Die Gartenlaube (1867)/Heft 46
Der erste November und mit ihm Allerheiligen war gekommen und hatte wieder das große alljährliche Todten- und Gräberfest mitgebracht, das vielleicht an keinem andern Orte so allgemein und mit solcher Feierlichkeit begangen wird, wie in der Stadt München. Der Himmel hatte sich in ein tiefes Grau gehüllt, als läge auch ihm daran, Zeichen der Trauer zu zeigen; die Luft war windstill und mild und trug mit den von ihr getrockneten Wegen dazu bei, die Zahl derer zu vermehren, welche Alle dem großen Kirchhofe zuströmten, Manche mit Herzen voll liebenden Gedenkens und mit Augen, die im Widerschein der Erinnerung erglänzten, die Meisten wohl, weil es die Sitte des Tages so mit sich bringt und weil das Getreibe und Gedränge so gut ein Schauspiel und eine Kurzweil abgab, wie ein anderer mehr weltlich fröhlicher Anlaß. Je mehr die Menge sich dem Gottesacker näherte, desto mehr war der Weg von großen und kleinen Laden und Buden besetzt, welche mit allem Gräberschmuck Handel trieben, vom kleinsten Kränzchen an, aus grauem Moose gewunden und mit Papierrosen besteckt, bis zum prachtvollsten Blumengewinde, das dem Pinsel eines Künstlers Ehre gemacht hätte; vom stattlichen in Stein gehauenen Denkmal mit Urne, Säule oder Sarkophag bis zum einfachen Holzkreuz, auf dessen schwarzem Anstrich nur ein gedrucktes Heiligenbildchen klebte. Drinnen aber, innerhalb der langhin gestreckten Umfassungsmauern prangten die ernsten Grabhügel und die Denkmale auf ihnen in aller Zier, welche sinnige Liebe, reiche Pracht und auch prahlender Ungeschmack zu erfinden vermögen. Während die Hügel der Aermeren sich begnügten, wenn die Erde frisch aufgeharkt, mit einem Kranze von Immergrün eingefaßt, oder mit Buchstaben und Kreuzen aus Asterköpfen oder rothen Vogelbeeren belegt ward, waren die Gräber der Reichern in prachtvolle Gärten verwandelt und manches Treib- und Gewächshaus war geleert, die Stätte des Todes unter Blumenstöcken, Blattpflanzen und seltenen Sträuchern zu verbergen. Um Kreuze und Denksteine schlangen sich Gewinde und Kränze, hier aus den kostbarsten, für die Jahreszeit doppelt seltenen Blumen gebunden, beinahe zu schön für einen so vergänglichen Schmuck, dort mit haushälterischem Sinne aus dauernden Immortellen gewunden oder wohl gar aus bemaltem Blech geformt, um mit der Zierde die Dauer zu vereinen. Dazwischen flatterten Trauerflöre oder rauschten schwarze Bänder; in farbigen Glasglocken brannten düstere Ampeln und wo diese mangelten, fehlte doch selten das Licht, so wenig wie das Kesselchen mit Weihwasser, die angezündet und ausgesprengt werden zum Troste der „Armen Seelen“, deren Andenken der Tag gewidmet ist. Zwischen den Gräbern saßen allerlei Leute, Greise und alte Mütterchen oder kränkliche Personen, welche, anderer Arbeit und andern Erwerbs unfähig, sich verdungen hatten, die Gräber und deren Putz den Tag über zu hüten und nicht abzulassen im ständigen Gebete für die „abgeschiedenen Christgläubigen“, die vielleicht noch zu büßen und zu schmachten haben in den Flammenqualen des Fegefeuers.
Nur an der einen Seite des großen Todtenfeldes sah es minder festlich aus; die Schaaren der Besuchenden zogen hier achtlos vorüber und nur selten wandelte der Fuß eines Einsamen zwischen halb eingesunkenen übergrasten Hügeln hin. Blos hier und da erhob sich ein für die Dauer berechneter Denkstein. Blos auf einigen wenigen Erhöhungen stand noch ein halbverwittertes Holzkreuz, an Einem war sogar eine Tafel angebracht, worauf verzeichnet stand, daß dieses Andenken nur ein Vorläufiges sein und nur dauern solle „bis zur Errichtung eines Monuments“, aber sei es, daß die Angehörigen dem Todten selbst unerwartet bald nachgefolgt waren, oder daß sie, von der Zeit geheilt, mit ihrem Schmerz auch ihr Vorhaben vergessen hatten … die schwarze Tafel stand noch immer verheißend da und das Monument war unerrichtet geblieben. Es war jene Abtheilung des Kirchhofs, welche, schon seit Jahren gefüllt, nun dazu bestimmt war, wieder umgegraben und mit neuen Gräbern bepflanzt zu werden.
Jenseits des Weges, an schön verzierten Gräbern saßen ein paar Grabhüterinnen, die Rosenkränze in den Händen, und ließen eifrig murmelnd die schwarzen Betkorallen daran niedergleiten; das hinderte sie jedoch nicht, auch dem, was um sie her vorging, einen beobachtenden Blick zu schenken und in ihre Andacht manchmal eine kleine Gesprächsunterhaltung einzuflechten.
„Gieb uns heut’ unser tägliches Brod … siehst Du, Schärdingerin,“ sagte die Eine, „… da kommt er schon wieder, der dicke Alte … dort beim Eisengitter am Seiteneingang steht er und schaut sich um, als wenn er auf ’was warten thät…“
„Alt ist er wohl,“ erwiderte die Andere, nach dem Eingang hinüber blickend, „aber dick ist er nicht, das Gewand hängt ihm ja nur so am Leib, wie an einem Kleiderstock. Wer ist er denn und was will er?“
„Wer er ist, weiß ich nicht, aber er war heut’ morgens schon da und hat da herumgefragt, er sucht ein Grab aus der Cholerazeit…“
„Aus der Zeit liegen freilich die Meisten da in dem Revier herum! Du lieber Gott, wie feindselig der Mensch d’reinschaut [722] und wie er daher wankt – der geht nicht irr, wenn er sich bald selber um ein Plätzel umsieht!“
Die Bemerkungen der beiden Alten waren wohl begründet, und wer den hinfälligen Mann betrachtete, der sich an das Eisengitter lehnte, um die müden schmerzenden Beine ein wenig ausruhen zu lassen, der hätte wohl Mühe gehabt, in ihm den rüstigen Meister Staudinger zu erkennen, der noch vor wenigen Wochen so kerngesund da gestanden war, wie ein Baum im Holz. Aber wie bei einem Baum hatte eine einzige Nacht hingereicht, mit ihrem Reif das Laub zu verbrennen, daß er am Morgen da stand mit rothen welken Blättern statt der grünen und daß es nur eines leisen Hauches bedurfte, sie vollends fallen zu machen. Das war die Nacht gewesen mit dem Haberfeld. In seiner sorglos übermüthigen Behaglichkeit hatte ihn der Lärm im warmen Bett und im tiefen Schlaf überrascht; das Entsetzen hatte ihn plötzlich emporgeschüttelt, die Angst hatte ihn schlecht verwahrt hinausgejagt in die kalte, windige Nacht, er fürchtete, die Rächer würden sich nicht begnügen, ihn nur verhöhnt und gerügt zu haben; er sah sie schon gegen das Haus andringen, er hörte in seiner Verwirrung schon die einstürzende Thür krachen und entfloh. Seitdem war es mit unsäglichen Leiden über ihn gekommen, der Schrecken und die Erkältung waren ihm in die Glieder gefahren, daß er sich in wenigen Tagen zum Schatten abquälte, gefoltert von den wüthendsten Schmerzen und noch mehr von innerm Grimm über das ihm Widerfahrene und dem Gefühl seiner Ohnmacht, sich dafür hinwieder Vergeltung zu verschaffen und Rache. Mit der Kraft des Körpers brach, wie er dagegen auch ankämpfen mochte, nach und nach der starre Trotz seines Gemüthes, wie der Schnee weich und mürbe wird, noch lange ehe es der Frühlingssonne gelingt, ihn zu schmelzen. So sehr er sich immer hinter die Wolken seines Zornes barg, er konnte nicht verhindern, daß auf einen Augenblick der Himmel hell ward über ihm, und wenn er sonst auf seinem Schmerzenslager von den Unternehmungen träumte, die er noch auszuführen gedachte, wenn er unter Flüchen und Verwünschungen den Frühling herbeisehnte, um in einem heißen Bade Heilung zu finden, so waren es diese Augenblicke, die ihn zwangen, wider Willen in die Jahre zurück zu schauen, die hinter ihm lagen, die er lang in sich vergraben zu haben meinte und deren Erinnerungen doch immer wieder an ihm emporwuchsen, wie Dornranken aus dem Schutt eines eingestürzten Gebäudes.
Unverwandt und mit der Geberde wartender Ungeduld blickte er jetzt in das zum Seiteneingang führende Gäßchen hinaus; er achtete nicht auf die eiligen Schritte, die, von den gewölbten Säulengängen des Kirchhofs herkommend, hinter ihm laut wurden. Ein Mädchen, in der Tracht des Oberlandes, kam rasch den Hauptweg herab, ein kleines Bündel und den Regenschirm tragend, der nicht leicht in der Hand des die Stadt besuchenden Bergbewohners fehlt.
Es war Franzi – sie war unverändert, ja, über das anmuthige Gesicht lag sogar eine höhere Röthe gebreitet, wie der Widerschein einer freudigen und doch nicht schmerzfreien Erregung, fest und klar war ihr suchendes Auge auf das halb verwahrloste Gräbergefild gerichtet. Ein Mann in schlechter Jacke, mit einem groben Schutz darüber, einen farblos gewordenen löcherigen Filzdeckel auf dem grauen Kopfe und über der Schulter die Grabschaufel, schritt gemessenen Ganges hinter ihr her.
„Wenn Du noch so laufst, Madel,“ sagte er gutmüthig, „Du findest Dich ohne mich doch nicht zurecht und mußt warten, bis ich nachkomm’ … ist es Dir denn gar so eilig?“
Ohne den Blick von dem Ziele ihrer Sehnsucht abzuwenden, stand sie still; jetzt trat der Todtengräber an ihre Seite. „Da sind wir,“ sagte er und schritt, die niedrige Einfassung übersteigend, zwischen die Hügel hinein. „Dritte Section … vierte Reihe … das fünfzehnte Grab … hier, der kleine Hügel muß es sein…“
Er deutete auf eine unscheinbare, aus grobem Kies und Erde unregelmäßig aufgeschüttete, von der Zeit fast wieder eingeebnete Erhöhung, kümmerliche Grashalme hatten darauf Wurzel gefaßt, einige lange bärtige Schmeelen hingen vergilbt und geknickt darüber – eine einzige blaue Scabiose, deren Samen vielleicht ein in den Rosenbüschen der Gräber nistender Vogel verstreut haben mochte, wiegte wie schlaftrunken ihr einsames Haupt.
Mit beiden Knieen zugleich, wie von höherer Gewalt gebeugt, sank Franzi zu Boden; sie sprach nicht, sie weinte nicht, sie hielt nur die Hände vor sich hin und faßte dann, sich niederbeugend, in Gestein und Erde, als wolle sie selbe an ihre Brust drücken.
„Was treibst, Madel?“ sagte der Todtengräber. „Wann Du das Grab willst aufgerichtet haben, mit den Händen wird’s kaum geh’n…“ Franzi blieb stumm und unbeweglich; er unterbrach sie nicht mehr, er mochte erst gewahr geworden sein, in welch’ tiefer Erschütterung sich das Mädchen befand; er hatte Herz genug, sie eine Weile gewähren zu lassen und nicht mehr zu stören – Franzi’s wortloses Selbstgespräch war nur dem verständlich, an den es gerichtet war.
„Laß’ es jetzt gut sein, Madel,“ begann der Mann nach einiger Zeit wieder, „tröst’ Dich halt und denk’, was die Erden einmal hat, das giebt sie nit wieder her. Sag’ lieber, was Du haben willst, daß jetzt geschieht … willst haben, daß das Grab aufgerichtet werden soll und verziert?“
„Ja, ja,“ erwiderte Franzi, indem sie sich besann und fast gewaltsam erhob, „das Grab soll aufgerichtet werden und verziert, so schön als es nur sein kann… Ich bin fremd in der Stadt, Todtengräber, wollt Ihr’s wohl besorgen und mir sagen, wo man bekommt, was wir brauchen, ich will’s bezahlen, ich habe Geld … es ist mir nicht zu viel…“
„Laß’ stecken, Madel,“ sagte der Todtengräber, indem er mit gutmüthigem Schmunzeln zusah, wie Franzi ein rothes, an den vier Enden zusammengeknüpftes Sacktuch hervorzog und den reichlichen Inhalt an Silbermünze zeigte, „ich hab’ schon geseh’n, daß Du Geld hast, drinnen beim Leichenaufseher, sonst hättest Du auch das Grab nicht gekauft! Bist gerad’ noch recht gekommen vor Thorschluß; in ein paar Tagen sind die fünfzehn Jahren herum, denn immer nach fünfzehn Jahren wird eine Abtheilung umgekehrt und neue Gräber gemacht…“
„Aber jetzt ist es mein?“ rief Franzi hastig. „Jetzt wird das Grab nit angerührt?“
„Nicht mit einem kleinen Finger, jetzt ist das Grab Dein, Madel, hast es ja theuer genug bezahlt, jetzt bist Du der Herr davon auf die nächsten fünfzehn Jahr’, und kein Mensch kann Dir etwas einreden…“
„Recht, recht,“ entgegnete Franzi, „jetzt führt mich hin, wo wir die Sachen zum Verzieren kaufen können, und ein schönes Kreuz möcht’ ich auch haben, von Eisen und mit einem vergoldeten Christus dran und mit einer schönen Inschrift, da muß drauf steh’n von der Auferstehung und vom Wiederseh’n in der Ewigkeit…“
„Das ist Alles zu haben für Geld und gute Wort’,“ sagte der Todtengräber, „komm’ nur, Madel, ich zeig’ Dir Alles; mir gefallt’s, daß Du Deine Todten so gern hast und Deine Sparkreuzer so hergiebst, ihnen zu Ehren! Wer liegt denn eigentlich in dem Grab? Hast gewiß einen Schatz gehabt, der hat Soldat werden müssen und ist nimmer heim ’kommen… Ja, ja, die Stadt nimmt gar Manchen mit, und oft gerade die schönsten Burschen und die kräftigsten…“
So plaudernd schritt er voran und gewahrte nicht, daß Franzi ihm nicht folgte und ihn nicht vernahm – den beiden Grabhüterinnen war ihre Freigebigkeit ebensowenig entgangen wie das wohlgefüllte Sacktüchlein, sie wollten die gute Gelegenheit zu einem Nebenverdienstchen nicht versäumen.
„Will die Jungfer nicht auch das Grab gehütet haben?“ sagte Frau Schärdinger, indem sie ihr entgegen traten. „Laß sie einer armen Wittib den Verdienst zukommen – wir thun’s billig – wir zwei miteinander, weil wir doch gerad’ so in der Nähe sind…“
„Und beten thun wir auch, so fleißig wie irgend wer,“ sagte die Andre, „da darf man uns nachfragen!“
Franzi sah Beide etwas verwundert an, unbekannt mit dem Gebrauche der großen Stadt, verstand sie den ihr gemachten Antrag nicht völlig. Sie griff in ihr Tüchelchen, drückte jeder ein Geldstück in die Hand und sagte, dem Todtengräber nacheilend: „Ich dank’ schön für die gute Meinung, liebe Frauen – nehmt’s das und wann Ihr in Eurem Gebet mich einschließen wollt, will ich’s Euch verdanken, aber das Grab da hüten und an dem Grab beten – das ist ein Geschäft, auf das ich mich schon manches Jahr gefreut hab’ – das Geschäft besorg’ ich selber…“
Sie ging, die Weiber sahen ihr brummend nach. „Das muß auch eine rechte Siebengescheidte sein und eine Zuwiderwurzen dazu!“ rief die Eine. „Das Geschäft besorg’ ich selber! Und was sie für ein Gesicht dazu gemacht hat, als wenn sie weiß Gott [723] was wär’ und thät nicht aus dem Land abstammen, wo die Holzschlegel wachsen!“
„Hat das ganze Tüchel voll Guldenstückeln,“ sagte die Andere und kehrte an ihren Posten zurück, „und giebt einer Jeden von uns einen Sechser! Meinetwegen – wie der Mann, so die Wurst! Wegen der sechs Kreuzer wird man sich das Maul nicht in Fransen beten…“
Sie kauerten sich wieder nieder und die Kügelchen am Rosenkranze rollten geschäftig wie zuvor.
Nach einer Weile kam Meister Staudinger in derselben Richtung herangehinkt; ihm zur Seite ging ein großer, stämmiger Bursche, welchen die farbenbeklexte Schürze als einen Anstreicher erkennen ließ; er trug eine schwarz angemalte Stange mit gleichfarbiger Tafel, auf welcher in mächtigen Buchstaben eine weiße Inschrift stand. Der Meister war ungehalten und schalt in grimmigem Tone auf den Gesellen hinein; die Beterinnen stießen sich mit den Ellenbogen an und nickten einander zu.
„Wie kann man nur so nachlässig sein und so lang auf die bestellte Arbeit warten lassen!“ rief Staudinger. „Mich in dem Wetter fast eine Stunde hinstehen zu lassen! Es ist himmelschreiend!“
„Ach, was da,“ entgegnete unwirsch der Geselle, „das Wetter könnte ja nicht schöner sein! Wenn die Arbeit erst heute bestellt wird, kann sie nicht früher fertig sein!“
„Aber der Meister hat mir bestimmt versprochen, daß die Tafel in einer Stunde fix und fertig ist!“
„Der Meister!“ erwiderte der Geselle grob. „Der kann leicht versprechen, der thut nichts, als daß er anschafft und das Geld einstreicht; das muß ich als Geselle besser wissen, denn ich muß die Arbeit machen! Man muß der Farbe doch ein bischen Zeit lassen, trocken zu werden, sonst rinnt ja Alles ineinander! Und dann, warum pressirt es denn dem Herrn auf einmal gar so arg? Nach der Jahrzahl, die ich habe darauf schreiben müssen, ist die Frau, der sie gehören soll, schon in die fünfzehn Jahre todt – wenn’s dem Herrn die fünfzehn Jahre her nicht geeilt hat mit der Tafel, wird’s auf die Stunde früher oder später auch nicht mehr ankommen!“
Der Meister antwortete nichts, er biß die Zähne übereinander und trat zwischen die Reihen der öden Gräberabtheilung.
„Aber meinetwegen,“ brummte der Geselle fort, „Jeder muß seine Sache am besten wissen; ich red’ auch Niemandem was ein, aber ich mag mich auch nicht hudeln und hunzen lassen… Wo ist denn das Grab, auf dem ich die Tafel aufstellen soll?“
Der Meister deutete stumm auf den Kieshügel mit den geknickten braunen Schmeelen und der einsamen Scabiose.
„Das wollen wir gleich haben,“ sagte der Geselle, „dem Grab sieht man es wohl an, daß sich noch Niemand darum gekümmert hat; das Grab wird sich wundern, wie es auf einmal und noch so spät zu solcher Ehre kommt! Aber der Boden ist zu fest, ich will nur sehen, daß ich in der Nähe einen Pickel zu leihen bekomme oder eine Schaufel…“
Er steckte die Tafel mit dem zugespitzten Ende leicht in den Grabhügel und eilte hinweg; der Meister schien zu besorgen, daß sie nicht genügend befestigt sein möchte, und trat hinzu, sie, so gut er es vermochte, etwas fester in den Grund zu bohren.
In diesem Augenblick kam Franzi zurück; sie gewahrte schon von Weitem, was an dem ihr so theuren Grabhügel vorging, und eilte mit angstbeflügelten Schritten vorwärts, wenn sie auch aus der Ferne nicht genau unterscheiden konnte, was der Mann an dem Grabe vorhatte, und noch viel weniger diesen Mann selber zu erkennen vermochte.
Jetzt erreichte sie den Hügel, die Beiden standen einander gegenüber, zum ersten Male wieder seit dem Begegnen an der Kreuzstraße, durch das gleiche widrige Geschick getrieben und doch ungleichartig wie damals, vielfach verändert, aber das Gefühl der Abneigung, mit dem sie gegenseitig sich betrachteten, war dasselbe geblieben.
Meister Staudinger war der Schwächere, er wankte beinahe und ließ die Tafel los, auf die Gefahr des Umstürzens hin; sie aber wankte blos und blieb schief geneigt stehen. „Dies Gesicht …“ murmelte er unhörbar und fast nur innerlich, „muß ich das Gesicht wiedersehen…“
Franzi fand zuerst Worte; sie trat ihm in den Weg vor den Hügel und rief: „Was wollen Sie, Herr? Was haben Sie da zu thun?“
„Und was hat Sie darnach zu fragen?“ erwiderte der Meister. „Ich will einen schönen Denkstein aus Marmor auf dieses Grab setzen lassen, und bis er fertig ist, stell’ ich diese Tafel hin…“
„Aber nicht auf dieses Grab, Herr!“ rief Franzi hastig. „Das ist wohl eine Irrung, das Grab da ist mein, ich hab’s gekauft!“
„Gekauft? Wie kommt Sie dazu?“ rief Staudinger entgegen. „Was macht Sie sich da zu schaffen? Das ist das Grab meiner Tochter…“
„Ihrer Tochter?“ erwiderte Franzi mit starr auf ihn gehefteten Blicken, indem ihr Wort und Laut beinahe auf den Lippen erstarb. „Ich hab’s ja gleich gedenkt, das muß eine Irrung sein,“ fuhr sie dann wie sich besinnend fort… „Sie sind an das unrechte Grab gekommen…“
Der Meister zog einen Zettel hervor. „Dritte Section,“ sagte er in unsicherem Tone, „in der vierten Reihe das fünfzehnte Grab…“
„Das … trifft freilich zu,“ entgegnete das Mädchen, bebend vor Erregung, „aber es muß doch eine Irrung sein, der Aufseher vom Gottesacker hat mir’s gesagt und in seinem Buch aufgeschlagen und ich hab’ es ja gekauft, denn in dem Grab’ liegt meine Mutter.“
Der Alte taumelte einen Schritt zurück, als hätte er ein Gespenst gesehen, schlug er die beiden Hände vor das erbleichende Gesicht, er sprach nicht, aber in ihm rief es, wie gräbersprengender Posaunenschall; trotz der verhüllten Augen sah er innerlich und es war, als ob die Gruft zu seinen Füßen sich aufthäte und ließe ihn hinabblicken bis auf ihren Grund und auf die Züge der Todten in dem Sarge, der vermodert drunten lag, und es waren die Züge derer, die lebend vor ihm stand.
Auch in dem Mädchen tauchte eine Ahnung auf, wie Brandröthe am nächtlichen Himmel ein fern aufloderndes Unglück verkündet. „Nein, nein,“ flüsterte sie, „es kann ja nicht so sein, es ist unmöglich, es muß sich ja gleich zeigen, daß es nicht so ist … die Schrift da auf der Tafel muß ja Alles aufklären…“ Sie trat hin und las: „Dem Andenken der ehr- und tugendgeachteten Frau Franziska Wall, Privatierstochter…“ Sie kam nicht weiter, denn Blick und Ton versagten ihr und es währte eine Weile, eh’ sie die Worte herausstoßen konnte: „… Es trifft zu … es ist der Nam’ von meiner Mutter…“
Der Meister hatte die Hände vom Gesicht genommen und starrte das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen an, in denen es wie Licht und Nacht durcheinander kämpfte. „Du?“ sagte er leise, „deswegen also hat mich das Gesicht immer so angegriffen? Du – Du wärst …“
„Ich bin die Tochter von der Frau,“ sagte Franzi ihn unterbrechend, in entschiedenem Tone, „die da begraben liegt, weiter nichts! Es ist doch eine Irrung, denn die Todte da drunten ist keine reiche Privatierstochter gewesen, sondern eine gemeine, blutarme Frau, die Frau von einem geringen Tischlergesellen … als das hat sie sich kümmerlich durchgebracht, als das hat sie mir das Leben gegeben, als das ist sie gestorben in Armuth und in der Niedrigkeit…“
Der Alte vermochte seine Erschütterung noch immer nicht zu bewältigen, er wiederholte nur immer, zwischen Grimm und Rührung schwankend, das staunende und fragende „Du? Meiner Tochter Kind … meine Enkelin?“
„Es hat den Anschein so,“ erwiderte Franzi, die sich allmählich ganz wiedergefunden, „aber kränken Sie sich darum nit. Herr, ich verlang’s nit, daß Sie mein Großvater sein sollen; ich trag’s Ihnen auch nit nach, daß Sie mich angefeindet haben und herunter gesetzt … das ist die beste Straf’, daß es Ihr eigenes Fleisch und Blut war, das Sie schlecht gemacht haben aus eitlem Hochmuth… Ich hab’s nur mit meiner armen Mutter da drunten zu thun! … So lang, als ich mein eigner Herr bin, hab’ ich kein’ anders Gedenken gehabt und kein’ andern Wunsch, als den, sie aufzusuchen, da hab’ ich’s erst so recht gespürt, was es heißt, keine Mutter haben! Deswegen hab’ ich mich als Kellnerin verdungen, um mir den großen Lohn zu ersparen, deswegen hab’ ich mit jedem Kreuzer gehaust, bis ich so viel beisammen gehabt hätte, als ich gemeint hab’, daß es brauchen wird zu alle denen Nachforschungen und Erkundigungen … deswegen hab’ ich das Grab da gekauft, daß die arme Kreuztragerin, die da eingescharrt ist, ein christliches Kreuz auf ihrem Hügel haben soll, und deswegen [724] soll die verlogene Tafel auch nit drauf zu stehen kommen, denn das Grab ist mein!“
Dem Trotze des Mädchens gegenüber fand auch der Meister die alte Starrheit wieder. „Das wollen wir einmal sehen!“ rief er. „Ich will Dir zeigen, daß ich als Vater auch ein Recht habe…“
„Ein Recht als Vater?“ rief Franzi. „Und auf das wollten Sie sich stützen? Wollten sich darauf berufen, hier an dem Grab der nämlichen Tochter, die Sie verstoßen haben?“
„Sie hat sich von mir losgesagt,“ erwiderte Staudinger. „Warum ist sie meinem Willen nit gefolgt und hat sich an den Tischlergesellen gehängt, der nichts gehabt hat und nichts gewesen ist…“
„Nichts,“ fiel Franzi ein, „nichts hat er gehabt, als ein paar fleißige Arm’ und einen offenen Kopf, nichts ist er gewesen, als ein redlicher, fleißiger Arbeiter und ein braver Mann… Er muß es gewesen sein, sonst hätt’ ihn meine Mutter nit so gern gehabt, das spür’ ich an mir selber, drum lass’ ich auf ihn so wenig ’was kommen, Herr, wie auf mein’ arme Mutter… Wenn Sie einmal drüben in der Ewigkeit mit ihr zusammen kommen, dann können Sie mit ihr abrechnen vor Gottes Angesicht … aber hier unten, auf der Welt, mit dem, was noch von ihr übrig ist, mit dem sollen Sie nichts mehr zu schaffen haben … Sie sollen ihr keinen Stein auf’s Grab setzen, sie hat schon an dem genug, der ihr das Herz abgedruckt hat, das Grab ist mein! … Gehen Sie Ihren Weg und lassen Sie mich den meinigen gehen … es ist am besten, wenn wir Zwei so weit auseinander bleiben, wie möglich…“
„Und hab’ ich denn schon nach Dir verlangt?“ erwiderte der Alte grimmig. „Ja, ich leugn’ es nicht, das Herz ist mir weich geworden in den letzten Tagen … ich hab’ viel an meine Tochter denken müssen, ich hab’ mit ihr abrechnen wollen und mit meinem Gewissen … drum hätt’ sie auch ein äußeres Zeichen davon haben sollen! Wenn’s nicht sein soll, so kann ich’s inwendig auch mit ihr abmachen, ohne Grabtafel und Denkstein, aber Dich hab’ ich nicht gesucht und will’s nicht wissen, daß ich Dich gefunden hab’! Dich kenn’ ich nicht und will Dich nicht kennen, meiner Tochter hab’ ich mit Ehren verzeihen können, wenn ich will, sie war doch ein ehrliches Weib … Du aber …“
Er vollendete nicht, denn Franzi stand schon hart vor ihm, starr wie ein Steinbild und doch mit dem flammenden Antlitz eines Racheengels. „Sprich das nit aus, alter Mann,“ rief sie mit unterdrückter Stimme, „sprich nit aus, was Du jetzt auf der Zunge hast… An diesem heiligen Ort, am Grab meiner braven, seligen Mutter sag’ ich Dir und ruf’ sie zum Zeugen an in der Ewigkeit, daß ich nichts gethan hab’, über was ich roth werden müßt’ vor ihr… Wenn es aber so wär’,“ fuhr sie noch leiser flüsternd fort und faßte den Alten hart am Arme, „… wenn ich schlecht geworden wär’, wär’s etwan meine Schuld? Auf wen thät’ die Verantwortung fallen, als auf den, der seine Tochter in’s Grab g’stoßen hat und sein Enkelkind in’s Findelhaus…“
Der Todtengräber, der mit Kränzen und Blumen reich beladen zurückkam, unterbrach sie. „Da bin ich schon, Madel,“ rief er schon von ferne, „ich hab’ die schönsten Sachen ausgesucht, Du sollst Deine Freude dran haben, wie wir das Grab aufrichten und zieren wollen!“
Gleichzeitig kam auch der Anstreicher mit Schaufel und Pickel zurück, Staudinger deutete ihm nach der Tafel. „Nehmen Sie das nur wieder mit,“ sagte er, indem er sich gleichzeitig zum Gehen wandte, „das ist jetzt nicht mehr nöthig…“
Verwundert sah ihm der Geselle nach, indem er die Tafel auflud. „Dem fällt auch alle Finger lang etwas Andres ein,“ sagte er, „aber ich hab’ mir’s gleich gedacht, den hat gewiß das Geld zu dem Monument wieder gereut!“
Der Todtengräber schickte sich an, den Hügel aufzugraben. Eh’ er es that, pflückte Franzi ein paar von den Schmeelen und die einzelne Scabiose und steckte sie in’s Mieder. –
Ein Bild anderer Art war es, das der Allerseelen-Vorabend auf dem einsamen Oedhofe entfaltete, minder farbenreich, aber mit nicht minderem Schattendunkel.
Es war noch in den ersten Stunden des Nachmittags, in der Wohnstube fing es jedoch schon an, düster und dämmerig zu werden, denn die kleinen Fenster mit den noch kleineren runden Scheiben ließen wenig Licht ein, und das Licht, das heran kam, war kärglich, weil die mächtigen Linden, die den Hof umgaben, noch viele ihrer Blätter behalten hatten und weil der Hof auf der Schattenseite des Gebirges lag, für welche die Sonne um einige Stunden früher untergeht, als für die andere Welt. Es war einsam in dem Gehöfte; die Dienstleute waren nach der Mahlzeit alle fort, zu Rosenkranz und Vesper in der weit entlegenen Pfarrkirche und zum Gang an die Gräber der Befreundeten und Angehörigen, die alte Herrin des Hauses mit einer Magd war allein zu Hause, die Sonntagswache zu halten, aber sie saß in der Stube nicht allein, sie hatte Nachmittags unerwarteten und selten gesehenen Besuch bekommen. Sixt saß der Base auf der Bank gegenüber, den Ehrenplatz am Tische hatte der Lehrer inne, der mit ihm gekommen war.
Sie pflegten lange und angelegentliche Zwiesprache miteinander, so eifrig, daß sie es nicht gewahrten, wie es immer dämmeriger wurde um sie her, und des Hahns auf der Uhr nicht achteten, der getreulich mahnte, wann wieder eine Stunde näher gerückt war an die Ewigkeit. Sixt war es gewesen, der hauptsächlich die Unterredung geführt, er hatte Vieles mitzutheilen gehabt, was ihn selbst und Andere betraf, nur Eines blieb unerwähnt, was ja nicht sein Geheimniß war, sondern das des Bundes, an dessen Spitze er stand.
„Es geht nit anders, Base,“ sagte er, eine längere wiederholte Erörterung schließend, „es muß etwas geschehen in der Sache, wir müssen was thun, damit das Gerede und das Gezischel ein Ende nimmt und der Schein nit noch schlimmer wird, als er schon ist. Ich hab’ es mit dem Herrn Lehrer nach allen Seiten überlegt und betrachtet, und er ist auch meiner Meinung, wir müssen Alles thun, um die Franzi her zu schaffen, und wenn sie sich noch so gut versteckt hält oder noch so weit fortgegangen wär … sie ist die Einzige, die Licht in die Sache bringen kann … und haben wir sie nur erst da, wird sie wohl dazu zu bringen sein, daß sie Red’ und Antwort giebt…“
Die Alte schüttelte den Kopf. „Ich weiß nit,“ sagte sie, „ob Du Dir nit zu viel einbildest … die Franzi ist alleweil ein besonderes Leut gewesen und wenn sie einmal ihren stützigen Kopf aufgesetzt hat, glaub’ ich kaum, daß irgend was sie zum Reden bringt …“
„Ich hoff’s doch,“ erwiderte Sixt, „es ist wahr, sie hat einen trutzigen Kopf, aber auch ein gutes Gemüth und sie ist den Eltern selig in’s Grab hinein dankbar für Alles, was sie ihr gethan haben – sie bringt’s nit über’s Herz, daß wir in unrechten Schein kommen und wegen ihr leiden sollen! – Warum sollt’ sie auch nit reden?“ fuhr er, da er vergeblich eine Erwiderung erwartet hatte, wie sich selbst beruhigend fort. „Was hat sie zu fürchten? – Es ist wahr, wie ich sie gehört und gesehen hab’, ist es mir eine Zeit lang gewesen, als wär’ ihr wohl gar Unrecht geschehen – wie ich mir aber Alles so bei ruhigem Blut wieder zusammengestellt hab’ und zusammengereimt, da hab’ ich’s nimmer denken können … und so hart es mich ankommt, denn ich hab’ allemal viel gehalten auf das Madel, so muß ich’s doch sagen … sie und keine Andere ist die Mutter von dem Kind und Niemand als sie hat es auf den Oedhof gebracht. … Wenn sie also sieht, daß das Leugnen nichts nutzt, daß es doch alle Welt schon weiß, dann wird sie’s auch eingestehen, wird sagen, wer der Vater ist, und Alles kommt wieder in Ordnung. …. Eine Straf’ wird sie freilich wohl kriegen, aber dem Kind ist ja nichts Leids geschehen und so wird die Straf’ nit so schwer ausfallen, denk’ ich … sie werden wohl nachsichtig sein mit ihr, denn das ist gewiß, ausgestanden hat sie genug und die ärgste Straf’ ist doch schon über sie ’kommen.“
„Alles richtig,“ sagte der Lehrer bedächtig, „wenn die Voraussetzung es ist, wenn sie wirklich schuldig ist.“
Sixt war aufgestanden und durchschritt die Stube. „Ja, ja, ich weiß,“ sagte er, „Sie haben den Glauben noch immer nit aufgegeben. … Es ist eine Zeit gewesen, da hätt’ ich auch einen Finger aus meiner Hand verwettet, daß es nicht so sein könnt’ … aber dadurch wird’s doch nicht anders und wir werden ja sehen, daß ich Recht behalt’, wenn wir sie nur erst gefunden haben.“
„Wenn wir sie aber nicht finden?“ fragte der Lehrer. „,Du weißt, ich habe nach München geschrieben, wo wir sie zunächst vermutheten, – ich habe einflußreiche Bekannte dort, aber Niemand hat ihre Spur aufzufinden vermocht.“
[725]
[726] „Weil die Zeit zu kurz war,“ rief Sixt, „und weil fremde Leute sich’s doch nie so angelegen sein lassen. Ich will selber hin, gleich in den nächsten Tagen, und ich, Herr Lehrer, darauf können Sie sich verlassen, ich find’ sie, und wenn kein Mensch sie find’t! Ich muß sie auch finden … ich hab’ abzurechnen mit ihr! Sie hat mir einen großen Dienst gethan … sie hat mich aus einer Gefahr gerettet, die über mir zusammengeschlagen wär’, wie das Moos über dem, der drinn’ versinkt … ich muß ihr das vergelten, ich muß es gleichen zwischen mir und ihr … ich kann nit der Schuldner sein von einer … Aber,“ fuhr er sich selber unterbrechend und mäßigend fort, „bis dahin muß wenigstens etwas geschehen, was den Leuten das Maul stopft … und dazu giebt’s nur ein einziges Mittel – das Kind muß fort …“
„Der arme Narr!“ seufzte die Base. „Warum muß denn das sein?“
„Ich hab’ es Euch schon gesagt, Base,“ erwiderte Sixt, „weil das Gerede dadurch immer neue Nahrung bekommt, wenn das Kind bei Euch bleibt! Weil es die Leute sich nicht nehmen lassen, daß Ihr das Kind niemals aufgenommen, wenn Ihr nicht im Voraus gewußt hättet, woher es stammt! Weil sie steif und fest glauben, es sei ein abgekarteter Handel, das Geschöpf in’s Haus herein zu bringen … weil wir damit Alle in üble Nachrede kommen; ich, Base, und Ihr vor Allen, denn Jedes weiß, wie viel Ihr darauf gehalten habt, daß auf dem Oedhof nichts Platz hat, was sich nit frei und offen sehen lassen darf vor Gott und der Welt …“
„Und darauf will ich auch halten,“ sagte die Greisin entschlossen, „ich will’s, so lang ich noch kann, und will’s den Leuten zeigen, daß die Oedhoferin sich nit in ihren alten Tagen zum Deckmantel hergiebt! Du hast Recht, Sixt, das Kind muß fort … obwohl … es wird mich hart ankommen, ich hab’s lieb gewonnen, das arme Geschöpf!“
„Es soll ihm ja auch nichts Leides geschehen! Es soll ihm so gut werden, wie tausend solche Kinder es nicht haben! Ich will es an einen Ort bringen lassen, wo ihm gewiß nichts abgeht … ich hab’ es mit dem Herrn Lehrer Alles schon beredet …“
„Aber – es geht doch nicht!“ sagte die Bäuerin mit einigem Zögern. „Die Susi giebt das Kind nicht her, es ist ihr wie ihr zweites Leben!“
„Darauf kann es nicht ankommen,“ entgegnete Sixt, „die Schwester muß sich eben darein finden und darf nit verhindern, was wir wegen ihr so gut vorhaben, wie wegen uns selber!“
„Freilich wohl – aber es wird einen harten Strauß geben, Sixt … sie wird bald nach Haus kommen, und wenn’s doch einmal geschehen muß, dann ist’s besser, Du bringst es zuvor hinweg, das arme Kind …“
„Ein guter Einschlag, Base!“ rief Sixt eifrig, „damit ist die Sache am kürzesten abgethan. Jetzt ist es an Ihnen, Herr Lehrer, daß Sie halten, was Sie mir versprochen haben … Sie nehmen mein Fuhrwerk, die Magd soll mit Ihnen, soll das Kleine tragen … fahren Sie fort, in einer Stunde, noch eh’ der letzte Zug abgeht, können Sie an der Eisenbahnstation sein … fahren Sie in die Stadt und bringen Sie das Kind an den besprochenen Ort … Morgen in aller Frühe gehe ich dann selber zum Amt und zeige an, was wir gethan haben … ich denke, das soll der Sache schnell ein anderes Licht geben!“
Der rasch gefaßte Entschluß ward eben so schnell vollführt.
Die verwunderte Magd holte das sorglos schlummernde Kind in seinem Winkelbett herbei, packte etwas Wäsche dazu und vergaß, nach der Ursache des unvermutheten Wechsels zu fragen, über dem nicht minder unverhofften Vergnügen, die Stadt zu sehen. Die alte Frau ließ sich das Kind noch hinreichen und legte ihm wie bei der Ankunft tastend die Hand auf die Stirne: „Ich verstoß’ Dich nit, Du armer Wurm,“ sagte sie, „ich will doch sorgen für Dich, wie ich es versprochen hab’; aber ich kann nit dafür, daß Deines Bleibens auf dem Oedhof nimmer ist …“
Bald verhallte das Gerassel des hinweg rollenden Wagens; schweigend, am Fenster stehend vernahm es der Aichbauer, in ihrem Lehnstuhle mit gefalteten Händen die Greisin: sie betete für das Heil des zum zweiten Mal verstoßenen Kindes …
„Sixt! …“ rief sie nach einer Weile, als wollte sie die athemlose Stille los werden. „Wo bist Du? Komm’ zu mir her – und gieb mir Deine Hand …“
Er that es. „Sixt,“ sagte sie wieder, „ich habe Dich wohl verstanden und kann es Dir jetzt sagen, wo uns Niemand hört, als unser Herrgott … Du weißt mehr, als Du sagst – Du weißt auch um Deines Bruders gähen Tod, – aber ich will’s nit wissen, was für ein Ende der Scheinheilige genommen hat, denn er hat’s mit unserm Herrgott auszumachen, den er angelogen hat seiner Lebtag’, – ich frag’ Dich um gar nichts, Sixt, denn ich weiß, Du hast eine feste Hand, Du lassest keine Schand’ über Dich kommen und über uns Alle …“
Er erwiderte wortlos den Händedruck der Greisin; rasche Schritte nahten sich der Thür und die Alte flüsterte: „Sie kommt heim – das ist die Susi … Ich wollte, der Sturm wär’ überstanden! …“
Das Mädchen trat eilfertig ein, sie hatte sich kaum Zeit genommen, draußen das Umschlagtuch abzuwerfen und die Wanderschuhe von den Füßen zu streifen. Als sie den Bruder erblickte, blieb sie überrascht auf der Schwelle stehen, die Ampel, die sie in der Hand trug, warf den vollen Schein über Gesicht und Gestalt. Eine freundliche Veränderung war mit dem Mädchen vorgegangen; sie war noch immer bleich, aber die Blässe hatte das Schreckhafte verloren, das Roth, das sie bei der unerwarteten Begegnung überflog, glich dem Hauche frischen gesunden Lebens; in den Augen glänzte etwas wie Freude und um die Lippen sproßte es gleich einem aufblühenden Lächeln des Glücks. Sie begrüßte den Bruder mit flüchtigem verwundertem Gruß; ihre Aufmerksamkeit schien auf Anderes gerichtet – es fühlte und hörte sich durch, auch als sie der Base von dem Kirchgang erzählte, von dem sie eben zurück kam, von den Gräbern der Eltern und des seligen Vetters, und wie sie geschmückt gewesen, schier als die schönsten auf dem ganzen Friedhof der Pfarrkirche. „Was macht das Mariele?“ fragte sie dann und hielt die Hände an den Ofen. „Hat sie nicht nach mir verlangt? Es geht ein scharfer schneidiger Wind draußen … ich muß mich wärmen, eh’ ich nach dem Kinde seh …“
„Das hat ja Zeit,“ sagte die Alte unsicheren Tones, „sieh’ erst, daß Du ein Nachtmahl bereitest für Sixt und richte die Gaststube her; er will übernachten bei uns …“
„Gleich, Base, gleich – erst muß ich doch nach der Kleinen sehen … sie wacht immer auf um diese Zeit, und Ihr wißt ja, sie will bei Niemand bleiben als bei mir…“
Sie eilte in die Kammer.
Die neuesten Moden sind nicht selten die ältesten. Und wäre die Phantasie der Pariser Kleiderkünstler, Modisten und Modefabrikanten noch so ergiebig und ausschweifend, sie vermöchte nichts Neues zu bringen, zöge sie nicht das Alte zu Rathe. Es ist Alles schon einmal dagewesen – schlechter oder besser – und wir gießen nur eine moderne Brühe darüber, um das Gericht dem Gaumen schmackhafter zu machen.
Die verpönte Crinoline ist endlich verschwunden und einem züchtigeren, faltenlosen Kleide gewichen, wie einst der üppige Reifrock vor dem spartanisch einfachen Revolutionskleide der französischen Bürgerin die Segel streichen mußte. Doch da es die ganz besondere Aufgabe jener Modefabrikanten ist, verschwenderischen jungen und alten Gecken und schwachsinnigen Ehemännern das Geld systematisch aus der Tasche zu locken, so machte die neueste Frauenmode plötzlich einen so gewaltigen Sprung, wurde so völlig anders und in ihrem Auftreten und Gebahren so abweichend von der jüngst vergangenen, daß selbst die ehrbare, sparsame und besonnene Frau Bedenken tragen muß, in einem vorjährigen Kleide zu erscheinen, will sie sich nicht der Gefahr preisgeben, ausgelacht zu werden. Und das ist des Pudels Kern, d. h. jene erfinderischen, auf unsere Börsen speculirenden Köpfe haben ihr Ziel erreicht. Es werden demnach Kleider octroyirt und getragen, so eng, kurz [727] und jüngferlich, wie sie höchstens für ein Mädchen von sechszehn Jahren schicklich sind, Hütchen, die kaum den Wirbel bedecken, Chignons von der Größe eines Achtundvierzigpfünders, Favoritlöckchen und englische Schmachtlocken von falschem Haar, goldene und silberne Netze, Stöckelschuhe, ein Spazierstock, wohl auch ein Lorgnon auf der Nase und eine Cigarette im Munde, und zuletzt fängt man wieder an – sich zu pudern! Und das Alles zusammengenommen ist deshalb so entzückend und graciös, weil es neu, weil es, wie man meint, noch nie da gewesen ist! Doch entschuldigen Sie, meine Damen, es ist nicht neu, es ist Alles schon einmal dagewesen, also auch Ihre jetzige Mode, Ihre Chignons, Ihre Schminke, die falschen Locken und Haare, die Stiefelchen à la Cothurne und die Schuhe à la Sandale, das Peplum – selbst die unvermeidliche, doch allerdings sehr praktische Schlußnadel. – Gestatten Sie mir, in Bild und Wort den Beweis anzutreten.
Der üppige Haarwuchs der Südländerin bedingt schon an und für sich eine complicirtere Frisur, um die wuchtigen Massen in eine zierliche, salonfähige Form zu bringen. Wir finden daher bei den griechischen und römischen Damen der classischen Periode, mehr noch bei den Aegyptierinnen, jene kunstvollen Haartrachten, wie sie nicht sinnreicher unter der Hand eines modernen Haarkünstlers hervorgezaubert werden können. Doch war auch, wie heutzutage, nicht Alles Gold, was glänzt, und wo sich die Natur zu karg bewies, half man mit künstlichen Mitteln nach und trug falsche Locken oder Zöpfe, oft selbst ganze Perrücken, wie z. B. der berüchtigten Faustina Antonina (Nr. 3) nachgesagt wird, daß sie sich in ihren späteren Jahren unechten Haares bedient habe. Aehnliche kunstreiche Frisuren sind nun auch jetzt bei unseren Damen eingeführt, d. h. Mode; und um auf unser Thema zu kommen, wollen wir die Urbilder derselben in Nr. 1, 2, 3 und 4 vorführen, welche alle aus der römischen und griechischen Vorzeit stammen. Kopf Nr. 1 (antik) ist z. B. genau das Vorbild für Nr. 5, ein Kopf mit den modernen englischen Locken, die, hinter’s Ohr gestrichen, zu beiden Seiten des Halses länger oder kürzer herabfallen. Nr. 2 mit Diadem und Zopfhalter (Kopfputz einer griechischen Dame bei festlicher Gelegenheit) stimmt genau mit Nr. 8, dem Kopfe der Gemahlin Napoleon’s des Ersten, der Kaiserin Josephine, welcher Kopfputz bereits in den höchsten Kreisen der Pariser Gesellschaft Nachahmung gefunden hat. Nr. 3, wie schon bemerkt, der Kopf der Faustina Antonina, hat dieselben aufgebundenen Zöpfe wie Nr. 9, der Kopf einer modernen Dame. Nebenbei bemerkt, erinnern diese Zöpfe an die aufgebundenen Schweife der weiland „englisirten“ Pferde. Nr. 4, ein griechischer antiker Kopf mit Wellenscheitel und Chignon, ist zweifelsohne das getreueste Muster für Nr. 10, eine Dame von 1867, ebenfalls mit Wellenscheitel, nur etwas verkniffenerem Haarschopf. Nr. 6 ist eine jener allbekannten „Schlußnadeln“, auch „englische“ Nadel genannt, weil man des frommen Glaubens ist, als seien sie eine englische Originalerfindung.
Um Vergebung, meine Theuern, das Original (Nr. 12 mit einem Schmetterling geschmückt) ist mehrere tausend Jahre alt und eine griechische Erfindung. Mit diesen Nadeln befestigte man auf der Schulter oder an der Hüfte die Gewandungen, und weil diese meist lang und schwer waren, waren jene Nadeln auch meist größer, als die unseren, und besaßen eine weit stärkere Federkraft, wie man in der Spirale unserer antiken Nadel sieht. Nr. 13 ist der moderne, für Gang und Füße gleich gefährliche Stöckelschuh oder -Stiefel, den man in eingeweihten Sphären Stiefelette à la Cothurne zu benennen pflegt. Er verdankt seinen Ursprung Nr. 7, dem antiken Cothurn, einer Art hoher, bis an das Schienbein festgeschnürter Schuhe, wie sie ursprünglich, um sich beim Gehen auf unebenem Boden und beim Springen gegen äußere Verletzungen und Verrenkungen zu schützen, von den Hirten und Gemsenjägern auf Kreta, später auch in Lakonien getragen wurden, daher man sie auch der Diana und ihrem Jagdgefolge beilegte. Aeschylus führte diese Fußbekleidung zuerst bei den Schauspielern in der Tragödie ein, daher der tragische Cothurn, wie er Götter- und Heldengestalten zukam, und welcher aus einer vierfach übereinandergelegten Korksohle bestand, die wenigstens vier Querfinger hoch war. Ebenso ist Nr. 11, antike Sandale, das Original für Nr. 16, den Schuh à la Sandale. Vorzugsweise trugen die griechischen Frauen die Sandale, wenn sie sich gegenseitig in ihren Häusern besuchten, und ließen sich nicht selten, wie reiche Türkinnen noch jetzt, durch eine Dienerin ein zweites Paar zum Wechseln im Zimmer oder vor der Thür nachtragen. Nr. 14 zeigt uns ein modernes „Peplum“ mit Schleifchen, Bändchen und verunzierendem Spitzenfirlefanz, gegenüber dem griechischen Urbild (Nr. 15), das mitleidig, wie ein schöner, edler Mensch, auf den mißgestalteten Bruder herabsieht. Nr. 18, ein moderner Kopf mit Chignon im Haarnetz, leitet seinen Ursprung von Nr. 17, einem Haarnetz, wie man es in Spanien, Frankreich und Deutschland im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, namentlich bei Festzügen und auf der Jagd, trug. Nr. 24, der neueste Gesellschafts- und Promenadenhut, welcher überhaupt kein Hut, besser ein Nichts ist, entstand aus Nr. 19, der ebenso einfachen, als reizenden Kopfbedeckung der italienischen Bäuerin oder Winzerin; doch wie wir sehen, lieferten Neuerungssucht und Verbesserungswuth nach dem so malerischen Original die abgeschmackteste Copie. Nr. 20, das moderne Hütchen, welches nur deshalb so tief in die Stirne gerückt wird, damit es hinten um so höher hinausstehen kann, ist eben so verwandter Natur mit Nr. 23, dem Hut aus der Zopfzeit, als Nr. 21, der „Maskenschleier“, hinter den sich ein schlechter Teint und bedenkliche Jahre so gern verstecken, mit einem Ritterhelm, an dem das Visir heruntergelassen ist.
Unter den Vielen, die triftigen Grund haben, sich über die Wendung zu freuen, welche die Ereignisse in Mexico genommen haben, ist Einer, der seines Namens, seines Ranges und seines Alters wegen entschieden den obersten Platz einnimmt. Der Jubel, mit welchem er die Nachricht von dem Tode des Kaisers von Mexico aufnehmen wird (oder vielleicht schon aufgenommen hat), wird groß und ungeheuchelt sein, schade nur, daß er nicht von langer Dauer sein kann, denn das fragliche Individuum zählt bereits über neunzig Sommer. Unter den Indianern, die seine nächste Umgebung bilden und die ihn wie einen Halbgott verehren, geht die Sage, er sei über hundert Jahre alt, und wer ihn gesehen hat, wird auch das nicht für übertrieben halten. Die Wahrheit in diesem, wie in so vielen andern Fällen, wird schwerlich jemals an den Tag kommen, da er, der allein Auskunft darüber zu geben vermöchte, dies zu thun entweder unfähig oder nicht Willens ist.
Aber wenn auch der Tag seiner Geburt der Welt unbekannt ist, sein Name ist es nicht. Viele sprechen ihn heute noch nicht anders als mit Verwünschung aus, und Tausende haben ihn mit ihrem letzten Athemzuge verflucht. Er selbst, als ächter türkischer Pascha, ist vollständig gleichgültig hierüber und es würde ihm eben so gleichgültig sein, wenn er wüßte, jene Tausende hätten ihn in ihr letztes Gebet eingeschlossen. Aber bei all’ dieser Gleichgültigkeit empfindet das leichenartige, mumienhafte Geschöpf, dessen Leben erloschen schiene, wenn es nicht so unheimlich aus ein paar großen starren pechschwarzen Augen glimmte, eine seltsame Freude über den Spitznamen, unter dem ihn ganz Mexico kennt. Er hat sich [728] denselben schon vor einem halben Jahrhundert verdient (und ehrlich dazu, Gott weiß!). Der Name steht an der Spitze unserer Skizze: „Der Panther des Südens!“[2]
Ob das neue Kaiserreich triumphiren würde oder nicht, war für ihn eine Lebensfrage. Der Staat, über den er seit beinahe vierzig Jahren mit unumschränkter Gewalt regiert, grenzt unmittelbar an das Valle de Mexico und der Kaiser Maximilian war sein nächster Nachbar. Seit einem Menschenalter gewöhnt, der Centralgewalt in der Hauptstadt zu trotzen, gleichviel in wessen Händen sie auch ruhte, sah er diesmal dennoch seine Unabhängigkeit mehr gefährdet denn je zuvor. Er verlachte zwar die kaiserliche Autorität, aber das Lachen war etwas erzwungener Art. Es blieb mehr als einmal zweifelhaft, wer von den Beiden zuletzt lachen werde, und der Panther des Südens hat manche schlaflose Nacht gehabt, bevor die letzte Krisis hereinbrach. Er kann dafür jetzt um so ruhiger schlafen. Die Gefahr, von dort her zur Rechenschaft gezogen zu werden, ist vorüber. Wenn er überhaupt jemals irgendwo zur Rechenschaft gezogen werden sollte, so wird es nicht mehr in dieser Welt sein, und was die „andere“ betrifft, so ist der Panther des Südens der letzte Mensch unter der Sonne, der sich im allermindesten darum kümmert.
„Constitutioneller“ Gouverneur eines „freien“ und „unabhängigen“ Staates von mehr als zweimalhunderttausend Einwohnern fast seit der Dauer eines gewöhnlichen Menschenlebens genannt zu werden, ist jedenfalls in sich schon Grund genug, um ein gewisses Interesse seitens seiner Mitmenschen zu beanspruchen.
Dieses Interesse muß noch erhöht werden, wenn wir den Umstand berücksichtigen, daß die also gestellte Persönlichkeit im Stande war, jene Autorität zu behaupten, selbst unter den entgegengesetztesten Einflüssen von den allerverschiedensten Richtungen und unter fortwährender und nicht selten offener und bewaffneter Opposition gegen die Centralregierung der Republik von Mexico. Und dennoch hat er alles dies gethan, und zwar mit dem vollständigsten Erfolge, und hat noch viel mehr gethan, und so groß ist meine Vorliebe für den seltsamen Helden dieser Skizze, daß es mir fast leid thut, einige erläuternde Umstände erwähnen zu müssen, selbst auf die Gefahr hin, den Glanz des Phänomens dadurch in etwas zu verdunkeln.
Der Staat, von dem ich spreche, obgleich er, wie gesagt, an das Valle de Mexico grenzt, ist demungeachtet davon noch schroffer abgetrennt, als es die Sandwichs-Inseln sind von der californischen Küste. Eine ungeheure Gebirgskette, Verzweigungen und Ausläufer des mächtigen Cordilleren-Gebirges, legt sich wie eine Riesenmauer davor und bietet in den mannigfaltigsten Formen, bald als steile, unersteigliche Felsenwände, bald als tief eingeschnittene, unzugängliche Defileen, bald als schroffe Abgründe von entsetzlicher Tiefe, eine Reihe von Hindernissen dar, deren Ueberwindung selbst einem Hannibal zu schaffen machen würde. Es ist der Stil der Großartigkeit und Erhabenheit, den die Natur dort anlegte, und der Charakter von Wildheit und Größe, welcher über der ganzen Scene liegt, ist oftmals erschütternd. Eine Hand voll Menschen, wie hasenherzig sie auch sein mögen, hat immer Gelegenheit, hier den Lorbeer zu verdienen gegen irgend welche eindringende Macht, und wenn diese aus lauter Helden bestände, und wenn Skelete reden könnten (was glücklicherweise nicht der Fall ist), manche Geschichte könnten jene erzählen, die den ewigen Schlaf schlafen am Fuß jener Abgründe, deren Anblick das Blut starren macht.
Der alte „Panther des Südens“ hatte indeß noch einen anderen Bundesgenossen, der mächtiger ist, weil noch mehr gefürchtet, als die Abgründe und Schluchten der Andeskette. Wer jemals das Unglück hatte, von der Stadt Mexico querfeldein nach einem gewissen Hafen des stillen Oceans reisen zu müssen, wird sich gewiß jenes unheimlichen Flusses entsinnen, den er nothwendiger Weise passirt haben muß: ich meine den Papagayo. Derselbe wälzt seine schmutzigen und stinkenden Wässer, wie einer jener mythologischen Ströme der Unterwelt, bald langsam und verdrossen durch wüste, trostlose Ebenen, bald pfeilschnell und mit betäubendem Gebrüll durch tief eingeschnittene Thäler zwischen steilen Felsengruppen, deren dunkle Schatten die öde Wildniß umher noch finsterer und trauriger machen. Die ganze Gegend sieht aus, als ob Columbus sie damals zu entdecken vergessen hätte, und der alte Charon selbst würde nicht schlechter dabei wegkommen, wenn er sie mit dem Styx vertauschte. Den Fluß zu passiren ist gefährlich genug, namentlich bei hohem Wasserstande. Ein paar Bretter auf einige Dutzend Kürbißflaschen gelegt, bilden das einzige Uebersetzungsmittel. Aber so gewagt diese Passage auch sein mag, so ist dies doch nur ein Kinderspiel gegen die eigentliche und wahre Gefahr, die dem Reisenden droht bei seinem verwegenen Beginnen. Wenn es jemals irgendwo eine Gegend gab, auf welcher der Fluch des Herrn zu liegen scheint, so ist es jenes gemiedene Thal, zwischen welchem hindurch der Papagayo seine trüben Fluthen wälzt.
Eine abscheuliche, ekelhafte Krankheit wird in diesem tief eingesenkten Thale geboren. In dem dicken grauen Nebel, der wie ein boshafter Elf über dem Wasser schwebt, lauert ihr Keim verborgen und kriecht von dort aus langsam, aber sicher in die südlich ausmündenden Thäler. Der ganze Staat steht zu ihrer Verfügung, da noch zu keiner Zeit und in keiner Weise irgend welche sanitarische Maßregeln getroffen wurden, um ihren Fortschritt zu hemmen. Da die Krankheit eine ganz außerordentliche Ansteckungsfähigkeit besitzt, so kann es nicht Wunder nehmen, wenn zwei Dritttheile der Bewohner des Staates ihre Opfer sind. Man nennt die letzteren „Pintos“ (Gemalte), und unter ihnen, im ersten Gliede natürlich, steht Se. Excellenz der „constitutionelle“ Gouverneur selbst. Die Krankheit ist in wissenschaftlicher Beziehung eine höchst interessante Erscheinung und schon öfters Gegenstand ärztlicher Studien gewesen. Sie nimmt den ersten Rang unter den sogenannten „Hautkrankheiten“ ein und kann gewiß mit allen an Ekelhaftigkeit wetteifern. Sie fängt mit Zerstörung der Haare am ganzen Körper (den Kopf ausgenommen) an und beginnt dann allmählich die Haut zu färben. Die Färbung ist reich und mannigfaltig wie die Natur selbst. Alle denkbaren Nüancen aller nur möglichen Farbenmischungen stellen hierzu ihr Contingent. Es giebt Pintos, die ursprünglich Neger waren und von deren schwarzer Hautfarbe auch keine Spur mehr zu sehen ist, die aber zum Ersatz für diesen Verlust in allen Regenbogenfarben schillern. Der Ekel und Abscheu, den mir der Anblick dieser Krankheit einflößte, welche dort, Dank dem Beispiel, welches das Staatsoberhaupt selbst giebt, mit der vollständigsten Gleichgültigkeit betrachtet wird, ist unbeschreiblich. Ich vermochte nicht einzuschlagen in die Hand, die mir ein Landsmann mit einem deutschen Gruße bot (dem ersten, den ich seit Jahren hörte); der Mann lebte seit beinahe zwanzig Jahren in jenem Thale und sah aus wie ein Zebra, so gestreift und gefleckt war er über und über. Er lachte nur und meinte: „O, das ist weiter nichts, wenn man es einmal gewöhnt ist!“
Es war im Februar, ein paar Jahre zurück, als ich den „Panther“ zum ersten und zum – letzten Male sah. Ich hatte den Papagayo glücklich überschritten und war im Begriff meinen Weg weiter fortzusetzen, als ich mich unerwartet von einer bewaffneten „liberalen“ Abtheilung von einigen hundert Pintos umringt sah. Der weitsichtige Scharfblick des Commandanten jener gescheckten Schaar hatte etwas Staatsgefährliches in mir gewittert und ließ es sich nicht ausreden, daß ich ein Franzose sein müsse, trotz meines germanischen Gesichtes und amerikanischen Reisepasses. Er überlegte geraume Zeit, was er mit mir thun solle; einfach todtschießen auf ächt „liberale“ Weise oder zum Gouverneur schicken, mochte ohngefähr der Inhalt seines Selbstgespräches sein. Zum Glück [729] für meine Leser wählte er das letztere, und mit einer Cavalerieescorte, auf deren Anzahl ich alle Ursache haben konnte stolz zu sein, galoppirte ich und mein Diener nach der Residenz des Selbstherrschers aller Pintos.
La Providencia (die Vorsehung) ist der ominöse Name der zeitweiligen Residenz des Mannes, der sich während der ungewöhnlich langen Dauer eines seltsam bewegten Lebens niemals sehr um ihre ewigen Gesetze gekümmert hat und schon lange vor dem Schlusse des mexicanischen Unabhängigkeitskrieges in fast all’ die unzähligen Intriguen mexicanischer Politik verflochten gewesen ist. Empörend, in der That, selbst für solche, deren Herz hart wurde beim täglichen Anblick unerhörter Grausamkeiten – wie solche nur in Mexico vorkommen können – sind die zahllosen theils wahren, theils erfundenen Geschichten, die auf seinen Namen laufen. Heute noch flüstern sich Eingeweihte mit leiser Stimme ihre Vermuthungen zu über das plötzliche Verschwinden oder den unerwarteten Todesfall dieses oder jenes Individuums, des einfältigen Geschwätzes des gemeinen, unwissenden Haufens, der dieses unerschöpfliche Thema bis in das Fabelhafte hinausspinnt, gar nicht zu gedenken.
La Providencia sieht nach nichts weniger als einem Palaste aus, sondern gleicht vielmehr einem Rancho. Es war schon spät am Abend, als wir hungrig und müde dort anlangten. Mein armer Diener – Antonio hieß er – sonst so heiter und aufgelegt, ließ traurig den Kopf hängen. Er bildete sich steif und fest ein, daß die morgende Sonne die letzte sein würde, die mir zu sehen bestimmt sei, und daß der thatsächliche Umstand, in meinem Dienste betroffen worden zu sein, auch seine Aussicht, den kommenden Tag zu überleben, zu einer sehr problematischen mache.
Der Gouverneur hatte sich längst schon zur Ruhe begeben; er thut dies, seit langen Jahren schon, stets mit der untergehenden Sonne. Einer seiner Adjutanten, aus dessen runzligem und „gemaltem“ Gesicht vierzig Jahre verwegenen Räuberlebens mir entgegenblickten, nahm den Rapport des Commandanten meiner Escorte entgegen nebst einer schriftlichen Weisung des Befehlshabers der Papagayo-Station.
Der „Panther“, auch hierin jener ungeselligen Bestie nicht unähnlich, deren Namen er mit solchem Stolze trägt, ist nicht eben berühmt wegen seiner Gastfreundschaft. Selbst wenn ich sein eingeladener Gast gewesen wäre, statt sein Gefangener zu sein, so hätte ich dennoch für meine und meines Dieners Leibes Nothdurft und Nahrung selbst zu sorgen gehabt. Zum Besten derjenigen, die sich des unbeneideten Vorzuges erfreuen, in La Providencia weilen zu dürfen – gleichviel ob „eingeladen“ oder nicht – ist eine Herberge gegenüber dem Residenzgebäude des Staatsoberhauptes errichtet, woselbst den also Bevorzugten gegen „liberale“ Preise die nothwendigen Lebensmittel und Getränke verabreicht werden. Da der Wirth jenes Gasthofes ein naher Verwandter der obersten Gottheit ist, so hat letztere es ganz in ihrer Gewalt, das Geschäft des „Gevatters“ im Schwunge zu halten, denn es dürfte ein etwas gewagtes Unternehmen sein, einer „Einladung“ nach dem Hauptquartiere nicht bereitwillige Folge leisten zu wollen.
Ich lag noch zu Bett, als man mir bedeutete, daß es Zeit sei, Sr. Excellenz meine Aufwartung zu machen, und eine halbe Stunde später stand ich in Person vor ihm. Obgleich ich damals nicht die Hälfte von dem wußte, was ich jetzt von ihm weiß, so war doch selbst dieses Wenige mehr als hinreichend, um meinen Puls rascher klopfen zu machen, als ich mich Angesicht zu Angesicht mit dem „Panther des Südens“ erblickte.
Wie übertrieben und fabelhaft auch viele Gerüchte sind, welche über den alten Panther umlaufen, so viel steht fest, daß, nach Abzug aller ausschmückenden Romantik, noch eine ziemlich nette Summe an Thatsachen übrig bliebe, um ein tête à tête mit dem Gouverneur als ein verhängnißvolles Begegniß erscheinen zu lassen. Derselbe hat ja noch nie vor einem Mittel zurückgebebt, das seiner Macht und seinem Geldbeutel Erfolge versprach. So sind unter Andern die erheblichen Zolleinnahmen zweier Seehäfen niemals an das Finanzdepartement nach Mexico abgeführt worden, sondern Jahr aus Jahr ein mit je einem Reinertrag von einmalhundertundfünfzigtausend Thalern seit fast einem halben Säculum in des Panthers Taschen geflossen. Ueberhaupt hat es diesem wie jedwedem Gouverneur eines mexicanischen Staates nimmermehr an Wegen gefehlt, die „Regierten“ nach Herzenslust zu plündern. Der Anblick einer Schwadron betrunkener „Pintos“, die mit wüsten Geschrei und geschwungener Waffe vor einem industriellen Etablissement oder im Hof einer Plantage aufreiten; die entschlossene und bündige Weise, mit welcher ihr Commandant seine Forderung im Namen des allmächtigen Gouverneurs präsentirt, ihre augenblickliche Tilgung mit gespannter Pistole – à la Gil Blas – einschärfend: das ist sicher Veranlassung genug für irgend welchen Christen, sich von seinem sauer verdienten Gelde zu trennen, was auch seine Ansichten über die „Constitutionalität“ des ganzen Verfahrens sein mögen. Dergleichen Gelderpressungen von Seiten der Behörden gehören in ganz Mexico zu den alltäglichen Vorkommnissen, indeß dem Pantherstaate gebührt meines Erachtens in dieser Beziehung unbedingt die Krone.
Daß der Gouverneur auf solche Weise bereits lange sein Schäfchen gehörig auf’s Trockene gebracht hat, ist selbstverständlich, zumal die Ausgaben für Schulen, Hospitäler und andere öffentliche Institute unbekannte Größen sind und den Beamten meist überlassen wird, sich selbst, wie sie eben können, bezahlt zu machen.
Vor mir in einer Hängematte ausgestreckt, mit geschlossenen Augen und am ganzen Körper mit Binden und Bandagen umwickelt, schaukelten die armseligen Ueberbleibsel eines ehedem starken und gewaltigen Mannes, vor einem halben Jahrhundert noch das immer willige Werkzeug Hidalgo’s, Morelos’ und Anderer glorreichen Andenkens. Wenn jene Ungeheuer in Menschengestalt, die Pioniere der famösen „mexicanischen Unabhängigkeit“, keinen andern Henker finden konnten zur Vollstreckung ihrer teuflischen Bluturtheile, so brauchten sie nur nach ihm – dem Meuchelmörder, welcher einst seinen Herrn, einen spanischen Obersten, auf der Landstraße durch den Rücken geschossen hatte – zu schicken, um des pünktlichsten Gehorsams sicher zu sein. Sein Eifer war von jener Art, die nicht zu übertreffen ist; hinter ihm blieben seine würdigen Sub-Agenten weit zurück, deren Messer, wie rasch sie auch waren, ihm noch immer viel zu langsam arbeiteten, daher er nicht selten den executiven Theil ihres Blutgeschäftes in seine eigenen unheiligen „gemalten“ Hände nahm.
Ich habe selbst vor einem Abgrunde von ein paar Tausend Fuß Tiefe gestanden – die Quebrada genannt – der in den verflossenen Zeiten der Revolution in unserm Staate berüchtigt war als Schauplatz jener entsetzlichen heimlichen Abschlächtereien spanischer Kriegsgefangener. Jene grausamen Hinrichtungen waren im Allgemeinen in hohem Grade unpopulär bei der überwiegenden Mehrzahl des mexicanischen Volks und gingen nur von den Leitern der revolutionären Bewegung aus, den Septembriseurs von Mexico, denen sie zu ihren Zwecken unentbehrlich erschienen. Sie mußten aus dieser Ursache des Nachts und in abgelegenen Gegenden vor sich genommen werden. Der „Panther des Südens“, dem Eifer und guten Willen einiger seiner Unter-Agenten mißtrauend, die mit der summarischen Execution einiger Hundert spanischer Kriegsgefangener beauftragt waren, war einstmal selbst an Ort und Stelle erschienen. Die wehrlosen Opfer waren – an Händen und Füßen gefesselt – in Reih und Glied, Front nach dem Abgrund, aufmarschirt. Ueber seine säumigen Helfershelfer erzürnt, schleuderte er dieselben unwillig bei Seite und seinen eigenen mit Juwelen besetzten Dolch ziehend, ließ er dessen funkelnde Klinge rasch und in geschäftsmäßiger Weise über die Halsadern jener Unglücklichen gleiten, deren blutende und noch zuckende Körper er selbst mit den Füßen in den Abgrund stieß. Jener Platz ist gemieden bis auf den heutigen Tag von den wenigen armen und unwissenden Menschen, welche etwa in der Nähe dort wohnen. Sie meinen, es spuke dort des Nachts.
Die Augenlider des Gouverneurs blieben geschlossen, als ich eintrat, und er würdigte mich noch immer keines Blickes, nachdem ich bereits eine geraume Weile schweigend vor ihm gestanden. Zwei Indianer, die neben ihm auf dem Boden kauerten, beobachteten jede meiner Bewegungen.
„Was hat Sie veranlaßt, gerade diese Route zu wählen?“ sagte er endlich, langsam und mit einer Stimme, die sich mühsam und heiser aus seiner Kehle rang; „man wird Ihnen vermuthlich in der Hauptstadt gesagt haben, daß ich keine Fremden im Lande leiden mag.“
Seine Augen – offen jetzt – ruhten starr und unbeweglich auf den meinen. Was für Augen das waren! Ihre starre Unbeweglichkeit, die kalte, schlangenartige, leichenhafte Ausdruckslosigkeit ihres gleichgültigen und dennoch so finstern und grausamen Blickes war grauenerregend. Ich sagte ihm, daß ökonomische [730] Rücksichten mich veranlaßt hätten, den kürzesten Weg nach meinem Bestimmungsorte, durch seine Domainen, dem kostspieligen Umwege durch die vom Feinde besetzten Provinzen vorzuziehen. (Ich mußte nothgedrungen seine politischen Ansichten für dieses Mal adoptiren.)
„Es ist gut,“ sagte er, „aber in Zeiten, wie die gegenwärtigen, kann man nicht vorsichtig genug sein; führen Sie Briefe bei sich?“
Ich ärgerte mich beinahe, daß der alte Mann mich für so einfältig hielt, um eine solche Frage an mich zu richten, aber ich hütete mich wohl ihm dies in’s Gesicht zu sagen. Ich führte in der That ein paar Zeilen bei mir, allein abgesehen davon, daß sie mit chemischer Tinte und in Chiffern geschrieben waren, so war ich ihrer doch auf jeden Fall soweit sicher genug, um selbst der Nase des alten Panthers des Südens Trotz bieten zu können. Ihr Inhalt, dessen war ich gewiß, würde gerade ihn nicht wenig interessirt haben; aber aus Gründen, die auf der Hand liegen, durfte ich seiner Neugier für dieses Mal keinen Vorschub leisten.
„Wenn ich dergleichen bei mir führte,“ war meine Antwort, „so würden selbige bereits um diese Zeit längst in den Händen Ew. Excellenz sein, da sowohl ich als mein Diener an der Papagayo-Station auf das Genaueste durchsucht wurden.“
Er erwiderte nichts, aus jenen geisterhaften Augen, die nur einen Augenblick zuvor noch so starr und unbeweglich schienen wie die einer Leiche, schoß indeß – gleich einem vergifteten Pfeile – ein Blick voll übler Vorbedeutung nach dem Sprecher.
Ich war entschlossen, jenen Blick auszuhalten, und that es. Aber ich vermochte nicht gänzlich mich eines seltsamen und unheimlichen Gefühles zu erwehren, das mir das Blut nach dem Herzen trieb und meine Hände so kalt werden ließ wie Eis. Es ist jedenfalls ein gefährlicher Zeitvertreib mit einer Brillenschlange zu spielen.
„Sie sprechen das Spanische auffällig correct,“ fuhr er langsam fort, „für einen Angehörigen der Nation, der Sie zuzugehören vorgeben. Wo lernten Sie das?“
Es gab auf der weiten Welt keinen erdenklichen Grund, weshalb ich Sr. Excellenz die gewünschte Auskunft hierüber hätte vorenthalten sollen, und deshalb ertheilte ich ihm dieselbe bereitwilligst.
„Wie lange waren Sie in der Hauptstadt? – nur kurze Zeit, eh?“
„Haben Sie diesen … diesen … Maximiliano … selbst gesehen?“ Es schien, als ob ihm der Name fast in der Kehle stecken bliebe.
Es war mir unmöglich, zu entscheiden, ob meine Antworten auf jene Fragen mich in seiner guten Meinung erhöhten oder nicht. Sein von unzähligen Runzeln gefurchtes, über und über beflecktes, leichenartiges Gesicht blieb völlig unbeweglich wie das einer Mumie, und er beehrte mich auch nicht zum zweiten Male mit einem jener vergifteten Blicke aus seinen starren, stechenden Augen.
„Sie werden so lange hier bleiben,“ sagte er endlich nach einer geraumen Pause, „bis ich entschieden habe, auf welchem Wege Sie Ihre Reise am sichersten fortsetzen mögen; mittlerweile wird man dafür Sorge tragen, daß es Ihnen hierorts an nichts gebreche.“ Eine jener raschen, beredsamen Bewegungen der Hand, wie sie Mexicaner so gut zu machen verstehen, war das Zeichen, daß meine Audienz zu Ende sei.
„Feigling und Meuchelmörder, verflucht seist Du auf ewig!“ waren die Worte – dieselben, mit denen ihm einst der erwähnte spanische Oberst sterbend geflucht – die in meinen Ohren klangen, als ich mich tief vor Seiner Excellenz dem ‚constitutionellen‘ Gouverneur eines ‚freien‘ und ‚unabhängigen‘ Staates verbeugte und schweigend das Zimmer verließ.
Ein ängstlich forschender Blick von unheimlicher Wildheit und unergründlicher Tiefe aus einem Paar wunderschöner, tiefschwarzer Augen von einem geheimnißvollen und völlig unverständlichen Ausdruck begegnete mir, als die Thür hinter mir geschlossen ward. Ich stand einen Augenblick wie versteinert. Ein weibliches Wesen von außerordentlicher Schönheit war dicht vor mir. Die marmorartige Blässe ihres feingeformten Antlitzes gab ihr fast das Ansehen einer Antike. Selbst einige leichte Spuren jener furchtbaren Krankheit vermochten die imponirende Schönheit ihrer classischen Formen nur wenig zu beeinträchtigen. Der Zeigefinger ihrer eleganten weißen Hand lag auf ihrer bleichen Lippe. Sie sprach mit einer Hast und Aufregung, welche ihre Worte fast unverständlich machten, und der Ausdruck namenloser Angst, der in ihrem ganzen Wesen lag, war peinlich mit anzusehen.
„Seien Sie vorsichtig und wachsam!“ sagte sie. „Man trachtet meinem Vater nach dem Leben, mir und Allen unseres Geschlechtes; man wird Sie ebenfalls ermorden. Seien Sie wachsam und schlafen Sie nie! Ich selbst wache immer, Tag und Nacht! – Essen Sie von nichts, von dem Andere nicht vorher schon aßen. Ich werde Sie warnen, wann es an der Zeit ist! St! fort jetzt! Jemand schleicht hier! Gedenken Sie meiner Worte.“
Ihr feines Ohr hatte das Geräusch nahender Fußtritte eher als das meine vernommen, und bevor ich mich dessen versah, war sie wie ein Gespenst verschwunden. Als ich mich umwandte, begegnete mir der mißtrauische Blick desselben Adjutanten, der mich den Abend vorher in La Providencia empfangen hatte. Ich konnte in seinen Augen lesen, daß er das davoneilende Mädchen bemerkt hatte, und fragte ihn mit all’ der Gleichgültigkeit, die mir im Augenblicke zu Gebote stand, wer die Dame sei, welche in solcher Eile zu sein schiene.
„Die Tochter des Gouverneurs,“ war seine Antwort; „sie ist wahnsinnig, wie Sie ohne Zweifel bemerkt haben werden.“
Hatte der grauenvolle Fluch jenes gemordeten Mannes schon seine Wirksamkeit begonnen? –
Europa ist in Bezug auf Wärmeversorgung der bevorzugteste Theil der Erde. Es genießt zu allen Jahreszeiten, zu allen Monaten sogar, eine größere Portion von Wärme, als ihm nach seinen geographischen Breitegraden zukommen und gebühren würde. Diese Thatsache wird dem Gelehrten durch die von Humboldt eingeführten Isothermen (Linien gleicher Wärme), insbesondere durch Dove’s sogenannte Isanomalen in den physikalisch-geographischen Atlanten von Bergmann, Dove, Schmid u. A. sichtlich vor Augen gelegt. Für den Laien genügt es schon, die Witterungs- und Vegetationserscheinungen europäischer Orte oder Landbezirke mit denen anderer, auf gleicher geographischer Breite liegender Orte und Länder zu vergleichen. So z. B. baut man in Norwegen bis zum Nordcap noch Feldfrüchte und das Meer friert dort niemals zu; im mittleren und südlichen Norwegen gedeiht sogar noch Obst, Getreide, lebhafte Blumenzucht; während gegenüber in Grönland und Baffinsland auf gleicher geographischer Breite das ganze Jahr hindurch Alles im Eise begraben liegt. So entspricht das grüne England dem eisbedeckten Labrador in seinen Breitegraden; Südfrankreich entspricht Canada; Lissabon und Palermo liegen etwa in gleicher Breite mit der Bundesstadt Washington etc. Welch ungeheure Unterschiede in der Jahreswärme und der Pflanzenproduction!
Die Ursachen dieses günstigeren Klimas, die Quellen der größeren Wärme von Europa sind drei: der Gegenpassat, die nordafrikanische Wüste und der Golfstrom. Wir betrachten sie alle drei einzeln.
1. Der Gegenpassat entsteht durch einen warmen Luftstrom, welcher von den erhitzten Flächen der unterm Aequator liegenden Erdtheile, den sogenannten Tropenländern, auf welche täglich zwölf Stunden lang die Sonnenstrahlen senkrecht fallen, unaufhörlich emporsteigt. Eigentlich müßte dieser Luftstrom sofort direct nordwärts eilen, um dort die kalte Luft zu ersetzen, welche von den Polargegenden her fortwährend nach Süden strömt, um jene aufgestiegene Luft zu ersetzen: – etwa wie in unseren Oefen fortwährend kalte Luft durch’s Ofenloch einströmt, um die durch’s Ofenrohr in die Esse entweichende warme zu ersetzen. Weil aber die Erde am Aequator sich mit der rapiden Schnelligkeit von [731] fünftausendvierhundert Meilen binnen vierundzwanzig Stunden von West nach Ost dreht, und an dieser Drehung auch ihr Luftmantel Theil nimmt: so kommt jener aufsteigende warme Strom in unseren gemäßigten und kalten Gegenden, die sich langsamer drehen, mit einem von West nach Ost gerichteten Schwunge an, und erscheint bei uns demnach als Südwest- oder Westwind – der Zephyr der Dichter; er wird, weil er vom Aequator kommt, Aequatorialstrom genannt. Der ihm entgegenkommende, oben erwähnte kalte Polarstrom verwandelt sich aus entgegengesetztem Grunde – weil ihm die Erde in der Aequatorgegend mit jener rapiden Schnelligkeit entgegengerollt kommt – in einen Nordost- und Ostwind, den sogenannten Passatwind. Deshalb heißt eben jener andere, der warme, Antipassat oder Gegenpassat, oder auch, weil er oberhalb des Letzteren hinzufließen pflegt, der obere Passat. Dieser ist es nun, welcher uns bei der Heizungsfrage am meisten interessirt. Denn er führt uns und anderen nördlichen Gegenden nicht nur warme Luft zu, sondern auch Feuchtigkeit, welche darin als klarer Dampf (Wassergas) gelöst, bei uns sich als Wolken, Nebel, Regen, Schnee etc. niederschlägt. Bei solchen Niederschlägen aber wird allemal eine bedeutende Wärmemenge frei, welche vorher gebunden war, um das aufgelöste Wasser in Gasform zu erhalten. Und wenn uns der Regen oft noch so schauerlich vorkommt: immer hat sein Niederschlagen doch eine Portion Wärme frei gemacht, welche unseren Gegenden zu Gute kommt. So ist es begreiflich, daß an allen Erdtheilen (Continenten) die westlichen Küsten und deren Nachbarschaft wärmer, feuchter und fruchtbarer sind als die östlichen. Und darunter zeichnet sich abermals Europa aus, wo in der Regel die Tage mit westlichen Winden, also mit Aequatorialströmung der Luft, zahlreicher sind, als die anderen drei Windgattungen zusammengenommen. Diese Quelle der natürlichen Heizung wird Europa wohl nie verlieren, so lange es Luft und Wasser auf der Erde geben und der Erdball sich von West nach Ost drehen wird.
2. Die nordafrikanische Wüste, die Sahara, stellt ziemlich zu allen Jahreszeiten, besonders aber in der Sommerhälfte des Jahres, einen von Sonnenstrahlen erhitzten, selten von Wolken oder Regen ein wenig abgekühlten Flächenraum dar, welcher der ostwestlichen Länge von Europa fast gleich kommt und mit ihr parallel läuft. Man hat dieselbe mit einem glühendheißen Ofen verglichen, welcher Europa von Süden her heize. Wenn dies auch nicht wörtlich zu nehmen ist, so ist doch nicht zu leugnen, daß diese enorme heiße Fläche manchmal trockenheiße Luftströme nach Europa herübersendet, welche als Landscirocco in Italien, als trockne Föhnwinde in der Schweiz wohlbekannt sind. Auch saugt diese heiße Fläche, um die über ihr aufsteigende, durch Hitze verdünnte Luft – nach dem oben erwähnten Beispiel unserer Oefen – zu ersetzen, fortwährend kühle Luft aus Europa an sich, welche dann, besonders in den Frühlingsmonaten, mit Heftigkeit über das mittelländische Meer hinüber strömt; ein Luftstrom, der besonders in Südfrankreich unter dem Namen Mistral als heftiger und kalter nördlicher Wind wohl bekannt ist. Dadurch aber müssen in der das gemäßigte Europa umgebenden Lufthülle immer Lücken entstehen, in welche der warme obere Passat (Aequatorialstrom) hinabstürzt und dem Erdboden seine befruchtende feuchte Wärme mittheilen kann. Es ist daher ein auch von Dove in seiner neuesten Schrift über Eiszeit, Föhn und Scirocco anerkannter Satz der Witterungskunde, daß da, wo die tropische Zone ein Festland ist, die darüber, nach dem Pole zu, liegende gemäßigte und kalte Zone eine erhöhte Temperatur erhält. Wenn man den Satz umkehrend, sich fragt: wie würde es in Europa aussehen, wenn statt der Wüste Sahara die Stelle Nordafrikas mit Wasser bedeckt wäre? so wird man finden, daß alsdann das Klima Europas bei weitem kühler sein würde, als jetzt.
Nun haben die Geognosten schon lange vermuthet, daß in der That in einer zwar vorgeschichtlichen, aber geologisch noch ziemlich neuen Zeit – etwa vor hunderttausend Jährchen – an der Stelle von Nordafrika wirklich ein großes Meer gelegen hat. Eine vor wenig Jahren von den schweizerischen Naturforschern Escher von der Linth und Desor im Gefolge des von seiner Regierung dazu beauftragten französischen Naturforschers Martins unternommene Reise nach dem Süden von Algerien hat unwiderleglich dargethan, daß dort die Wüste aus einem trocken gelegten, wenig über das jetzige Mittelmeerniveau gehobenen, alten, salzdurchtränkten Seeboden besteht, in welchem sich die Schalen von solchen Muscheln eingebettet finden, welche sich noch jetzt an den brackigsalzigen Küsten des Mittelmeeres lebend vorfinden. Darauf fußend, haben die genannten Herren, zuerst Escher von der Linth, die Ansicht aufgestellt, daß zu derjenigen Zeit, wo Nordafrika von Meeresfluthen bedeckt war, die Wärme in den Alpen so gering gewesen sei, daß sich jene mächtigen Gletschermassen bilden konnten, welche fast das ganze Schweizerland bergehoch überdeckten und ihre Endigungen (Moränen und Wanderblöcke) bis Solothurn, Neufchatel, ja bis Würtemberg, hoch über den Genfer- und Bodensee hinweg erstreckten: – die sogenannte Eiszeit. Wenn nun auch dieser Hypothese unser Altmeister der Meteorologie, Dove, in oben genannter Schrift entgegengetreten ist und namentlich die Ansicht, daß der schneeschmelzende Föhn der Schweizergebirge, der Schneefresser, wie man ihn dort nennt, aus Afrika abstamme, widerlegt hat, so bleibt doch für unser heutiges Thema unbestreitbar fest stehen, daß Europa einen Antheil seines günstigen, wärmeren Klimas dieser Nachbarschaft der nordafrikanischen Wüste zu verdanken hat. Dies würde aufhören, wenn wieder Wasser über jene Fläche verbreitet wäre.
3. Der Golfstrom, unsere dritte Wärmevermehrungsursache, kommt den Europäern fast ungerechterweise zu Gute. Er besteht aus den warmen Fluthen, welche die tropische Sonnenhitze täglich in den Aequatorialgegenden des atlantischen Oceans erzeugt und welche – abermals deshalb, weil die festen Erdgebilde sich rascher als die flüssigen drehen – in der Richtung von Ost nach West um den Erdball herumfließen würden, wenn sich nicht Amerika wie ein langer Damm dem entgegenstellte. Dadurch aufgefangen, werden sie zum größten Theil in den mexicanischen Meerbusen hineingelenkt, drehen sich in diesem immer mehr erwärmt herum und pressen sich endlich, als hoch aufgebäumte Warmwasserfluth (bis zu 24° R. erwärmt), zwischen Florida und den Bahamainseln hindurch, um nach Nordosten hinzuströmen, woraus sie dann theils dem Polarmeer zwischen Spitzbergen und Norwegen, theils den verschiedenen westlichen Küsten Europa’s, besonders Irland, Scandinavien, Frankreich, dem Canal und der Nordsee, ihre durch den langen Lauf noch keineswegs ganz abgekühlten Fluthen als Wärmespender zusenden. Sie sind es vorzugsweise, welche den Winter im westlichen Europa so mildern, daß dasselbe zur Culturstätte werden konnte. Je weiter man nach Osten in Europa kommt, desto empfindlichere Winterkälte findet man, mit heftiger Sommerhitze abwechselnd: das sogenannte continentale Klima.
Dieser erwärmende Golfstrom hat aber keineswegs von jeher Europa bespült. Es gab eine Zeit, wo er zwischen Nord- und Südamerika, zwei damals noch getrennten Welttheilen, hindurch in den pacifischen Ocean (die sogenannte Südsee) abfloß. Der berühmte deutsche Reisende Moritz Wagner hat gefunden und der nach ihm dahin gereiste Prof. von Seebach hat bestätigt, daß die Stelle, wo dies geschah, die jetzige Landenge von Panama, ein erst seit verhältnißmäßig jungen Zeitperioden durch vulcanische Ausbrüche emporgehobener Meeresboden ist, dessen Schichten noch dieselben Thier- und Pflanzenreste enthalten, welche im heutigen Meeresgrund an denselben Küsten gefunden werden; daß die Gebirgsketten (Cordilleren) von Süd- und von Nordamerika ehemals jede für sich bestanden haben und im jetzigen Centralamerika durch eine Meerenge von einander geschieden wurden. Damals konnte also der Golfstrom nicht von Amerika nach Europa zurückgeworfen werden, sondern er strömte in die Südsee hinüber. Damals floß längs der europäischen Küsten kaltes Polarwasser dem Süden zu. Kein Wunder, daß damals Scandinavien und Schottland total vergletscherten (wovon die Spuren noch allenthalben an ihren Felsen zu finden sind) und damit einer Eiszeit anheimfielen, wo an ihren Küsten Organismen lebten, welche man jetzt nur noch in Spitzbergen lebend findet, wie die neueste schwedische Naturforscher-Expedition nach Spitzbergen gefunden hat. Kein Wunder, daß damals in Frankreich und bis nach Würtemberg hinein ein kümmerliches, den Lappländern ähnliches Volk zusammen mit Rennthieren lebte. (Karl Vogt’s Küstenlappen, Gartenlaube 1864, S. 638 ff.)
Nun ist gewiß von hohem culturgeschichtlichem Interesse die Frage: Werden wir auf diese Heizungsquelle, den Golfstrom, immerdar für Europa rechnen können? Diese Frage muß aber, vorliegenden Umständen nach, leider verneint werden. Es wird, meinen wir, eine Zeit kommen, wo der Golfstrom einen großen Theil der europäischen Küsten nicht mehr bespülen kann, weil er [732] nach und nach von denselben abgelenkt wird. Um dies zu erläutern, erlauben wir uns eine kleine Abschweifung.
Alle wärmeren Meere sind von zahlreichen Thieren aus verschiedenen Thierclassen bevölkert, welchen das Geschäft obliegt, die im Meerwasser aufgelösten Kalksalze zu verarbeiten und in Form fester Gesteine abzulegen, erst Riffe, Sandbänke, endlich aber hohe Felsen, wie die Muschelkalkfelsen unserer Alpen und die Kreidefelsen der Insel Rügen bildend. Zu diesen Felsenfabrikanten des Meeres gehören die Korallen, die Muschelthiere, vor Allem aber eine Unzahl mikroskopischer Geschöpfchen, welche um ihren nackten, schleimig-weichen Leib eine siebartig durchlöcherte Kalkschale bilden und daher den Namen Foraminiferen erhalten haben. Letztere sind es, welche im Laufe der Jahrtausende die hohen Kreidefelsen von Rügen (Stubbenkammer), Moen, Altengland und der Normandie u. a. m. fast ganz allein aufgebaut haben. Das Mikroskop zeigt, daß die Kreide fast nur aus ihren hinterlassenen Kalkschalen besteht. Alle diese Geschöpfe gedeihen am Besten da, wo das Meerwasser warm, daher an Kalksalzen reicher, und wo es in lebhafter Bewegung ist. Wie rasch ihre inseln- und riffebildende Thätigkeit vor sich geht, lehrt ein Beispiel, welches officiell beglaubigt ist.
Die sogenannte Torres-Straße, eine den warmen Strömungen des pacifischen Oceans ausgesetzte Meerenge zwischen Neuholland, der Australia der Engländer, und Neuguinea, enthielt bei ihrer Entdeckung im Jahre 1606 nur sechsundzwanzig kleine Koralleninseln und war fast überall für Schiffe durchfahrbar. Jetzt enthält diese Straße einhundert und sechszig solche Inseln, ist nur noch auf wenigen Stellen für Schiffe passirbar, und die britische Admiralität hat 1858 bekannt gemacht, daß diese Straße binnen zwanzig Jahren (also 1878) gar nicht mehr werde durchfahren werden können.
Ganz die gleichen Verhältnisse bietet die weit nach Süden hinab in den mexicanischen Meerbusen hineinragende Halbinsel von Florida dar. Auch sie ist ein Erzeugniß jener Kalkfelsfabrikanten, der Korallenthierchen, Muscheln und Foraminiferen. Sie setzt sich fort in einem langen Streifen von Koralleninseln und Riffen, den Florida-Riffen, Tortugas- und Bahama-Inseln, zwischen welchen sich, wie gesagt, der Golfstrom hindurch zwängt. Je heftiger er fließt, je wärmer er ist, desto fleißiger arbeiten jene Thierchen. Ein Stück Insel nach dem andern setzt sich an. Die Halbinsel Florida wird und muß sich immer mehr verlängern und eine immer länger werdende Barre, einen Damm gegen den Golfstrom bilden. Wie wird dies auf Europas Wärmeverhältnisse zurückwirken?
Zu Beantwortung letzterer Frage haben wir, wie uns scheint, ein handgreifliches Beispiel an der Geschichte von Grönland vor Augen. Als dieses Land vor achthundertundachtzig Jahren entdeckt wurde, zeigten seine Süd- und Ostküsten so schöne grünende Gründe und Thäler, daß es davon seinen Namen empfing und zu lebhafter Colonisirung anlockte. Noch vierhundertundzwanzig Jahre später zählte die Ostküste einhundertundneunzig Höfe und Dörfer. Jetzt ist dieselbe gänzlich vereist; die ehemaligen Wiesen und Höfe liegen unter Gletschern begraben, die Meerbusen sind durch Eis gesperrt. Auch die Süd- und Südwestküste werden immer rauher, immer unbewohnbarer. Woher diese Veränderung des Klimas? Wir können keine andere Erklärung finden, als daß dazumal der Golfstrom noch so weit nördlich reichte, um die Ostküste Grönlands eisfrei und ihre Buchten (Fjords) grünend zu erhalten. Was kann ihn abgelenkt haben, wenn nicht die Verlängerung der Festlandbildung an der Spitze von Florida? Und wenn diese im Laufe der Jahrhunderte noch mehr zunimmt, wenn immer mehr Riffe und Inselchen im Bahama-Canal durch die Arbeit der Korallen- und anderer Kalkthierchen zusammengeschweißt werden, so steht allerdings zu befürchten, daß jener erwärmende Strom nach und nach für Irland, für den Norden Scandinaviens, für die Shetlandsinseln und für Nordschottland verloren gehen wird. Dann werden sich daselbst die Eismassen vermehren und von der Sommersonne nicht in gleichem Maße wieder abgeschmolzen werden können. Die Gletscher werden die Fjorde (Meerbusen) Norwegens ausfüllen und ihre Eisblöcke in das Meer absetzen. Eisigkalte Fluthen werden von da südwärts nach den Küsten des mittleren Europas herabkommen, werden unsere Sommer verschlechtern und unsere Winter verlängern. Die mittlere Jahreswärme wird in Europa geringer sein und damit (nach Decandolle) die Cultivirbarkeit mancher edleren und nutzbaren Gewächse beschränkt werden. Unsere Cultur wird rückwärts gehen.
Wer weiß übrigens, ob es alsdann noch schade darum sein wird! Denn wenn es so fortgeht, daß die culturtragenden Staaten Europas sich immer mehr in Militärstaaten umwandeln, den arbeitstüchtigsten und heirathsfähigsten Theil der männlichen Bevölkerung ausheben und durch Kriegführung verbrauchen, so wird früher, als der Golfstrom wegbleibt, in Europa eine Verödung, Entvölkerung und Verwilderung eintreten, eine sittliche und staatliche Eiszeit, wie sie überall da zu finden ist, wo Soldatenvölker Jahrhunderte lang geherrscht haben.
Wenn nicht binnen jetzt und zwei Monaten, wenn der Herbstregen die festesten Wege und Straßen grundlos macht, die Zeitungen über Unglücksfälle und Einstürze auf der neuen Brennerbahn Bericht erstatten, so will ich gern ein falscher Prophet heißen. In der Nacht sieht allerdings die Brennerbahn, an welcher noch zahllose Arbeiter bei Fackel- und Feuerbeleuchtung ununterbrochen arbeiten, mehr pittoresk als beunruhigend aus. Die in Innsbruck eben erschienenen photographischen Ansichten dieses merkwürdigen Baues und seiner Umgebung lassen das Gefühl der Sicherheit jedoch eben so wenig aufkommen, als dies bis jetzt noch in den Gemüthern der Directoren eingezogen sein muß, da die Fahrten nur im langsamsten Tempo und selbst mit zeitweiliger Unterbrechung vor sich gehen. Wenn die Herbstregen die unfertigen Dämme und Schienenwege unterwaschen haben, so dürfte die Gefahr wesentlich erhöht werden. Warum wartet man nicht, ehe man ein so kolossal großartiges Werk dem Publicum übergiebt, bis dasselbe vollständig fertig ist? Wenn dies der Fall sein wird, so dürfte es kaum einen Weg geben, der an so großartigen, wild romantischen Naturschönheiten vorüber führt. Riesige Gletscher und tiefe Abgründe, in denen die reißendsten Gebirgswasser schäumen, das prachtvolle Etschthal mit seiner wundervollen Umgebung, die bezaubernd liegenden Städte Trient, Bozen, Brixen fliegen an uns vorüber, ein Panorama so reich und abwechselnd, wie es nur allein die Apenninenbahn von Bologna nach Florenz, freilich in noch weit größerem Maßstabe, bietet.
Der alte Zug nach Italien wird die Nordländer in Schaaren über die Brennerbahn führen; daß aber das neue Bauwunder, von dem wir unsern Lesern eine getreue Abbildung mittheilen, die Zahl derer, welche sich mit dem Besuche Oberitaliens begnügen, bedeutend vermehren wird, ist keine Frage.
Die angenehmste Stadt Oberitaliens bleibt für den Fremden immer Mailand. Selbst die Residenz- und Kunststadt Florenz bietet nicht die Fülle von Genüssen und Annehmlichkeiten der lombardischen Hauptstadt. Die Scala, das schönste und großartigste Theater Europas, ist zwar, zum großen Mißvergnügen der Einwohner und zur Verzweiflung der sechshundert Familien, die von diesem Institut leben, dieses Jahr geschlossen, da die Kammern für dasselbe, sowie für die übrigen Hauptbühnen Italiens in Neapel und Florenz, die bisherigen Zuschüsse verweigert hatten, ohne welche die Erhaltung dieser Bühnen unmöglich ist. Gleichsam als Entschädigung für diese Entbehrung wurde am 17. September dieses Jahres die Victor-Emanuel-Galerie eröffnet, ein Bauwunder, welches in Europa nicht seines Gleichen hat. Was die reichste Phantasie, die vollendetste Ausführung und die großartigsten Mittel dazu, im Verein mit allen schönen Künsten der Bau-, Bildhauer- und Malerkunst, der Mechanik und Erzgießerei zu leisten im Stande sind, das bietet sich hier dem staunenden Auge des Bewunderers dar. Es ist daher begreiflich, daß seit der Eröffnung eine unzählige Menge in diesen Prachträumen sich drängt und wogt. Und doch ist das, was dem Publicum bis jetzt geboten wurde, nur ein Theil des Projectes, welches in seiner Vollendung den merkwürdigsten Bauten der ruhmvollsten Vergangenheit Italiens [733] wird an die Seite gestellt werden können, wenn es, unterstützt von den Fortschritten der Technik, selbe nicht an Glanz überstrahlt.
Ob dies Riesenwerk nicht für eine Stadt, wie Mailand, zu groß, zu reich und vor Allem zu kostspielig sein wird, ob die Unternehmer nicht als die ersten Opfer fallen, ist freilich eine andere Frage, die aber den Werth der Sache nicht verringert. Die bis jetzt vollendete Galerie nimmt allein einen Flächenraum von achttausend sechshundert Quadrat-Meters ein.
Ein ganzes Stadtviertel, zwölf Straßen und Plätze umfassend, vom Domplatz bis zur Scala, soll nach allen Richtungen hin in [734] derselben Weise neu erbaut und unter riesige Glaskuppeln gebracht werden.[3] Die dafür concessionirte Gesellschaft, unter Direction des genialen Architekts Giuseppe Mengoni in Bologna, von dem der ganze Plan ist, hat ihren Sitz in London, ihre Baubureau’s in Mailand, und den Titel: „City of Milan Improvements Company limited.“ Der Bau der Galerie, so weit sie jetzt vollendet ist, hat dreißig Monate gedauert, und, nach dem Arbeiterpersonal berechnet, eine Million Arbeitstage in Anspruch genommen. Am 4. März 1865 wurde der Grundstein vom König Victor Emanuel gelegt, und am 15. September 1867 wohnte er, umgeben von all seinen Ministern und einer zahllosen Volksmenge, der Eröffnung des Prachtbaues bei.
Derselbe wird von zwei Gängen gebildet, die sich rechtwinkelig kreuzen. Den Mittelpunkt bildet eine ungeheure Rotunde. Die Gänge haben eine Länge von ungefähr zweihundert Meter. An den beiden Seiten derselben befindet sich eine Anzahl glänzend ausgestatteter Magazine, deren Vorderfronte aus einer einzigen riesigen Spiegelscheibe von venetianischem Glase besteht und die durch reiche dorische Säulen getrennt sind. Ueber diesen sind die Fenster des Entresols, theils durch reiche Basreliefs verziert, theils sind zwischen denselben vortrefflich ausgeführte Marmorstatuen von der Höhe der ersten Etage angebracht, die berühmtesten Männer Italiens vorstellend: Michel Angelo, Dante, Volta, Galileo Galilei, Raphael, Savonarola etc. etc. Um das ganze innere Gebäude läuft ein Balcon in zierlichster Form von reichvergoldetem Eisenguß, zwischen demselben hundert Reliefmedaillons, welche, auf rothem Grund vergoldet, die Wappen der bedeutenden italienischen Städte – Rom fehlt leider noch in dieser Sammlung – vorstellen. Die im besten Geschmacke verzierten Fenster der übrigen Etagen sind durch gewaltige marmorne Tragepfeiler getrennt und in einer Höhe von sechsunddreißig Metern über dem letzten Stockwerk mit sechsundzwanzig eisernen Bogen überspannt, die, in kühner Wölbung mit Glas gedeckt, den freien Blick in den Himmelsraum über der Kuppel gewähren. Namentlich bei Beleuchtung dieser Kuppeln, die in wahrhaft genialer Weise durch eine Unzahl von am Tage fast nicht bemerkbaren Apparaten in Sonnenform bewirkt wird, ist der Eindruck dieses ungeheuren Glasgewölbes ein märchenhafter. Die sehr ausgiebige Ventilation wird durch diesen Apparat ebenfalls bewirkt. Der Boden ist theilweise mit Lava, theilweise mit Metall in Mosaikarbeit gepflastert, deren Mittelpunkt die riesigen Wappenschilder Englands und der Stadt Mailand bilden. Unter diesem Boden befinden sich, durch dicke Krystalle mit Licht versehen, die Souterrains für die Beleuchtung, die fließenden Wasser, die Brunnen etc. etc. Auf eisernen spiralförmigen Treppen sind diese unterirdischen Räume zugänglich.
Nebst den oben erwähnten Sonnen, die am Tage durch die sehr geschickte Vorrichtung den Blicken des Beschauers fast ganz entgehen, um Abends einen um so blendenderen Glanz und Schimmer zu verbreiten, werden die Galerien durch zweitausend in eleganten, matt geschliffenen Glasgloben brennende Flammen und der Fuß der Kuppel durch eine Guirlande von dreihundert Lichtern, ferner durch eine dreifache Guirlande von je zweihundertundachtzig Brennern erleuchtet. Vier riesige vergoldete Candelaber von äußerst malerischer Form ergießen ihren Antheil in dieses Meer von Licht und Glanz. Das Eisen ist in diese ungeheueren Glasflächen durch äußerst geschickte Vorrichtungen fast unsichtbar eingefügt, so daß die krystallne Kuppel fast aus einer einzigen Fläche gebildet scheint, indem die Flammen die verbindenden Eisenbogen decken. Unter der kühnen und doch überaus anmuthigen Kuppel sind wieder sechszehn Kolossalstatuen angebracht, die beiden Winkel der Wölbung der vier Schiffe derselben scheint je ein ungeheuerer Greif mit ausgespannten Flügeln stützen zu wollen, der in seinen Fängen das Wappen von Savoyen und Mailand hält. In den Wölbungen unter der Kuppel befinden sich vier Fresken, die vier Welttheile darstellend – Australien scheint für Italien noch nicht zu existiren – in vollendeter Schönheit der Ausführung. Die Breite dieser wunderbar schönen Bilder ist ungefähr fünfzehn, die Höhe gegen acht Meter. Die Beleuchtung der Rotunde gießt ihr blendendes Licht auf das reiche Colorit dieser Prachtgemälde. Eben solche Bilder, Poesie, Handel, Malerei und Mechanik vorstellend, zieren die Wölbungen der Eingangshallen. Die reichen Arabeskenverzierungen sind in Marmor gravirt und in dunkler Farbe emailartig fest gehalten, eine neue Erfindung, deren Zierlichkeit mit ihrer Dauerhaftigkeit wetteifert.
Aus dem Geschilderten geht wohl selbst hervor, in welch’ überschwänglich reicher Weise die Stuck- und Marmorarbeiten, die Säulengänge, Vergoldungen und übrigen Verzierungen dieses Wunderbaues ausgeführt sind. Nun denke man sich diese Räume bevölkert von allen Schichten der Gesellschaft, die theils promenirend, theils vor und in den Räumen der eleganten Cafés sich erfrischend, den Klängen der rauschenden Musikchöre lauscht, theils in lebhafter Conversation sich ergeht, das bunte Gemisch der Nationaltrachten neben den eleganten Costümen der Modewelt, die Lebhaftigkeit der Südländer bei solchen Gelegenheiten, und man macht sich ein Bild von diesem wunderbaren Märchenbau, welches freilich von der Wirklichkeit weit übertroffen wird. Es ist ein Palast, wie keine zweite Nation einen ähnlichen aufzuweisen hat, der Eindruck ist ein unbeschreiblich bewältigender, und die Wunder der Pariser Ausstellung, die mich noch ganz umfangen hielten, schmälerten nicht im Geringsten mein Entzücken beim Anblick dieser größten Merkwürdigkeit: „der permanenten Weltausstellung des neuen Italiens“.
Aus der Mappe eines deutschen Staatsanwalts. II.[4] Verehrte Leser, die Ihr in den westlichen Provinzen des preußischen Staates oder in der Mitte von Deutschland wohnt, es wird Euch, wenn Ihr den Schwurgerichten in Eurer Heimath, sei es als Geschworne, sei es als Zuschauer, beigewohnt habt, nur selten der Fall der Bigamie, des Verbrechens der Doppelehe, vorgekommen sein. Die Seltenheit dieses Verbrechens bei Euch rührt einmal daher, daß bei Euch die Ehe heiliger gehalten wird, als in andern minder cultivirten Ländern, sodann aber ist die Entdeckung eines solchen Verbrechens bei Euch viel wahrscheinlicher, als beispielsweise an der preußisch-russisch-polnischen Grenze. In diesen Grenzdistricten passirt es häufig, daß ein preußischer verheiratheter Unterthan über die Grenze nach Polen oder Rußland geht, um bessere Arbeit zu suchen. Findet er sie, so bleibt er dort, er vergißt, zumal er nicht schreiben kann, leider nur zu oft und zu bald Frau und Kind. Er gilt in seinem neuen Vaterlande als unverheirathet, der Geistliche kennt ihn nur als solchen, bald findet sich eine Liebschaft – eine wilde Ehe wird nicht geduldet –, der Geistliche traut, und das Verbrechen der Bigamie ist vollendet. Die Zeit macht ihn dreist. Er kehrt vielleicht in Geschäften über die Grenze zurück, der Zufall spielt, er wird erkannt, sein Sündenregister kommt an den Tag, das Zuchthaus öffnet seine Thore, und zwei Familien hat er an den Bettelstab gebracht.
In der preußischen Dorfschaft N. an der russischen Grenze lebte ein Arbeiter Jaschinski mit seiner Frau und fünf Kindern. Mann und Frau stammten aus Polen und waren im Jahre 1846 nach Preußen verzogen. Der Verdienst wurde schlechter, und der Mann begab sich im Jahre 1856 nach Polen zurück, um bessere Arbeit zu suchen und seine Familie dann nachzuholen. Aber er kam nicht wieder. Es vergingen sieben Jahre und seine Frau hielt ihn für todt.
Ich war im Jahre 1863 Staatsanwalt in jenem Grenzdistricte, in welchem Frau Jaschinska wohnte. Eines Tages kam sie athemlos zu mir und erzählte, daß sie Tages zuvor auf dem Pferdemarkte in S. gewesen und hier ihren Mann wiedergesehen habe. Sie habe ihn auf das Genaueste erkannt, da sie ja elf Jahre mit ihm gelebt habe. Ihr Mann sei jetzt Knecht bei einem polnischen Pferdejuden und sie habe durch letzteren erfahren, daß ihr Mann seit sieben Jahren im russischen Dorfe A. wohne und dort seit vier Jahren verheirathet und Vater zweier Kinder sei.
Bei der ganz bestimmten Aussage der Frau wurde der Mann verhaftet und die Voruntersuchung begann. Frau Jaschinska beschwor, daß der ihr vorgeführte Angeschuldigte ihr entlaufener Ehemann sei. Ihr ältester Sohn, der beim Weggange des Vaters zehn Jahre alt gewesen war und jetzt siebenzehn Jahre zählte, bekundete, daß er sich seines Vaters genau erinnere und daß der Angeschuldigte sein Vater sei. Es wurden Zeugen aus dem Dorfe N., wo die Jaschinski’schen Eheleute zehn Jahre gelebt, vernommen. Sie sagten übereinstimmend aus, daß sie den Jaschinski zwar nur selten gesehen, weil er meist auswärts auf Arbeit gewesen sei, auch weit entfernt vom Dorfe gewohnt habe, daß aber der Angeschuldigte an Größe, Gestalt und Gesichtsbildung mit Jaschinski die größte Aehnlichkeit habe und sie die Identität nicht bezweifelten. Endlich wurde die russische Behörde requirirt, und diese gab die Auskunft, daß der Angeschuldigte unter dem Namen Murowski im Jahre 1856 in das Dorf eingewandert sei und sich im Jahre 1859 dort verheirathet habe.
[735] So die Voruntersuchung und Jaschinski alias Murowski kam vor das Schwurgericht. Er bestritt beharrlich, Jaschinski zu heißen und der Mann der Frau Jaschinska, die er nie gesehen habe, zu sein. Er gab an, daß er sein ganzes Leben vagabondirend in Rußland und Polen umhergezogen, bis er sich 1856 in A. niedergelassen und im Jahre 1859 dort geheirathet habe. Er sei vorher nie verheirathet gewesen.
Die Zeugenvernehmung beginnt. An der Spitze der Beweise steht die Aussage der Frau Jaschinska. Sie tritt ruhig und sicher in den Saal. Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Sie wiederholt ihre frühern Angaben und auf die Frage des Präsidenten, ob sie sich in der Person des Angeklagten bestimmt nicht irre, bricht sie in Schluchzen aus und ruft: „Wie werde ich mich irren, habe ich doch eilf Jahre mit ihm gelebt und ist er doch der Vater meiner fünf Kinder.“
„Ihr irrt Euch, Frau,“ ruft ihr der Angeklagte von der Anklagebank zu, „ich bin nicht Euer Mann.“
„Ja, ja, Du bist mein Mann, Du bist mein Mann, Du schlechter Mensch, hast Dich sieben Jahre umhergetrieben und mich hungern lassen. Vor zehn geladenen Gewehren[5] will ich’s beschwören, Du bist mein Mann.“
Der Eindruck der Zeugin ist überwältigend. Schon steht bei den Geschwornen das Schuldig fest.
Die andern Zeugen treten nacheinander in den Saal. Der siebenzehnjährige Sohn schwankt auf näheres Befragen in seiner Aussage, er ist noch zu jung gewesen, als sein Vater sich entfernte. Dies kann nicht auffallen. Die übrigen Zeugen, Einwohner des Dorfes N., bestätigen ihre früheren Aussagen. Der Angeklagte steht stumm und gesenkten Hauptes auf der Anklagebank. Der Präsident legt die beiden Trauscheine vor und ist im Begriff, dem Staatsanwalt das Wort zu ertheilen, als eine Bewegung im Zeugenraume entsteht. Die Mutter spricht heftig polnisch mit dem Sohne und tritt an den Tisch der Richter.
„Was habt Ihr noch zu sagen, Frau?“
„Herr Präsident, mein Mann hat als ganz junger Mensch bei der Belagerung von Warschau einen schweren Säbelhieb in den Kopf bekommen. Er hat eine fingerbreite, tiefe Narbe auf dem Schädel.“
Alle Blicke richten sich auf den Angeklagten.
„Beugt Euren Kopf, Angeklagter, und Ihr, Frau, untersucht den Kopf, ob Ihr die Narbe findet.“
Die Frau tritt an den Angeklagten heran und untersucht und betastet mit dem Vertheidiger das Haupt des Angeklagten. Der Vertheidiger führt das Taschentuch zum Munde. Eine lautlose Stille herrscht im ganzen Saale. Die Zeugin tritt wieder vor:
„Nein, Herr Präsident, ich habe mich geirrt, er ist doch nicht mein Mann.“
Du kannst Dir, verehrter Leser, den Tumult denken, der sich auf den Bänken der Richter, der Geschworenen und des Publicums erhebt. Der Kopf wird ganz genau untersucht, die Schädelhaut ist weiß und glatt und nirgends auch nur die Spur einer Narbe zu finden. Der Angeklagte fängt an zu lachen.
„Hab’ ich’s Euch nicht gesagt, Frau, daß ich nicht Euer Mann bin, aber wie wird’s nun, sechs Monate gesessen – –?“
„Ja, aber ähnlich seht Ihr ihm sehr!“
Das Publicum fängt an zu lachen. Der Staatsanwalt erhebt sich und plaidirt auf Freisprechung. Sie erfolgt. Wer erhebt noch einen Einwurf gegen den hohen Werth des mündlichen Verfahrens?
Der böse Dawison. Sie ist eine Nähterin und wohnt dicht neben mir im vierten Stock. Ich bin ein Wiener Schriftsteller und wohne auch neben ihr im vierten Stock. Näh- und Uebersetzungsmaschinen haben uns neben einander bis zur letzten Station vor dem Himmel hinaufgetrieben. Sie ist eine Waise und bezieht einen klein-winzigen Gnadengehalt, weil ihr Vater auch nur ein klein-winziger Beamter war, der trotz seiner langen Dienstjahre nicht dumm und geschmeidig genug werden wollte, um vorwärts zu kommen. Indeß reichte der Gnadengehalt doch auf Zündhölzchen und Stecknadeln hin, immerhin ein bedeutender Unterstützungsbeitrag. Sie ist zwar ganz allerliebst, aber brav, häuslich, bescheiden und nicht ein Bischen kokett, wird also auch kein großes Glück machen in der Welt. „Sie heißt Johanna,“ sagt der Hausmeister. „Ich heiße Nichts,“ sagen die Recensenten. Man glaube ja nicht, daß ich und Johanna zwei Seelen und ein Gedanke sind, denn erstens hat mich der Eheteufel schon längst mit dem Hauskreuz decorirt, und zweitens bin ich schon so alt, daß ich Johanna’s Vater sein könnte, und es blieben noch ein paar Jahre für den Großvater übrig. Nein, wir sind nur ganz harmlose Nachbarn, die hin und wieder auf einander hinüber blinzeln, nichts weiter. Aber ich spreche da von einer Gegenwart, die schon Vergangenheit geworden ist, und aus dieser will ich ja dem Leser eine alte Geschichte erzählen, die, nach Heine, ewig neu bleiben soll.
Vor einigen Jahren war es noch eine wahre Herzensfreude, das blühend schöne Mädchen zu sehen, wenn es am frühen Morgen trällernd seinen Canarienvogel fütterte, mit ihm scherzte und kos’te, sich dann zum Nähtischchen setzte und flink die Nadel zwischen die Finger gleiten ließ, bis der Beleuchter dort oben im großen blauen Hause seine große Laterne und alle Millionen Lampen angezündet hatte. Die kleine Johanna war mit ihrem noch kleinern Vogel immer allein, und doch fehlte es ihnen nie an Stoff zur Unterhaltung, denn sie sangen, zankten, scherzten und plauderten den ganzen lieben Tag mit einander. Außer dem Hause gab es für die kleine Nähterin nur ein Vergnügen, das Vergnügen nämlich, einer Theatervorstellung beizuwohnen. Einmal wöchentlich mußte sie in’s Theater, zwar nur auf die letzte Galerie, aber sie glaubte wirklich im Paradiese zu sein, wenn sie da oben im Paradiese saß.
Da kam Dawison nach Wien, um dem kindischen Publicum des Theaters an der Wien zu erzählen, daß es Dinge unter dem Monde giebt, von welchen sich die Philosophie des Director Strampfer nichts träumen läßt. Der berühmte Künstler enthusiasmirte alle Wiener. Alle Welt sprach von ihm, nur die kleine Nähterin nicht, die träumte nur von ihm. Sie wurde stiller und stiller, sang und plauderte mit ihrem Canarienvogel nicht mehr, arbeitete aber noch viel fleißiger als früher und nähte sich die Fingerchen blutig, denn ihr Budget war ja um zwanzig Kreuzer täglich gewachsen, seitdem Dawison in Wien war. Sie sah ihn als Franz Moor – ach, wie abscheulich war er da! „Der böse Dawison,“ seufzte sie, als sie das Theater verließ. Aber sie arbeitete dennoch die ganze Nacht hindurch, um dem bösen Dawison eine recht große Freude zu machen.
In der nächsten Vorstellung warf man ihm Blumen und Kränze zu, sie auch, ein recht duftendes Blumensträußchen, zwar nur klein und bescheiden, aber sie konnte ihm ja kein größeres bieten, weil sie gar zu arm war. Aber welch’ ein Glück! Ihr Sträußchen fiel ihm dicht vor die Füße, sie hätte laut aufjubeln können vor Entzücken. Sie jubelte jedoch nicht, denn der Barbar hob nur die größern Bouquets auf, das kleine ließ er unbeachtet liegen. „Der böse Dawison!“ dachte sie traurig.
Sie wurde unternehmender, wollte ihn sehen, ganz in der Nähe sehen, und leerte ihre ganze Casse, um den Maskenball im Theater an der Wien zu besuchen, denn sie wußte, daß sie ihn dort ganz sicher finden würde.
Sie ließ sich ein ganz kleines, niedliche Lorbeerkränzchen flechten, schob es sorgfältig in ein feines Couvert und betrat, als Ophelia maskirt, den glänzenden Saal. Man denke sich das Glück, der erste Mann, der sie ansprach, war – Dawison. Wie ihr das Herz schlug! Sie hatte Mühe, es zurückzuhalten, denn es wollte mit Gewalt hinaus aus der Brust.
„Wen suchst Du, schöne Ophelia?“ frug der große Künstler.
„Meinen Hamlet“ stammelte sie, indem sie ihm mit zitternder Hand das Papier hinreichte.
Er sprach vom Nonnenkloster und der Gallmeier, von König Lear und Schafhaxl, von seinem engen Stiefel und unserer Censur und während er sprach, zerdrückte und zerknitterte er das kostbare Papier in der Hand, bis er, von einer Gruppe Masken fortgerissen, es endlich ganz fallen ließ, um es von den plumpen Füßen eines Pierrot zertreten zu lassen. Es war der armen Johanna, als ob ihr der Pierrot zugleich das Herz zerträte. „Der böse Dawison!“ hauchte sie, wie zu Tode getroffen, und wankte weinend nach Hause. Sehen mußte sie den bösen Dawison fortan täglich. Nach jeder Vorstellung stand sie unter dem Theaterthor, bis er, in seinen blauen Mantel gehüllt, das Haus verließ. Wenn er dann an ihr vorüberhuschte, und nicht einen einzigen Blick für sie hatte, seufzte sie wehmüthig: „Der böse Dawison!“ und stieg wie eine Träumende in ihr Dachkämmerchen hinauf.
Mit Ruhm und Glück gekrönt, verließ der gefeierte Künstler die Kaiserstadt und dachte wahrlich nicht daran, daß er hier in aller Unschuld ein liebendes Mädchenherz gebrochen. Ohne ein Wörtchen an ihn zu schreiben, sandte sie ihm auch nach Dresden ein zierliches Lorbeerkränzchen nach. Er mußte den Empfang bestätigen und seine Unterschrift war es, die die arme Johanna besitzen wollte. Die theuern Namenszüge liegen neben der Locke ihres Vaters, die sie auf dem Herzen trägt.
Wie bleich ist das früher so blühende Mädchen geworden! Stumm und traurig blickt sie stundenlang vor sich hin. Auch ihr Canarienvogel trillert nicht mehr. Er ist stumm geworden wie sie. Sie hat ihn sterben lassen, wie ihr Frohsinn starb. „Der böse Dawison!“ sind die einzigen Worte, welche über ihre Lippen kommen. Die Einen glauben, sie sei gemüths-, die Andern geisteskrank, es scheint, sie irren Beide nicht.
Einem traurigen Gerücht zufolge, leidet der vortreffliche Künstler an einer ähnlichen Krankheit; der Himmel verhüte, daß der entweihte Tempel der Kunst eine seiner letzten und festesten Säulen verliert. Sollte es aber klar sein oder klar werden nach einer kurzen Nacht, so möge Dawison erfahren: das Kränzchen, das man ihm vor drei Jahren von Wien nach Dresden zugesandt, habe ihm ein armes Mädchen geflochten, das sich gegenwärtig mit dem Strohkranz der Ophelia schmückt.
„Der böse, böse Dawison!“
Wein-, Bier- und Trinkgelage. Wasser ist das eigentliche Getränk aller Thiergattungen, die nur trinken, um den Durst zu löschen; ein Geschöpf allein, der Mensch, trinkt auch aus andern Gründen und nicht nur aus und ohne Durst, sondern sogar über denselben. Wir preisen es aber als ein Glück, daß es eine Kunst giebt, den Weinstock und den Saft seiner Beeren zu cultiviren und andere Getränke zu bereiten. Der Trank ist immer ein Stärkungs-, Reiz- und Anfeuerungsmittel gewesen, und bei den Germanen hingen ihre Grundeigenschaften Muth, Offenheit, Gastfreundschaft, ihre unüberwindliche Tapferkeit im Kriege eng mit ihrer Trankliebe zusammen.
Auch der Psalmist singt: „Der Herr erwachte, wie ein vom Wein gestärkter Held.“
Die alten Griechen und Römer in ihrer Sinnlichkeit suchten bei den Gelagen nicht nur den Gaumen, sondern alle Sinne gleichzeitig zu ergötzen. Sie streuten schuhhoch Rosen auf den Fußboden und reichten Myrthen- und Epheukränze mit Rosen und Veilchen durchflochten, auch wohlriechende Salben und Oele umher. Sie tranken zu Trinksprüchen mit Vorliebe für die Zahl der Musen neun Becher; wer aber mäßig sein wollte, beschränkte sich auf die Grazien und trank nur drei. Den Römern verdankt Deutschland die ersten Weinbergsanlagen am Rhein und an der Mosel im dritten Jahrhundert. Das flüssige Gold blieb bis über das Mittelalter hinaus eine kostbare Gabe, womit Städte und Corporationen ihre Fürsten beschenken und ehren konnten. Der Segen des Weinstocks verbreitete sich durch viele Gauen und es kamen Jahre, die den Rebensaft im Ueberfluß brachten. Die Schwaben riefen den Weinheiligen nicht vergebens an: „O heil’ger Urban, schaff’ uns Trost, gieb heuer uns viel edlen Most“, denn im Jahre 1426 kostete ein Eimer alter Wein in Würtemberg dreizehn Kreuzer, und 1484 konnte man ein Maß für ein Ei kaufen. „Tausend fünfhundert und dreißig und neun galten die Faß mehr als der Wein“ und man mußte zweimal [736] im Wirthshause zechen, ehe man die Zeche zahlen konnte, die einen Heller betrug. An manchen Orten sollen die Bauleute den Mörtel mit Wein angerührt haben. Ein Edelmann überließ, um Fässer zu erhalten, den alten Wein seinen Bauern in der Frohne zum Austrinken. Darauf gab es so viele Händel und blutige Köpfe, daß die Strafen dafür dem Edelmann als Gerichtsherrn mehr eintrugen, als wenn er den Wein verkauft hätte. Der Zorn war freilich, wie bei den Alten der Furor, jener wüthende Geselle, der mit der Trinklust häufig verbunden erschien; es läßt sich aber nicht leugnen, daß ihr zur Seite auch ein vortrefflicher heiterer Cumpan, der Humor, einhergeht. Er gedeiht vorzüglich in der feuchten Atmosphäre der Zechstuben und wir verdanken ihm so manches gute Lied, manchen trefflichen Spruch und die Grundlage zu dem gemüthlichen Kneipenleben, das sich in Deutschland ausgebildet hat, zu dem nur der Deutsche das wahre Zeug und Talent besitzt. Ihm ist das Glas nicht nur die dem Bacchus geweihte Schale, „die Seele schaut mit in den Becher“, wenn er trinkt und dazu nicht einsam sitzt, sondern ein empfängliches Gemüth zur Seite haben muß. Der Spruch Sirach 31, 33: „Was ist das Leben, da kein Wein ist?“ enthält das größte Lob des Weins in den wenigsten Worten.
Wie bei den alten Germanen Meth und Bier die eigentlichen Getränke waren, so blieb letzteres, besonders in denjenigen Ländern, die den Weinbau nicht betrieben, das Hauptgetränk. Im Rathskeller wurden, dem ältesten Rechtsbrauche gemäß, Käufe und Verkäufe, Verpflichtungen und Contracte unter bestimmten Trinkceremonien abgeschlossen. Im Lande Hadeln wurden die Freigerichte meist im Kruge gehalten. Im Braunschweig-Lüneburgischen war der Kellerverwalter nicht selten der oberste Richter. Das Mittelalter betrachtete den Rathskeller gewissermaßen als eine ehrwürdige heilige Stätte, er gehörte nach dem Stadtrecht in Lübeck gleich den Kirchen, Friedhöfen, Marktplätzen etc. zu den besonders befriedeten Orten, an denen eigenmächtige Gewaltthaten begangen schwerer bestraft wurden, als wenn sie anderswo verübt worden. Das war ein Burgfrieden zu einer Zeit, als im lieben deutschen Reiche ein gewaltiger Durst herrschte und eine Schlemmerei, welche bis zum Sichselbstvergessen führte, wie es auch ein späterer naiver Schlemmerspruch charakterisirt:
„Ich wollt’ ich wär ein Louisd’or,
So kaufte ich mir Bier davor.“
Wer sich von der Geschichte des Weins und Biers, von den besonders in Deutschland geregelten und Gesetzen unterworfenen Trinkwesen und Trinkgelagen, vom Willkommen, vom Minne-, Vor-, Zu-, Gesundheit- und Wetttrinken ein interessantes und anschauliches Bild verschaffen will, dem seien zwei Schriften empfohlen: „Geschichte des Weins und der Trinkgelage von R. Schultze, Berlin“, und „Deutscher Trunk, Leipzig“.
George Sand und ihre Kinder. In neuester Zeit ist die Aufmerksamkeit der Welt auf die Kinder von Frau Sand gelenkt worden, deren sie zwei aus ihrer unglücklichen Ehe mit Herrn Dudevant besitzt. Es sind dies Maurice Sand, auch ein Schriftsteller, der vom Kaiser Napoleon in Anbetracht des Ruhmes seiner Mutter decorirt wurde, weil man nicht das Herz hatte, das Weib Sand mit dem Orden zu zieren, – und die Tochter der Sand, Frau Clesinger, die von ihrem Gatten geschiedene Frau des bekannten Bildhauers. Die beiden Geschwister haben kürzlich einen Proceß gegen ihren Vater, Herrn Dudevant, geführt, der sein Vermögen und das Erbe seiner Kinder vergeudet. George Sand besitzt bekanntlich das kleine Schloß Nohant, welches sie seit Jahren bewohnt, und ihr Sohn, Maurice Sand, lebte mit seiner Frau bei ihr. George Sand verließ ihre Heimath jedoch vor einigen Jahren in Folge eines Conflictes mit ihrem Sohne und bezog eine Wohnung in den Pariser Vorstädten; mit ihr zog ein ältlicher Mann, der einst als Gast nach Nohant gekommen und zehn Jahre dort geblieben war, die letzte Liebe der George Sand. Die Dichterin, welche das Geschick der Sappho oft erlebt, sich jedoch immer nur in erhöhte Thätigkeit gestürzt hatte, besitzt eben noch so sehr die Gabe zu fesseln, daß der Freund ihr sein Leben weihte und sie, von so viel Anhänglichkeit gerührt, sich für ihn entschied, als Maurice Sand, Rücksichten auf die Familie seiner Frau vorgebend, der Mutter Vorstellungen machte. Sie trennte sich von ihrem geliebten Besitze, vom Sohne und dessen Familie, zog in die Nähe von Paris und wohnte da mit dem alten Freunde, den sie in langer Kränklichkeit aufopfernd verpflegte, bis dieser starb. Jetzt lebt sie wieder in Nohant.
Das Leben hat der genialen Frau wenig Glück gebracht und Alfred Meißner hat nur zu Recht, wenn er in seinem Gedichte an George Sand sagt:
„Viel Kronen giebt es, dunkle, dornenvolle,
Die Gott den Kindern seiner Erde lieh;
Die schwerste doch, mit der der Herr im Grolle
Ein Weibeshaupt bekränzt, ist – das Genie!“
Auch ihre Tochter erbte dies Verhängniß. George Sand übergab dieselbe als Kind der Vorsteherin eines Instituts mit den Worten: „Lehren Sie dieselbe Alles, was man im Leben braucht, aber verschonen Sie das Mädchen mit allen Dummheiten, die man gewöhnlichen Kindern einprägt.“
Nach diesen, wahrscheinlich noch deutlicher kundgegebenen Grundsätzen wurde das Kind erzogen und trat so, viel wissend, aber ohne sicheren Halt, in das Leben. Sie heirathete den Bildhauer Clesinger und das Resultat war eine unglückliche Ehe; man sagt, der Mann sei unerträglich gewesen. Frau Clesinger wurde von demselben getrennt und bezog mit ihrem Kinde ein Hotel garni; dort lernte sie eine Dame kennen, die öfter in das Haus kam, da ein alter Verwandter von ihr in demselben wohnte. Diese alte Dame stellte der jungen Frau das Unpassende ihres Aufenthalts in einem Hause vor, wo fast nur Männer lebten, und die Tochter von George Sand faßte eine innige Freundschaft für die mahnende Rathgeberin, bezog eine eigene Wohnung und gab ihr Kind in ein nahegelegenes Institut.
Die Freundin bot Alles auf, um der einsam lebenden Frau einen Halt zu geben, und sondirte auch die Seite der Religion; man kann denken, wie die fromme Dame erschrak, als sie bemerkte, daß Frau Clesinger nie von Religion reden gehört. Nun bemühte sich die Dame auf’s Aeußerste, die junge Frau zu bekehren, und es gelang ihr, dieselbe zu dem Entschlusse zu bewegen, zum Abendmahl zu gehen. Nur bat Frau Clesinger, die Erlaubniß ihrer Mutter zu diesem Schritte einholen zu dürfen. Schon bangte die fromme Freundin, da erhielt sie einen Brief von der George Sand, der zu dem Schönsten gehört, was diese Frau geschrieben, und worin dieselbe, ihre eigenen Ansichten wahrend, ihrer Tochter völlige Freiheit ertheilte. Fände diese im Glauben ihr Glück, so wäre George Sand die Letzte, sich nicht darüber zu freuen; sie suche die Welt aufzuklären, zu belehren, sei aber weit entfernt, Jemand ein Glück zu rauben, für welches sie keinen Ersatz zu bieten vermöchte.
Frau Clesinger suchte Trost und Stütze bei der Kirche, sie lebte zufrieden und rein; da brachte man ihr eines Abends um zehn Uhr die Leiche ihres Kindes, das plötzlich im Institut gestorben war, und zwar brachte es der mit dieser Mission betraute Mann unter dem Arm wie ein Paket und übergab es der trostlosen Mutter. Man wollte das Kind, das einer Epidemie erlegen war, nicht eine Minute länger in der Erziehungsanstalt behalten. Nach der Beerdigung ihres Lieblings schrieb Frau Clesinger einen Brief an die Freundin, in welchem sie diese bat, sich nicht mehr mit ihr zu beschäftigen; sie sehe jetzt, daß es auf dieser Welt keine Gerechtigkeit gebe, und fürchte, fortan nicht mehr der Freundin würdig zu sein.
Sie hatte eben nur die Aeußerlichkeiten der Religion begriffen; das innere Wesen derselben, die Kraft einer gesunden keuschen Moral war ihr fremd geblieben, und so kam die Verzweiflung über sie.
Inhalt: Der Habermeister. Ein Volksbild aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid. – Die Urbilder unserer Frauenmoden. Mit Abbildungen. – Der Panther des Südens. Von G. v. Gößnitz. – Europas natürliche Heizung. Von Prof. H. E. Richter in Dresden. – Die permanente Weltausstellung des neuen Italien. Von Franz Wallner. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Aus der Mappe eines deutschen Staatsanwalts. II. – Der böse Dawison. – Wein-, Bier- und Trinkgelage. – George Sand und ihre Kinder. – Freiligrath-Dotation.
Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist soeben erschienen:
Vorschuß- und Credit-Vereine
als Volksbanken.
Praktische Anweisung zu deren Gründung und Einrichtung.
4. Völlig umgearbeitete Auflage. Elegant broschirt Preis 1 Thlr. 6 Ngr.
Das Vergreifen der drei ersten starken Auflagen dieses Buches ging mit der Verbreitung der Vorschuß- und Creditvereine Hand in Hand – ein Zeichen, daß dasselbe dem praktischen Zwecke, dem es gewidmet, entsprochen hat. Indessen ist mit der äußeren Verbreitung auch die innere Ausbildung dieser gemeinnützigen Institute vorgeschritten, so daß eine völlige Umarbeitung des Buches erforderlich war, wenn es dem Standpunkte der heutigen Organisation entsprechen sollte. Die gegenwärtige Auflage ist daher ein vollständig umgearbeitetes, ganz neues, um vier Bogen vermehrtes Buch, welches diesmal nicht nur seines Zweckes, sondern auch des darin enthaltenen, mit Gebrauchsanweisung versehenen
wegen in den betreffenden Kreisen willkommen geheißen werden wird.
- ↑ Viele unserer Leser aus den Jahren 1858 und 1859 werden sich noch der reizenden „Garnison- und Paradebilder“ erinnern, die damals durch ihre innere Naturwahrheit und ihren sprudelnden Humor allgemeines Aufsehen erregten. Der Verfasser dieser Skizzen war ein Oberlieutenant von Gößnitz in Dresden, der später seine militärische Carriere verließ und nach England und Amerika auswanderte, um sich dort einen andern Wirkungskreis zu suchen. Nach neun Jahren zum ersten Male wieder empfingen wir vor einigen Tagen briefliche Nachricht und gleichzeitig ein Manuscript von unserem früheren Mitarbeiter, der jetzt als Instructor der Kaffer’schen Armee beim König der Sandwichsinseln in Honolulu angestellt ist, nachdem er drei Jahre in Mexico, längere Zeit in Südamerika und in der Havanna verweilte und augenblicklich – financiell gut gestellt – auf den Sandwichsinseln lebt, wohin nur eine deutsche Zeitschrift dringt – unsere Gartenlaube. Trotz allen Drangsalen und bittern Erfahrungen ist der alte Humor geblieben und doch ..… „mein Gott,“ schreibt er, „daß ich so weit weg bin, ist gar zu traurig“ –. Unsere Zeitschrift wird von jetzt ab regelmäßige Beiträge dieses begabten und vielerfahrenen Mannes bringen, und dürfen wir unsern Lesern im Voraus eine Reihe der interessantesten Mittheilungen versprechen. Die Redaction.
- ↑ Der „Panther des Südens“, mit seinem eigentlichen Namen Juan Alvarez, ist ein Vollblut-Indianer und 1780, vielleicht noch einige Jahre früher, im Staate Guerrero geboren. Seine wilde Tapferkeit, mit der sich höhere Eigenschaften verbanden, verschaffte ihm unter seinem Volke schon früh einen bedeutenden Einfluß. An dem Aufstande Hidalgo’s, des Pfarrers von Dolores, nahm er Antheil und behauptete, als diese erste Schilderhebung in Blutströmen erstickt wurde, die Unabhängigkeit seines höchst unwegsamen und für Weiße ungesunden Gebiets. Er ist weder von den Spaniern, noch von den einheimischen Parteiführern, die seine Autorität gegen ihn geltend machen wollten, jemals unterworfen worden. Wegen seiner Grausamkeit, der er den Beinamen Panther des Südens verdankt, gefürchtet, wurde er von seinen Stammgenossen wegen seiner List und seines unternehmenden Geistes, wie wegen seines Festhaltens an ihren Sitten, ihrer Tracht und ihrer ganzen Lebensweise, so geachtet und geliebt, daß er eine Art von Monarchie gründen konnte. Nur einmal verließ er den Süden und gewann für ganz Mexico eine Bedeutung. Als Santa Anna 1854 gestürzt werden sollte, stellten die Puros (Radicalen) den Panther des Südens an ihre Spitze und vermochten ihn dazu, daß er die Präsidentenstelle annahm, er hielt auch seinen Einzug in Mexico und bezeichnete seine Regierung durch die Aufhebung der Vorrechte des Militärs und der Geistlichkeit. Schon nach drei Wochen (7. December 1855) erklärte er aber, daß er es in der Hauptstadt nicht länger aushalte, nahm Waffen und Munition aus den Magazinen, ließ sich für seine Präsidentenwürde von Commonfort zweimalhunderttausend Piaster bezahlen und ging wieder nach dem Süden, wo er seitdem, für die Franzosen ebenso unbesiegbar, wie für die Spanier, als eine Art Gouverneur in seiner alten Weise gelebt hat.
- ↑ Die Stadt Mailand hat alle diesen Stadttheil einschließenden Häuser aus ihren Mitteln angekauft und der Gesellschaft zur Ausführung des Planes unentgeltlich abgetreten.
- ↑ Auch die in Nr. 41 gebrachte kleine Erzählung „Ungerecht und doch gerecht“ ist aus der Mappe dieses Staatsanwalts.
- ↑ Eine beliebte Betheuerungsformel in den Grenzdistricten.