine eigene Schwester, die Susi, ihm einbestanden hat, daß ein fremder Herr drinnen in der Stadt sie verführt hat, daß sie die Mutter ist von dem Kind und weil sie das Herz nit gehabt hat, sich dazu zu bekennen, und hat doch nit leben können ohne das Kind, hat sich die Franzi um sie angenommen, hat es heimlich aus der Stadt geholt und auf den Oedhof ’tragen. …“

„Also hat sich die Mutter das eigene Kind als ein fremdes vor die Thür legen lassen!“ rief der Finkenzeller verwundert. „Was man nit Alles erlebt auf der Welt, wenn man alt wird! Und die Susi ist die Mutter davon. … Schau, schau, wie sich das Alles zusammenreimt … darum hat sie immer ausgeschaut wie das böse Gewissen und wie die theure Zeit miteinander! Aber die Franzi, das ist auch ein richtiges und ein kreuzbraves Leut … wie ihr das nur so eingefallen ist! Und was sie Alles hat ausstehen müssen deswegen! Und sie hat’s ausgestanden und hätt’ nur den Mund aufmachen und nur einzigs Wörtl’ sagen dürfen! Ich könnt’ gleich noch einmal juchezen vor Vergnügen, daß es doch noch ein solches Leut giebt auf der Welt, – aber eine solche Perl’, die lass’ ich nit aus; gleich morgen in aller Fruh spann’ ich mein Schweizerwagl an und hol mir die Franzi und bring’s meiner Bäuerin heim, und wenn ich das ganze Landl auf und ab fahren müßt’ um sie …“

„Ja, wenn man wüßt’, wo sie wär’,“ entgegnete der Grubhofer bedenklich, „da wär’ Einer, der wär’ Dir schon zuvor ’kommen, denn der Aicher-Sixt hat keinen andern Gedanken, als wie er sie finden kann und kann das gut machen, was sie wegen seiner Schwester unschuldiger Weis’ ausgestanden hat! Aber das ist eben das Kreuz, daß sie nirgends zu finden ist, und wenn sie nit bald gefunden wird, weiß ich nit, was aus der Geschicht’ noch werden soll, – mir kommt’s vor, als thät er sich’s zu Gemüth ziehen und thät völlig vom Fleisch fallen. …“

„Wir wollen suchen helfen Alle miteinander! Aber wie ist’s mit dem gestrengen Herrn gewesen, mit dem Herrn Amtmann? Was hat der gesagt zu der Geschicht’?“

„Das kannst Dir denken!“ rief der Grubhofer lachend. „Der hat alle Farben gespielt vor Aerger, doch was hat er machen wollen! Er hat gezahnt wie der Holzfuchs, dem die Trauben zu hoch gehängt sind … aber er ist auf den Aichbauern zu’gangen und hat ihn auf die Achseln geklopft und hat gesagt: ‚Das ist schön von Ihnen, Herr Aicher, daß Sie Alles so frei und offen selbst erzählen … da sieht man, daß die alte Treue und Biederkeit doch in den Bergen wenigstens nicht ausgestorben ist‘ …“

„Und daß es nachher mit der Wahl kein Zureden mehr gebraucht hat, das kann ich mir einbilden!“

„Versteht sich; der Gemeindevorsteher ist fertig gewesen, eh’ man eine Hand umgedreht hat, und wenn noch fünfzig Stimmzettel da gewesen wären, es wär’ auf keinem was Anderes gestanden, als der Aicher von Aich!“

„Darum ist Alles schon so früh auseinander! Aber der Herr Amtmann, ist der auch so geschwind fort?“

„Noch bälder als die Bauern, die sich doch erst haben ein Bissel ausschwatzen müssen! Er hat nicht einmal das End’ abgewartet und hat dem Schreiber gesagt, er soll nur das Protokoll fertig machen und damit nachkommen, und dazu hat er eine gute Ausred’ gehabt – ein Expresser ist gekommen vom Amt, der hat ihm wichtige Neuigkeiten gebracht. … Der Nußbichler Alisi, der Haderlumper, den sie alleweil noch eingesperrt haben, weil er ihnen hätt’ verrathen sollen, wie’s beim letzten Haberfeld zugegangen ist und wer Habermeister ist, der hat das Gitter von seiner Keuchen ausgebrochen und ist davon …“

„Ist ihm auch nit zu gut, dem armen Kerl! Sie sollten ihn einmal in Ruh’ lassen … er soll ja ganz übergeschnappt sein, seit er in Arrest sitzt …“

„Das ist’s nit allein gewesen; die zweite Neuigkeit, die war noch viel wichtiger. … Weißt ja, Finkenzeller, es hat alleweil schon geheißen, die Regierung drinnen in der Stadt wär’ nicht zufrieden mit dem gestreng’ Herrn wegen dem Bericht über den Waldproceß und wegen dem Haberfeld und wegen allerhand, und es sollt ein Commissari geschickt werden, der Alles an Ort und Stell’ untersuchen sollt’ und verhören …“

„Hab’ auch schon davon ’was läuten hören!“

„Na also … der Nußbichler ist aus’kommen und der Commissari ist an’kommen, das ist die zweite Neuigkeit gewesen …“

„Und die ’langt just mit auf den Weg,“ sagte der Finkenzeller und leerte seinen Krug, „drum wollen wir machen, daß wir auch weiter kommen … Ich will mich auf die Füß’ machen, damit ich die Westerbrunner noch beieinander treff’ und meine Neuigkeiten gleich auspacken kann … es ist schon völlig finster draußen und wenn der Schnee nit leuchten thät’, müßt man den Weg mit den Händen greifen …“

„Es ist so gefährlich nit,“ sagte der Grubhofer, indem er sich ebenfalls erhob und die angelaufene Fensterscheibe abwischte, um in die Nacht hinaus sehen zu können, „es wird bald licht werden, wenn der Mond herauf kommt …“

„Der Mond?“ lachte der Finkenzeller. „Wenn wir auf den warten wollten, könnt’s ein Bissel spat werden … der kommt nit vor Mitternacht …“

„Warum nit gar!“ rief der Grubhofer wieder. „Da drüben zwischen den Häusern über’n Waldspitz hin kommt es schon ganz licht herauf …“

„Wahrhaftig,“ sagte der Andere, hinzutretend, „aber das ist kein Mondschein, Grubhofer … dafür ist’s viel zu breit auseinander und zu unruhig …“

„Hast Recht, Finkenzeller,“ rief der Grubhofer hastig, „das ist Feuer … da brennt’s! Aber wo kann das sein? Ich mein’, das wär’ in der Richtung gegen Miesbach hin …“

„Und ich mein’, wir machen, daß wir fortkommen,“ sagte der Finkenzeller, „wir geh’n dem Schein nach, da werden wir schon seh’n, wo das Feuer ist, und können ein Bissel löschen helfen … Meinst nit auch, alter Rebeller?“

Sie gingen eilig; draußen im Dorfe wurde es laut, man vernahm Stimmen und das Anschlagen an den Glocken, das zum üblichen Feuerzeichen dient. Schauerlich tönten die hallenden Schläge durch die Nacht; die nickende Wirthin fuhr wieder aus ihrem Schlummer empor, rannte zum Fenster und beschaute den immer heller und breiter über dem schwarzen Tannenwalde auflodernden und die Schneeflächen weithin beleuchtenden Feuerschein. „Ein hartes Unglück,“ murmelte sie, sich Stirn und Brust bekreuzend, „bei der Kälten doppelt hart, wer’s auch ist, den es trifft!“ Dann trat sie zu dem Wandschränkchen, in welchem die Krüge und Gläser aufbewahrt waren, und holte einen zierlich gewundenen rothen Wachsstock hervor; sie zündete ihn an und stellte ihn auf den kleinen Hausaltar vor das geschnitzte Bild eines Heiligen, der in römischer Kriegertracht, eine rothe Fahne in der einen Hand, mit der andern einen Kübel Wasser über ein zu seinen Füßen stehendes Haus ausgoß, aus dessen Fenstern die geschnitzten und bemalten Flammen schauerlich emporschlugen. Dann nahm sie gegenüber ruhig Platz und betete zu Sanct Florianus, daß er ihr Haus und Gehöfte vor gleicher Heimsuchung bewahren möge.

(Fortsetzung folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Nr. 25. Eine Wolfs-Geschichte.
Von Guido Hammer.


„Ein schneeiger Decembertag,“ erzählte mir ein nun längst heimgegangener alter Förster, den ich auf meinen Jagdausflügen in Oberschlesien an der galizischen Grenze kennen gelernt hatte, nachdem wir zusammen von einer Pürschfahrt heimgekehrt waren und nun in seinem hirschgeweihgeschmückten, traulich warmen Stübchen hinter einer Schüssel mit dampfenden Kartoffeln, unserem frugalen Abendbrode, behaglich saßen und es uns schmecken ließen, „ein schneeiger Decembertag hatte mich mit meinem Burschen hinausgeführt, um ein paar Stücken Rothwild abzuschießen, welche unsere gütige Herrschaft zum Schmause einer Bauernfestlichkeit, die im Dorfe bevorstand, verwilligt hatte. Auf dem hintersten Revier angekommen, trennten wir uns an einem Kreuzwege, mit der

[741]

Die Wölfe am Wildschlitten.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

[742] Verabredung, nach einer bestimmten Zeit am selben Orte wieder zusammenzutreffen, um bei gehabtem Erfolge das Erlegte gleich mit dem Schlitten, in welchem ich und der Knecht weiter fuhren, nach Hause zu schaffen. Jeder zog denn seines Weges, ich, wie schon gesagt, im Gefährt, der Bursche aber zu Fuß den tiefen Schnee durchmessend.

Trotzdem es sonst Wild die Menge im Reviere gab, wollte es heute doch gerade nicht so schnell passen; wenigstens konnte ich, wenn ich auch das Gesuchte einmal in Sicht bekam, nicht darauf zu Schusse kommen, oder es waren lauter starke Hirsche, von denen ich natürlich – mitten im Winter – durchaus keine Lust verspürte, einen der Capitalburschen todtzuschießen. ’s wäre doch ein wahre Sünd’ und Schande gewesen, sich für die Bauern zum Aasjäger zu machen! Ebenso still blieb’s in der Richtung, wohin mein Bursche gegangen; wenigstens hatte ich noch keinen Schuß vernommen; er mußte also – meiner Berechnung nach – auch noch nichts todtgebracht haben. Ohne Aufenthalt fuhr ich also weiter und weiter, bis ich endlich so ’ne alte Plautze nebst noch ein paar Stücken Wild, die aber beide Kälbchen bei sich hatten, im Stangenholze stehen sah, und obgleich es verteufelt weit hin war und ich auch nur eine sehr schmale Lücke zum Schießen hatte, machte ich doch Feuer auf die gelte Großjacke; ich konnte ja doch im Schnee leicht auf den Schweiße fortarbeiten, falls ich die Creatur nur anschoß. ’s gelang aber prächtig! Das alte Thier zeichnete brillant auf dem Schuß, und schob, mit den andern erst noch eine Strecke fortgehend, sehr bald auf der Blöße, über welche die Flucht lief, mit niedergehaltenem Kopfe in den tiefen Schnee, im Zusammenbrechen noch mit dem Schädel gegen eine übergehaltene alte Tanne fliegend, daß es nur so krachte. Ich hatte mithin meinen Zweck glücklich erreicht, und ohne nun länger zu säumen, lud ich meine Beute auf den Schlitten, um, da schon geraume Zeit verstrichen, sofort nach dem Rendez-vous zu fahren, dort meinen Burschen zu erwarten und, hatte es bei ihm ebenfalls Feuer gegeben, sein Erlegtes gleich mit aufzuladen. Bald kam ich auf dem verabredeten Ort an, wo der Erwartete schon eingetroffen war und – verdammt kleinlaut, er kannte mich, wenn er Faseleien gemacht hatte – mir erzählte, daß er auf – einen starken Hirsch geschossen und ihn drüben, jenseits des Wassers verendet liegen habe. Na, ich will dem sonst braven Kerl nicht noch einmal Das auf den Hals wünschen, was ich damals that; denn alle Millionen Teufel hätten ihn meinetwegen gleich auf der Stelle holen können – mir wär’s eine wahre Wollust gewesen; war’s doch ein Capitalhirsch – ein Hirsch von zwölf Enden – den der Aasjäger umgebracht hatte. Lebendig ließ sich das Wild nun aber doch nicht wieder machen; also wurde der brave Zwölfer geholt und aufgeladen, der – ’s bleibt ein Jammer – um der Bauern willen hatte sterben müssen.

„Na, die gnädige Herrschaft hat’s ja nicht besser haben wollen,“ fügte er respectvoll giftig hinzu. „Der einzige Trost für mich,“ fuhr er dann fort, „war der, daß die leckere Gesellschaft dadurch mehr Knochen als Wildpret auf die Tafel bekommen mußte, denn der Erlegte war ein höllisch abgebrunsteter Bursche. Doch nun weiter. Aergerlich über die fatale Geschichte, schickte ich meinen Gehülfen zur Strafe noch einmal hinter, auf einen entlegenen Schlag, denselben zu revidiren, und ich fuhr quer durch die Haide bis zu einem Krug, wo ich mich etwas auswärmen wollte, denn es war sehr kalt geworden. Den Knecht aber, nachdem er seinen Wutki im Leibe hatte, den ich ihm einschenken ließ, beorderte ich mit seiner Wildfuhre nach Hause, da ich noch auf unbestimmte Zeit in der Schänke zu verweilen gedachte, um zu sehen, ob etwa mein sauberer Hirschtödter auch hier eintrieb, anstatt meiner Weisung Folge zu leisten. Geschirr, um später meinerseits nach Hause zukommen, stand mir vom Wirthe jederzeit zu Gebote; mit mir hatte es folglich keine Noth. So trank ich denn in aller Ruhe meinen Schoppen und unterhielt mich dabei mit den anwesenden jüdischen Fuhrleuten, die zur nächsten Stadt Fracht spedirten, und fragte sie zugleich nach Diesem und Jenem, weil man gerade solch’ unstäte Leute, die überall herumkommen, nicht genug ausforschen kann. Da erfährt man oft in einer Stunde mehr über Hehler- und Stehlerbanden, Wilddiebe, Forstfrevler etc., als man sonst in einem ganzen Jahre auszuspüren im Stande ist, liefe man sich deshalb auch die Beine wund. Heute erzählten sie unter Anderem, was sie an der polnischen Grenze, von der sie herkamen, gehört haben wollten, daß ganze Rudel Wölfe – Gott sei Dank, wir hatten das schuftige Raubgesindel aus unserm Districte so ziemlich ausgerottet und spürten manchen Winter auch nicht ein Haar von dem miserabeln Viehzeug im ganzen Walde, wie es denn auch im heurigen Jahre bisher so gewesen war – also von Wölfen sprachen die Frachtleute, und daß sie über die Grenze nach uns herüber gekommen wären, auch auf dem nachbarlichen Gebiete, in den weiten Forsten des Grafen X. schon ganz barbarisch unter dem Wilde aufräumen sollten. Na, ich gab nicht viel auf dergleichen Gerede, denn solches wiederholte sich regelmäßig alle Jahre, sowie nur die erste Schneeflocke wirbelte, ohne daß deshalb nur ein Schwanz von den vermaledeiten Rackers zu spüren gewesen wäre. Die polnischen Pferdeknechte betheuerten aber bei Allem, was ihnen heilig ist, daß es diesmal seine Richtigkeit habe, als ich meine Zweifel an ihrer Aussage kund gab, und so ließ ich sie auch nach Herzenslust reden.

Darüber war ziemliche Zeit verstrichen, und ich machte mich deshalb, um nicht allzuspät nach Hause zu kommen, nun schleunigst auf die Socken, das heißt, ich ließ anspannen und fuhr, behaglich in die Wildschur gewickelt, meinem Heerde zu. Finsterer wurde es nicht, denn schon stand der helle Mond am Himmel und der Schnee leuchtete auch seinen guten Theil, so daß man den Weg, trotzdem er meist durch dicht geschlossenen Wald führte, nicht leicht verlieren konnte. Deshalb ging’s auch recht munter weiter; die kleinen, mageren Polaken griffen, vom Knecht, der sie zügelte, tüchtig angeflucht und gepeitscht, wacker aus, daß wir nur so über den Schnee hinflogen. Rasch nahten wir uns so der Stelle, wo wir am Nachmittag unser Wild aufgeladen hatten. Als wir noch ein Stück weiter vorwärts kamen, wurden plötzlich unsere Pferde, die Teufelskröten, kopfscheu, als wenn sie der leibhaftige Satan bei allen Vieren hätte, und wollten durchaus nicht mehr vorwärts. Die kräftige Hülfe ihres Führers aber ließ sie zuletzt doch Anstalt dazu machen, freilich indessen in unberechneter Weise, denn die Blitzmähren gingen jetzt geradezu durch. Fast seitwärts prallend, daß es nur so stiebte, jagten die Beester ohne Weg und Steg direct durch’s hohe Holz. Bald flog unser Schlitten krachend gegen eine Tanne, bald in dichten Unterwuchs und ich dachte, Meister Urian wollte uns Allen, Menschen und Pferden, sämmtliche Knochen im Leibe zerbrechen.

Bei all’ dieser Raserei erblickte ich doch noch von Weitem, als wir über eine kleine Lichtung stoben und die Pferde ganz besonders des Teufels wurden, daß am Eingange des Hohlweges, den wir eigentlich hätten passiren müssen, unter den niederhängenden Fichten ein leerer Schlitten quer vorgefahren stand, doch ohne Pferd und sonstiges Geschirr. Und dort huschte eine scheue Bestie fort, die wahrhaftig aussah, wie ein Wolf. Von genauem Sehen war jedoch keine Rede, denn im Nu waren wir ja über die Blöße weg, hinter der wir glücklicherweise mit unserem noch immer wie rasend hinjagenden Gespann – was mir nun übrigens durch den Anblick des schuftigen Gesellen beim verunglückten Schlitten erklärlich geworden war – wieder auf unsere eigentliche Fahrstraße kamen, und zwar schon ein mächtiges Stück nach meiner Behausung zu, so daß wir sehr bald im Fluge daran – vorüber brausten, denn an ein Halten der Pferde war noch immer nicht zu denken. Endlich, weit hinter dem Dorfe, brachte der Kutscher die nun Athemlosen doch zum Stehen und wir kehrten so mit den schnaubenden, schweißtriefenden Ausreißern zurück nach meiner Försterei.

Hier angekommen, klärte sich denn sehr bald der ganze Spuk auf. Nachdem nämlich mein Knecht, ein mit dem Walde ganz vertrauter Mensch, mit seiner Ladung von mir fortgefahren war, hatte er noch heimkehrende Holzmacher getroffen, die ihm ebenfalls die Geschichte von den über die Grenze gekommenen Wölfen erzählt hatten, wie sie dieselben von Hörensagen wußten. Dabei war die Zeit vergangen und so hatte ihn die Dämmerung überrascht. Um so eiliger war er nun heimwärts gefahren, als plötzlich das Pferd wie toll angezogen hatte, daß sofort einer der Stränge gerissen. Nun war von augenblicklichem Weiterkommen keine Rede mehr gewesen, besonders da der Braune nicht zum Stillstehen zu bewegen war, um den Schaden gleich ausbessern zu können. Vielmehr hatte das scheu gewordene Thier nur um so heftiger an dem einen Strange fortgezogen und dabei um sich herumgeschlagen, daß der Knecht gemeint, das Pferd habe den Koller bekommen. Doch plötzlich war ihm dessen sonderbares Benehmen klar geworden – ein lautes Heulen hatte ihn sich umblicken und zu seinem Entsetzen ein ganzes Rudel Wölfe, zwar noch in ziemlicher [743] Entfernung, aber unmittelbar auf seinem Geleise gewahr werden lassen. Ohne noch heute zu wissen wie, hatte er sich in seiner Angst auf’s Pferd, das nun auch noch den anderen Strang zerrissen gehabt, geschwungen und dann entschlossen mit seinem Handbeile die Widerhalte, die einzige Befestigung, die das tobende Pferd noch an die Deichsel gefesselt, durchhauen. Wie toll war darauf das Thier dahin gerast, daß seinem Reiter schier Sehen und Hören vergangen war. Noch einmal hinter sich blickend, hatte er nur noch so viel gesehen, wie die heulende Rotte, einem Knäuel gleich, auf das todte Wildpret im Schlitten gestürzt war und es mit rasender Gier zu zerfleischen anfing; jedenfalls der glückliche Umstand, der ihm das Leben gerettet, denn unbelästigt war er auf dem schweißbedeckten, keuchenden Gaule bis vor meinen Hof gekommen, ohne auch nur von einer Bestie verfolgt worden zu sein. Natürlich, denn diesen erbärmlichen Schnapphähnen ist ein so bequem servirter Hirsch lieber, als ein flüchtiges Pferd mit seinem Reiter.

Am andern Morgen mit Tagesgrauen brachen wir, ich, meine Jäger und ein Häuflein Holzmacher, nach dem Schauplatze des Ueberfalles auf, zuvörderst die Verheerung, welche die fraßgierige Bande dort angerichtet hatte, mit eigenen Augen zu schauen, dann aber womöglich sofort Jagd auf das Raubgesindel zu machen. Himmel, wie sah es da aus! Der ganze Plan war zerwühlt und zerkratzt, der schmutzig gewordene Schnee mit Schweiß und Haaren der Beute und allerhand Unrath vermischt, und die Knochen lagen herum, wie ausgesä’t; ja selbst die nichtsnutzigen Gebeine eines Wolfes befanden sich darunter, welchem die schonungslose Rotte wahrscheinlich im Streite um die letzten Bissen den Garaus gegeben und den sie dann – wie das die gefräßigen Thiere thun – gleich mit aufgefressen haben mochten. Nachdem wir das verschleppte Geweih des Hirsches noch gefunden und in den dastehenden leeren Schlitten geworfen, diesen aber an den unserigen angehängt hatten, ließ ich den Knecht nach Hause fahren, und wir Jäger machten nun noch auf gut Glück ein paar verlorene und auch wirklich erfolglose Treiben auf die Wölfe, denn noch während wir auf dem Wahlplatze standen, fing es plötzlich an so stark zu schneien, daß in kürzester Zeit jede etwaige Fährte unsichtbar werden mußte, also von Abspüren, geschweige vom Bestätigen der struppigen Ueberläufer keine Rede mehr sein konnte. Und den ganzen Tag wie auch die darauf folgende halbe Nacht wirbelten die Schneeflocken fort, so daß am andern Morgen eine stattliche, freilich etwas tiefe Neue war. Nun ging’s wieder hinaus, und diesmal hatten wir denn vorerst wirklich die Freude, einen Theil der ungeladenen Strolche noch innerhalb unserer Grenze zu spüren. Bald waren sie auch eingekreist und jetzt gab’s eine lustige Jagd, wobei Einem doch wieder einmal das alte Herz im Leibe ein Bissel warm wurde, wenn man im Treiben den zottigen Gesellen so auf sich antraben sah. Fünf Stück davon wurden an diesem Tage unsere Beute, wovon zwei auf mich kamen, denen ich ihre zottigen Pelze gehörig mit Posten durchlöchert hatte. Andere sechs der räuberischen Sippschaft waren desselben Tages auf dem Nachbarwalde geschossen worden, der Rest aber davon, denn es waren nach glaubwürdigen Berichten im Ganzen noch weit mehr beisammen gewesen, mochte wahrscheinlich wieder über die Grenze marschirt sein, da es die nächste Zeit bei uns wieder vollkommen ruhig blieb.“

So lautet die Geschichte meines alten seligen Freundes, die ich aus seinem Munde nicht nur ein Mal, nein, wohl zehn Mal angehört habe, da er es in seiner Vergeßlichkeit mit dem Repetiren nicht eben genau nahm.




Der Panther des Südens.
Von G. v. Gößnitz.
(Schluß.)


Hinter der sehr schmutzigen und buntgescheckten Barfüßler-Leibgarde Seiner Excellenz, die mit aufgenommenem Gewehre vor der Eingangsthür aufmarschirt stand, sah ich die dunklen, ausdrucksvollen Augen Antonio’s mit gespanntem Blicke auf mich gerichtet. Ein leichtes, kaum merkliches Zucken seiner langen seidenen Augenwimpern war ein eben so verständliches Signal für mich, als ob er mir meinen vollen Namen durch ein Sprachrohr zugebrüllt hätte. Ich ging langsam und wie zufällig auf einem weiten Umwege auf ihn zu und fand bald Ursache genug, über das, was er mir zu sagen hatte, nachzudenken.

Schon in verflossener Nacht war durch einen Expreßboten eine wichtige Nachricht in’s Hauptquartier gelangt, von der wahrscheinlich ich allein noch nichts wußte. Drei französische Kriegsschiffe, sämmtlich mit Truppen an Bord, befanden sich bereits seit vorgestern vor Anker im Hafen von A..…. „Wenn wir nur wenigstens schon dort wären,“ fügte Antonio emphatisch hinzu, „so wäre noch Alles gut, aber hier ist es so gut wie gewiß, daß man uns –“ Er sagte nichts weiter, doch die Art und Weise, wie er mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Stelle fuhr, wo – seiner Meinung nach – die Halsarterie ihren Sitz hatte, war bezeichnend genug. Es fehlte ihm weder an Verschlagenheit noch an Muth; er hatte mich schon oft bei mancher früheren Expedition begleitet, und seine Anhänglichkeit an meine Person war nicht geringer, als die meinige für ihn; allein der Gedanke, den ‚Panther des Südens‘ in seiner eigenen Höhle zu besuchen, war niemals recht nach seinem Sinne.

Die Ankunft der Franzosen im obenerwähnten Hafen stand nicht gänzlich außer Beziehung zu meiner eigenen Sendung. Meiner Instruction gemäß hatte ich mich persönlich mit zwei höheren Officieren der Pantera del Sur in Einvernehmen zu setzen, welche Beide im Geheimen eine für hinlänglich erachtete Garantie ihrer Ergebenheit in die neue Ordnung der Dinge freiwillig dargeboten hatten. Durch sie sollte ich einige unentbehrliche Auskunft über die Stimmung verschiedener öffentlicher Beamter in La Costa Rica erhalten, welches letztere Paschalik sich niemals so recht mit dem patriarchalischen Gouvernement des Panthers versöhnt hatte. Die unzweideutigsten Symptome wachsender Unzufriedenheit Seitens der Bewohner dieses Departements mit dem scandalösen Despotismus der Sultanswirthschaft waren der Aufmerksamkeit der Regierung nicht entgangen, und man war in der Hauptstadt ziemlich allgemein der Meinung, daß die Landung einer entsprechenden Truppenmacht in jener Gegend unausbleiblich ein Pronunciamento zu Gunsten der kaiserlichen Regierung hervorrufen und auf diese Weise zu einem raschen und unblutigen Umsturz jener Satrapen-Herrschaft führen werde. Die also erlangte Auskunft hatte ich dem Obercommandanten des erwähnten Hafens persönlich zu überbringen.

Der erstere Theil meiner etwas delicaten Mission war zweifelsohne der gefährlichste. Ich kannte die Verschlagenheit und Treulosigkeit mexicanischer Vermittelung nur zu gut, um mir die mindeste Illusion darüber zu machen, daß in einem gegebenen Falle jene beiden Individuen, auf deren Mitwirkung ich angewiesen war, nicht ruhig, mit der Cigarette im Munde, zugeschaut haben würden, wenn man mir selbst vor ihren Augen den Hals abgeschnitten hätte, wie aufrichtig auch immer ihre vorgebliche Anhänglichkeit an die neue Ordnung der Dinge in Mexico sein mochte. Sie hätten freilich nur zu wohl gewußt, daß die mindeste Einmischung ihrerseits ihnen unfehlbar das nämliche Loos bereitet haben würde.

Die unerwartete Ankunft der alliirten Truppenmacht, von der ich alle Ursache hatte zu vermuthen, daß sie erst nach mehreren Wochen stattfinden würde, weit davon entfernt, der Lösung meiner Aufgabe günstig zu sein, erhöhte vielmehr die Gefahr, der ich mich aussetzte, durch die unvermeidliche Aufregung, welche dieselbe in diesem Theile des Landes hervorrufen mußte. Trotz alledem konnte ich mich des Lachens nicht enthalten, als ich Antonio’s langes Gesicht betrachtete, dem das Weinen offenbar näher stand. Ich versuchte vergeblich ihn aufzuheitern. Selbst die Aussicht auf den Fandango am Abend verfehlte ihre Wirkung. Der Gedanke, seine reinliche und zarte Sammethaut mit den gemalten und gescheckten Schönheiten der Providencia in Berührung zu bringen, erschien ihm nichts weniger als verlockend.

[744] Wir schlenderten gemächlich zwischen den einzelnen Gruppen der hier und da auf den Rasen hingestreckten ‚Pintos‘ umher, welche, Säbel und Carabiner zur Seite, ihrer fast einzigen Beschäftigung, dem Hazardspiele, eifrigst oblagen. Ich mischte mich unter eine derselben, die zahlreicher als die übrigen war, warf ein paar Realen auf die Decke, die als Spieltisch diente, und war anscheinend bald in den Erfolg meiner Finanzoperation versunken. Bald gewahrte ich, daß ich nicht der einzige Zuschauer war. Mir gerade gegenüber, an eine Cocosnuß-Palme gelehnt, stand ein hochgewachsener, schlank gebauter, noch junger Mann, den ich, nach der Eleganz seiner ganzen Erscheinung und der koketten Weise, mit welcher er seine ungewöhnlich kostbare „Zarrape“ trug, für einen Fremden halten mußte.

Wenn Mexicaner Jemanden scharf beobachten wollen, so scheinen sie zumeist irgend wo anders hin zu sehen, als nach dem eigentlichen Gegenstande ihrer Neugierde. Dem Auge jenes Mannes war mein Blick jedoch kurz nacheinander bereits zwei Mal begegnet, wie es beide Male mit einem eigenthümlichen Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit nach mir gerichtet war. Ein Umstand so ungewöhnlicher Art konnte mir nicht wohl entgehen. Ich ließ den Zeigefinger meiner linken Hand langsam und wie zufällig über mein rechtes Augenlid gleiten und wartete. Keine Muskel seines ausdrucksvollen Gesichtes zeigte die mindeste Bewegung, während ein prüfender Blick seines dunklen Auges vorsichtig und voll Argwohn im Kreise umher streifte. Dann kräuselte er mit einer raschen und koketten Bewegung seiner rechten Hand die linke Seite seines sorgfältig cultivirten, pechschwarzen Schnurrbartes drei Mal in eigenthümlicher Weise. Einer der beiden Männer, an die ich gewiesen war, stand mir gerade gegenüber.

Ein plötzliches Trompetensignal unterbrach das Spiel in unerwarteter Weise und nicht eben zur Zufriedenheit der dabei Betheiligten. Erst nachdem letztere ihre gegenseitigen Forderungen ausgeglichen, was nicht ohne verschiedene Messerstiche abging, gelang es den Officieren, die „freie und unabhängige“ Soldateska dahin zu bringen, sich nach ihren Pferden zu begeben. Als sich endlich auch der letzte der constitutionellen Vertheidiger des freien Staates aufgerafft hatte, überholte mich der Fremde mit dem fein gewichsten Schnurrbart und der eleganten „Zarrape“ und sagte im Vorbeigehen mit gleichgültigem Ton, aber mit einem Blicke geheimen Einverständnisses im Auge: „Wenn es Ihnen recht ist, so wird Obrist Ramon Rodriguez es sich zum Vergnügen machen, die unterbrochene Partie ‚Monte‘ heute Abend bei Ihnen weiter zu spielen.“ Ich verneigte mich zustimmend und wir trennten uns nach verschiedenen Seiten.

Eine halbe Stunde später waren sämmtliche Pintos aufgesessen und eine Recognoscirungsabtheilung derselben jagte im Galopp davon. Als dieselbe beim Serail ihres Sultans vorbeidefilirte, ihre Lassos nach Indianerweise über ihren Köpfen schwingend, schallte ihr wildes „El viva!“ durch die Luft. Der, dem jener Zuruf galt, war nicht sichtbar. Aber aus dem Hause mir gegenüber erklang ein durchdringender, gellender Schrei der Furcht und des Entsetzens, der selbst jenes wilde Gebrüll übertönte und langsam, wie der helle Ton einer entfernten Glocke, durch die Luft zitternd verklang. Ich dachte unwillkürlich an das marmorbleiche Mädchen mit den wundersam geheimnißvollen Augen, welches für das Leben ihres Vaters bebte, das die Rachegötter noch bis auf den heutigen Tag beschützen. Vergebens sah ich mich nach Antonio um, den ich nirgends zu finden vermochte, und legte mich endlich in meine Hängematte, um ein paar Stunden des Schlafes zu genießen.

Der Hufschlag flüchtiger Rosse weckte mich aus einem fieberhaften Schlummer. Ich eilte an’s Fenster: die Sonne verschwand soeben hinter dem Horizont. Unter meinem Fenster, vor der Wohnung des Gouverneurs, bemerkte ich einen wilden, regellosen Reiterhaufen, im Begriff, sich einigermaßen zu formiren. Die wilden Gesticulationen, das wüste Durcheinander, das unverständliche Geschrei jedes Einzelnen und Aller zusammen bot ein wahres Urbild des Chaos und der Auflösung dar. Durch die in jenen Klimaten so eigenthümlich rasch zunehmende Finsterniß glaubte ich für einen Augenblick im Hofe gegenüber einen unförmlichen, mit Decken belegten Gegenstand auf einer Tragbahre zu erkennen, die von Indianern rasch nach der Richtung des Gebirges hin fortgetragen wurde; eine Abtheilung Reiter umgab sie mit aufgenommener Waffe. Die Erscheinung war indeß zu plötzlich, um eine feste Gestalt in mir annehmen zu können, und mochte ebensogut ein Gebilde meiner Phantasie sein. Aber deutlich genug klang jener wilde Schreckensschrei, greller und unheimlicher als zuvor, zu mir herüber, dessen durchdringender Schall mir in jedem Nerven nachvibrirte.

Abermaliges heftiges Pferdegetrampel, verworrenes, grelles Geschrei dicht unter mir, Trompetensignale und Flintenschüsse in der Ferne. Dann hörte ich plötzlich eilig nahende Fußtritte auf dem Corridor vor meiner Thür. Ich öffnete dieselbe nur halb; meine einzige Waffe bestand aus einem kleinen, feinen Dolche, der den Luchsaugen jener Spürhunde an der Papagayo-Fähre wie durch ein Wunder entgangen war.

„Wer ist da?“ fragte ich.

„Vive le Emperador!“ war die Antwort des mexicanischen Officiers, der mir seinen Besuch für diesen Abend selbst angekündigt hatte. Ich machte Licht an und lud ihn ein, sich zu setzen, was er jedoch ausschlug. Seine ganze Erscheinung war auffällig und imponirend; seine stattliche Figur erschien noch größer und schlanker, als er so vor mir stand, auf seinem männlichen Gesicht lag der Ausdruck finsterer Entschlossenheit, seine dunklen Augen glühten voll seltsamen Feuers.

„Die Zeit des Handelns ist da,“ sagte er, „jetzt oder niemals! In einer Viertelstunde ist es vielleicht schon zu spät und der Vogel ausgeflogen. Ein panischer Schrecken ist in diese Feiglinge gefahren und sie werden sämmtlich vor einem Dutzend Franzosen davonlaufen.“

Es kam mir vor, als sähe ich am Fenster gerade gegenüber den blanken Lauf eines Gewehres durch die Dunkelheit blitzen, aber die Erscheinung war im Augenblick wieder vorüber.

Der Ruf: „Feuer! Feuer!“ erscholl dicht neben der Herberge. Ich war im Begriff, das Fenster zu öffnen, als er mich zurückhielt. „Seien Sie unbesorgt,“ sagte er, „Antonio thut nur, was ich ihm geheißen. Wollen Sie mir ebenfalls zur Seite stehen jetzt?“

„Was haben Sie vor?“ fragte ich.

„Ihn tödten!“ war die Antwort.

Antonio trat in diesem Augenblick selbst in’s Zimmer. Unter uns brauste ein confuses Geräusch von Männer- und Frauenstimmen durcheinander; Hundegebell und Pferdegetrampel schallten dazwischen. Das entfernte Geknatter von Flintenfeuer kam augenscheinlich näher; Trompetensignale und der Lärm sich nahender Hufschläge waren überall rings umher hörbar. Der helle Schein einer auflodernden Feuerflamme erhellte wie mit einem Zauberschlage die Finsterniß draußen.

„Sie wollen also nicht?“ fuhr er fort, unbekümmert um das, was rings umher vorging. „Gut, ich kann es allein vollbringen! Er ist der Mörder meines Vaters, der Schänder –“

In diesem Augenblick riß mich ein heftiger Faustschlag Antonio’s, der dicht neben mir stand, das Gesicht nach dem gegenüberliegenden Fenster gekehrt, zu Boden. Er selbst fiel fast gleichzeitig und unmittelbar über mich weg zur Erde. In der nämlichen Secunde klirrte auch schon das Glas meiner Fensterscheibe von zwei Kugeln durchbrochen, von denen die eine dicht über mir mit jenem eigenthümlichen „Klatsch!“ in die Ziegelwand hinter uns schlug, die andere verfehlte dagegen ihr Ziel nicht und mit einem dumpfen Schmerzensschrei brach die lange Gestalt des mexicanischen Officiers zusammen.

Er war mitten durch’s Herz geschossen und kein weiterer Laut brach von seinen fest zusammengepreßten Lippen, aber deutlich meinem inneren Auge lesbar stand in jedem Zuge seines blassen Gesichtes der nämliche Fluch geschrieben, mit dem vor einem halben Jahrhundert jener andere gemeuchelte Mann seine Seele verhauchte: „Cobarde y asesino! maldito seas para siempre!“ (Feigling und Mörder! Verflucht seist Du auf ewig!)

Ein schmaler, bläulicher Streifen Pulverdampf kräuselte aus dem von der nahen Feuersbrunst erleuchteten Fenster gegenüber und verschwand dann in der Finsterniß dahinter. Ein lauter, kräftiger Ruf aus einigen fünfzig Kehlen erfüllte wenige Augenblicke später die Luft. Er klang wie eine gebietende Stimme der Ordnung inmitten dieser wilden Verwirrung, der willkommene Ruf: „Vive l’Empereur“ Eine halbe Schwadron Chasseurs d’Afrique sprengte mit verhängtem Zügel durch den Flecken und in wenigen Secunden war jedes Haus in La Providencia umringt. Einen Augenblick darauf stand, den gezogenen Säbel in der Faust, ein Officier jener Abtheilung vor mir.

[745] „Ich muß mir die Freiheit nehmen, zu fragen, was Ihr Geschäft hier ist, Monsieur, mitten unter den Feinden der Ordnung und des Gesetzes!“ herrschte er mich an.

Ich zog, von wo ihn selbst der Panther des Südens nicht vermuthet haben würde, einen schmalen Papierstreifen hervor, tauchte ihn in ein Glas Wasser, das auf dem Tische stand, und überreichte ihm denselben schweigend. Die Zeichen kamen augenblicklich klar und deutlich zum Vorschein. Sie blieben freilich unleserlich für ihn, aber es bedurfte nur eines einzigen Blickes auf den Namenszug darunter, um auch den leisesten Schatten des Zweifels mit einem Schlage zu beseitigen. Er steckte den Säbel in die Scheide, grüßte und reichte mir die Hand.

„Wir kommen zu spät, das Nest ist leer!“ sagte ein zweiter Officier, der soeben, vom Hause gegenüber kommend, in’s Zimmer trat.

Die Tragbahre, die ich einige Zeit zuvor gegenüber zu sehen geglaubt hatte, mit einer formlosen, in Decken gehüllten Masse beladen und von bewaffneten Reitern umringt, das Ganze im raschen Zuge nach dem nahen Gebirge, war also keine bloße Vision, – des Panthers letzter Befehl war ein Todesurtheil gewesen für mich und den mexicanischen Officier. Seine prompte Vollstreckung wäre nahezu eine vollständige gewesen, wenn Antonio’s rettender Arm nicht dazwischen kam. La Pantera del Sur war in Sicherheit um diese Zeit, weit voraus auf dem unbekannten Wege schon nach seinem geheimnißvollen Asyle, welches er in der Mitte unzugänglichster Wildniß in den schroffen Ausläufern der Sierra Madre sich angelegt hat – aber: „Die Rache ist mein!“ sagt der Herr.




Curir-Schwindeleien.
Geheimmittel, sympathetische Curen, homöopathische Heilkünstelei.
1. Mund- und Zahnmittel.


Das sind denn nun die Folgen des Aberglaubens, der uns von Jugend auf systematisch eingepflanzt wird und die Menschheit verdummt, daß das, was zur Heilung von Krankheiten empfohlen wird, um so mehr Anklang und Eingang findet, je blödsinniger und geheimnißvoller, je un- und übernatürlicher es ist. Wahrlich, trotz aller Civilisation und Cultur in unserer Zeit erscheint die jetzige, selbst die sogenannte gebildete Menschheit, sobald sich’s um Gesundbleiben und Gesundwerden handelt, doch noch ebenso beklagenswerth-, ja geradezu verächtlich-unwissend und ungebildet, wie die Hottentotten und die Menschen aus der Stein- und Bronzezeit. Nicht genug, daß jeder Ignorant, der weder von den Naturgesetzen, noch von den Einrichtungen und Processen im gesunden und kranken menschlichen Körper die leiseste Ahnung hat, ganz keck sein Urtheil und seinen Rath über Krankheit, Arzt, Arzneimittel und Heilmethoden angiebt, nein, er curirt auch selbst in’s Blaue hinein, unbekümmert darum, ob er Schaden anrichtet oder nicht! Tagtäglich wächst die Zahl der verschiedenartigsten Charlatanerien und Geheimmittel, und die rohesten Quacksalber aus den niedrigsten Ständen (Harnpropheten, Schäfer, verdorbene Schuster und Schneider, Abdecker, alte Weiber, Wunderdoctoren und Naturärzte etc.) ziehen Massen von Kranken lange Zeit an der Nase herum.

Nur die enorme Unwissenheit in naturwissenschaftlichen[WS 1] Dingen, sowie das entsetzlich geringe Schluß- und Urtheilsvermögen, welches die Meisten besitzen, sind schuld an diesem schimpflichen Aberglauben, der zur Zeit in der Menschheit herrscht und den Menschen weit unter das Thier stellt. Ihn benutzen Heilschwindler aller Art mit dem besten Erfolge, und eine Ausrottung dieses Aberglaubens bei Erwachsenen scheint gar nicht mehr möglich zu sein. Darum, Ihr Eltern und ganz besonders Ihr Lehrer, sucht im Interesse der Aufklärung schon von erster Jugend an Eure Kinder und Schüler dadurch zum richtigen Denken zu erziehen und vom Aberglauben frei zu erhalten, daß Ihr denselben soviel als möglich Einblicke in die Natur und deren Gesetze verschafft. Nur durch eine richtige Erziehung in den ersten Lebensjahren kann der Mensch gut und klug werden. Nur ein Mittel giebt es gegen den Aberglauben und das heißt: das Volk denken lehren.

Daß eine große Zahl von ganz lächerlichen Volksheilmitteln und von theueren Geheimmitteln existiren, daß so viele sympathetische Curen (das Besprechen der Krankheiten) sowie die homöopathische Heilkünstelei noch im Gebrauche sind, das legt ein recht deutliches Zeugniß von der Unwissenheit und dem Aberglauben der jetzigen Menschheit ab. Ja sogar Amulete, die gegen Krankheit jeglicher Art nicht nur, sondern auch gegen Kugel und Schwert schützen sollen, werden noch von Vielen getragen, ja in manchen Gegenden betet man die Krankheiten weg (Verbüßen, Besprechen). Ebenso ist der Glaube an den bösen Blick und die heilsame Wirkung von Lutze’s lebensmagnetischem Hauch noch nicht verschwunden; sogar Lebenselixire, die das Leben verlängern können, werden noch verkauft und noch Manche schneiden sich nur am Freitage die Nägel ab, um sich gegen Zahnschmerzen zu schützen. Sogar gebildete Mütter hängen ihren zahnenden Kindern allerlei Hokuspokus (wie eine Bernsteinschnur, Bänder mit Maulwurfs- oder Schneckenzähnen, kleinen Oliven, in Leder eingenähte Mausköpfe) um den Hals, um Krämpfe zu verhüten, und den Zusatz „unbeschrieen“ beim Loben eines wohlaussehenden kleinen Kindes hört man noch tagtäglich. Daß heilige Nothhelfer und Capellen (Gnadenorte) für einzelne Krankheiten in Hülle und Fülle vorhanden, ist bekannt. Kurz, wo man nur hinsieht und hinhört, trifft man auch sofort entweder auf unverschämte Frechheit von Seiten der Heilschwindler, oder auf Dummheit von Seiten des leidenden Publicums.

Die Geheimmittel, welche entweder nur gegen bestimmte Krankheiten und Schönheitsfehler, oder, als Universalmittel, bei allen nur denkbaren Krankheiten von Nutzen sein sollen, sind entweder aus indifferenten Stoffen zusammengesetzt und darum ganz unschuldig, oder sie bestehen aus wirksamen Substanzen und können deshalb recht leicht gefährlich werden. Meistens werden sie dem Publicum durch erdichtete oder erschlichene und theuer erkaufte Zeugnisse als ausgezeichnete in ihrer Wirksamkeit empfohlen und natürlich für einen unverhältnißmäßig hohen Preis verkauft. Alle Geheimmittel sind gemeine Schwindeleien, theures nichtsnutziges Zeug, und das beste Mittel gegen den Geheimmittel-Schwindel bleibt die Aufdeckung desselben. – Um die Entlarvung der meisten dieser Geheimmittel haben sich außer verschiedenen andern Chemikern und Aerzten ganz besonders die Doctoren Hager, Jacobsen und Wittstein verdient gemacht. Die beiden ersten haben ihre Untersuchungen in den von ihnen redigirten und sehr belehrenden Industrieblättern veröffentlicht, der letztere gab ein vortreffliches, nicht blos den Aerzten und Apothekern, sondern auch dem übrigen, nämlich dem durch die Geheimmittel fort und fort geprellten Publicum verständliches und nützliches Taschenbuch der Geheimmittellehre[1] heraus. Auch im „wirthschaftlichen Hausschatze“, einem empfehlenswerthen Rathgeber für’s häusliche Leben,[2] findet man, außer einer Menge praktischer Winke für Küche, Keller, Toilette, Garten, Wäsche etc. die meisten Geheimmittel entschleiert.

Wir wollen nun die vorzugsweise in der Gunst des Volkes stehenden Geheimmittel, und zwar vorzugsweise nach den Untersuchungen oben genannter Doctoren, vornehmen und mit sympathetischen und homöopathischen Scherzen würzen. Denn ebenso scherzhaft wie die sympathetischen Curen mit allerlei Hokuspokus sind auch die homöopathischen, bei denen jedweder Hanstoffel, wenn er nur lesen und sich Dr. Müller’s Haus- und Familienarzt, oder Dr. Hirschel’s Arzneischatz kaufen kann, die prächtigsten homöopathischen Curen an seinen Mitmenschen zu machen im Stande ist. – Der Geheimmittelschwindel steht in den nordamerikanischen Staaten in der größten Blüthe und übersteigt wirklich alles vernünftig Denkbare; aber gegen die dortigen Reclamen sind auch die von Hoff, Daubitz und Goldberger nur armselige [746] Stümpereien. Das Nonplusultra von amerikanischem Geheimmittelschwindel ist folgendes: Durch Dr. Allinhead’s Diamanttropfen (aus den Säften geheimnißvoller Kräuter des tropischen Klimas bereitet) wird der ganze Mensch durchsichtig. Fünf von diesen Tropfen eingenommen, und das Individuum bekommt ein leichtes Frösteln und verfällt in einen sanften Schlaf, in welchem es gelind transpirirt. Schon nach einigen Minuten beginnt der Körper eine eigenthümliche Leuchtkraft anzunehmen und nach weniger als einer Viertelstunde ist der ganz fest schlafende Mensch vollkommen durchsichtig. Man sieht jetzt hinein in alle Geheimnisse des Lebens und etwaige Krankheitszustände erkennt man sofort. Die Durchsichtigkeit hält nicht lange an und es ist daher nöthig, daß ein rasch beobachtender Arzt zugegen ist, als welcher sich natürlich der Erfinder der Diamanttropfen, von welchen fünf Tropfen zwanzig Dollars (etwa achtundzwanzig Thaler) kosten, empfiehlt. Nach dem Transparentgewordensein bleibt nur eine kleine Erschöpfung zurück. – Nach Amerika ist Oesterreich die Pflanzstätte der modernen Beutelschneiderei, des Geheimmittelschwindels und der Marktschreierei, und davon trägt die dortige faule Patentwirthschaft die Schuld. Gegen dreitausend Geheimmittel giebt es in Oesterreich, welche in Zeitungen, unter Kreuzcouvert und in Preiscouranten ausgeboten und leider auch von Apothekern bereitet werden.

Die Mund- und Zahnleiden sind durch so viele Geheim-, sympathetische und homöopathische Mittel zu verjagen, daß man gar nicht begreift, warum sie überhaupt noch existiren und die Menschen plagen. – Von Geheimmitteln sind die folgenden von den oben genannten Herren untersucht worden:

Mundwässer: Anatherin-Mundwasser von Popp in Wien, von welchem das sechs Loth enthaltende Glas 1 Thaler kostet, aber kaum den sechsten Theil werth ist, besteht hauptsächlich aus Quajak- und Sandelholz, Myrrhe und Chinarinde. Der Verfertiger scheint übrigens dieses Wasser anders zu bereiten, als er in der dem Patentamte eingereichten und später veröffentlichten Vorschrift angiebt. – Zahn-Mundwasser von Hückstädt in Berlin, zum Stillen der Zahnschmerzen, ist zusammengesetzt aus Aether (16 Th.), Nelken(3 Th.) und Cajeputöl (1 Th.). Das ¼ Loth enthaltende Glas kostet 5 Sgr. und hat nur 1 Sgr. wirklichen Werth. – Kosmetisches Mundwasser von Joh. Pohlmann. Ein Kaffeelöffel voll von dieser Essenz, mit ½ Glas Wasser gemischt, beseitigt den üblen Mundgeruch, erfrischt und stärkt das Zahnfleisch, macht die Zähne elfenbeinweiß und verhindert das Lockerwerden und Ausfallen derselben. Anissamen und Zimmet (von jedem 8 Loth), Quajak- und Benzoeharz (von jedem 4 Loth), Bertramwurzel (4 Quentchen) und rectificirten Weingeist (8 Pfund) lasse man einige Tage lang digeriren und filtrire die Flüssigkeit, setze hierzu 2 Quentchen feinstes Pfefferminzöl und 1 Pfund Löffelkrautwasser. – Mundwasser von Thiel in Berlin, gegen jede Art Zahn- und Zahnfleischleiden, üblen Mundgeruch, ist bereitet aus Krauseminze, Salbei, rothem Sandelholz, Wasser und Weingeist. Das acht Loth enthaltende Glas ist etwa 1 Sgr. werth. – Odontine von Dr. Pelser-Berensberg (Witte in Berlin), als Mundwasser gerühmt, besteht aus einem mäßig mit Sandelholz gefärbten Weingeist, gemischt mit Pfefferminzöl, Fenchelöl und Nelkenöl. Das drei Loth enthaltende Glas, das mit 2 Sgr. hergestellt werden kann, wird um 15 Sgr. verkauft. – Fluid-Ozon (Ozène) von Kroth in München (leider von Liebig attestirt), ein Mund- und Waschwasser, welches, wie Wasser verdünnt, alle üblen Gerüche zerstören soll. Es ist eine wässerige Lösung von übermangansaurem Natron, verunreinigt mit schwefelsaurem Natron und Chlornatrium. – Gesundheits-Blumengeist von Wald in Berlin, ein angeblich aus den feinsten Blüthenstoffen hergestelltes Parfüm, welches, mit Wasser verdünnt, ein unübertreffliches Mund- und Zahnwasser sein soll und weit theurer als Eau de Cologne ist. Es ist ein Gemisch aus 500 Th. Spiritus, 5 Th. aromatischer Tinctur, je 2 Loth Bergamott-, Lavendel- und Rosmarinöl, 3 Th. Thymianöl und 1 Th. Krauseminzöl. – Mundwasser des Dr. Pfeffermann, ist eine filtrirte Tinctur aus Sternanis (1 Loth), Gewürznelken (1/8 Loth), rother Chinarinde (1/8 Loth), Spiritus (24 Loth), Pfefferminzöl (10–12 Tropfen). Eine Flasche von 5 Loth kostet 27½ Sgr. oder von 10 Loth 11/3 Thlr., und ist nicht das Viertel werth.

Zahntincturen: Zahntinctur von Nic. Baké in Stuttgart, ist eine mit schlechtem Branntwein bereitete Wermuthtinctur, von welcher der Leidende so viel nehmen muß, bis er berauscht ist, dann hört der Zahnschmerz auf. – Zahntinctur von Jovanovits ist eine Auflösung von Gerbsäure (1 Th.) in der Tinctur von Spilanthes oleracca (18 Th.). – Mailänder Zahntinctur von Rau, Universalmittel gegen alle Zahnleiden und auch zum Reinigen der Zähne, läßt sich durch Digeriren von Kino und Zimmtrinde (1 Th.) mit Alcohol (100 Th.) und Zusetzen von Pfefferminzöl um den zehnfach niedrigern Preis herstellen. – Zahntinctur von Vogler ist ein weingeistlicher Auszug von Quajakholz, Sassafrasholz, Bertramwurzel, langem Pfeffer, Nelken und Sandelholz. – Zahntinctur von Walker in Eßlingen, kostet 40 Kreuzer und ist nur 4 Kreuzer werth; sie läßt sich durch Ausziehen von Bertramwurzel mit Weingeist und Zusetzen von aufgelöstem Kampfer und Quajakharz herstellen. – Zahntinctur von Weber ist eine Lösung von einigen Harzen und Kampher in Weingeist mit etwas Terpentinöl. Das 1 Loth enthaltende Fläschchen koset 36 Kreuzer und sein wirklicher Werth ist 3 Kreuzer. – Zahntinctur von Prof. Wundram (Tooth-Ache-Drops), ein Gemisch aus Cajeputöl, Rosmarinöl, amerikanischem Pfefferminzöl (je 1 Th.), und wasserfreiem Spiritus. – Extract-Radix, von F. Schott in Frankfurt a. M., zur Beseitigung jeder Art von Zahnschmerz, ist ein Branntweinauszug aus Sturmhutkraut und Einbeerkraut. Das höchstens ½ Sgr. werthe Glas kostet 12½ Sgr. – Paraguay-Roux von Roux und Chaix in Paris, ein Universalmittel gegen Zahnschmerzen und Scorbut, eine sehr concentrirte Tinctur der Bertramwurzel, Para-Kresse und Inula bifrons. Dasselbe Präparat soll auch unter dem Namen Cheltenham teeth-liquor im Handel vorkommen. – Spiritus-Bohemi, gegen alle Arten von Zahnschmerzen, ist eine weingeistige Lösung von Kampher und Nelkenöl, 1 Sgr. werth und wird (1 Loth) für 1 Thaler verkauft. – Anthosenz von Heß stillt nicht nur jeden Zahnschmerz, sondern auch alle anderen Schmerzen in kürzester Zeit. Es ist ein Gemisch sehr kleiner Mengen wohlriechender Oele (Nelken- und Palmarosaöl), Moschustinctur und Ananasäther; kostet zwar nur 5 Sgr., ist aber trotzdem noch zu theuer. – Zahnmittel von Höcker in Ronneburg, zur Beseitigung von Schmerzen und Brand der Zähne, besteht aus einer Tinctur (eine Mischung aus 3 Th. Gewürznelkenöl, 1 Th. Cajeputöl und 2 Th. starken Spiritus) und aus einem Pulver (ein fein zerriebenes Gemisch aus doppelt-kohlensaurem Natron und Kochsalz). Preis von 12½ Sgr. viel zu hoch.

Zahntropfen: Algophon, Mittel gegen Schmerzen hohler Zähne, ist eine Auflösung von ätherischem Senföl (¼ Loth) in Löffelkrautspiritus (2 Loth.) – Zahntropfen von Dr. Davidson, ein Gemisch aus gleichen Theilen Cajeput- und Nelkenöl, mit etwas Morphium in Weingeist gelöst; jetzt nur ein Gemisch aus 3 Theilen Cajeput- und 1 Theil Nelkenöl. – Zahntropfen von Oberläuter, auf Baumwolle in den Zahn zu bringen, ist eine weingeistige Lösung von Birken- oder Fichtentheer und das kaum ein halbes Loth enthaltende Glas kostet fünf Silbergroschen, ist aber nur einen Pfennig werth. – Zahntropfen (mit elektrischem Strom) von Traberth in Eisenach, sind eine Mischung von viel Schwefelkohlenstoff und wenig ätherischem Senföl in rothgefärbter Baumwolle. Das kaum ein halbes Quentchen Flüssigkeit enthaltende Gläschen kostet 15 Sgr., während sein wirklicher Werth sich noch nicht auf 2 Sgr. beläuft. – Odontine, gegen Zahnschmerz, eine Mischung von Cajeputöl (1 Theil), Wachholderöl (1½ Theil), Nelkenöl (1½ Theil) und Aether (12 Theile.) – Feytonia (gegen Zahnschmerz), ist eine Lösung von Kampher (1 Th.) in Cajeputöl (2 Th.) und Chloroform (4 Th.), nebst einer Spur Nelkenöl.

Balsam: Zahnbalsam von Hoffmann in München, zur sofortigen Stillung der heftigsten Zahnschmerzen, Befestigung des Zahnfleisches etc. kostet 36 Kreuzer, um das Zwölffache mehr, als der wirkliche Werth beträgt, und läßt sich durch Versetzen von Catechutinctur (¼ Loth) mit Nelkenöl (28 Tropfen) herstellen. – Henriettenbalsam gegen Zahnschmerzen und scorbutische Zustände des Zahnfleisches, soll durch Ausziehen der unter dem Namen Carobe de Giudra vorkommenden Auswüchse der Pistacea Terebinthus mit dem dreifachen Gewichte Weingeist bereitet werden. – Opiate pour les dents von Pinaud, eine Zahnlatwerge aus rothgefärbtem Zuckersyrup, Kreide, Gyps und Magnesia. Kostet 36 Kreuzer bei einem Werth von 12 Kreuzer.

Paste: Aromatische Zahnpasta von Suin de Boutemard in Rheinsberg (dem verkappten Goldberger in Berlin), eine feste Masse aus Oelseife, Stärkemehl, Kugellack, kohlensaurem und schwefelsaurem Kalk, Bimsstein und ein wenig Pfefferminzöl. Anderthalb Loth kosten 21 Kreuzer, um 18 Kreuzer zu viel. – Odontine-Pasten, zum Reinigen der Zähne, bestehen vorzugsweise aus Seife oder Fett mit feingepulvertem Bimsstein und Austernschalen, gebranntem Alaun, Zucker, Nelken- und Pfefferminzöl. – Jod-Paste, zum Tödten der Zahnnerven, ist ein mit Berlinerblau gefärbtes und mit Glycerin in Teigform gebrachtes Gemenge von arseniger Säure und salzsaurem Morphin. Sie enthält also gar kein Jod und ist ¼ Frank werth, kostet aber (etwa 17 Gran) 5½ Franken. – Puritas, k. k. patentirte Mundseife von Dr. C. Faber, berühmtes Reinigungs- und Conservirungsmittel der Zähne, kostet 20 Sgr. und ist 2 Sgr. werth. Obschon patentirt und auf der Londoner Ausstellung mit Medaille belohnt, ist diese Seife doch nur ein ganz gewöhnlicher Schwindel der Geheimmittelkrämerei. Sie besteht aus 30% Seifenpulver, 50 Schlemmkreide, 15 Florentiner Lack, 5 Alaun, und ist mit etwas wohlriechendem Oele parfümirt. – Aromatische Mundseife von Zalom, deren Patent seit einem Jahr erloschen ist, wird so bereitet: man nimmt 1 Pfund gute Seife, zerschneidet sie in dünne Streifen und löst sie in destillirtem Wasser auf. – Dann setzt man 6 Loth feingesiebter Ossa sepiae hinzu und läßt das Ganze auf gelindem Feuer mit einem Zusatze von ¼ Maß Rosen- oder Orangenblüthenwasser einsieden, worauf noch etwas Pfefferminzöl, Salbeiöl, Jungfernhonig und Weinessigextract zugesetzt wird.

Pulver: Anadoli von Kreller in Nürnberg, orientalische Zahnreinigungs-, Stärkungs-, Erhaltungs-, und Athem-Erfrischungsmasse, ein Pulver, welches 36 Kreuzer kostet und nur 3 Kreuzer Werth hat; es besteht aus Seife (42 Theile), Stärkemehl (44 Theile), levantischer Seifenwurzel (12 Theile) und ist parfümirt mit Bergamott- und Citronenöl.– Chinesisches Zahnpulver ist weiter nicht, als höchst fein präparirter Bimsstein. –

Wolle: Zahnwolle von Bergmann, die jeden Zahnschmerz stillen soll, wenn man sie an einem Ende anzündet, gleich wieder ausbläst und den Dampf der fortglimmenden Wolle einathmet. Es ist ein fingerlanges, in Staniol eingewickeltes Strähnchen von Baumwollfäden, welches nicht einen Pfennig werth ist und zwei und einen halben Silbergroschen kostet. – Zahn-Pillen von Schreyer, gegen Zahnschmerzen, enthalten als Hauptbestandtheile Kochsalz und Pfeffer, kosten 18 Kreuzer und sind höchstens 1 Kreuzer werth.

[747] Kinderzahnen: Elektromotorisches Zahnhalsband für Kinder der Gebrüder Gehrig in Berlin, welches das Zahnen erleichtern soll, ist ein doppelter Sammetstreifen, in welchem sich der Länge nach zwei übereinander liegende, mit Schwefel imprägnirte Leinwandstreifen befinden. Das Stück kostet 10 Sgr. und sein reeller Werth ist höchstens 2 Sgr. – Zahnperlen (patentirte) für Kinder, von Gehrig und Grunzig in Berlin; eine Schnur mit 36 Perlen aus vulcanisirter Gutta-Percha; 15 Sgr. kostend und nur 3 Sgr. werth. – Zahnperlen von Ramçois in Paris (August Leonhardi in Freiburg), sind nichts als beinerne Kügelchen, kosten einen Thaler und sind nur einige Silbergroschen werth. – Sirup de dentition von Delabarre in Paris, zur Erleichterung des Zahndurchbruchs täglich einige Male auf das Zahnfleisch gestrichen, ist nichts weiter als Safransirup, kostet 3½ Frank und ist schon mit 6 Kreuzern bezahlt. –


Zahnkitt: Zahnkitt von Sorgel in Paris, zum Ausfüllen hohler Zähne, ist basisches Zinkchlorid. – Ein anderes Zahnamalgam zum Ausfüllen besteht aus Quecksilber (69 Theile) und Kupfer (31 Theile).


Die Homöopathie hat gegen Mund- und Zahnleiden eine Unzahl von Arzneistoffen in Nichts-Form aufzuweisen, denn sie führt z. B. bei Zahnschmerzen ganz andere Heilmittel in’s Feld, wenn der Schmerz in den Schneidezähnen sitzt, andere bei dem Schmerz in den Augen- oder Backzähnen, andere, wenn der Schmerz auf der rechten oder linken Seite, oben oder unten wüthet, wenn er nur Nachts, nur am Tage, Morgens, Vormittags, Mittags, Nachmittags gegen Abend, Abends, im Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter auftritt; wenn er sich verschlimmert: Abends, Nachts, durch Wärme, durch Kälte, durch Essen, durch Trinken, durch Sitzen und Liegen, durch Geistesarbeiten, Tabakrauchen, Stochern, Berühren, Saugen an den Zähnen; wenn er sich bessert: durch kalte Luft, kaltes Trinken, Wärme, warmes Trinken und Essen, Kauen, Drücken, Stochern, Liegen, Gehen, Ruhe, Aufsitzen im Bette, Warmwerden im Bette, Tabakrauchen, in der Stube, beim Zähneputzen, durch Schlaf. Im homöopathischen Hausarzte von Constantin Hering sind nicht mehr als 222 (schreibe zweihundertzweiundzwanzig) verschiedene Zustände bei Zahnleiden aufgeführt, von denen ein jeder durch andere (und zwar bis zu zwanzig) Mittel zu heben ist. – Dr. Müller führt dagegen in seinem Haus- und Familienarzte uns dreiundfünfzig solcher Fälle auf, wo aber bei dem einzelnen, ganz bestimmten Falle auch bis zu dreizehn verschiedene Mittel verordnet werden können.

Nun, Leser! wie gefällt dir Das? Da sind mir denn doch die vom dummen Volke erdachten

sympathetischen Curen

noch weit weniger lächerlich, als dieser von angeblich wissenschaftlich gebildeten Männern veröffentlichte Unsinn. – Die wirksamsten von den sympathetischen Curen gegen Zahnschmerz sind folgende: 1) Man nehme einen alten Zahn aus einem Todtenkopfe, reibe den schmerzhaften Zahn damit und stecke den alten Zahn nun wieder in seine gehörige Stelle. – 2) Man spuke auf die untere Seite eines Kieselsteins, den man am Wege findet, und lege ihn nachher wieder an seine alte Stelle. – 3) Man hänge sich einen Menschenzahn an den Hals. – 4) Man spreche leise zu dem Kranken: „Der Herr Jesus warne die Zahnwüthigen; darinnen waren Würmer, drei weiße, drei schwarze, drei rothe; er nahm die andern zwei und schlug sie damit todt. Das sag’ ich dir zur Buße. †††. – 5) Man kann den Zahnschmerz auch abschreiben, wenn man einen Hufnagel nimmt, an eine Stelle geht, wo sich drei Wege kreuzen, und zwischen die Wege auf die Erde die Zeichen schreibt: „Rex, Pax, Max, ppo in Folio;“ darauf schlägt man den Nagel in eine Thür. – 6) Nimm den Zahn eines Todtenkopfes und eine Bohne; bohre ein Löchlein in die Bohne, in dieses stecke eine lebendige Laus, verwahre das Löchlein wohl mit Wachs und trage den Zahn sammt der Bohne, in ein Tüchlein gemacht, am Halse. – 7) Man nehme von dem Moos, das im Beinhause an den Todtenköpfen wächst, und binde es an die Backe. – 8) Man gehe Nachts zwölf Uhr auf den Kirchhof und beiße in ein Todtenbein. – 9) Man jage eine Katze so lange über geackerte Felder, aber immer quer über, bis sie zwischen den Beinen schwitzt; mit dem Schweiße bestreiche man den kranken Zahn und der Schmerz ist für immer vorbei.

Daß sympathetische Curen, und zumal die aufgeführten, das Zahnweh sicherer heilen als die homöopathischen Nichtse, steht fest. Am sichersten wird dieses Weh aber gehoben, wenn der Kranke sofort zum Zahnarzte geht und sich den schadhaften Zahn, wenn es nöthig ist, entweder ausziehen oder reinigen und plombiren läßt. Sodann hat er aber seinen noch gesunden Zähnen die richtige Pflege angedeihen zu lassen, damit sie nicht hohl werden.
Bock.




Auf den Gräbern von Sadowa.


„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.“ – „Nicht Pommernland, nicht Schwabenland“ etc., sondern „sein Vaterland muß größer sein.“ Nicht irgend ein Theil, sondern das ganze Vaterland! Wir haben’s seit einem halben Jahrhundert uns oft genug gelobt und gesungen und dabei nach dem Siegesjubel aus den massenhaften Gräbern von Leipzig und Waterloo statt der gehofften Einheit und Freiheit unheimliche Gespenster aufsteigen und Fleisch und Blut, Criminalbeamte werden sehen, welche die schwarz-roth-goldenen Jünglinge des Einheits-Enthusiasmus bei Nacht und Nebel aus ihren Betten zerren, in elende Kerker verschließen und Jahre lang als Verbrecher schmachten ließen, weil sie es mit den Errungenschaften der gefallenen Helden der Freiheitskriege und den darauf begründeten Verheißungen der Fürsten ehrlich und ernstlich nahmen. Und so mußten wir ein halbes Jahrhundert später die Kinder und Enkel dieser Märtyrer und der massenhaft ausgestreuten Einheitssaaten wieder in den Krieg ziehen und tausendweise fallen und begraben oder als elende Krüppel zurückkommen sehen, um der deutschen Einheit eine neue Geburtsstätte zu erobern. Und nun sind doch wohl wirklich diese Gräber zwischen den Hügeln Böhmens zur Wiege dieser Einheit geworden? Wir wollen sehen, wir hoffen es, wir arbeiten dafür.

Auf den nur oberflächlich bedeckten Gräbern der Gefallenen soll sich des Nachts zuweilen ein unheimliches, geisterhaftes Licht von entzündeten Verwesungsgasen gezeigt haben. Das war eine leichenhafte Verklärung und Auferstehung, vorwurfsvoll für die Ueberlebenden, aber darin bekundete sich wenigstens das Bestreben der Natur, die Gifte der Verwesung durch läuterndes Feuer zu vertilgen und wieder in wohlthätige Kräfte aufzulösen. Die neue deutsche Einheitspolitik, welche aus diesen Gräbern auferstand, flackert auch noch vielfach in diesem unheimlichen Lichte und wird einen ähnlichen Proceß durchzumachen haben, um die in ihr entzündeten Verwesungsgase in wohlthuende und befruchtende Genien des neuen Geistes umzuwandeln.

Um dieses neuen Lebens und Strebens willen, für welches wir nun schon so lange gearbeitet, gelitten und die theuersten Opfer gebracht haben, sind diese Gräber für die ganze deutsche Nation ein Heiligthum geworden. Tausende der Ueberlebenden und Hinterlassenen der Sieger und Besiegten wandeln und trauern noch oft im Geiste oder wirklich zwischen denselben. Ganze Schaaren unseres Volkes und von Ausländern sind über diese Schlachtfelder gezogen, um an Ort und Stelle zu sehen, wie die mörderischen Kämpfe sich entwickelten und entschieden wurden. Dankbarkeit, Patriotismus und Hoffnung haben diese Gräber geschmückt und Denkmäler auf ihnen errichtet – eherne und massive Ausrufungszeichen für die Pflichten, welche die Gefallenen uns vererbt und deren Erfüllung die Geister unserer historischen Entwickelung zur heiligsten Aufgabe des deutschen Volkes erhoben haben. Die Oesterreicher und Sachsen gingen den Preußen in dieser monumentalen Dankbarkeit voran und weiheten ihre Denkmäler am Jahrestage der Schlacht von Königgrätz mit sehr glänzender und wohl zu heiterer Volksfestlichkeit ein, während sich die Preußen darauf beschränkten, erst viel später – im October – ihr Königgrätz-Denkmal in sehr einfacher und fast nur kirchlicher Weise zu enthüllen und zu weihen, wobei die eingeladenen österreichischen Officiere ungeachtet aller ihnen gebotenen Versöhnlichkeit nur wenig Miene machten, dem Geiste deutscher Einheit und Brüderlichkeit zu huldigen.

Ich will aus eigener Anschauung die wesentlichen Züge der österreichischen und sächsischen Feierlichkeiten für die Leser der Gartenlaube und für zukünftige Geschlechter hier aufzeichnen und ihnen mit Hülfe von Zeichner und Holzschneider einige dieser Denkmäler vor die Augen stellen.

In der drückendsten Hitze verließ ich am 2. Juli Nachmittags [748] die Festung Königgrätz und blickte hinauf nach der weit und breit umher gesehenen Kirche des Dorfes Chlum, dieses neuen Reimes zu „Ruhm“, wie Fontane sang. Auf dem Wege hinauf ragten noch

Sächsisches Denkmal bei Problus.

Anzeichen der Verheerungen des mörderischen Kampfes zwischen heiteren Linden und Obstbäumen hervor, zerrissene Zäune, zerschmetterte Aeste, Bruchstücke von Geschützkugeln etc., aber die meisten Gräber waren entweder von der Natur grün oder von dankbaren Menschen mit Blumen oder einfachen schwarzen Brettern geschmückt worden und ragten wie neues Leben aus den üppigen Weizenfeldern hervor. Oben von der Höhe sah ich Königgrätz mit seinen sieben Thürmen, vergoldet von der sinkenden Sonne, heraufglänzen. Ueber den Kirchhof von

Ansicht des Schlachtfeldes mit Sadowa von den Schanzen bei Chlum aus gesehen, den 3. Juli 1867.

Chlum hinweg begab ich mich nach den Schanzen, von welchen ich voriges Jahr am Vormittage des vierten Juli über die zerstampften und mit Leichen bedeckten Gefilde des Schlachtfeldes geblickt hatte. Wie anders sahen sie heute aus! Auf der Abdachung

Gräber der preußischen Officiere v. Puttlitz und v. Pannewitz an der Chaussee von Sadowa.

nach Lipa zu erhob sich das würdige österreichische Denkmal von Sandstein, einer offenen, mit Nadelhölzern umgrünten Tribüne gegenüber, rings herum Tische, Bänke, fröhliche Arbeiter und Mädchen, Kränze und Guirlanden windend. Von der Chaussee

Sächsisches Denkmal auf dem Berge vor Gitschin.

herauf ein buntes Gewimmel von festlich geschmückten Landleuten, Musikanten, Straßen-Komödianten und Bettlern, welche jetzt in Böhmen jeder Festlichkeit eine eigenthümliche Färbung verleihen. Ich drängte mich durch bis zum Wirthshause zum blauen Stern, am Ende von Lipa oberhalb der berüchtigten Ziegelei, wo voriges Jahr die furchtbare Musik der Amputationssäge und das Wimmern der Verwundeten die Lüfte durchdrangen. Und heute jubelten Tanzmusik, jauchzende Volksmassen, Leierkasten, Pauken, Trompeten und Harfen, die mir es lange unmöglich machten, meine Nachtruhe zu finden. Am folgenden Morgen besuchte ich trotz des plätschernden Regens die Ziegelei, voriges Jahr um die Zeit ein rauchender Schutthaufen, heute wieder erbaut

Gräber im Kornfelde auf der Höhe hinter der Kirche zu Chlum den 3. Juli 1867.

[749]

Preußischer Denkstein am Saume des Waldes von Sadowa.

und voller österreichischer Soldaten; rings umher üppig wogende Felder von Hafer, Gerste, Kartoffeln, die aus dem Blute der hier gefallenen Menschen und Pferde ein dunkel gefärbtes, üppiges Gedeihen sogen. Um die Scheunen des Wirthshauses herum ruhen die Leichen von zwanzig österreichischen Officieren unter mehreren Hügeln mit Holzkreuzen, die heute weit und breit von Schaubuden, Caroussels, Verkaufstischen mit Fleisch, Backwaaren, Heiligenbildern, Kirschen, Getränken und Gläsern, schmausenden und trinkenden Volksmassen umgeben waren. Bei Lipa über der Chaussee drüben unterhalb der Schanzen hatte die Kriegsfurie ihre furchtbaren Brandfackeln am wüthendsten geschwungen, allein der Natur und menschlichem Fleiße war es gelungen, fast alle Spuren, wenn nicht zu vertilgen, so doch mit einem wohlthätigen Schleier zu verhüllen.

Kirche zu Chlum am 3. Juli 1867 nebst Grabmälern des Grafen Grünne und Potschachers.

Granatsplitter, Kartätschen- und Gewehrkugeln, österreichische Adler und sonstige Reliquien des mörderischen Kampfes wurden in Lipa und Chlum lebhaft feilgeboten und zwar für ziemlich mäßige Preise: vollständige österreichische Granate sechszehn, preußische neunzehn bis zwanzig Silbergroschen; Zündnadelgewehr sieben, Säbel zwei Gulden; österreichischer Adler drei, Spitze einer crepirten Granate zwei Silbergroschen; kleinere Granatsplitter schon von sechs Pfennigen an. In dem Hause des Kaufmanns Fränkel waren diese Reliquien centnerweise feil, und da sie auch vorher und nachher lebhaft gekauft wurden, wollen wir gern annehmen, daß sie für die Käufer einen talismanischen Werth haben und dazu beitragen, die Vermächtnisse und Errungenschaften der Gefallenen uns als Pflichten zuzurufen. Man treibt noch heute in Mekka und Medina, in Jerusalem und

Ansicht des Dorfes Chlum und Lipa den 3. Juli 1867.

Großes österreichisches Denkmal auf der Höhe zwischen Chlum und Lipa.

anderen heiligen Orten einen lebhaften Handel mit Splittern und Abfällen, Erinnerungszeichen und Andenken an die Gräber und die geweihten Stätten unserer Heilande, und der Glaube des Volkes hält sie für Schutzmittel gegen allerhand Krankheiten und Anfechtungen des Bösen. Möge ein vernünftigerer Glaube diesen Reliquien von den böhmischen Schlachtfeldern einen höheren Werth sichern und uns behülflich sein bei redlicher Arbeit für Verwirklichung unserer Einigungs- und Befreiungsbestrebungen!

Ich begab mich um zehn Uhr unter strömendem Regen nach dem Festplatze zurück, wo das sechsunddreißig Fuß hohe Denkmal als weißer Sandstein-Obelisk, nun vollendet und geschmückt, bedeutungsvoll aus der bunten Menge empor in den Himmel wies. Ueber dem Unterbau erhebt er sich zwischen vier kleinen Würfeln mit Schildern, aus Quadern zusammengesetzt, mit stumpfer Spitze; innerhalb desselben sieht man hinter eisernem Gitter einen einfachen Altar mit Crucifix und über der Eingangsthür die Inschrift: „Den heldenmüthigen Kriegern Oesterreichs und Sachsens. 3. Juli 1866“. Es ist aber weder das Werk der österreichischen Regierung noch des Volks, sondern des Ritters von Liebig, Eigenthümers eines großen Theiles des Königgrätzers Schlachtfeldes, der es aus eignen Mitteln für etwa zehntausend Gulden errichten ließ. Die Festlichkeit selbst ist in den Zeitungen ziemlich ausführlich geschildert worden.

Gleichzeitig wurde das sächsische Denkmal bei Problus eingeweiht, ein einfacher, sechsundzwanzig Fuß hoher Obelisk, ebenfalls aus Sandstein und mit der Inschrift im Sockel: „Das königlich sächsische Armeecorps seinen am 3. Juli 1866 auf dem Felde der Ehre Gefallenen.“

Preußisches Denkmal bei Cistowes den 3. Juli 1867.

[750] Das steinerne Ausrufungszeichen und der Kirchthurm von Problus dahinter schienen wie drohende Finger gegen das lärmende Schmausen und Jauchzen unten den Himmel anzurufen und mich hinwegzuweisen aus diesem schreienden Widerspruche. Ich folgte dieser Mahnung und begab mich zu den Gräbern der Preußen, der tapferen Erstürmer von Chlum. Sie lagen unter ihren blühenden Hügeln zwischen wogenden Getreidefeldern auf der Anhöhe der weit und breit umherschauenden Kirche des Dorfes. Nur ein Fußweg führte durch das Getreide, dessen Besitzer von den Wallfahrern einen Zoll erhob. Die Gräber liegen in einer Reihe und waren meist nur mit dünnen, schwarzen Holzkreuzchen bezeichnet und von der gütigen Natur mit blauen Kornblumen, Camillen, Disteln und anderen wilden Feldblumen geschmückt worden. Vielleicht sieht es jetzt dort besser aus; an dem Tage meines Besuches fand ich die Ruhestätten auch der berühmtesten Helden ziemlich vernachlässigt. Die beiden ersten Gräber von Chlum aus sind mit Kreuzen ohne Namen bezeichnet. Zwischen diesen erhob sich ein kleines steinernes Denkmal des Jaroslav Jicieski. Im vierten Grabe ruht unter einem schwarzen Holzkreuze von Pape, im fünften unter einer Marmortafel Oscar Vogelnei vom Garde-Füsilier-Regiment, im sechsten Hans von Malzan unter einem schwarzen Kreuze und vertrockneten Immergrünkränzchen. Neben ihm ruhen die Gebeine des wahren Helden von Chlum, des Generals Hiller von Gärtringen, der mit seiner ersten Garde-Division zuerst in den Mittelpunkt des Feindes einbrach, sich dadurch zum Herrn des Schlüsselpunktes der ganzen feindlichen Armee machte und diese kühne That mit seinem Blute erkaufte, dessen sterbender Blick seine Krieger zur höchsten Tapferkeit entflammte, so daß sie die österreichische Reserve todesmuthig zurückschlugen. Diese Besetzung der die ganze Gegend umher beherrschenden Höhe von Chlum gilt wohl mit Recht als die erste Entscheidung zu dem großen, welthistorisch gewordenen Siege. Und wie einfach und schmucklos ragte nun das Grab dieses Helden mit dem schwarzen Holzkreuze und den wenigen Ranken Immergrün hervor! Auch der achte Hügel mit schwarzem Kreuze, das Grab von Helldorf’s, zeigte keine besondern Spuren von Dankbarkeit, und die folgenden drei Gräber, nur rohe Erdhügel, trugen Kreuze ohne Namen und Anstrich. Die zwei großen viereckigen Hügel neben dieser Reihe mit zwei Holzkreuzen ohne Inschriften sind die irdische Decke für die größte Zahl der im Umkreise gefallenen Mannschaften.

Jetzt sieht es dort jedenfalls würdiger für das Andenken dieser Helden aus, doch kenne ich das Denkmal noch nicht, welches Preußen im October hier errichtete und weihete. Damals konnte ich nur mit bitterer Wehmuth auf die verwilderten Hügel dieser gefallenen Helden blicken. Ich gedachte der in den Lazarethen schlesischer Städte gestorbenen Mannschaften. Freund und Feind wurden dort mit gleicher Liebe gepflegt, und die Gestorbenen ruhen unter sorgfältig beras’ten, mit Blumen und Cypressen, auch meist mit Denksteinen geschmückten Hügeln, Freunde und Feinde und auch gemeine Soldaten. Und das Grab des Mannes, der den Sieg dieses glorreichen Tages mit seinem Tode eröffnete, trug nur ein einfaches Holzkreuz mit einem einzigen verwitterten Kranze! Doch die preußische Nation hat ja nun einen Tribut der Dankbarkeit aufgerichtet. Kein besserer Ort für ein Nationaldenkmal zur Erinnerung an diesen ewig denkwürdigen Sieg, als dieser kleine Kirchhof auf der Höhe von Chlum, von welcher man das ganze Schlachtfeld bis nach Horzic und Königgrätz nach dem Elbthale von Schmierschütz abwärts und bis herauf nach Klenitz und Sadowa überschauen kann, wie man von unten auf Meilen weit umher die Kirche und etwa ein hundertundfünfzig Fuß hohes Denkmal deutlich gen Himmel zeigen sehen kann. Von hier aus genießt man auch die beste Aussicht auf die fast verworrenen Labyrinthe von Berg und Thal, von Wald und Feld, Wegen und Stegen, Flüssen und Bächen, zwischen welchen sich die berühmte, entscheidende Schlacht hin und her schob. Durch persönlichen Augenschein an Ort und Stelle kann man sich nur sehr schwer ein klares Bild von diesem Labyrinthe verschaffen, so daß es allen den Tausenden, welche hier gekämpft oder liebe Angehörige verloren haben, und überhaupt Allen, die aus strategischen, historischen oder patriotischen Gründen sich das Schlachtfeld deutlich vergegenwärtigen wollen, erfreulich sein wird, zu hören, daß das große Reliefbild des Schlachtfeldes, welches der preußische Generalstab nach den genauesten Messungen für den König von Preußen von dem Bildhauer H. Walger anfertigen und ausführen ließ, von demselben Künstler in kleinerem Maßstabe, aber mit wohl noch nie erreichter Klarheit und wissenschaftlicher Genauigkeit für den Kunsthandel vervielfältigt und als würdiger Zimmerschmuck, schön umrahmt, uncolorirt für zehn, colorirt für sechszehn Thaler, dem großen Publicum zugänglich gemacht worden ist.[3]

Wenige Schritte von dieser welthistorischen Höhe erhebt sich das große gußeiserne Kreuz, welches die Fürstenberg’sche Familie den gefallenen Kämpfern Oesterreichs errichten ließ. Dicht an der Kirche von Chlum, die noch manche Spuren des mörderischen Kampfes zeigte, ruhen die Gebeine des jugendlichen österreichischen Majors Grünne und des Generals Potschacher, ersterer unter glänzendem Marmorkreuze mit Traueresche, der letztere unter einem mit einfacherem Kreuze, aber damals frischen und lieblichen Blumenkränzen geschmückten Grabhügel.

Von der Flügelschanze bei Chlum mit dem Dorfe rechts im Vordergrunde warf ich noch einen Abschiedsblick über das blutgetränkte Thal des Bistritzbaches und suchte es durch Zeichnung für die Gartenlaube festzuhalten. Man blickt von der größten Anhöhe zwischen Königgrätz und Sadowa nach letzterm Orte hinunter in das Anfangs steil, dann terrassenförmig abfallende und wieder ansteigende Thal mit Sadowa auf der linken Seite der Mitte unter hohen Pappeln, darüber hinaus die Chaussee zwischen Millowitz und Horzic, links von Sadowa die zu Dohalice gehörigen Fabrikgebäude, darüber hinaus das Dorf Mschan und die Kirche von Stratschow; ganz im Hintergrunde, sechs Meilen weit, die beiden Spitzen des Berges Trosky zwischen Gitschin und Turnau.

Vor Sadowa läuft die Chaussee nach Lipa, auf deren linker Seite der Wald von Sadowa selbst zu einem blutgetränkten Denkmale der mörderischen Schlacht geworden ist. Von Sadowa aus rechts windet sich das Bistritzthal, aus dessen bewachsenen Ufern die Dörfer Sowietiz, Benatek und Hniewschowes hervorblicken. Unter den Schanzen rechts steigt das Dorf Cistowes mit seinem kleinen steinernen Obelisk hervor, dem Denkmale für das tapfere preußische siebenundzwanzigste Regiment, welches beim Erstürmen dieses brennenden Dorfes sich zum großen Theile aufopferte. Jenseits desselben erhebt sich der Thum-Platz, die bewaldete Anhöhe mit den zwei alten berühmten Bäumen, auf welche der Kronprinz von Königinhof aus nach dem Schlachtfelde vordringend seine ermüdeten Krieger hinwies, um ihnen das Ziel für den entscheidenden Kampf zu zeigen.

Auf dem Wege nach Sadowa durchschritt ich den Hinterhalt der österreichischen Jäger, wo sie aus Hunderten von Laubhütten ihre sicheren Geschosse auf die andringenden Preußen richteten. Die Weizenfelder waren durch die stürmenden Massen festgestampft und mit allerhand Kriegsgeräth, Waffen, wimmernden Verwundeten und stillen Leichen übersäet, der Wald von Granaten und Kartätschen zerschmettert. Heute erkannte ich kaum noch Spuren dieser entsetzlichen Gräuel und Verwüstungen; der Landmann hatte seine Furchen über die blutgetränkten Fluren gezogen, und Weizen, Korn und Gerste nickten wohlgefällig im sonnigen Winde.

Am Saume des Waldes steht ein roher Stein mit Inschrift und kleinem goldenen Adler, überschattet von einer alten Eiche und einer Trauerbirke. Weiter hinwärts, dicht an der Chaussee bezeichnen zwei andere preußische Monumente die Gräber der Officiere v. Puttlitz und v. Pannewitz, und ein Riesengrab davor enthält die Gebeine der hier gefallenen Mannschaften ohne Namen. Von der nahen Anhöhe bei Klenitz genießt man einen klaren Ueberblick des Schlachtfeldes von der entgegengesetzten Seite.

Am andern Morgen besuchte ich das an der Chaussee nach Turnau gelegene Schlachtfeld, wo die Sachsen auf dem schönsten Berge ihren gefallenen Cameraden ein Denkmal errichtet haben, einen vierundzwanzig Fuß hohen eingegitterten Sandstein-Obelisk mit dem sächsischen Wappen und der Umschrift: „Virtuti in bello providentiae memor.“

Seitdem sind noch mehr Denkmäler hinzugekommen, ganz neuerdings auch der die Chlumer Höhe zierende, dem Andenken der österreichischen und sächsischen Gefallenen errichtete Ehrenstein, und [751] manche Gräber, in denen gefallene Krieger massenweise geschichtet ruhen, sind und bleiben nur von dem Schleier der Natur bedeckt, lachenden Blumen und Feldfrüchten im Sommer und während des Winters einem von dem Obersten der Götter gewebten weißen Leichentuche. Steinerne Denkmäler werden sich nicht über ihren Gebeinen erheben, und auch die Zahl derer, welche die Dankbarkeit der Ueberlebenden errichtete und weihte, sind nur todte Steine und werden verwittern. Wir selbst, wir, das deutsche Volk, müssen unseren gefallenen Brüdern und auch den Feinden ein lebendiges und das einzig würdige Denkmal setzen; wir müssen uns die Einheit und Freiheit erringen und den Helden dieser Freiheitskriege durch einen dauernden Freiheitsfrieden in zunehmender Einigkeit und Gemeinsamkeit für alle gesunden Bestrebungen und Ideale des deutschen Volkes thatkräftig Dankbarkeit beweisen und sie ehren.

Von den Gestaden der Ost- und Nordsee herauf durch ganz Deutschland hindurch bis in die österreichischen und Tiroler Gebirge und wieder hinunter bis zum adriatischen Meere, von der russischen bis zur französischen Grenze trauern die Angehörigen dieser gefallenen Krieger und weinen und wimmern wohl noch manche stille Nacht hindurch im Geiste über diesen Gräbern und um die steinernen Ausrufungszeichen herum. Und fast unzählige Krüppel mit fehlenden Händen oder Füßen, verstümmelten Gesichtern und sogar ganz ausgeschossenen Augen hinken an Krücken und Stäben, aus ihrer kräftigen Jugend plötzlich zur Hülflosigkeit der Greise herabgesunken, als warnende Mahnrufe durch das ganze neue Deutschland hindurch.

Diese blutigen Saaten, so verschwenderisch gesäet, müssen jetzt endlich Früchte tragen. Diesen zahllosen Invaliden und Trauernden sind wir einen bleibenden Trost, eine würdige Entschädigung schuldig. Nur mit unserer würdig verwirklichten Einheit und der daraus hervorblühenden Freiheit können wir sie trösten und die Todten ehren.

Alle schuldige Achtung vor diesen steinernen Denkmälern, aber nur unser Leben, unsere heldenmüthige That für die Einheit und Freiheit, für welche deutsche und böhmische Erde so massenhaft und furchtbar mit Blut gedüngt ward, kann und darf ihnen ein Ehrendenkmal und uns Lebenden zum wahren Tribute der Dankbarkeit werden.

Vergessen wir es nicht; denn obgleich die Todten da unten ganz still liegen und ruhig verwesen, stehen sie doch, schlecht begraben, nicht blos als tödtliche Gase wieder auf, sondern aus den entweihten Gebeinen erheben sich Rächer, welche sich vor den stärksten Kriegsheeren nicht fürchten und mit unüberwindlicher Geisterhand ganze Nationen aus dem Buche der Geschichte streichen, um sie einem langsamen Tode der Ohnmacht und Verachtung zu überantworten.

Irret Euch nicht, Gott in der Geschichte läßt sich nicht spotten!




Blätter und Blüthen.


Bauernjustiz in Rußland vor Aufhebung der Leibeigenschaft. Nur wenige Jahre sind verflossen, seit Kaiser Alexander die Morgenröthe einer andern und bessern Zeit über die Länder Rußlands emporsteigen hieß und die größte aller Wohlthaten, die Aufhebung der Leibeigenschaft, von ihm durchgesetzt ward. Mit welchem Aufwand von Muth und Energie Seitens Alexanders, ist bekannt und ebenso, wie mächtig sich der Adel und die Güterbesitzenden Rußlands gegen diesen Eingriff in ihre altverbrieften Rechte auflehnten. Allein das Wort der Freiheit, das die weiten Steppen dieses Landes befruchten und der Civilisation näher rücken sollte, ward dennoch gesprochen. Welche Zustände dadurch beseitigt oder doch gemildert wurden, davon dringen auch jetzt noch zuweilen Erzählungen zu uns, so dunkel und entsetzlich, wie die geistige Nacht, in der sie geboren wurden. Als eine der drastischsten und eine solche, welche die Tiefe des Elends während der Zeiten der Leibeigenschaft am grellsten wiederspiegelt, ist mir die folgende erschienen, die als völlig verbürgt mir erzählt worden ist.

In dem Gouvernement Z. war ein Gut nach dem Tode des Besitzers zum Verkauf ausgeboten. Die Gegend, in der es lag, gehörte, wenn auch nicht zu den schlechtesten, doch zu denen, welche der schlimmen Communicationen wegen nicht sehr gesucht waren, und so blieb das Gut eine Zeit lang unverkauft. Endlich meldete sich indeß doch ein Käufer, aber zum höchsten Schrecken der Bauern, die dem neuen Gutsherrn anheimfielen, ein solcher, an dessen Namen der Ruf der entsetzlichsten Grausamkeit und Härte haftete. Da trat eines Tages die ganze Gemeinde, Männer, Weiber, Kinder, zum Gebet in der Kirche zusammen, um von Gott die Abwendung so großen Unglücks, einem solchen Gutsherrn in die Hände zu fallen, zu erbitten. Es war umsonst. Der Gefürchtete schloß den Kauf ab. Als dies zur Kenntniß der Bauern kam, versammelten sie sich nochmals an derselben heiligen Stätte, diesmal indeß ohne Weiber und Kinder und bei verschlossenen Thüren, und nie ward bekannt, was in dieser Stunde geschehen. Der Gutsherr aber trat seinen Besitz an und bekundete nur zu sehr, daß die Welt ihn nicht umsonst gebrandmarkt hatte, denn sein Herrenrecht ward in der unerhörtesten Weise von ihm benutzt. Ununterbrochen schwang er die Geißel seiner Rohheiten und Bedrückungen über die unglücklichen Untergebenen, und es gab keine Härte, kein Elend, dessen sie sich nicht täglich von ihm zu versehen hätten.

So vergingen elf Jahre, entsetzliche Jahre. Am Schluß des elften Jahres gelüstete es dem Gutsherrn, wie schon oft, eine Fahrt nach einer mehrere Werst entfernten Ortschaft zu thun, wo er Bekannte hatte. Seine kleine fünfjährige Tochter begleitete ihn. Der erste Kutscher, ein besonders starker, kräftiger Mann, natürlich Leibeigener, führte wie gewöhnlich die Zügel. Der Weg lief durch steppenartiges, ärmliches, einsames Land, dann durch einen noch einsameren Wald. Als sie mitten in demselben waren, hielt der Kutscher plötzlich still, warf die Zügel nachlässig auf die Pferde, wie Jemand, der einen Augenblick an keine Weiterfahrt denkt, trat an den Wagenschlag heran und sagte mit tonloser Stimme zu seinem Herrn: „Steige aus.“

„Ich aussteigen? und weshalb? Bist Du von Sinnen?“ erwiderte der Gutsherr mit rasch aufloderndem Zorne.

„Steige aus!“ rief Jener jetzt drohender, oder ich muß Dir dazu helfen, denn,“ setzte er finster hinzu, „Deine Stunde ist gekommen, Du mußt sterben.“ Zugleich sah sich der Gutsherr von den starken Armen des Leibeigenen gepackt und mit einem Ruck aus dem Wagen gerissen. In dem heftigen, gleich darauf folgenden Ringkampfe zwischen beiden Männern blieb endlich der Bauer Sieger, sein Herr lag fest geknebelt, völlig hülflos zu seinen Füßen.

Der Bauer sah finstern, entschlossenen Blicks zu ihm nieder. „Ich habe Dir gesagt, daß Du sterben mußt,“ begann er, „und dem ist so, aber bevor Du stirbst, sollst Du erst erfahren, weshalb. Als Du vor elf Jahren unser Gutsherr wurdest und wir hörten, wie grausam Du seist und wie unerbittlich, da thaten wir Männer des Dorfes uns in der Kirche zusammen und gelobten Folgendes: ‚Wir wollten um der Barmherzigkeit und Gnade, die Gott uns so vielfach erwiesen, auch in so schwerer Prüfung seiner Gesetze eingedenk bleiben und in Geduld und Gehorsam annehmen, was durch Dich über uns verhängt wäre. Wir wollten, wie hart Du auch mit uns verführest, nicht murren, nicht untreu, nicht ungehorsam werden und in solcher Weise Dir dienen zehn Jahre lang, hoffend, daß in dieser langen Zeit Dein Sinn sich ändern und Du uns ein milderer Herr werden würdest. Aber unsere Hoffnung erfüllte sich nicht; Du wurdest nicht anders, Du wußtest nichts von Erbarmen und warst uns und unsern Kindern ein entsetzlicher Peiniger. Als die zehn Jahre um waren, da traten wir noch einmal zu einer Berathung zusammen. Viele unter uns wollten schon damals Deinen Tod. Aber es waren Einige, die uns vermahnten, noch einmal in Geduld auszuharren, eingedenk der endlosen Langmuth, die Gott uns armen Sündern erzeigt, und so ward beschlossen, Dir noch ein Jahr Frist zur Besserung zu geben, dann solle aber, wenn Du noch derselbe seiest, der, den das Loos träfe, Dich tödten und die Gemeinde von so tiefem Elende befreien. Das Jahr verlief wie die übrigen. Es wurde nicht anders mit Dir. Wir loosten nun. Das Loos traf nicht mich, sondern Einen, der Frau und Kind hatte. Das jammerte mich und ich übernahm’s, Dich zu tödten. Du siehst, es ist keine Hoffnung für Dich auf Erden mehr. Mach’ Deine Seele bereit!“

Ein paar unarticulirte Laute, die der Gefesselte ausstieß, wurden in diesem Augenblicke von dem lauten Weinen des im Wagen zurück gebliebenen Kindes übertönt. Der Bauer wandte sich nach der Seite, woher die rührende Klage kam, und über sein strenges Gesicht glitt der Sonnenstrahl eines Anflugs von Weichheit. Allein nur für einen Augenblick. Dann wandte er sich seinem Opfer wieder zu, knüpfte um den gefesselten Mann noch einen Strick und schleifte ihn so einige Schritte weit in das noch dichtere Gebüsch.

Bald darauf kehrte er allein aus demselben zurück, ein blutbeflecktes Messer in der Hand haltend, das er oberflächlich abwischte und mit dem Ausdruck tiefsten Ernstes in seinen Gürtel steckte. Dann trat er zu dem Wagen, hob die noch immer weinende Kleine zu sich auf seinen Vordersitz, schlug sorgsam noch ein Stück seines Mantels um dieselbe und fuhr die einsame Straße weiter.

Ein paar Stunden darauf aber sah man vor dem Richter der Gouvernementsstadt Z. denselben Mann stehen und mit einer vor Bewegung zitternden Stimme das eben Geschehene berichten. Er hatte sich selbst dem Gerichte überliefert.




Victor Hugo in Deutschland. Dies Blatt brachte unlängst eine Erinnerung an den Frankfurter Dombrand. Ein in Deutschland wenig bekanntes Buch, das sich dennoch fast ausschließlich mit Deutschland beschäftigt, enthält von berühmter Hand auch ein dem Frankfurter Dom gewidmetes Erinnerungsblatt, und wie man nach dem Hingange eines guten Freundes wohl durch das Auffinden eines Bildes, das ihn in seinen guten Tagen schildert, erfreut und erbaut wird, so mag sich Mancher beim Lesen der folgenden farbenreichen Skizze an das altehrwürdige Wahrzeichen der ehemaligen Kaiserstadt ansprechend erinnert fühlen. Der Mann, welcher den Umblick von der Plattform des Doms mit solchem Entzücken schildert, ist kein Geringerer als Victor Hugo. Freilich blickte er auf jene Theile [752] unseres Vaterlandes mit den Augen eines Verliebten. Hatte das ganze Buch „le Rhin“ den Zweck, Frankreichs Begehrlichkeit nach dem linken Rheinufer lebendiger zu entfachen, so schweifte Victor Hugo’s poetisches Auge auch, so Anziehendes lockte, auf das rechte Rheinufer hinüber und es hätte ihm kaum Bedenken gemacht, unter Berufung auf den Franken Charlemagne noch ein Stück Mainlinie zu annectiren. Glücklicherweise sind die Zeiten vorüber, wo uns solche Gelüste Verdruß bereiten konnten. Wenn Victor Hugo in jenem Buche den Franzosen „die Freiheit des Gedankens“ nachrühmte und uns mit „der Freiheit des Träumens“ abfand; wenn er prophetisch ausrief: „Frankreich wird die Königin der Welt sein, in seinen großen Schriftstellern wird die Welt künftig ihre Päpste erblicken“; wenn er endlich mit der Posaune schmetterte: „es giebt nur Eine Literatur, und das ist die französische“: so haben wir jetzt die Gemüthsruhe gewonnen, uns auch an solchen Capucinaden zu erlustigen, und brauchen uns nicht dadurch dasjenige verleiden zu lassen, was sein Genius in bessern Stunden zu Tage förderte.

Victor Hugo schreibt: „Ich wollte den Thurm besteigen. Der Glöckner, der mir in der Kirche als Führer gedient hatte, aber kein Wort Französisch versteht, hat mich bei den ersten Treppenstufen verlassen, und so bin ich allein hinaufgestiegen. Oben angelangt, habe ich die Treppe durch ein Eisengitter abgesperrt gefunden; ich bin also übergeklettert. Nachdem dies geschehen war, befand ich mich auf der Plattform des Pfarrthurms. Dort bot sich mir ein reizendes Schauspiel. Ueber meinem Kopfe die schönste Sonne; zu meinen Füßen die ganze Stadt; links der Römerplatz, rechts die Judengasse, gleichsam eine lange und unbiegsame schwarze Fischgräte zwischen den weißen Häusern; hier und da die Thürme einiger leidlich erhaltenen alten Kirchen; zwei oder drei hohe Warten mit kleinen Seitenthürmchen und dem steinernen Frankfurter Adler und wie ihr Echo drei oder vier alte Wachtthürme am fernen Horizont, ehemals die Grenzmarken des kleinen Freistaats; hinter mir der Main, ein silbernes Tuch, in welches das Furchenziehen der Schiffe goldene Streifen wob; die alte Brücke mit den Dächern von Sachsenhausen und den rothen Mauern des alten deutschen Hauses; rings um die Stadt ein dichter Gürtel von grünen Bäumen; über diese hinaus ein großes Rund von sanften Ebenen und Ackerfeldern, begrenzt durch die blauen Höhenzüge des Taunus.

„Während ich träumte, ich weiß selber nicht, was, gelehnt gegen den Stumpf des drei Jahrhunderte alten Kirchthurms, haben sich die Wolken, vom Winde aufgejagt, bald hierhin, bald dorthin über den Himmel treiben lassen, so daß jeden Augenblick große Stücke Himmelblau sichtbar wurden und wieder verschwanden und unten auf der Erde breite Licht- und Schattenmassen mit einander wechselten. Die Stadt und der ganze Gesichtskreis waren wirklich bewundernswürdig schön. Nie ist eine Landschaft reizvoller, als wenn sie ihr Tigerfell umgehängt hat.

Ich hatte mich auf dem Thurme allein gewähnt, und ich würde den ganzen Tag dort geblieben sein. Auf einmal höre ich neben mir ein Geräusch, ich wende den Kopf: ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren beobachtet mich lächelnd aus einem Mauerfensterchen. Ich wage mich also ein Stück weiter, klettere um eine Ecke des Pfarrthurmes und befinde mich plötzlich im Schooße der Thürmerfamilie, eines ganz artigen und glücklichen kleinen Völkchens. Das junge Mädchen strickt, eine Alte – ohne Zweifel ihre Mutter – sitzt beim Spinnrad; Tauben girren und gurren aus den Zacken des Thurmes, ein gastliches Aeffchen streckt mir aus seinem Hüttchen die Hand entgegen; die Gewichte der großen Thurmuhr steigen und fallen mit dumpfem Geräusch und vergnügen sich, die Marionetten unten tanzen zu lassen, unten in der Kirche, wo man die Kaiser krönte. Denke man sich dazu jenen tiefen Frieden, welcher hohen Punkten eigen ist – Windesmurmeln, Sonnenschein, schöner Anblick – kann es etwas reiner und reizender Zusammenklingendes geben? –

Aus dem Behälter der alten Glocke hat das junge Mädchen ihr Kämmerchen gemacht. Dort im Schatten steht ihr Lager und sie singt dort wie weiland die alten Glocken, nur sanftern Tons und einzig Gott und sich selber zum Vergnügen. Aus einem der nicht vollendeten Seitenräume hat die Mutter ihren Wittwenheerd gebaut, wo der bescheidene Suppentopf brodelt. So sieht’s auf dem Frankfurter Pfarrthurme aus. Wozu diese kleine Colonie da oben existirt und was sie eigentlich treibt, ich weiß es nicht. Aber bewundert hab’ ich sie dennoch. Diese stolze Reichsstadt, welche so vielen Kriegen trotzte, so vielmal beschossen wurde, so viele Kaiser krönte, sie, deren Adler in seinen beiden Fängen die beiden Diademe hielt, welche der Adler Oesterreichs auf seine beiden Köpfe setzte, – heute beherrscht und krönt sie der schlichte Feuerheerd eines Mütterchens und Alles, was darüber in die Luft emporsteigt, ist ein bischen Rauch.“




Ein Abenteuer Rothschild’s. Der Baron Rothschild in Paris, welcher gern zu Fuß ausgeht wie ein gewöhnlicher Sterblicher, hatte kürzlich einen weiten Gang unternommen und gerieth schließlich in das Stadtviertel hinter dem Pantheon, das ihm gänzlich unbekannt war, so daß er sich bald völlig verirrte. Anfangs sah er sich einigermaßen unruhig um, er erblickte aber weder eine Droschke noch einen Omnibus, ja kaum einige wenige Fußgänger; sein Mißmuth über diesen Zufall schwand, als er überlegte, welche amüsante Zerstreuung ihm dies kleine Abenteuer bieten könne, und er begann ganz vergnügt weiter zu schweifen und gleichsam auf Entdeckungsreisen auszugehen, denn dieses Stadtviertel von Paris war für ihn eine ebenso unbekannte Gegend wie Amerika vor der Landung des Columbus für die Europäer. Plötzlich bemerkt er den Laden eines Trödlers, tritt hinzu, beschaut sich das bunte Gewirr von den verschiedenartigsten Gegenständen und entdeckt mitten unter diesem Wust einen alterthümlichen Barometer aus der Zeit Ludwigs des Sechszehnten, der zwar keine Spur mehr von seiner ursprünglichen Vergoldung zeigte, aber trotzdem im Schnitzwerk noch vollkommen wohl erhalten war. Der Baron ist ein eifriger Liebhaber und Kenner von dergleichen Curiositäten, und so beschloß er sofort, den Barometer zu kaufen. Der Preis dafür betrug zehn Francs, und ganz erfreut über eine so wohlfeile Acquisition, greift Rothschild in die Tasche, um zu bezahlen – aber o weh! in der Eile und Zerstreuung hat er zu Hause seine Börse liegen lassen.

„Nun, das schadet nichts, ich nehme auf alle Fälle diesen Barometer,“ sagt er zu der Trödlerin; „schicken Sie ihn mir zu, ich bin Baron Rothschild, man wird Ihnen das Geld in meinem Hotel einhändigen.“

„Den Namen und die Adresse kenne ich nicht, mein Herr,“ entgegnete die Trödlerin, „und überdies schicke ich niemals den Leuten Sachen zu, die nicht vorher bezahlt worden sind.“

Jetzt stand der Baron völlig verblüfft da, denn er hatte sich’s nicht träumen lassen, daß Jemand seinen Namen nicht einmal kenne, aber da er einmal bei guter Laune war, so amüsirte ihn dies nur um so mehr, und er stand eben im Begriff, der Frau einige Aufklärungen über seine Stellung zu geben, als er auf der andern Seite der Straße einen Dienstmann vorübergehen sah. Er winkte denselben herbei und frug ihn lächelnd: „Weißt Du vielleicht etwas von dem Baron Rothschild?“

„Na, das ist aber eine komische Frage, das ist ja unser Geldkönig. Warum fragen Sie mich aber danach?“ setzte der Mensch etwas patzig hinzu, da er glaubte, man wolle ihn vielleicht mystificiren.

„Weil Madame hier ihm soeben einen Credit von zehn Francs versagt hat,“ sagte Rothschild, auf die Trödlerin zeigend.

„Ist das wirklich wahr, Madame Duclos?“ rief der Dienstmann im höchsten Grad erstaunt.

„Ja, sehen Sie, Monsieur Pierre, man kann doch eben nicht alle Welt kennen,“ erwiderte die Trödlerin ganz verlegen. „Sie kenne ich aber, und wenn Sie mir dafür garantiren wollen …“

Bei diesen Worten unterbrach der Baron die Frau durch ein so herzliches Gelächter, daß er sich eine ganze Weile kaum beruhigen konnte.

„Nun gut, Monsieur Pierre,“ sagte er dann noch immer lachend, „wenn Sie denn die Bürgschaft für mich übernehmen wollen, so gehen Sie einmal vor allen Dingen mir einen Wagen zu holen, und dann tragen Sie diesen Barometer in meine Wohnung.“

Der Packträger ließ sich dies nicht zwei Mal sagen; er grüßte den Baron sehr respectvoll, schaffte ihm rasch den anständigsten Wagen, den er nur auftreiben konnte, und eilte dann mit dem Barometer in das Hotel des Geldfürsten, wo er für das „übernommene Risico“, wie Rothschild sagte, reich belohnt wurde.




Für den Weihnachtstisch nach Johann-Georgenstadt


gingen ferner ein: Von einem Brautpaar in Erlangen 10 fl.; aus Mutzschen 1 Thlr.; im heitern Freundeskreise in Bautzen gesammelt 5 Thlr; E. M. in Berlin 4 Thlr.; A. Weinert in Stettin 3 Thlr.; Ertrag einer Vorstellung des Liebhabertheaters in Aken, durch H. Ascher 15 Thlr.; gesammelt in der Schule in Krumbeck (Lübeck’sche) 1 Thlr. 18 Sgr.; Gesellschaft Cerevisia in Neugersdorf 12 Thlr. 2½ Sgr.; Sammlung der Stadt Carlshafen, durch Bürgermeister Rieße 21 Thlr. 3 Sgr.; Dr. Ziegler in Guben 1 Thlr.; durch Concert des Gesangvereins in Herwigsdorf bei Zittau 6 Thlr.; Ueberschuß-Antheil aus der Einnahme des Burschenfestes auf der Wartburg 32 Thlr.; am Kneipabend des Burschenfestes in Eisenach gesammelt 7 Thlr. 17 Sgr.; Kegelverein „Alle Neun“ in Spandow 6 Thlr; H. Gyring in Genthin 1 Thlr.; zweite Sammlung durch Jul. Neusser in Isny (Würtemberg) 4 Thlr. 10 Sgr. und eine wollene Jacke; eine Barmerin 1 Thlr.; N. N. (Postzeichen Borna) 10 Thlr.; Sammlung der Arbeiter Kensington’s in Philadelphia 71 Thlr.
Die Redaction.




Inhalt: Der Habermeister. Ein Volksbild aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Fortsetzung.) – Wild-, Wald- und Waidmannsbilder. Nr. 25. Eine Wolfs-Geschichte. Von Guido Hammer. Mit Abbildung. – Der Panther des Südens. Von G. v. Gößnitz. (Schluß.) – Curir-Schwindeleien. Geheimmittel, sympathetische Curen, homöopathische Heilkünstelei. 1. Mund- und Zahnmittel. Von Bock. – Auf den Gräbern von Sadowa. Mit Abbildungen. – Blätter und Blüthen: Bauernjustiz in Rußland vor Aufhebung der Leibeigenschaft. – Victor Hugo in Deutschland. – Ein Abenteuer Rothschild’s. – Für den Weihnachtstisch nach Johann-Georgenstadt.




Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Vorlesungen

über nützliche und schädliche, verkannte und verleumdete Thiere.

Von Karl Voigt.

Mit 64 Holzschnitten. Eleg. br. Preis 1 Thlr.

Die in den Jahren 1861–64 in der „Gartenlaube“ veröffentlichten und gern gelesenen Arbeiten des berühmten Naturforschers erscheinen hier, mit vierundzwanzig Holzschnitten versehen, als besonderes Werkchen. Karl Vogt hat darin das für die Allgemeinheit nothwendigste und unmittelbaren Nutzen bringende Wissen aus dem Bereiche der Thierkunde in seiner bekannten anziehenden Schreibweise zusammengefaßt, sein Buch ist ein Buch für Jedermann. Einer besonderen Empfehlung bedarf dasselbe bei unseren Lesern nicht, wir würden uns freuen, wenn es, in weitester Verbreitung, seine Wirkungen in vollstem Maße ausüben könnte.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Taschenbuch der Geheimmittellehre. Eine kritische Uebersicht aller bis jetzt untersuchten Geheimmittel. Zunächst für Aerzte und Apotheker, dann zur Belehrung und Warnung für Jedermann. Von Dr. Wittstein. Nördlingen 1867.
  2. Wirthschaftlicher Hausschatz. Praktische Vorschriften und Rathschläge für alle Vorkommnisse in der Hauswirthschaft und im täglichen Leben. Leipzig. Ambr. Abel.
  3. Diese meisterhaften, in feinstem Gyps ausgeprägten Reliefbilder des Schlachtfeldes von Königgrätz, Gitschin etc. sind in der Kunst- und Kartenhandlung von D. Reimer in Berlin erschienen; das letzte hat ohne Rahmen einen Umfang von mehr als zwei Fuß Quadrat und ist genaue Copie des großen Reliefs von sechsundzwanzig Fuß Quadrat.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: naturwissenschaflichen