Die Gartenlaube (1868)/Heft 29
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No. 29. | 1868. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Gegen Abend kam der fremde Mosje aus seinem Zimmer hervor, und wie er nun vorüberging an dem Wirth, der sich den ganzen Tag, blos um ihn zu sehen, im Hausflur postirt hatte, da sah der Mann mit einem schnellen Blick beobachtend zu ihm auf; nun, jetzt wenigstens war nichts mehr von Thränen in seinen dunklen, blitzenden Augen zu bemerken, und das schöne Antlitz sah ganz entschlossen und energisch aus und gar nicht kummervoll. Er grüßte den Wirth mit einem leichten Kopfnicken, so stolz und so herablassend, als wär’ er ein vornehmer Herr. Und so stolz, gehobenen Hauptes, ging er hinaus auf die Straße und den Weg dahin, nach dem Hause des Schlossermeisters Kleemann. Zuerst trat er in die Schmiede ein, und der Altgeselle empfing ihn murrend und wunderte sich, daß er heute Nachmittag gar nicht gekommen sei, um Nägel zu schmieden. Das Eisen hätte den ganzen Nachmittag geglüht und ihn erwartet, und Meister Kleemann hätte ihn gern noch gesehen vor seiner Abreise.
„Ist er abgereist?“ fragte Ludwig Preuß rasch.
Der Altgeselle nickte. „Ja, er ist abgereist mit der Alten, nach Magdeburg; er hat seinen eigenen Wagen genommen aus Freundschaft für den Bäckermeister und ist hingegangen, um den Hans zurückzuholen, weil der krank im Lazareth liegt.“
„Und Cläre, die Jungfer Cläre, wollt’ ich sagen,“ fragte Ludwig rasch, „ist die auch mitgefahren?“
„Na, das wäre eine schöne Geschichte,“ brummte der Altgeselle, „wenn sie Alle fortgehen wollten, wer sollte denn den Hausstand besorgen und für uns das Mittagbrod kochen? Nein, die Cläre ist hier, sitzt wie immer des Nachmittags in der Laube im Garten und näht an ihrer Aussteuer. Nun kommt, Ludwig Preuß, nun kommt und schmiedet ein paar Nägel, die Eisenstange ist glühend.“
„Nein, heut’ nicht,“ erwiderte Ludwig kopfschüttelnd, „mir sind die Arme ein wenig lahm, mag mich vielleicht erkältet haben. Seid fleißig, Ihr Gesellen, und wenn die Feierstunde da ist, dann geht nur in die Herberge und laßt Euch Bier geben, in meinem Namen; man soll’s auf meine Rechnung schreiben, ich zahle Alles!“ Er nickte ihnen zu und ging in den Garten.
Der Altgeselle brummte wieder vor sich hin. „Ich bleib’ dabei, er ist kein richtiger Schmiedegeselle, und die Cläre mag sich nur in Acht nehmen; wenn er es lange so treibt, so kommt sie mit ihm in’s Gerede, und Hans Werner nimmt sie nicht mehr.“
Die Cläre saß in der Laube und nähte und hob das Köpfchen nicht empor, als Ludwig zu ihr eintrat, neigte sich nur tiefer über die Arbeit und ließ die blanke Nähnadel so flink durch die Leinwand gehen und hob den langen Faden mit der rosigen Hand empor, so emsig, als hätt’ es gar so große Eile mit ihrer Arbeit.
„Cläre,“ sagte Ludwig leise, „Cläre, schau auf zu mir und sieh mich an.“
Sie schauerte in sich zusammen, und die Hand, welche die Nähnadel wieder fassen wollte, zuckte und fiel nieder. Langsam hob sie das Haupt empor, und er sah an ihren großen blauen Augen, daß sie geweint hatte.
„Du begrüßest mich heute so traurig, Cläre; was ist es denn, wovon sind Deine Augen so roth?“
Sofort, wie er das sagte, standen wieder die großen Thränen in ihren Augen, und die untergehende Sonne blitzte darin wie mit einem leisen, erlöschenden Strahl.
„O Cläre, als ich Dich zuerst sah vor wenigen Tagen, da schautest Du so lächelnd und so fröhlich drein; was ist es denn, was so rasch Deine Heiterkeit getrübt hat?“
„Ich weiß es nicht,“ murmelte sie leise, „ich bin eine Thörin, und weiter ist es nichts. Die Eltern sind nach Magdeburg gereist, und das Abschiednehmen thut mir weh. Muß immer weinen, wenn ich Lebewohl sage. Davon kommt’s, ich bin eine Närrin und Ihr sollt über mich lachen, Ludwig Preuß.“
Er aber lachte nicht, nahm ihre Hand und sagte ganz leise und flehend: „Cläre, ich muß Dich sprechen, aber nicht hier in der Laube, es könnte uns Jemand hören, und was ich Dir zu sagen habe, darf Niemand hören, als Du allein.“
Eine tiefe Röthe schoß über ihr Angesicht; vielleicht flüsterte es in ihrem Herzen von Hoffnung und Liebe, vielleicht meinte sie, daß er jetzt das sagen würde, wonach ihr Herz sich sehnte und was bei dem unschuldsvollen Sinn ihr so natürlich schien.
„Cläre, ich muß Dich allein sprechen, darf ich mit Dir hineingehen in’s Haus?“
Sie nickte hastig und stand auf. „Ich werde Euch vorangehen, werde erst hineingehen. Verlaßt den Garten, geht ein paar Straßen auf und ab und kommt dann wieder von der anderen Seite durch die Hauptthür in’s Haus; drunten in der Wohnstube werde ich Euch erwarten.“
Sie nahm hastig ihr Nähzeug zusammen und verließ die Laube, und Ludwig that, wie sie geboten, ging aus dem Garten und wanderte mit mächtigen Schritten weit hinaus vor’s Thor, und eine halbe Stunde wohl war vergangen, ehe er wieder zurückkam [450] und in’s Haus ging. Seltsam, als er die Hand auf den Drücker zur Thür der Wohnstube legte, da zitterte ihm die Hand und sein Herz klopfte, daß es ihm den Athem versetzte. In mancher Schlacht hat er gestanden, die Kugeln haben um ihn gepfiffen, der Tod ist an seiner Seite gewesen, und nie hat das Herz des Helden gezittert und gebebt, wie es jetzt zitterte und bebte.
Er trat ein in die Wohnstube, wo die Cläre ihn erwartete.
Sie stand auf von dem Stuhl am Fenster und kam ihm entgegen. Und er, ohne ein Wort zu sagen, schlug seine beiden Arme um ihre Gestalt und drückte sie fest an sich.
„Cläre, ich muß Dir’s sagen, muß Dir’s bekennen, ich liebe Dich unaussprechlich! Habe nie etwas Holderes, Lieblicheres und Unschuldigeres gesehen, als Dich, Du einzig liebes Kind! Cläre, ich liebe Dich heiß und glühend, und mir ist, als möcht’ ich Dich jetzt in meinen Armen hinaustragen, hier aus dem Haus, fort, weit fort aus der Stadt, wo ich allein mit Dir wäre, in den dichtesten Wald, wo Niemand uns sieht und kennt, und da möcht’ ich mit Dir bleiben mein Leben lang!“
Er drückte sie fester an sich, und sie wehrte es ihm nicht, wie jetzt seine glühenden Lippen die ihren suchten, und er fühlte, wie sie den Kuß erwiderte, den er auf diese Lippen drückte.
„Cläre, nun sag’s, liebst Du auch mich? Ist Dir’s auch so wie mir, daß Dir die ganze Welt hingeben und opfern möchtest aus Liebe zu mir? Willst Du mit mir ziehen in die Welt hinaus? Willst Du mein Liebchen sein?“
Da hob sie die Arme und schlang sie um seine Gestalt, barg das erröthende Antlitz an seiner Brust und jauchzte selig laut: „Will Dein Liebchen sein und Dein Weib! Wenn Du die Eltern fragst, sag’ ich nicht Nein, und wärst Du arm wie ein Bettler, ich zöge mit Dir hinaus in die Welt und bettelte und dächt’, ich wäre reich wie eine Königin! Ja, Ludwig Preuß, ich will Dein Liebchen sein und Dein Weib!“
Er ließ die Arme sinken, welche eben so fest sie umschlungen hielten, der Ausdruck des Entzückens erstarb auf seiner Miene und sie wurde traurig. „Ich hab’s geschworen, sie soll mir heilig sein, und ich will nicht ihr süßes Herz brechen!“ Das sagte er leise zu sich selber, nahm dann Cläre’s Hand und führte sie zu dem Sitz am Fenster hin, drückte sie auf den Sessel nieder und vor ihr auf die Kniee niedersinkend, umfaßte er mit beiden Armen ihre schlanke Gestalt und blickte zu ihr auf.
„O, stehe auf, Ludwig, wie kannst Du knieen vor, mir!“ flüsterte sie lächelnd, und doch strahlte ihr Angesicht in Lust, wie sie ihn da sah, den stolzen, schönen Mann, zu ihren Füßen, sein Antlitz ihr so nahe, die Augen glühend auf sie geheftet. Nie hatte so ein Mann vor ihr gelegen, und von keinem Anderen würde sie’s gelitten haben, sie hätte gemeint, ’s wär’ unanständig und schickte sich nicht, aber da er’s war, beseligte sie’s.
„Cläre,“ sagte er, „ich habe mit Dir zu reden, und recht aus meines Herzens Grunde will ich mit Dir reden; hätt’ ich Dich weniger lieb, hätt’ ich vielleicht geschwiegen und würd’ das gute Glück genießen, aber Du bist hold und rein, und ich möcht’ auch in der Ferne an Dich denken können mit heiterem Herzen und mit einem ruhigen Gewissen, und darum, Cläre, siehst Du, lieg’ ich jetzt zu Deinen Füßen und will Dir meine Schuld bekennen, meine Schuld und meine Liebe.“
Sie zuckte zusammen und legte ihre Hand auf ihr Herz, es war, als stände es eben still und als wollte sie sterben. „Eure Schuld?“ fragte sie ganz leise, „Ihr habt also Schlimmes gethan? Seid vielleicht gar ein Flüchtling, der irgendwo aus einem Gefängniß entsprungen ist und sich hierher gerettet hat? Ich habe erzählen hören, daß so etwas zuweilen geschieht.“
„Und wenn es so wäre, wenn ich ein Flüchtling wäre, der sich zu Dir gerettet hätte, würdest Du mich verstoßen, würdest Du mich verrathen?“
„Nein, nimmermehr! Ich würd’ Euch verbergen vor der ganzen Welt! Würde mit Euch fliehen, wohin Ihr wolltet!“
Wie prächtig sie aussah, als sie das sagte! Wie ihr Auge glühte und ihr Antlitz aufstrahlte in aller Energie und Liebe!
Es rührte ihn in tiefster Seele, er erfaßte ihre Hand und drückte sie an seine Lippen.
„Cläre, Cläre, warum bist Du kein Fürstenkind!“
Da lachte sie laut auf, es kam ihr gar so drollig vor, daß irgend Jemand so etwas wünschen konnte. „Ich ein Fürstenkind? Würde nicht schön dazu passen, eine Krone zu tragen!“
„Du trägst eine Krone, Cläre, eine Krone der Liebe und Unschuld! Nun höre mich an! Sieh’ mir fest in’s Auge und glaube, daß ich ein redlicher Mensch bin, der’s gut meint mit Dir, Cläre! Ich habe Dir was zu beichten; ich bin nicht der, welcher ich scheine, und wenn ich kam und sagte, ich wollt’ bei Deinem Vater sein Handwerk lernen, so war das nur ein Vorwand – ich kam, um Dich zu sehen!“
„Um mich zu sehen?“ fragte sie lächelnd, „wußtest denn Du von mir?“
„Ach ja, Hans Werner hatte mir von Dir erzählt, er hat mir geklagt, daß Du ihn nicht liebst und nichts von ihm wissen wolltest, und das reizte mich und ich kam, Cläre, kam wie ein leichtsinniger, übermüthiger Mensch, wie’s ein vornehmer Herr thut, dem die Zeit lang wird und der nicht weiß, was er mit der Zeit anfangen soll. Ich langweilte mich in der öden Festung Magdeburg, und da kam’s mir gerade recht, wie mir der Hans Werner seine Noth klagte mit dem grausamen Liebchen, und ich dachte, ich wollt’ einmal zusehen, wie die Cläre ist, und wollt’ ein wenig Zerstreuung und Lust von der Bekanntschaft haben. Ich wußte nicht, daß Du ein so reizend Mädchen bist, so reizend, daß Du mein Herz im Sturm gewannst, im Sturm Dir meine Liebe erobertest! Das allein ist meine Entschuldigung, Cläre. Ich kam, um mir einen heiteren Scherz zu machen, und nun ist aus dem Scherz Ernst geworden, und ich liebe Dich von ganzer Seele!“
„Warum sagst Du das so traurig?“ fragte sie zitternd, „warum siehst mich so ängstlich an? Wenn Du mich liebst, dann ist ja Alles gut, ich liebe Dich ja auch, und der Vater wird sicherlich nicht Nein sagen, denn er hat mich lieb, und wenn ich ihm sage, ich kann den Hans nicht heirathen, weil ich Dich liebe, und weil Du mich heirathen willst –“
„Ach, Cläre,“ unterbrach er sie, „das ist’s ja eben, ich kann’s ja dem Vater nicht sagen, daß ich Dich liebe, und ich kann Dich nicht heirathen!“
Sie schrie laut auf und sprang von ihrem Sitz empor, als wollte sie vor ihm fliehen; er aber erfaßte sie und drückte sie wieder nieder in den Sessel.
„Hör’ mich an, hör’ mich bis zu Ende an, schilt und zürne nachher mit mir, aber gehe nicht, bis Du mich zu Ende gehört hast!“
„Ihr könnt mich nicht heirathen? Seid Ihr schon verheirathet, habt Ihr ein anderes Weib?“
Sie fragte es athemlos, es klang wie ein Schrei, und sie stierte ihn an mit geöffneten Lippen, mit glühenden Augen und harrte athemlos auf seine Antwort.
Er schüttelte das Haupt.
„Ich habe kein anderes Weib, bin unvermählt, aber kann Dich doch nicht heirathen!“
„Warum denn nicht, Ludwig? Warum denn nicht, wenn Du mich doch liebst?“
„Weil sie es nicht erlauben werden, weil die Welt sich zwischen uns drängt und die albernen Vorurtheile der Menschen! O Cläre, hör’ mich an, ich will Dir eine Geschichte erzählen, hörst Du mich?“
„Gewiß, ich höre Euch!“ sagte sie mit den Händen über ihre Augen hinfahrend und die blonden Haare von der Stirn streichend, „sprecht nur, sprecht!“
„Ich will Dir erzählen von einem Prinzen, das heißt von einem armen Menschen, den das Schicksal dazu verdammt hat, ein vornehmer Mann zu sein und nicht wie andere Menschenkinder thun zu dürfen, was ihm sein Herz sagt und was ein einfacher Mensch mit freiem Willen thun darf. Die Menschen denken wohl, ein Prinz sei ein bevorzugtes Wesen, und wissen nicht, wie viel er leidet und wie viel er zu entbehren hat! Der arme, kleine Prinz, von dem ich rede, hat mancherlei gelitten und viel Schmerzen sind durch sein Gemüth gezogen, und dem Höchsten und Schönsten hat er entsagen müssen, der Liebe und dem Glück. Einst ist ein schwerer Kummer durch seine Seele gezogen, und die Liebe hat sein Herz so schwer verwundet, daß die Wunden nimmer heilen wollen und das Herz noch immer blutet. Er aber wollte sich selbst betäuben und sagte zu sich selbst: ,die Liebe soll mich heilen, ich will hingehen, ein anderes Lieb zu suchen, und in Zerstreuung und Lust die alle Trauer vergessen!’ Hörst Du mich, Cläre, hörst und verstehst Du mich?“
Sie nickte.
[451] „Ich höre, und ich fürchte, ich verstehe auch! Ihr wollt ein anderes Frauenherz hinopfern und versuchen mit ihrem Blut die alten Wunden zu heilen!“
„Es ist so, Cläre,“ rief er schmerzlich, „ich suchte Zerstreuung und fand Liebe, denn ich bin’s, bin der Prinz, der auszog in Leichtsinn, um sich einen Spaß zu machen, und der nun reuevoll zu Deinen Füßen liegt und fleht: vergieb mir, Cläre, vergieb mir, und wenn Du willst, und wenn Du kannst, dann liebe mich und sei mein!“
Sie sprang auf und machte sich heftig los von seinen Händen, die bemüht waren, sie zu halten.
„Steht auf, Herr Prinz,“ sagte sie, „ich mag Euch nicht zu meinen Füßen sehen, und nun hört, was ich Euch zu sagen habe! Ihr habt schlecht an mir gehandelt, und es thut mir leid um Euch, daß ich Euch sagen muß, Ihr habt nicht wie ein Prinz gehandelt, sondern wie ein recht leichtsinniger und erbärmlicher Mensch! Was hatte ich Euch gethan, daß Ihr herkommt zu mir und mit Euren Worten und Blicken mein Herz bethören wolltet? Meintet Ihr, ich wäre zum Spielwerk für Euch gut genug und das Herz eines armen Bürgermädchens sei nicht so viel werth, wie das einer Prinzessin? Wolltet Euch nur zerstreuen? Zerstreuung war’s, wenn Ihr einem armen Menschenkinde das Messer in die Brust stoßt und es darin umkehrt und seht, wie das Blut fließt! O, schämt Euch, Herr, das ist nicht schön, nicht fürstlich gehandelt!“
Sie sah schön und prächtig aus mit diesem stolzen Ausdruck ihrer Züge, mit diesen flammenden Augen und der hoch aufgerichteten Gestalt, schön und prächtig wie eine Königin! Und recht wie ein armer Sünder, demüthig und still, stand der Fürstensohn der Bürgerstochter gegenüber. Demüthig und stehend hob er jetzt die gefalteten Hände zu ihr auf.
„Vergieb mir, Cläre!“
„Nein, ich vergebe Euch nicht!“ rief sie stürmisch. „Ihr habt mich belogen und betrogen, Ihr habt mir Liebe geheuchelt, und das ist schändlich! Was that ich Arme, daß Ihr so an mir handeln mußtet, so schändlich und so grausam?“
Ihre Stimme erstickte in Thränen und schweigend, wie zerschmettert, sank sie wieder auf den Stuhl zurück. Und da lag er wieder auf den Knieen vor ihr, und leise flüsterte er:
„Was Du mir thatest, Cläre? Nichts hast Du mir gethan, als daß Du unschuldig warst und rein. Siehe, Deine Lieblichkeit hat mich bezwungen, daß ich Dir die Wahrheit bekennen und frei und ehrlich zu Dir reden muß! Wärst Du nicht, wie Du bist, so würde ich leichtsinnig und frohen Herzens das gute Glück entgegennehmen, würde das heitere Spiel ein paar Tage fortgesetzt haben und dann von dannen gegangen sein auf Nimmerwiedersehen! Aber Dich möcht’ ich nicht betrügen, Cläre, und vor Dir möcht’ ich nicht länger die Augen niederschlagen.“
„Daß Ihr mich ansehen konntet,“ sagte sie zürnend, „daß Ihr die Augen frei zu mir erheben konntet und wußtet doch in Eures Herzens Grund, daß Alles nur Trug war und Lüge, daß Ihr Euren Scherz mit nur triebt und Liebe, heucheltet, von welcher Euer Herz nichts wußte!“
„Nein, Cläre, jetzt bist Du’s, die mir Unrecht thut! Ich liebe Dich, ich schwör’s zu Gott, ich liebe Dich, und daß ich Dir bekenne, was ich bin, daß sei Dir ein Beweis davon, und wenn es wahr ist, daß Du mich liebst, dann beweise es auch Du.“
„Womit kann ich es Euch beweisen?“ fragte sie, ihn groß ansehend mit ihren hellen, blauen Augen.
„Damit, Cläre,“ flüsterte er leise, „damit, daß Du mein bist! Ja, komm’ mit mir, ich schwöre Dir, daß ich Dich nie verlassen will! Du sollst die Herrin in meinem Hause sein, sollst schalten und walten können über Alles, was mein ist! Willst Du, Cläre, willst Du mit mir kommen, wie Du’s gesagt hast, durch die ganze Welt? Ich biete Dir mein Herz, aber ich sag’ Dir’s ehrlich, meine Hand kann ich Dir nimmer bieten, und wenn es Dir nicht genug ist, ganz in der Stille mein zu sein –“
„Still!“ rief sie laut und sprang auf, „still, Herr Prinz; ich gab Euch meine Liebe, und Ihr bietet mir meine Schande! Das thut weher, als alles Andere. Daß Er ein Prinz ist, das ist schon Unglücks genug. Aber daß Er’s wagt, so zu mir zu sprechen, das ist mehr als Unglück, das ist Verachtung! Gehe Er, Herr Prinz!“
Er neigte still sein Haupt und murmelte: „Ich hab’s verdient!“ und sah zu ihr auf mit einem traurigen Blick, und mit Augen, die verdüstert waren von Thränen, wandte er langsam sich um und ging nach der Thür hin.
Aber nun sprang sie auf und faßte ihn und rief: „O, geh’ nicht, geh’ nicht, Ludwig, denn ich liebe Dich!“ Und da hing sie an seinem Halse und weinte bitterlich und klammerte sich an ihn, als gälte es hinabzusinken in den Abgrund und als wollt’ sie sich retten vor einem Unglück, das aus diesem Abgrund sie angähnte. „Ich liebe Dich, liebe Dich grenzenlos! Ich fühl’s jetzt, da Du fortgehst! Ich liebe Dich und werd’ an Dich denken mein Leben lang und um Dich weinen. O, wie konntest Du so grausam sein und so hart!“
„Vergieb mir, Cläre, vergieb mir, denn ich leide sehr und mein Herz macht mir Vorwürfe und ist doch selbst so unglücklich. Vergieb mir!“
Sie preßte ihre Arme fester um seinen Nacken und drückte einen langen Kuß auf seine Lippen, dann auf einmal riß sie sich los und drängte ihn nach der Thür hin. „So, nun gehe, liebe mich nicht mehr und gehe!“
Er öffnete die Thür, taumelte hinaus wie ein Trunkener und mußte draußen auf dem Flur lange Zeit stehen bleiben, um sich zu sammeln und das schmerzliche Schreien in seiner Seele still zu machen.
Der Altgeselle und die anderen Gesellen saßen lange in der Herberge und warteten auf Ludwig Preuß und tranken tüchtig Bier auf seine Rechnung und ärgerten sich sehr, daß er nicht kam. Es war ein gar lustiger, flotter Bursch, und es war hübsch mit ihm zu singen und zu plaudern. Als er immer noch nicht kam, gingen sie nach dem Wirthshaus, in welchem er wohnte, und fragten nach ihm. Er war droben in der Stube, und der Altgeselle ging hinauf. Aber die Thür war verschlossen, und von drinnen antwortete Ludwig Preuß, er wäre krank und könne nicht kommen, sie sollten aber recht fröhlich sein und tüchtig essen und trinken auf seine Rechnung.
In der Frühe des nächsten Morgens hielt ein Wagen vor der Thür des Gasthofes, in welchem Ludwig Preuß in Burg wohnte. Der Hausknecht trug den kleinen Mantelsack hinunter und machte sich dann Allerlei an dem Wagen zu thun, bis Ludwig Preuß herunter kam, um einzusteigen. Der Wirth kam hinter ihm her mit respectvoller Miene und mit gezogenem Käppel, denn der junge Herr hatte die Rechnung gezahlt, ohne irgend etwas abzudingen, und hatte auch ohne Murren bezahlt, was der Herbergvater noch angekreidet hatte für das Essen und das Bier des Altgesellen und seiner Freunde.
Wie er jetzt in den Wagen sprang, da reichte er auch dem Hausknecht, der den knarrenden Wagentritt aufschlug, ein Trinkgeld dar, und der hätte schier laut aufschreien mögen vor Wonne und Ueberraschung, denn einen harten, blanken Thaler hatte er ihm gegeben. Der Wagen fuhr von dannen und der kratzfüßende Wirth und der entzückte Hausknecht schauten ihm nach, und Jeder dachte bei sich selber: der ist entweder närrisch oder furchtbar reich, oder am Ende gar ein verkleideter Prinz; ein gewöhnliches vernünftiges Menschenkind zahlt nicht solche Rechnungen und giebt nicht solche Trinkgelder!
Ueber das holprige Steinpflaster fuhr der Wagen knarrend und polternd dahin, und die Leute in den Häusern rissen die kleinen Fenster auf und schauten ihm nach, und die jungen Mädchen, welche den Ludwig Preuß erkannten, seufzten und sagten: „Es scheint, die Herrlichkeit ist jetzt zu Ende und der schöne Schlossergeselle reist schon wieder ab; das wird die Cläre recht betrüben.“
Jetzt war der Wagen dicht am Thor, er machte Halt vor dem Hause des Schlossermeisters Kleemann und Ludwig Preuß sprang heraus. – Er wußte es ja, daß der Meister mit seiner Ehehälfte noch nicht heimgekehrt sein konnte von Magdeburg, – wußte, daß er die Cläre allein treffen würde in der Laube.
Und da saß sie, so wie er sie zuerst gesehen, saß und bereitete das Gemüse vor für den heutigen Mittagstisch. Nur sah sie blässer aus als damals, und die wenigen Tage hatten eine traurige Veränderung in dem lieblichen jugendlichen Antlitz bewirkt. Die Wangen waren eingefallen, die Augen geröthet und der Mund, der sonst so froh gelächelt, war fest zusammengepreßt, als wollte er einen Schmerzensschrei zurückhalten.
[452] Sie blickte auch gar nicht auf, als sie den Schatten sah, der in die Laube fiel. Sie wußte es wohl, daß es Ludwig Preuß war, der da in der Thür stand, oder vielmehr ihr Herz seufzte auf, wie sie es dachte: der Ludwig Preuß sei der Prinz Ludwig Ferdinand.
„Guten Morgen, Cläre,“ sagte er ganz leise.
,Sie neigte sich tief auf die Arbeit und nickte: „Guten Morgen, Herr Prinz.“
„O, nenne mich nicht so,“ bat er mit schmerzlich zitternder Stimme. „Ich hab’s ja die ganze Nacht beklagt und beweint, daß ich ein Prinz bin – oder wenn Du willst, daß ich die Wahrheit sage: beklagt und beweint, daß Du nicht eine Prinzessin bist. Ach, Cläre, mein ganzes Leben möcht’ ich Dir weihen und kann’s doch nicht!“
„Und weil Ihr das wußtet, Herr,“ sagte Cläre mit sanftem Vorwurf in der Stimme, „so hättet Ihr nimmermehr herkommen sollen, das arme Bürgerkind zu verleiten, und Ihr hättet Euch nimmer so vor ihm verstellen sollen, daß es Euch glaubte und Euch ihr Herz gab und Euch liebte.“
„Du liebst mich also, Cläre?“ fragte er, ihre beiden Hände fassend.
Sie entzog sie ihm hastig. „Ja, Herr, ich liebe Euch, und das ist mein Unglück! Und darum bin ich böse und zornig auf mich selber, daß ich Euch nicht böse sein kann! Ich liebe Euch! Ich schäme mich nicht, es Euch zu sagen, aber wißt Ihr, ich bin noch nicht so schwach und so kränklich in mir selber, daß ich die Liebe zu Euch nicht unterdrücken könnte. Ich will’s Euch sagen, was ich thun werde: ich werde den Hans Werner heirathen!“
„Thu’s nicht, Cläre! Thu’s nicht, süßes, holdes Kind! Du kannst nicht glücklich mit ihm werden! Du hast ganz Recht, er paßt nicht für Dich!“
Sie schüttelte traurig das Haupt. „Es paßt jetzt Niemand mehr für mich,“ sagte sie leise. „Wer Euch gesehen, Herr, und wer Euch liebt, dem wollen wohl die andern Männer nicht mehr gefallen.“
„Weißt Du, Cläre,“ sagte er lächelnd, „daß Deine Worte mich glücklich, ja selig machen könnten, wenn –“
„Ich so schlecht wäre,“ unterbrach sie ihn, „daß ich der Liebe, die mir im Herzen steckt wie ein Dolch, jetzt folgen thät’ und die Schande annähme, die Ihr gestern so grausam gewesen seid, mir zu bieten. Nein, Herr, das thue ich nicht! Ihr habt Euern Spaß mit mir gehabt, und ich habe nun meinen Schmerz. Und getrennt sind wir fortan! Geht nur fort, – geht! Geht zurück in Euere vornehmen Verhältnisse, – ich gehe zurück in meine stillen, ehrlichen Verhältnisse. – Ich will den Hans Werner heirathen, und wißt Ihr, warum ich’s thue? Weil ich ein ehrbar’ Mädchen bin und weil ich mich retten will vor meiner Liebe zu Euch. Und nun wißt Ihr’s, warum ich den Hans Werner heirathen will. Und ich will auch den Hans Werner nicht betrügen, – vor der Hochzeit will ich’s ihm sagen, daß ich Euch liebe. O, denkt nicht, daß ich Euch etwa anklagen will! Ich werd’ ihm sagen: ich hätt’ Euch gesehen in Magdeburg, und da wäre die Liebe zu Euch in meinem Herzen erwacht und ich könnte nicht dafür, daß ich Euch liebte.“
„O Cläre,“ rief der Prinz mit Thränen in den Augen, „Du bist ein Engel! – Ein Himmel von Unschuld und Güte wohnt in Deinem Herzen!“
„Ich danke Euch, daß Ihr das meint, Herr,“ sagte sie aufstehend. „Ich meine nur, ich bin ein armes, unglückliches Ding, das lange wird mit sich selber zu thun haben, ehe es überwunden und den Stachel aus seinem Herzen gezogen hat. Versuchen will ich’s aber, und wenn’s gelingt, Herr – und wenn ich wieder gesund werde, so soll doch der Gedanke an Euch nie in mir ersterben. Und das sollt Ihr wissen, daß ich auf Erden keinen andern Mann liebe und daß ich, wenn ich einst sterbe, sagen werde: Da oben giebt es keine Prinzen und keine armen niedrigen Leute. Da oben ist Alles gleich, und da finde ich vielleicht den Ludwig Preuß wieder und nicht den Prinzen Louis Ferdinand. Und darum werde ich gern sterben. Und nun geht! Adieu! Lebt wohl, Herr!“
Und ungestüm drängte sie ihn bei Seite, sprang aus der Laube hinaus und rannte nach dem Hause hin.
Ludwig blieb stehen und schaute ihr nach, und dunkel ward’s vor seinen Augen und schmerzlich klagte es in seinem Herzen: „Ich habe Unrecht gethan! schweres Unrecht! Meine Seele klagt mich an! Möge sie mir vergeben und möge sie mich vergessen! – Werd’ ich sie je vergessen?“ fragte er dann sich selber, während zwei Thränen langsam über seine Wangen niederrollten. „Einen Spaß wollte ich mir machen, als Handwerksbursche wollte, ich fröhlich ein paar Tage durch die Welt ziehen, das dachte ich nur und dachte nicht, daß oft der Spaß, den wir uns selbst bereiten, den Andern zum schmerzlich bittern Ernste wird. Ich habe Unrecht gethan!“
Und lange noch stand er, an die Laube gelehnt, und sah mit einem tief schmerzlichen Abschiedsblick auf das kleine Gärtchen. Die Blumen nickten und bewegten sich im Winde und sandten ihm ihre Düfte zu, die Schmetterlinge flogen wieder lustig hin und her, wie sie es gethan in jener Sonntagsfrühe.
Ein paar Tage waren nur vergangen seit jenem glücklichen Morgen. Kaum eine Woche – und wie viel hatte sich verändert! Wie hatten sich so schnell zwei Menschenherzen umgewandelt, hatten sich Augen mit Thränen gefüllt, die sonst nimmer geweint!
Die Schmiede war heute geschlossen. Kein lustiges Hämmern, kein Funkensprühen, es war Alles verändert, Alles traurig und still. – Ludwig senkte das Haupt auf seine Brust, und wie ein Leidtragender, der hinter dem Sarg herschreitet, so ging er dahin, – den einsamen Steg im Garten hinab, und sah nicht ein einziges Mal zum kleinen Häuschen hin, wo doch eben an dem Fenster schön Clärchen hinter der Gardine auf ihren Knieen lag und weinend zu ihm hinunter schaute und ihm die Grüße ihrer Liebe sandte, – stieg ein in den Wagen und fort ging’s, hinaus aus dem Thor, hinaus die staubige Landstraße nach Brandenburg.
Da entließ er das Fuhrwerk und begab sich nach dem Posthaus und fuhr mit Extrapost nach Magdeburg.
Lustig schmetternd fuhr der Postillon durch die Straßen, als wollte er es allen Leuten verkünden: ich bringe Euch Euern Liebling heim, – ich bringe Euch den Prinzen Louis Ferdinand!
Und mit freudestrahlendem Angesicht trat der Haushofmeister an den Wagen, und die Lakaien stürzten herbei und öffneten dem Prinzen den Wagenschlag. Und wie ein Lauffeuer ging es durch die ganze Stadt: „Prinz Louis Ferdinand ist wieder da, ist heimgekehrt von Berlin!“ –
„Und sind Eure königliche Hoheit wirklich in Berlin gewesen?“ fragte sein Adjutant, als am Abend die Officiere und Vertrauten wieder um den Prinzen versammelt waren, der sie zum Abendessen zu sich geladen hatte. „Waren Eure königliche Hoheit wirklich in Berlin? Es gingen die abenteuerlichsten Gerüchte hier in der Stadt um. Eure königliche Hoheit sind eben der Ritter und der Held aller möglichen Aventüren. Die Damen erzählten, Ihr hättet Euch verliebt in eine schöne Dame und wäret heimlich zu ihr gegangen. Andere sprachen davon, ein armes Bürgermädchen sei Eure Geliebte, und Ihr wäret verkleidet zu ihr gegangen.“
„Es singen und sagen die Leute gar viel,“ sagte der Prinz, lächelnd das Haupt wiegend. „Ihr seid Alle recht neugierig. Nicht wahr? Möchtet’s Alle gern wissen, wo ich gewesen bin?“
„Ja, in der That, königliche Hoheit, wir sind neugierig,“ lachten die Officiere.
„Eure königliche Hoheit werden die Gnade haben, uns wenigstens zu sagen, ob Sie in Berlin waren?“ fragte der Adjutant. „Man tödtet uns mit Fragen, und wir müssen doch Antwort geben.“
„Nun, ich will Euch etwas sagen!“ rief Prinz Louis Ferdinand. „Ich war nicht in Berlin, ich war auch nicht in einer andern Stadt; hört, ich will Euch ein großes Geheimniß künden: Ich war einen Augenblick im Paradiese, doch hoffe ich, es wird nicht wie bei Schiller weiter heißen. Faltet Eure Hände, Ihr tollen Menschenkinder, faltet Eure Hände und betet mit mir, daß mein Augenblick im Paradiese nicht mit dem Tode bezahlt werden muß. Und nun nehmt die Gläser und laßt uns anstoßen und anklingen: Es lebe das Paradies, es lebe mein Augenblick im Paradiese!“
Sie stießen an und jubelten und tranken, und es schien wohl, als ob Prinz Louis Ferdinand der Heiterste und Fröhlichste von ihnen Allen sei. Und doch bemerkten sie, daß er mitten im lustigen Gespräch oft sinnend vor sich niederschaute und daß die Hand, die eben noch das Glas emporgehoben, dann matt herab sank und daß der Prinz gedankenvoll und schweigsam war trotz seiner Lustigkeit. –
Und gedankenvoll und ernst war er auch in der nächsten Zeit [453] gar manche Stunde, und nie hatte sein Instrument mehr geklagt und stürmischer gegrollt und gedonnert in Schmerz und Lust, in Seligkeit und Verzweiflung als in den nächsten Wochen.
Eines Tages kam ein Brief, mit dem Poststempel Burg, „An den Prinzen Ludwig von Preußen.“ Der Hans Werner meldete in dem Briefe seinem gnädigsten Herrn und General, der immer so gut zu ihm gewesen sei, daß er in acht Tagen seine Hochzeit begehen werde und daß die schöne Cläre Kleemann sich nun doch entschlossen habe, seine Frau zu werden. Am nächsten Sonntag sollte die Trauung stattfinden, und er habe sich unterstanden, das Seiner königlichen Hoheit zu melden, weil dieser ihm doch gerathen, nicht zu verzagen, damals als sie ihm den Brief vorgelesen. Prinz Louis Ferdinand faltete den Brief zusammen und sah lange gedankenvoll vor sich hin auf das Papier nieder.
„Süße Cläre, Du hast also Dein Herz zusammengefaßt in Pflicht und Treue, hast überwunden! Wie lange wird’s dauern, so hast Du mich vergessen, und nur zuweilen in stillen Abendstunden wird der Gedanke an mich wie ein süßer Traum in Deinem holden Herzen auftauchen. Ja, wie lange wird es dauern, so hast Du mich vergessen, denn Alles vergißt sich auf Erden: der Schmerz und die Liebe! Ich habe es an mir selber ja genugsam erfahren, und wehe mir, daß ich’s erfahren habe! Ich wäre sonst nicht, was ich bin: ein liederlicher toller Bursche, der mit sich selbst und mit der ganzen Welt unzufrieden ist. Aber nicht mit Dir, Cläre! Du hast gehandelt gut und brav, und wenn ich schier verzagen möchte an der ganzen Menschheit, will ich an Dich denken, Du holdes, reines Kind der Natur!“
Er zerriß den Brief und beantwortete ihn auch nicht, aber am selbigen Tage trug der Haushofmeister ein kleines Paket zur Post. Prinz Louis Ferdinand hatte es selber verschlossen und gesiegelt, und Niemand wußte, was darin enthalten war. Es war ein Medaillon an einem goldenen Kettchen, das Medaillon mit Diamanten eingefaßt und drinnen in der kleinen Kapsel eine dunkelbraune Locke. Ein einfaches, aber reiches Geschenk, wie es sich für eine ehrsame und wohlhabende Bürgersfrau geziemen mochte, es an ihren Festtagen zu tragen. Das Paket war adressirt: „An Jungfer Cläre Kleemann!“ – Der Prinz hatte selber die Adresse geschrieben, und der Haushofmeister sah sie ganz verwundert an; er hatte noch niemals diesen Namen gehört und wußte nicht, was das wohl zu bedeuten habe.
„Es wird irgend eine Liebschaft sein, die der Prinz jetzt abfindet,“ sagte er zu sich selbst, als er das Paket zur Post trug.
Prinz Ludwig hatte es nicht gewagt, der Cläre selbst zu schreiben. Nur ein Zettel lag im Paket, darauf stand: „Der ehrsamen Cläre zum Hochzeitsgeschenk.“
Und zwei Tage darauf kam mit der Post aus Burg ein Paket an den Prinzen Ludwig Ferdinand von Preußen.
Er zuckte zusammen, als der Haushofmeister es ihm überreichte und fragte, ob er es öffnen solle.
„Nein, ich will es selbst thun, geht nur hinaus!“
Und als der Haushofmeister gegangen war, da öffnete er mit zitternder Hand und hastig, als gälte es einer Überraschung, das Paket.
Da war dasselbe kleine Etui, das er nach Burg gesandt, und in dem Etui lag das mit Diamanten eingefaßte Medaillon, ganz so, wie er es ihr gesandt, nur die Locke war aus der Kapsel verschwunden.
Und das war die ganze Antwort.
Der Frühling in den Alpen.
Vielleicht nirgends ist der Frühling reizender und entzückender als am Fuße der Alpen. Der Zauber, welcher in der Blüthenwelt des Mai überhaupt liegt, er wird in den Alpenthälern gesteigert durch jene Welt von Schnee, die schimmernd alle Berge deckt. Und wie prächtig sind alle Gründe geschmückt! Die Wiesen, die niederen Hänge der Berge, der kleinste Rain, sowie das Gebiet des Waldes – Alles und Alles durchsät, ja bedeckt mit den schönsten aller Frühlingsblumen – den Alpenenzianen, die mit ihren prächtigen Glocken wohl kühn an die Seite der berühmten Almenrosen treten können.
Nur Eines ist mir wieder und immer wieder in diesen bairischen Alpen aufgefallen, daß die Vorzeit dort fast gar nicht mit Sage und Geschichte, mit irgend welcher Tradition in unsere Tage eingreift. Ich erwähne dagegen nur das Rheinland, das ihm benachbarte Westphalen, den Harz oder den Taunus. Wie sind all’ diese Striche deutschen Landes von der Sage, von der Romantik durchweht! – Reste grauer [454] Burgen steigen von den Bergeshöhen auf, heben sich aus Thal und Wald empor, als Wahrzeichen vergangener Zeiten und dahingegangener Geschlechter. Mit dem Anschauen des Neuen verbindet sich dort für den Touristen im reichsten Maße das Erinnern an Altes, und in allen Schichten der Bevölkerung leben Sage und Geschichte fort. Kinder, Greise, wen wir immer in jenen Gegenden befragen, wissen uns etwas von fernen Zeiten, viel von den Menschen zu erzählen, die früher an den Stätten lebten und wohnten.
Nehmen wir dagegen das Tegernseer Schloß, ein einstmaliges Kloster. – Wie entzückend es auch da liegt am klaren Wasserspiegel, umschlossen von mächtigen Bergeshöhen, und dem Auge ein so wundervolles Bild bietet, – Geist, Phantasie erhalten in seinen alle mögliche Romantik verheißenden Mauern nicht die mindeste Nahrung durch irgend welche Geschichte aus vergangenen Zeiten. „Ein früheres Kloster.“ Damit ist der Bericht zu Ende, mehr hört und erfährt man nicht, und es ist Einem dabei ähnlich zu Muthe, wie wenn man in einer Bildergalerie im Kataloge eifrig nach näherem Aufschluß über einen interessanten Kopf sucht und die Worte liest: „Herr mit einer Halskrause.“ Und wer hörte auf dem Starnberger See eine Volkssage oder fand im sogenannten alten Bernrieder Schlosse ein wirklich altes Schloß mit „Thürmen und Zinnen“, mit weiten Corridoren und Hallen, Erkern und allem sonstigen Zubehör der Romantik? –
Im Sommer 1864 kam auf das rheinische Dampfboot, mit dem wir gen Köln fuhren, am Morgen auch König Ludwig der Erste von Baiern. Er reiste incognito, mischte sich wie ein schlichter Privatmann unter die Passagiere, redete mit Vielen, auch oft mit uns, und an die Worte, welche er über das Rheinland sagte, wenn irgend ein Punkt ihn besonders an die reizenden Sagen des Stromes mahnte, mußte ich unwillkürlich in den einsamen Alpenthälern zurückdenken. Es war unter Anderm bei Bornhofen der Ausspruch: „Das Rheinland ist doch die Krone aller deutschen Romantik! Hier ist eine Perlenkette von Sagen, während man in unseren Alpenketten nur Perlen romantischster Naturschönheit findet!“ –
Ja, romantisch ist diese Alpengegend und überreich an Naturschönheit! Welche Perlenreihe von Bildern bietet schon der ganze Weg von Tegernsee bis Achensee, über die alte Landstraße, die aus Baiern nach Tirol fuhrt! In Dorf Kreuth machten wir unsere erste Station auf der Tour, denn dies Fleckchen Gotteswelt ist ein Stück der weiten schönen Erde, von dem man sagen möchte: „Hier laßt uns Hütten bauen!“
Friedlicher, lieblicher liegt wohl selten ein Dorf, als dieses kleine Kreuth, unten am Fuße des Leonhardsteins, der mit seiner Formation so völlig von den übrigen Bergen des bairischen Alpenzugs abweicht. Zahllose Fremde weilen jetzt auch da schon im Sommer, und Dörfchen Kreuth hat sich neben seinen längst berühmten Nachbarn Tegernsee und Wildbad-Kreuth einen Platz im Herzen der wandernden Touristen erobert. Wir sahen die Gegend nun auch in ihrer Blüthezeit, und dies Bild: Bäume, Strauch und Hecken, durchsäet mit weißen Blüthen, die Wiesen alle voll Blumen und ringsum Schnee auf Berg und Fels, – es nahm sich zu reizend aus und meine Gedanken flogen hin zur Gartenlaube in dem fernen Leipzig, dies kleine Alpenjuwel auch Denen zu zeigen, die es leider nur im Bild anschauen können, denn hat doch gerade die Gartenlaube das Verdienst, schon Manches, was im Verborgenen geruht, an’s Licht gezogen zu haben.
Es giebt herrliche Spaziergänge um Dorf Kreuth. Reizend ist der Weg zum Lobacher Wasserfall und Tegernseer Marmorbruch. Da hat man tiefste Waldeinsamkeit und jene Poesie des Friedens, die mehr oder minder jedem Städter gut thut und selbst Dem zusagt und an die Seele greift, der nichts von ihrem Einfluß hören und wissen will, ihn aber darum doch empfindet. Wem diese tiefe Einsamkeit und Stille am Lobacher Wasserfall und in den Wäldern nahe dem Marmorbruch zu tief, zu still sein sollte, der wende sich nur der gegenüberliegenden Alpenkette zu und suche dort den Fall der Rottach auf. Wie braust, wie stürzt dieser Gebirgsbach wild und schäumend von Fels zu Fels, – wie prachtvoll ist die Bahn, die er sich in der schmalen Bergesschlucht zwischen den gewaltigen Höhen gebrochen, – wie laut stürmt er durch Einsamkeit und Abgeschiedenheit dahin, gleich einem starken rebellischen Geiste, der, alle Hindernisse nicht achtend, in rastloser Eile den Zielen zustrebt, die der Wille sich gesteckt hat und die erreicht sein müssen, gleichviel wie!
So schön der Rottachfall am Tage, so herrlich ist er auch bei Sonnenuntergang, wenn die purpurfarbenen Abendlichter über die tiefe, enge Schlucht hinfortgleiten und auf die Schneemassen der Gebirgskämme ihre flammenden Reflexe werfen, so daß jenes todte Weiß plötzlich im leuchtendsten Rubinroth erglänzt. Während oben am Horizont dann das Licht von Secunde zu Secunde heller, schimmernder wird, die Farben immer prächtiger erblühen, verstärkt sich ebenso unten in der Schlucht Schatten um Schatten mit blitzartiger Schnelle: die dunkeln Tannen und Fichten werden immer düsterer, die Felsen immer brauner und nur das schäumende Wasser der Rottach, das keine Abendruhe, keinen Abendfrieden kennt, hebt sich licht wie zuvor aus dem nächtigen Dunkel ab, nur geisterhaft, gespenstisch erscheinend in seinem rastlosen Treiben, in jenem ewigen Vorwärts, von dem wir das Ende nicht sehen, an das wir nicht denken. So nimmt uns der Anblick hin vom Gegenwärtigen, so sind wir übertäubt von allem Rauschen und Brausen.
Zu weiteren Ausflügen von Dorf Kreuth giebt Tirol die beste Gelegenheit. Die Grenze ist nahe, und hat man sie überschritten, so liegt der schöne Achensee nicht weit. Welch’ anderes Bild bietet er, denn die Rottach! Die Erinnerung an alle Märchen der Kinderzeit wird unwillkürlich wach an diesem klaren, wunderbar blauen Wasserspiegel, und gleichsam verkörpert liegt vor uns das krystallene Reich verzauberter Nixen. Wie wunderbar schön wird dieser Achensee, wenn in sein tiefes Blau glänzend die Strahlen der Sonne fallen! Milliarden leuchtender Punkte zittern dann in brillantartigem Feuer und flimmern über die weite Fläche dahin; ja, dann sieht’s in Wahrheit aus, als hätten alle Berge ihre verborgensten Schachten geöffnet, ihre Schätze ausgestreut mit verschwenderischster Hand, den Zauberpalast der Wasserfee zu schmücken. Und, um all’ dies tausendfältige Licht, dies schimmernde Strahlen und Glänzen reihen sich am Ufer des Sees ringsum die dunklen Felsen als schärfster Gegensatz, die hohen starren Wände, die dichten Massen der Berge als düsterer Kranz; ihren Fuß bespült die blaue Fluth, in die sie steil abfallend sinken, ihre schneeigen Kronen umfließt das Blau des Aethers, in den sie kühn aufsteigend ragen, und wie steil und starr sie auch sind, sie bieten ein wunderherrliches Bild, und dieser Rahmen des Achensees ist ebenso reich an Farbe, Form und Gestaltung, wie außerordentlich schön in seiner pittoresken Gruppirung.
Wie man den Achensee ernst, melancholisch nennen kann, ich habe das nicht begriffen, die ich die ganze Scenerie so licht umstrahlt, so schimmernd fand, denn selbst das Dunkel der Felsen schien mir nur Glanz und Helle des sonnigen Bildes um so prächtiger hervorzuheben. Mag man diese Berg- und Felskolosse wohl dunkel, düster nennen – der See selbst ist’s wahrlich nicht in seinem schönen Himmelsblau. Er bewahrt seine Helle, seine Reinheit, Klarheit, gleichwie auf ein heiteres Gemüth nicht andauernd einwirkt, was sich als etwaiger Schattenkreis um sein Leben gezogen, sondern diese glückliche Gottesgabe nur um so sonniger und leuchtender aus düsterer Umgebung hervortreten läßt.
Einen eigenthümlichen Eindruck machen am Ufer des Achensees die in die Felsenwände eingefügten Tafeln mit den Bildern der dort oder in der Nähe verunglückten Personen, die gewöhnlich, auf dem Kopfe stehend, wiedergegeben sind und von denen mehrere die Unterschrift tragen: „Wanderer, hier fand ich den Tod, wo er dich ereilt, ist ungewiß“ etc. Blickt man nach diesem auf einer Lustfahrt wenig erbaulichen Zuruf zu den mächtigen, den Kopf dicht überragenden Felsblöcken und Felsschichten empor, unter denen am Ufer der schmale Weg zum Innthal herläuft, wahrlich, da scheint es uns nicht selten gewiß: „hier kommst du nicht lebend wieder vor,“ und in der blauen Fluth zu ertrinken, dünkt uns fast Vergnügen gegen ein Ende unter diesen Steinmassen! Ein förmlicher Trost werden all’ die zarten Blümchen, die sich so vertrauend in die Spalten der Felsen geklemmt haben, so munter daraus hervorschauen, und sehen wir dann erst die blauen Glocken der Enzianen, die der Lufthauch vom Wasser so anmuthig bewegt, es ist als schüttelten sie leicht den Kopf über solche melancholische Gedanken, und, wie so oft im Leben, macht auch an dieser Stätte die Natur wieder gut, was der Mensch am Menschen gesündigt.
Auf unserer Rückreise nach Tegernsee begegneten wir vielfach den sogenannten Auffahrten zur Alm, die einmal ein so schönes, junges Mädchen eröffnete und ein Greis mit so prächtigem Antlitz, mit Bart und Haar à la Erlkönig schloß, daß ich wirklich bedauerte, [455] daß keiner unserer vielen Dorfgeschichten-Schreiber dies Paar sehen konnte, um es würdig zu placiren, namentlich, als auch noch neben dem schönen Mädchen her eine weiße Ziege sprang, die einer Dinorah an Niedlichkeit und Zierlichkeit ebenbürtig gewesen wäre.
Und waren die Frühlingszüge zur Nieder-Alm schon hübsch in dieser Welt der Blüthen und des jungen Grün, wie originell sind erst jene Feste der Landleute, welche nur der Mai aufweist, der sogenannte „Maitanz“! Wir sahen ihn in Tegernsee an einem Sonntage. Ueber die ganze weite Fläche des Sees flogen von der Mittagsstunde ab die Tanzlustigen in ihren Booten herbei, auf allen Bergwegen und auf der Chaussee waren Leute in Festputz zu erblicken, und zeigte dieses Kommen schon manches schöne Bild, wurde es lebensvoll und heiter durch all’ die jubelnde Lust, ja, habe ich den Tegernsee fast nie malerischer gefunden, als mit der ewig wechselnden Gruppirung an Schiffchen, wie originell war erst dieser Maitanz selbst, wie hübsch und charakteristisch das ganze Fest!
Volksfeste, ich wohnte solchen öfter bei, Volkstänze, ich sah so verschiedene, ein eigenthümlicheres und fröhlicheres Fest aber, als den bairischen Maitanz, dies „Schuhplatteln“[1] sah ich doch nie! Es ist eine Art Ländler, in den die urwüchsige Kraft der Gebirgsbewohner ihre belebenden Funken geworfen hat. Drei bis vier Mal drehen sich alle Paare so langsam, so gesetzt im Kreise nach der eintönigsten Musik herum, daß man nach diesem melancholischen und höchst ehrbar stillen Beginn am wenigsten die schnell eintretende Variation vermuthet, die aus allen Phasen und Fugen anderer Tänze weicht. Die Paare trennen sich – und wie! Während alle Mädchen sich im selben Rhythmus fortbewegen, einen weiten, sich unablässig langsam windenden Kreis bilden, da springen die Burschen urplötzlich mit einem solchen Saltomortale in die Mitte, daß dieser Sprung jedem Vorturner zur höchsten Ehre gereichen könnte. Sie bleiben danach in ununterbrochener lauter, ja lärmender Bewegung, mit Händen und Füßen, mit dem ganzen Körper; sie schlagen bald Rad nach rechts und links, schlagen den Tact bald an’s Bein, dann an die Fußsohlen und sind wahrlich eben so viel in der Luft, wie am Boden. Unbegreiflich, daß sie sich in diesem tollen Wirbel nie in die Quere kommen und namentlich beim Radschlagen nicht berühren. Die Geschicklichkeit ist bei diesen equilibristischen Kunststücken um so staunenswerther, als die sich drehende Kette der Tänzerinnen am Ende doch immer den Raum beschränkt und sie sich also mit dem Platze sehr zu behelfen haben.
Aus diesem anscheinend so wirren, aber doch sehr geordneten Centrum des Kreises klingt fort und fort ein fröhlich Jodeln, nicht selten aber auch ein Quieken, das hinsichtlich der Schärfe des Tons mit Nutzen Studien an der Locomotive gemacht zu haben scheint.
Wie schrill aber immer der Laut, hier stört er nicht die Harmonie, und wir meinen sogar, es dürfe gar nicht anders sein, er sei vielmehr die durchaus nöthige Zugabe zu all’ der Lust und Beweglichkeit des Maitanzes.
Hat dies bunte Treiben der Burschen etwa zehn Minuten gedauert, so finden sich die Paare abermals zusammen und mit einem letzten kühnen Radschlag steht der Bursch wie hingeweht vor seiner Dame, um sich nun mit ihr von Neuem in jener langsamen Weise zu drehen. Wie contrastirt die Ruhe und Würde der Bewegung mit all’ den froh erregten Gesichtern, aus denen der hellste Jubel, der ganze Uebermuth der Jugend lacht!
Wen beim Schuhplatteln Durst ergreift, eilt nicht zur Quelle, sondern Rad schlagend nähert er sich den Bierseideln, die auf den Tischen stehen, an welchen das Alter, mitunter auch ein Theil der ermüdeten Jugend sitzt. Steht der Bierkrug fern – Darreichen des Glases scheint eben so wenig Mode zu sein, wie Platzmachen – so springt der Durstende auf den Tisch, geht geschickt durch die Batterie der Seidel und das Heer der aufgestützten Arme, oft von Bank zu Tisch und wiederum von Tisch zu Tisch, bis er den seinigen erreicht hat, um etliche Secunden später, einem Federballe gleich, zurück in den Kreis der Tanzenden zu fliegen. Nicht Alle waren gleich geschickt bei dieser genialen Art den Durst zu stillen, ungeschickt aber Keiner, und wer diese derben breitschultrigen Gestalten blos sieht, würde ihnen schwerlich die balletartige Leichtigkeit und Gewandtheit zutrauen, die sie bei ihren Maifesten entwickeln.
Die Burschen tanzen unbedeckten Hauptes, die Mädchen aber haben Tirolerhütchen auf, die mit goldenen Schnüren umwunden sind, oder sie tragen ein Tuch malerisch um den Kopf geschlungen. Das Tuch ist entschieden hübscher, der umwundene Hut aber – besser, denn je mehr der Schnüre, desto reicher des reichen Bauern Tochter.
Diese Maifesterscheinungen verkörpern in hübscher Weise die Gestalten, die uns Herman Schmid in seinen oberbairischen Novellen so reizend gezeichnet hat. Obwohl mir alle Tänzer und Tänzerinnen persönlich fremd waren bei jenem Tegernseer Maitanz, so kamen sie mir dadurch bekannt vor, wie alte liebe Freunde. Das bairische Oberland hat in Herman Schmid einen treuen Naturmaler gefunden, der so glücklich ist, sich fern zu halten von der Klippe der Dorfgeschichte – dem Pathos und der idealen unleidlichen Schwärmerei – es besitzt in ihm einen Schatz, welchen erst Der recht zu würdigen weiß, der einen Blick in jene Welt geworfen hat, die das Hauptfeld seiner Dichtungen ist, und aus eigener Anschauung die ganze Poesie und Schönheit des Bodens kennen lernte, welche er so vortrefflich zu schildern weiß und aus der seine Gestalten sich nicht nur lebensvoll, sondern auch lebenswahr abheben.
Wehe Dem, der an einem Bruchschaden leidet und in die Hände eines unwissenden Heilkünstlers oder eines gewissenlosen Charlatans fällt! Sein Leben steht dann mehr auf dem Spiele als in einer Schlacht. Es giebt aber auch kein Leiden, welches mehr als ein Bruchschaden eine um- und vorsichtige Behandlung, und zwar vorzugsweise eine rein örtliche, von Seiten eines Sachverständigen verlangt. Ganz entsetzlich ist es deshalb, daß nicht nur die Frechheit von Geheimmittelschwindlern soweit gehen kann, bei einem solchen Leiden nichtsnutzige Pflaster und Balsame zu empfehlen, sondern daß auch die Bornirtheit vieler Laien so groß ist, jenes Zeug zu kaufen und sogar sympathetische Curen, sowie innere homöopathische Mittel dagegen anzuwenden.
Nur mit wenig Worten wollen wir den Leser auf die Wichtigkeit aufmerksam machen, die ein Bruch hat. Im Allgemeinen wird in der Wissenschaft unter Bruch (Eingeweidebruch) das widernatürliche Hervortreten eines Eingeweides aus irgend einer der geschlossenen Höhlen unseres Körpers verstanden. Hierbei tritt das Eingeweide durch eine von der äußeren Haut überdeckte, entweder neu gebildete oder schon vorhandene und erweiterte Oeffnung hervor. Stets wird also das aus seiner Höhle herausgetretene Eingeweide noch von der äußeren Haut überkleidet und bildet in der Regel eine weiche Geschwulst. Im gewöhnlichen Leben bezeichnet man als Brüche das Hervortreten von Unterleibseingeweiden aus der Bauchhöhle und nennt sie deshalb auch Unterleibsbrüche. Von diesen werden die am häufigsten vorkommenden, nach der Stelle des Unterleibes, wo sie sich befinden, Leisten-, Schenkel- und Nabelbrüche benannt. In den allermeisten Fällen liegen in diesen Bruchgeschwülsten Därme oder Netz.
Ein Unterleibsbruch bildet eine fühlbare oder auch sichtbare Geschwulst (meist in der Nähe der Schenkelbeuge), welche von gesunder Haut überkleidet ist. Beim Drucke, oder wenn sich der Kranke auf den Rücken legt, verschwindet sie gewöhnlich, weil das ausgetretene Eingeweide in die Bauchhöhle zurücktritt. Beim Husten und Pressen drängt sich sodann das Eingeweide wieder hervor und die Geschwulst kommt nun von Neuem zum Vorschein, wobei der aufgelegte Finger eine Erschütterung verspürt.
Die Beschwerden, welche ein solcher Bruch veranlassen [456] kann, sind: schmerzhaftes Ziehen in der Geschwulst und im Bauche, träger Stuhl oder Verstopfung, Kolikschmerzen, Kollern und Poltern im Leibe (wobei der Bruch gewöhnlich stärker hervortritt). – Gefährlich kann ein Bruch werden, wenn er sich einklemmt d. h. wenn der im Bruchsacke befindliche Inhalt (besonders ein Darmstück) in Folge von Beengung und Einzwängung an und in der Bauchöffnung (Bruchpforte) von seinen in der Bauchhöhle liegenden Partien abgeschnürt wird. Hier entsteht leicht eine heftige Bauchfellentzündung mit ihren gefährlichen Folgen; die Erscheinungen der Einklemmung (Incarceration) sind: Schmerz im Bruche und Bauche, Verstopfung, Aufstoßen, Würgen, Brechen (selbst Kothbrechen oder Miserere). – Um nun durch eine solche Einklemmung nicht in Todesgefahr zu kommen, so müssen Bruchkranke auf die Erscheinungen einer beginnenden Einklemmung ja recht aufmerksam sein und, sollten sie diese Erscheinungen (nämlich Schmerzen in der gespannten, härtlichen Geschwulst, die vorher beweglich war, jetzt aber unbeweglich und nicht mehr durch Druck zu verkleinern ist) bemerken, so schnell als nur möglich ärztliche Hülfe in Anspruch nehmen, die jetzt durch Zurückbringen (Taxis) des Bruches die Gefahr rasch zu verscheuchen vermag. Gelingt die Reposition (das Zurückbringen) des Bruches nicht, dann ist der Bruchschnitt (die Bruchoperation) das einzige Mittel, um den Kranken vom Tode zu retten.
Allen Bruchkranken ist auf das Dringendste anzurathen, sobald als möglich durch Anschaffung und Tragen eines passenden Bruchbandes sich vor allen Beschwerden und Gefahren, die Unterleibsbrüche verursachen können, sicher zu stellen. Der Bruchkranke, der ein passendes Bruchband trägt, empfindet nicht die mindeste Beschwerde mehr von seinem Bruchschaden und kann sich seiner gewohnten Beschäftigung, ja selbst Körperanstrengungen furchtlos unterziehen. Aber freilich muß er sich ein Bruchband schon dann anschaffen, wenn der Bruch noch beweglich, in die Bauchhöhle zurückzubringen und noch nicht zu groß ist; es muß ferner das Bruchband ja ganz genau passen und richtig angelegt werden; auch muß er den Stuhlgang stets in Ordnung halten und Excesse im Essen vermeiden. Der Zweck eines Bruchbandes ist: nach Zurückbringung der Eingeweide aus dem Bruchsacke in die Bauchhöhle den leeren Bruchsackhals fortwährend zusammenzudrücken, die Bruchpforte zu verschließen und dadurch die Senkung der durch das Band in der Bauchhöhle zurückgehaltenen Eingeweide in den Bruchsack zu verhindern. – Ein Bruchkranker muß sich aber auch Mühe geben, das richtige Anlegen des Bruchbandes zu erlernen; er muß ferner das angelegte Bruchband sorgfältig überwachen, damit es fest und unverrückt liegen bleibt und keine Eingeweide vortreten läßt. Merkt der Kranke, daß der Bruch unter der Pelotte (oder Schilde) des Bruchbandes vorfällt, so muß er sofort das Bruchbaud abnehmen und einen Sachverständigen zu Rathe ziehen, weil dann das Bruchband entweder nicht richtig angelegt ist, oder nicht paßt, oder eine zu geringe Druckkraft besitzt. Sollte bei einem sonst passenden Bruchbande in Folge einer stärkeren Körperanstrengung und Verschiebung des Bandes der Bruch hervortreten, so muß der Kranke das Band sofort abnehmen, sich auf den Rücken legen, mit den Fingern die Eingeweide aus dem Bruchsacke in den Bauch zurückbringen und nun das Bruchband auf’s Neue anlegen. Gelingt ihm das Zurückbringen nicht, dann ziehe er den Arzt zu Hülfe. Da die Druckkraft der Bruchbänder beim längeren Gebrauche abnimmt, so muß darauf geachtet und, sobald das Band nicht mehr fest aufdrückt, schleunigst ein neues angeschafft werden. Erlauben es die Mittel des Kranken, so thut er gut, mehrere Bruchbänder zum Wechseln oder für den Fall der Noth zu besitzen. Der stete Druck eines guten Bruchbandes kann sogar (besonders bei jugendlichen Personen) eine Verwachsung des leeren Bruchsackes und so radicale Heilung veranlassen. – Das fortwährende Tragen des passenden Bruchbandes bei Tag und bei Nacht ist eine unerläßliche Bedingung, um, wo es noch möglich ist, die Verwachsung des Bruchsackes zu erzielen, oder um der Vergrößerung und Einklemmung des Bruches vorzubeugen. Beim Ankaufe eines Bruchbandes wende man sich aber ja an einen tüchtigen Bandagisten und nicht etwa an einen Handschuhmacher, der von der Natur der Brüche nichts versteht. – Einer radicalen Heilung eines nicht eingeklemmten Bruches durch operatives Verfahren würde sich der Verfasser nicht unterziehen, da ein solches recht leicht lebensgefährlich ablaufen und in den allermeisten Fällen das Bruchband nicht entbehrlich machen kann. Wer sich genauer über die Brüche und das Verhalten dabei unterrichten will, dem können wir das vom Bandagist Reichel in Leipzig herausgegebene Schriftchen[2] ebenso empfehlen wie dessen Bruchbänder.
Die entsetzliche Bornirtheit und die ganz kindische Aber- und Leichtgläubigkeit der Menschen in Allem, was auf Gesundheit und Krankheit Bezug hat, macht es erklärlich, daß sogar bei Leiden, die, wie die Bruchschäden, durchaus mechanische oder operative Hülfe verlangen, doch noch Geheimmittel empfohlen und gekauft werden, die nichts als schimpfliche Attentate auf die Geldbeutel dummer Gimpel sind.
Von Geheimmitteln gegen Bruchschäden treiben sich in den Zeitungen vorzugsweise folgende herum:
1) Bruchpflaster von Krüsi-Altherr in Gais (Appenzell). Es ist ein gewöhnliches Harzpflaster, gewonnen durch Zusammenschmelzen von Fichtenharz (5 Th.) und Terpentin (2 Th.); Preis 3 fl., Werth kaum einige Kreuzer. – 2) Bruchpflaster von Menet, auch in Gais; mit dünner Gaze überzogenes Maschinenpapier und bestrichen mit Pflaster aus gelbem Bienenwachs (9 Th.), venetianischem Terpentin (3 Th.) und Elemiharz. Dieses Pflaster ist aber nur eine Lockspeise, um den Kranken theuere Bruchbänder, die natürlich Hr. Menet verkauft, aufzuhängen. – 3) Bruchbalsam von Tanze, das Töpfchen für 21 Sgr. und kaum 3 Sgr. werth. Es werden davon drei Arten verkauft; Nr. 1 (für Kinder) ist ein Gemisch aus grüner Nervensalbe, Muskatbalsam, rothem Johannisöl, gelbem Wachs und Fett oder Butter; Nr. 2 (für Erwachsene und veraltete Bruchschäden) besteht aus Muskatnußseife, Muskatbalsam, Talg, Butter und Wasser; Nr. 3 (für eingeklemmte Brüche) besteht aus grüner Nervensalbe, Lorbeeröl, Muskatbalsam, rotbem Johannisöl, gelbem Wachs, Myrrhen-, Aloe und Opiumtinctur. – 4) Salbe für Bruchleidende von Sturzenegger im Brühl in Herisau (Appenzell), im Preise von 3 Thlr.; ist nichts als Schweinefett. Die Gebrauchsanweisung besagt, daß nothwendigerweise ein passendes Bruchband getragen werden muß, was natürlich Herr Sturzenegger ebenfalls liefert. – 5) Heilung von Brüchen ohne Medicin, Operation und Schmerzen geschieht durch den Chemiker Lavedan und zwar durch eine Pelotte, welche innen mit Zink und Kupferblech belegt ist und in welche öfters eine Lösung des Poudre électrochimique (Kochsalz) eingetröpfelt wird. Dieses nichtsnutzige Mittel kostet 5 bis 6 Thlr. und ist nicht 10 Sgr. werth.
Sympathetische Curen gegen Bruchschäden. 1. Man nehme ein Ei, gieße das Weiße ab, lasse den Kranken dann in das Ei harnen und vergrabe es, aber ohne daß es der Kranke weiß, unter die Thürschwelle, worüber er häufig geht. – 2. Man berühre mit dem Kopfe eines Sargnagels den Bruch in der Mitte, lasse den Kranken sich barfuß an einen Baum stellen, und schlage den Nagel dicht über dessen Kopfe stillschweigend in den Baum. Sowie der Nagel verwächst, vergeht der Bruch. – 3. Man schlage drei Nägel, mit welchen der Bruch kreuzweise überstrichen worden, an drei aufeinanderfolgenden Freitagen, jedes Mal einen, stillschweigend in eine junge Buche oder Eiche. – 4. Man nehme einen eisernen Ring von der Größe des Bruches, lasse ihn eine Stunde lang auf dem Bruche liegen, wickele ihn darauf in reine Leinwand und trage ihn an einen Ort, wohin weder Sonne noch Mond scheint und weder Zug noch Staub kommt. Dies muß man aber bei Vollmond beginnen und an drei Freitagen nacheinander wiederholen. – 5. Man berühre an drei aufeinanderfolgenden Freitagen den Bruch mit einem eisernen Eggezahn, wickele diesen dann jedes Mal in reine Leinwand und stecke ihn zu sich. – 6. Man gehe zu einem jungen kräftigen Eichbaum, der gerade junge Blätter hat, magnetisire diesen und führe dann den Kranken so rückwärts zum Baume, daß sein Gesicht nach Süden gerichtet ist, und lehne ihn mit dem Rücken an die südliche Seite des Baumes; doch muß Alles stillschweigend geschehen. Das Magnetisiren geschieht dadurch, daß man sich drei Schritte weit vor der Südseite des Baumes hinstellt, eine rechte und linke Seite bildet, welche die Pole sind, und in der Mitte eine Scheidelinie als Aequator gezogen denkt. Nun nimmt man einen neuen Nagel von drei Zoll Länge ohne Kopf in die rechte Hand und beschreibt mit ihm von den Blättern an allen Neben- und Hauptzweigen des Baumes, in der Richtung zum Stamm hin, Linien in der Luft, welche man bis zur Wurzel niederführt. Hierauf verfährt man mit der Nord-, Ost- und Westseite ebenso.
Unter den Homöopathen herrschen über die Behandlung von Brüchen ganz verschiedene Ansichten. So behauptet Constantin Hering, daß Brüche fast immer durch innere Mittel geheilt werden können, wenn man sie nicht zu alt werden läßt. Freilich, sagt er,
[457] nicht durch die alte gemeine Medicin, weshalb auch die gewöhnlichen Aerzte frech ableugnen, daß man Brüche durch innerliche Arzneien heilen könne. Und durch was wird denn nun ein vor Kurzem entstandener Bruch sicher geheilt? Durch Rhus (Gift- oder Wurzelsumach); nur muß man nach jeder Gabe eine Woche lang warten. Nach Arthur Lutze wirkt dieses Rhus besonders auf die rechte Körperhälfte und thut sogar bei eingeklemmten Brüchen gute Dienste. Clotar Müller ist dagegen der Ansicht, daß Brüche bei Erwachsenen durchaus das Tragen eines gut passenden Bruchbandes erfordern, da deren radicale Heilung durch innere und äußere Arzneimittel nicht zu erwarten steht. Wohl heilen aber nach ihm Brüche bei kleinen Kindern durch Nux und Cocculus; vom Rhus scheint er nichts zu halten. Bei eingeklemmten Brüchen gelingt nach Müller die Zurückbringung sehr oft erst nach Darreichung von Aconit, Nux oder Schwefel. Ja, ist Brand der eingeklemmten Theile zu befürchten bei Nachlaß der Schmerzen und dunkler Färbung der Haut, so ist noch von Arsen und Lachesis Hülfe zu erwarten. – Daß in Staaten, wo fast alles Wohl und Wehe der Menschen polizeilich überwacht wird, die homöopathische Heilkünstelei mit ihren Nichtsen ganz unbehindert auch bei solchen gefährlichen Zuständen wirthschaften darf, die durchaus ein energisches Eingreifen verlangen, ist nicht zu begreifen. Es ist geradezu Mord, wenn ein Arzt bei eingeklemmtem Bruche, ohne zu untersuchen, nur auf gewisse Krankheitserscheinungen hin mit allopathischen Arzneien oder homöopathischen Nichtsen curirt, anstatt die Zurückbringung oder Operation des Bruches vorzunehmen.
Die Jünger der Schauspielkunst sind in der Regel ein unruhiges Völkchen. Sie halten nicht gern längere Zeit an demselben Orte aus. Haben sie sich an der ersten Bühne, die sie betreten, nur etwas aus der Anfängerschaft herausgearbeitet, so verfallen auch manche schon der leidigen Künstlereinbildung. Weit entfernt noch von ihrer einst möglichen Meisterschaft, halten sie mit den ersten Beifallszeichen, die ihre Ohren treffen, die höchste Höhe ihrer Kunst schon für erstiegen. Dann aber leidet es sie auch nicht mehr an dem Orte ihres Anfangs. Hinaus treibt es sie an andere Bühnen, nicht um sich zu vervollkommnen, denn das sind die meisten ja in ihrer Einbildung schon, sondern um glänzendere und mannigfaltigere Rollen, größere Anerkennung, rauschenderen Beifall und – in der Regel höhere Gagen zu gewinnen. Daher der öftere Wechsel der Mimen beiderlei Geschlechts an den Bühnen und die einander jagenden Gastspiele auf Engagement. Es wird kaum zu viel gesagt sein, wenn man einen Schauspieler, eine Schauspielerin, die zehn Jahre auf derselben Bühne aushalten und mit demselben Publicum zufrieden sind, für halbe Wunder friedlicher und bescheidener Künstlergesinnung erklärt. Die bei weitem größere Zahl derselben schwärmt in viel kleineren Zeiträumen von einem Theater zum anderen. Gegenüber diesem rast- und ruhelosen Wandertrieb der Mimen ist ein Schauspieler, der fünfzig Jahre hindurch an einer und derselben Bühne gewirkt und nicht etwa als ein aus Pietät beibehaltenes Inventarstück in unbedeutenden Nebenrollen, sondern als tüchtiger und immer gleich beliebter Künstler, ein Fall, welchen die Schauspielkunst, so alt sie schon geworden, jetzt sicherlich zum ersten Mal erlebt hat.
Der Künstler, dem die künftige Theatergeschichte dieses merkwürdige und interessante Factum verdankt, heißt Heinrich Franke. Er ist das derzeitig älteste Mitglied des Weimarischen Theaters, hat seine theatralische Laufbahn noch unter Goethe’s Augen angetreten und darf als dessen jüngster und letzter Schüler, als der einzige noch lebende Ueberrest aus jener denkwürdigen Theaterperiode Weimars bezeichnet werden.
Geboren in Baireuth am 30. Juni 1800, siedelte er sechzehn Jahre später mit seinen Eltern nach Weimar über, wo sein Vater als Tanz- und Fechtmeister an Theater und Gymnasium eine Anstellung erhalten hatte. Des Sohnes bemerkliche Anlagen bewogen den Vater, ihn für das Theater zu bestimmen. Ihm wurde durch die Gunst der Umstände die Gelegenheit geboten, an der Weimarischen Bühne, welcher zu jener Zeit noch Goethe vorstand, seine Studien zu machen, und der Meister, welcher das Talent des jungen Mannes schnell entdeckte, nahm sich seiner mit besonderer Vorliebe an. Man weiß, wie Goethe die Bühnenkräfte verwendete, wie es sein Princip war, namentlich angehende Künstler und Künstlerinnen auch als Statisten zu beschäftigen; sie sollten auf dem Theater vor allen Dingen mit Sicherheit, Anstand und Würde stehen, gehen und sich bewegen lernen. Und so mußte auch Franke von der Pike auf dienen, zunächst durch Mitwirkung als Statist, bei Pantomime und Ballet sich an das Lampenlicht gewöhnen, um auf diese Weise vorerst mit der Scene Bekanntschaft zu machen. Sein Lehrer drang überdies darauf, daß er den Proben, auf deren gründlichstes Halten der Meister so großes Gewicht legte, so viel wie möglich beiwohne, da hier gerade der beste Anlaß gegeben sei, bei dem freieren Meinungsaustausch über Auffassung von Charakteren, Gruppirungen, Lob und Tadel etc. viel zu lernen.
Wie Goethe’s Hauptbestreben auf die Herstellung eines sicheren Ensembles, eines harmonischen Ganzen der dramatischen Vorstellungen gerichtet war, so durfte kein diese Abrundung beförderndes Glied, auch kein äußerliches, dabei aus den Augen gesetzt werden. Viel gab er in diesem Betracht auf Gruppirung. In einer der Proben, denen Franke beiwohnte, geschah es z. B., daß Goethe, der mit seinem Schreiber gewöhnlich in seiner Loge saß, die mit Tisch und Lampe versehen war, sich nicht mit dem bekannten Schauspieler Deny verständigen konnte, welcher bei seinem Auftritte im Hintergrunde vor einer Halle stehen zu bleiben und Befehle hinter die Coulisse zu rufen hatte. Goethe, endlich ungeduldig, rief aus seiner Loge: „Warten Sie, ich werde hinaufkommen und es Ihnen vormachen!“ So geschah es auch, Goethe kam auf die Bühne und schickte sich an, die entsprechende Stellung zu nehmen, nachdem er sich die bezüglichen Worte mehrmals hatte wiederholen lassen. Da plötzlich trat er zurück und sagte lächelnd: „Nun, ich sehe, das geht so nicht, Ihr Schauspieler müßt das besser verstehen, vormachen kann ich es Ihnen nicht, aber ich werde es Ihnen nochmals erklären, wie ich die Sache meine.“ Die Sache ging aber erst, als Deny genau die Schritte zählte, um mit dem rechten Fuß, wie es Goethe für das Bild nothwendig hielt, die Schwelle der Halle zu überschreiten.
Der junge Franke genoß im Februar 1817 die Ehre, im Goethe’schen Hause die Rolle des Griesgram in „Paläophron und Neoterpe“ spielen zu dürfen. Der Meister sprach sich lobend gegen ihn aus und äußerte dabei zugleich, wie sich auch der Träger der kleinsten Rolle bemühen müsse, das Seine zum Gelingen des Ganzen beizutragen, wie es überhaupt bei einem dramatischen Werke keine sogenannten „Neben-“, keine, wie man gewöhnlich meine, „unbedeutenden“ Rollen gäbe, da eine jede nothwendig mit dem Ganzen eng verflochten sei, daher in keinem Falle und nach keiner Seite hin vernachlässigt werden dürfe. In jeder, auch der scheinbar geringsten, könne sich der Schauspieler bedeutend erweisen, wenn er sie objectiv treu aufzufassen, oder, wie schon Shakespeare ausgesprochen, der Natur ihr eigenes Wesen im Spiegel zu zeigen verstehe.
In den Künsten seines Vaters als Tänzer und Fechter schon tüchtig ausgebildet, von der Natur mit einer hübschen, schlanken Figur und einem intelligenten Antlitz ausgestattet, fand der junge Novize den Uebergang in’s Drama natürlich und leicht. Und so begann er seine Laufbahn als dramatischer Künstler auf der großherzoglichen Hofbühne am 9. Mai 1818, also in seinem achtzehnten Jahre, als Seppi in Schiller’s Tell. Bei den kleinen und unbedeutenden Partien, die ihm anfänglich übertragen wurden, stellte sich indessen bald heraus, daß er keines jener beschränkten Talente sei, welche allenfalls in dem einen ihrer Subjectivität zusagenden Fache mit der Zeit etwas zu leisten vermögen, daß er vielmehr eine sehr bewegliche Natur empfangen, die nach allen Seiten hin zu brauchen war, sich in alle, selbst die heterogensten Fächer zu schicken, in jede Haut, die ihm der Dichter vorlegte, zu kriechen vermochte. Da sich nun dazu auch eine artige Baritonstimme entwickelte und er fest in der Musik war, so öffneten sich für ihn bald alle Gebiete des ernsten wie des komischen Drama, des Singspiels und der Oper, und es gab von der Zeit an, wo er seine Reife erreicht hatte, kaum eine Rolle, zu deren Ausführung er nicht fähig und geschickt gewesen wäre und in welcher er nicht die Zufriedenheit des Publicums gewonnen hätte.
[458] So war er heute der feine, schlanke, graciöse, verschmitzte Figaro Mozart’s, morgen der plump-komische fallstaffdicke Larifari, übermorgen der liebenswürdige, furchtsame Natursohn Papageno, ein ander Mal der wilde, grausame Pietro (Stumme), ein vorzüglicher Leporello (Don Juan), Pedrillo (Entführung), Rößel (Doctor und Apotheker), Scherasmin (Oberon), Just (Minna von Barnhelm), Lerse, Roller, Marquis (Postillon von Lonjumeau), Dandolo (Zampa), Sir George (Puritaner), Bruder Tuck (Templer), Wachtmeister (Wallenstein’s Lager), Illo, Basilio (Barbier), Sulpiz (Regimentstochter), Purzel (Weltumsegler), Flaut (Sommernachtstraum), Gerichtsdiener (Viel Lärm um Nichts), Kellermeister (Sturm), Fluellen (Heinrich der Fünfte), Knieriem (Lumpaci), von Kalb (Cabale und Liebe), van Bett (Czar und Zimmermann), Jupiter (Orpheus) etc. etc.
Bei dieser ungemeinen Vielseitigkeit und unverdrossenen Bereitwilligkeit zur Uebernahme jedes ihm zugetheilten Parts kann man sich denken, zu welcher enormen Thätigkeit er ununterbrochen angespannt wurde. Wir zweifeln, ob irgend ein Schauspieler der Weimarischen oder irgend einer anderen Bühne so viele Male auf den Brettern erschienen ist wie Franke. Er hat bis jetzt gegen sechstausend Mal gespielt und neunhundert und vierundfünfzig neue Rollen gelernt.
Und doch ist damit nur die eine Seite einer solchen Schauspielerthätigkeit angegeben – die Darstellung der fertigen Menschenbilder vor den Augen des Publicums. Wie unendlich mehr Zeit aber nimmt das Schaffen derselben, nehmen die Vorbeschäftigungen dazu im stillen Studirzimmer in Anspruch, die Niemand sieht: das Lernen der oft sehr voluminösen Rollen, deren jede allein soviele Wochen mühsamer Gedächtnißarbeit erfordert, wie die Ausführung derselben auf der Bühne Stunden; das Durchdenken der Auffassung der Charaktere und Situationen, das lebendige, farbenreiche Vorstellen der dramatischen Personen nach Gestalt, Haltung, Sprache, Mimik und Gesten, und alles dieses bis in die kleinsten Einzelheiten, bis zum naturgetreuen charakteristischen Schritt, Ton, Blick etc. etc.! So und dann nur erhält man einen annähernden Begriff von dem, was ein solcher in beinahe allen Fächern sattelfester Künstler im geistigen Brüten und körperlichen Darstellen während seines fünfzigjährigen Theaterlebens gethan und gewirkt hat. Man begreift, daß die Zeit der eigentlichen Ruhe und Erholung in seinem arbeitsvollen Leben nur einen verschwindend kleinen Bruchtheil ausmacht. Dazu sei noch bemerkt, daß Franke nebenher auch den Fechtunterricht am Weimarischen Gymnasium ertheilt. Und hierbei fällt uns eine eigenthümliche Episode ein, die sich am 28. Mai 1828 auf dem Theater abspielt, und deren Erzählung unseren Lesern wohl einige Heiterkeit bereiten wird.
Auf dem Theaterzettel war zu lesen: „Das Hausgesinde. – Hierauf wird Madame Rosa Bagolini, geborene Mariani, Zögling der Akademie in Mailand, eine Akademie der Fechtkunst zu geben die Ehre haben.“ – Das Haus war außerordentlich besucht, besonders von Jena’schen Studenten, deren mehrere mit der Bagolini öffentlich zu fechten bereit waren. Der Großherzog Karl August wohnte in seiner Prosceniumsloge der Vorstellung bei. Die Bagolini, eine sehr junge Frau von kräftigen, üppigen Formen, die durch ein ideales Männercostüm noch gehoben wurden, focht sehr gewandt und zierlich mit dem Stoßrappier. Nachdem sie mit ihrem Manne gefochten, zeigte sie sich als Meisterin über mehrere Studenten und Gymnasiasten. Franke war als guter Stoßfechter bekannt, hatte aber dem Wunsche Vieler, sich mit der Bagolini zu messen, nicht nachgegeben, da er wegen Mangels an Zeit außer Uebung, besonders aber, weil er kein Freund von derartigen öffentlichen Schaustellungen war. Karl August, der sich über die Erfolge der Dame ärgern mochte, sagte plötzlich laut: „Ist denn der junge Franke nicht hier?“ Gleich darauf wurde dieser im Parket entdeckt und zum „alten Herrn“ an die Loge befohlen. „Hören Sie, Herr Franke, fechten Sie doch einmal mit dem Frauenzimmer; die Geschichte ennuyirt mich; Sie werden schon mit ihr fertig werden,“ sagte der Großherzog, Allen vernehmlich, aus der Loge heraus. Da half schließlich keine Entschuldigung; bald stand Franke seiner Gegnerin salutirend gegenüber und bald kündete jubelnder Applaus, daß ein, zwei, drei Stöße bei der Italienerin „gesessen“ hatten. Während einer Ruhepause rief der „alte Herr“: „Bravo! ich hatte gar nicht gewußt, Herr Franke, daß Sie so gut fechten können; bitte, machen Sie noch einen Gang!“ Das geschah denn auch; die deutsche Fechtkunst feierte abermals Triumphe. Die Italienerin, ärgerlich darüber, respectirte nunmehr die erhaltenen Stöße nichts ferner, sondern stieß gegen alle Fechtregel stets wieder nach. Das Publicum gab Zeichen des Mißfallens, Franke aber legirte plötzlich der Fechterin von Mailand das Rappier, welches ihr mit solcher Kraft aus der Faust geschleudert wurde, daß es schwirrend um diese herum-, freilich aber nicht weiter flog, denn es zeigte sich nun, daß es angebunden gewesen war. Der Beifallssturm wollte kein Ende nehmen; selbst die Bagolini machte gute Miene zum bösen Spiel, sagte ihrem Besieger viele Artigkeiten und schenkte ihm auch ihr Bild. Der „alte Herr“ aber rief ein Mal über das andere Franke zu: „Ich danke Ihnen, Sie haben mir sehr viel Spaß gemacht!“ – Die Studenten brachten Franke nach der Vorstellung ein Hoch, und dieser übernahm auf mehrfachen Wunsch bald darauf den Fechtunterricht am Weimarischen Gymnasium, den er bis heute noch selbstthätig fort ertheilt.
Zur Feier von Goethe’s Geburtstag, am 28. August 1830, hatte die Weimarische Bühne den umgearbeiteten Götz von Berlichingen vorbereitet. Mehrere der Theatermitglieder, unter ihnen Franke, fanden sich am Morgen bei dem Altmeister ein, um ihm ihren Glückwunsch darzubringen und die Bitte vorzutragen, die Abendvorstellung doch mit seinem Besuche zu beehren. Goethe lehnte in milder Weise die Bitte ab, meinte aber später, als man ihm sagte, daß sein Erscheinen auf alle Mitwirkenden begeisternden Einfluß haben würde: „Nun, wir wollen einmal sehen!“ – Im Uebrigen unterhielt er sich mit großem Interesse von seinem Götz und den einzelnen Rollen darin. So redete er auch Franke an: „Was geben Sie denn heute Abend?“ – „Ich gebe den Lerse, Excellenz.“ Da richtete sich Goethe auf, seine Züge wurden heiter, und er sagte: „Hören Sie, Herr Franke, diese Rolle muß Ihnen Vergnügen machen. Unter diesem Lerse habe ich mir einen so recht biedern deutschen Haudegen gedacht; das ist ein tüchtiger Kerl. Diese Rolle muß Ihnen Vergnügen machen!“ Und so war es auch. Einige Tage darauf sagte der Dichter dem Darsteller der Rolle Anerkennendes über die Vorstellung und über den Lerse, was er nämlich von Anderen darüber gehört habe, denn vergeblich hatten die Künstler am Abend des 28. Augusts nach der Loge des „Geheimen Raths“ gesehen – sie war leer geblieben, wie immer, und blieb auch leer fernerhin. – Nur zwei Mal nach seinem Abgange von der Intendanz hat Goethe das Weimarische Theater noch besucht, ein Mal bei einer Vorstellung des Rossini’schen „Tancred“ im Jahre 1824, und dann am Tage der Feier seines Weimarischen fünfzigjährigen Dienst-Jubiläums, den 7. November 1825, wo seine „Iphigenia“ gegeben wurde.
Am 9. Mai dieses Jahres feierte Franke, man kann sagen unter allgemeiner Theilnahme der ganzen Stadt, von Hoch und Niedrig, sein fünfzigjähriges Künstler-Jubiläum. Zwei Tage vorher betrat der Jubilar in einer seiner vorzüglichsten Rollen, des „Just“ im Lessing’schen Stück, mit ungeschwächter Kraft die Bühne. Festlich und mit sinnigen Emblemen geschmückt war seine Garderobe; stürmischen Empfang zollte ihm das zahlreich versammelte Publicmn, fortgesetzte lebhafteste Theilnahme während des ganzen Stücks, und am Schlusse der Vorstellung war Seitens des Intendanten und der Bühnenmitglieder eine erhebende Feier auf der Bühne arrangirt, worin dem tiefergriffenen Jubilar die Künstlerin Frau Hettstedt mit trefflicher Ansprache einen Lorbeerkranz überreichte. Am eigentlichen Festtage füllten Glückwünschende aus allen Ständen die Wohnung des Jubilars bis zum Nachmittage. Zahlreiche Briefe und Telegramme brachten ihm die Grüße seiner Freunde und Gönner aus der Ferne. Sinnreiche Geschenke, Gedichte etc. kamen von allen Seiten, wie auch der Großherzog seiner auszeichnend gedachte, und am Abende schloß ein glänzendes Festmahl die seltene Feier, bei welchem ein College in einem launigen Vortrage ausrechnete, daß der Gefeierte in Vorstellungen und Proben gerade sieben Jahre, acht Monate, drei Wochen und fünf Tage auf der Bühne zugebracht habe.
Wohl selten sind einem Künstlerjubilar so viele rührende und allgemein aufrichtige Beweise der Verehrung und Anerkennung zu Theil geworden, als unserm Franke; allgemein aufrichtige, betonen wir besonders, weil sie neben seinem Künstlerwerthe auch seinem sittlich reinen Charakter galten. Er war und ist in der That ein Ehrenmann in allen Beziehungen, die Menschen achtens- und liebenswerth machen.
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Ein wahres deutsches Nationalfest,
Jedes Jahr, wenn die Sonne in ihrem Laufe auf dem Höhenpunkte angelangt war, wenn der Wald in seinem saftigsten Grün stand, die Flur ihren üppigsten Blüthenschmuck angelegt hatte und die wogenden Felder einer hoffnungsreichen Ernte entgegenreiften, feierten unsere Altvordern das Sommersonnenwendfest, indem sie dem Gott des Lichts zu Ehren auf allen Bergen unseres Vaterlandes weithin leuchtende Feuer, die Sonnenwendfeuer, anzündeten. Unsere Ahnen liebten das Licht, das goldene, freudige, herrliche Licht!
Aber es giebt nicht blos Sonnenwenden, die sich nach den ewigen Gesetzen des Planetenlaufs regeln. Es giebt auch Sonnenwenden in dem Leben und Schicksale der Nationen. Solch’ eine Zeit der Sonnenwende für unser Volk war es, als Luther von Papst und Kaiser die Freiheit des Geistes für unsere Nation zurückforderte, und eine hocherhabene Sonnenwendfeier war es, als am 25. Juni 1526 auf dem Reichstage zu Speier die lutherischen Stände des Reichs unter dem Zuruf alles Volks ihren Protest einlegten gegen jede Vergewaltigung ihres Glaubens und Gewissens. Eine verhängnißvolle Sonnenwende war es ferner, als in den Junitagen 1815 das deutsche Volk auf den niederländischen Schlachtgefilden von dem fremden Tyrannen die Freiheit endgültig sich zurück erkämpfte. Unsere Väter wissen noch von ihrer Feier zu erzählen. Die letzte und folgenschwerste Sonnenwende in dem Leben unserer Nation aber haben wir alle selbst mit erlebt in jenen schlachtgewittertobenden Junitagen des Jahres 1866, aus deren wildem Sturm und Drange die zwiegespaltene deutsche Nation sich näher zur Einheit hinüberrettete. Das Nationalfest zu Worms ist die jüngste Feier der Sonnenwende, und unsere ganze Nation hat Amen dazu gesagt. Zwar wurden dem Gotte des Lichts keine wirklichen Feuer angezündet, dafür aber loderten sie in den Herzen des deutschen Volks auf mit einem Flammenschein, der nicht vergehen wird bis an’s Ende der Welt.
Schon am Abend des 23. Juni war unter viel tausend Festgästen auch ich unter Donner und Blitz in Worms eingerückt. Unter Donner und Blitz, als wollte Gott der Herr selbst in der Sprache, die er redet, dem bevorstehenden Feste seine Nähe, seine Gnade und seinen Segen vorher verkünden.
Worms, welche Erinnerungen knüpfen sich an diesen Namen! Sage und Poesie vereinigen sich, ihn mit einem Glorienschein der goldensten Strahlen zu umweben, und in der Geschichte unseres Volkes steht er auf vielen Seilen mit unvergänglichen Lettern eingeschrieben. Die Treue, der heiligste Zug des deutschen Volkscharakters, ist es, die diese „wünnesame“ Stadt vor allen Städten Deutschlands verklärt hat. Die Treue, die Mannentreue ist das Band, welches die Gesänge des Nibelungenliedes zu einem Ganzen zusammenschließt, so herrlich, wie es nur noch einmal die Dichtung der Griechen der Menschheit geboten hat. Die Treue, die Treue zu ihren Kaisern in dem wilden, Jahrhunderte langen Kampfgewühl des Streites, welchen diese mit den Päpsten um die Herrschaft der Welt führten, ist es, die ihr zu ewigem Lob und Ruhm die Devise eingebracht hat:
„Worms, in Treue sonder Wank,
Aller Städte Preis und Dank,“
Die Treue, die Treue zu Gott endlich war es, die hier zu Worms ihren mächtigsten Ausdruck in dem Worte Luther’s gefunden hat, welches ebenfalls wie Blitz und Donner in die Herzen der Menschheit eingeschlagen hat, das hohe Wort: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!“
Es ist doppelt und dreifach geweihter Boden, den wir treten!
Und wie sie sich rührte und regte, die wackere Bevölkerung von Worms, um die letzte Hand an den Festschmuck ihrer Stadt zu legen! Kränze, Guirlanden, ganze Alleen von jungen Bäumen, Flaggenmaste, bunte Ballons, sinnige Sprüche, in Nahmen von Kränzen an Laubgewinden aufgehangen, und Fahnen, Fahnen nicht zu zählen, darunter aller Welt zum Staunen am zahlreichsten und hervorragendsten vertreten schwarz-weiß-roth, die Fahne des norddeutschen Bundes! „Quod felix faustumque sit!!“ (Was Glück bedeuten möge!) dachte ich bei mir, und gleich bei meinem Eintritt wurde es mir zur freudigsten Gewißheit, daß das Fest der Enthüllung des großen Luthermonumentes, welches die Gartenlaube in Nr. 27[WS 1] ihren Lesern in gelungenem Bilde vorgeführt hat, eine weit tiefere und umfangreichere Bedeutung gewinnen würde, als es anfangs den Anschein hatte.
Denn schon lange vorher hatte sich das Gerücht verbreitet, daß die streng kirchliche Partei in der lutherischen Kirche Alles daran setzen wolle, die Leitung des ganzen Festes in ihrem Sinne in der Hand zu behalten. Unterstützt wurde dieses Gerücht noch durch den Umstand, daß das Festcomité in der That für die verschiedenen Redefeierlichkeiten ausschließlich Persönlichkeiten gewählt hatte, deren exclusiv orthodoxe Stellung über jeden Zweifel erhaben war. Zu gleicher Zeit theilte man sich mit, daß die betreffenden Herren sogar die bei dem Festbanket auszubringenden Toaste schon längst unter sich vertheilt mit einer Engherzigkeit, die sogar dem Heidelberger [ADB:Schenkel, Daniel|Schenkel]], welcher sich zu einer Banketrede angemeldet, die Erlaubniß dazu versagt habe. Wie viel an diesen Gerüchten authentisch war, mag füglich dahingestellt bleiben. Nur so viel steht fest, daß, wenn die Herren wirklich diesen Plan hatten, sie damit gründlich in’s Wasser gefallen sind. Denn der gesunde Sinn des in Worms versammelten Volkes nahm gleich von vornherein die Führung und behielt sie auch, der Feier das Gepräge echt deutsch-nationalen Geistes aufdrückend, bis an’s Ende.
Und was war dies für ein Fest! Noch jetzt, indem ich dieses niederschreibe, treten mir in der Erinnerung daran – ich kann und will sie nicht zurückhalten – die Thränen in die Augen. Bei aller Begeisterung welches Maß, bei allem Jubel welche Reife, bei aller Berührung so vieler Gegensätze welcher Friede, bei aller Verschiedenheit der Bekenntnißformen welche Liebe, bei aller Bewegung welche Ruhe, bei allen Handlungen welche Weihe! Kein einziger Mißton, so gewaltige Dimensionen das Fest auch annahm! Ein Zusammenklingen und Zusammenrauschen der Herzen und Geister, wie es in so imposanter Majestät vielleicht noch bei keinem Fest, so lange die Erde steht, erlebt worden!
Erwarten Sie von nur keine chronistische Behandlung der ganzen großen, herzerhebenden nationalen Feier. Denn einmal würde, da die Gartenlaube nur wöchentlich erscheint und fast Monatsfrist für Druckherstellung jeder Nummer braucht, meine Beschreibung von den täglich erscheinenden Blättern schon längst überholt sein. Dann aber läßt sich aus dem Zusammenstellen des Nacheinander und Nebeneinander doch niemals das eigentliche Wesen eines Ereignisses, sein gewissermaßen organischer Charakter zur unmittelbaren Anschauung und Empfindung bringen. Auch von der Beschreibung und ästhetischen Würdigung des Denkmals nehme ich geflissentlich Abstand, denn es ist eine alte Erfahrung, daß der sinnliche Eindruck eines Bildes für das Verständniß eines Kunstwerks viel mehr leistet, als der durch das Wort vermittelte. Für die Gartenlaube kann es sich nur um das Festhalten lebensvoller, bleibender, individueller, dem Organismus des Festes selbst entwachsener Züge handeln, die ihre Leser den Geist und den Herzschlag, welche das Fest bewegten, doch wenigstens annähernd mit durchleben und nachempfinden lassen.
Daß das Fest nicht den Charakter eines gemachten, sondern eines sich wirklich und lebendig aus dem tiefsten, inneren Kern deutscher Volksthümlichkeit entwickelnden gewann, ist wohl zumeist dem Auftreten Schenkel’s am Abende der Vorfeier in der Festhalle zu verdanken. An seinem Erfolge, an der jauchzenden Zustimmung des massenhaft versammelten Festpublicums zu der durchaus freisinnigen Auffassung des zu feiernden Ereignisses, wie sie der begeisterte und begeisternde Redner niederlegte, konnte die Partei der Dunkelmänner gleich von vornherein die eng gesteckten Grenzen ermessen für ihre Hoffnung, auf den Gang des Festes maßgebend und führend einzuwirken. Ich hatte an dem Nachmittage desselben Tages den Superintendenten Gerock aus Stuttgart in der Dreifaltigkeitskirche predigen gehört. Man hatte mir diesen Geistlichen als denjenigen bezeichnet, der unter allen von dem leitenden Festausschuß designirten Festpredigern trotz des positiven Standpunktes, [460] den er einnähme, noch immer der freisinnigste wäre. Ließ sich nun auch nicht leugnen, daß seine Rede einige wirklich kraftvolle und schöne Stellen enthielt und auch hier und da des Schwunges nicht entbehrte, so war für mich der Eindruck im Ganzen doch nur der, daß, wenn die Rede des Herrn Gerock den Grundton für den weiteren Gang der Feier angeben sollte, der Verlauf derselben nur ein sehr lahmer geworden sein würde. Es war eine Rede, die so zu sagen mit der einen Hand wieder zurücknahm, was sie mit der anderen soeben erst gegeben hatte. Stellte er zuerst als einen Hauptgewinn der Reformation die freie Forschung dar, so legte er gleich darauf den wichtigsten Accent auf den Glauben. Wies er an einer anderen Stelle darauf hin, wie durch Luther’s kühne That der Geist der Menschen wieder frei geworden sei, so wollte er ihn doch später wieder durch das Wort gefesselt wissen. Auf diese Weise schmeckte die Rede stark nach dem Versuch zu einem Compromiß zwischen der orthodoxen und der freisinnigen Richtung und befriedigte dadurch selbstverständlich weder nach der einen, noch nach der anderen Seite.
Anders bei Schenkel am Abend in der Festhalle! Zwei Redner hatten bereits gesprochen, Dr. Eich im Namen des Festausschusses die Gäste willkommen geheißen, Professor Schlottmann von der Universität Halle-Wittenberg einen Festgruß überbracht, da trat ein kleines, unscheinbares Männchen auf das Orchester und bat um Gehör. „Das ist Schenkel! Der Heidelberger Schenkel! Der Schenkel, der das Leben Jesu geschrieben hat!“ ging es wie ein Lauffeuer durch das Publicum, und Alles drängte sich, um den Redner zu hören, von dem man wußte, daß er den Zionswächtern ein Dorn im Auge sei. Und siehe da! Schon nach einigen Worten brannte es lichterloh in den Herzen und aus den Augen seiner Zuhörer, und nicht enden wollender Jubel unterbrach fast jeden einzelnen Satz der gedankenfreiheitsflammenden Rede. Wohl versuchten es Einige von den Schwärzesten der Schwarzen, ihn zum Schweigen zu bringen. Vergebens! Ein Satz vor Allem war es, der feuersprühend in die Herzen seiner Zuhörer fuhr. „Wenn Luther jetzt wiederkäme,“ rief er mit weithinschallender Stimme, „dann würde er sagen: ‚damals war ich ein Kind, jetzt bin ich ein Mann!’ Und mit der Fahne der Geistesfreiheit in der Hand würde er seinen Weg gehen bis an’s Ende!“ Mit diesem Worte war sein Sieg entschieden, dem Strom des Festes seine Bahn gewiesen, den Finsterlingen ihre Ohnmacht der dominirenden Festesstimmung gegenüber klar gemacht. Von dieser Rede an verschwinden sie fast gänzlich aus der Geschichte dieses Festes.
Von welchem Geiste der Versöhnung und Humanität übrigens in diesen Tagen die allgemeine Stimmung aller nur irgendwie durch die Feier Berührten getragen war, leuchtet wohl am unwidersprechlichsten und unzweideutigsten aus der Theilnahme hervor, welche die Juden von Worms bei jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit an den Tag legten. Sie feierten mit dem Feste unserer Erlösung von Tyrannei und Knechtschaft das ihrer eigenen Befreiung, und es war ein Anblick, der Vielen zu denken geben konnte, wenn jüdische Familien die christlichen Priester, welche bei ihnen als Festgäste einquartiert waren, durch die Straßen von Worms führten, um ihnen die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen. – Als ich an dem Morgen des Hauptfesttages ausging, um mir noch einmal den herzerhebenden Anblick der festgeschmückten Stadt recht tief in’s Gedächtniß zu prägen, da fiel mir auf der Hauptstraße ein prächtig decorirtes Haus auf, weniger wegen des Schmuckes selbst, als wegen des Sinnspruches, welchen es auf den oberen Scheiben der sechs Fenster seiner Front im Erdgeschoß in fußlangen Buchstaben, Weiß auf Schwarz, zur Schau trug. „Wir glauben All’ an Einen Gott!“ stand da geschrieben, und als Illustration dazu schaute ein Jude mit seinem Töchterchen aus einem der Fenster heraus, das Gesicht des Vaters von heller Festfreude strahlend und das Kind jauchzend hinausgreifend nach all’ dem bunten Schmuck und den im Morgenwind auf- und niederwehenden Flaggen und Fahnen. Wäre ich ein Maler gewesen, ich hätte dieses Bild gemalt, so tief ergriffen war ich von der Scene. Wir glauben All’ an Einen Gott! Ja gewiß! – Wie? – Das sei Jedem überlassen! – Von uns soll Keiner mehr seines Glaubens wegen verflucht und verfolgt werden.
Meinen Weg fortsetzend, gelangte ich endlich auch auf die Judengasse und zu der Synagoge. Der freundliche Schließer lud mich ein, näher zu treten und das Innere derselben zu besichtigen.
Es war für mich kein Grund vorhanden, diese Einladung auszuschlagen, und so vertraute ich mich denn seiner Führung an. Freilich für das Auge war da wenig genug zu sehen; aber die frommen Sagen, die er in einfacher Beredsamkeit als an diesen Tempel sich knüpfend mir mittheilte, konnten nicht umhin, meine Aufmerksamkeit und Theilnahme zu fesseln. Mit Stolz erzählte er mir, daß die Wormser Judengemeinde die älteste in Deutschland sei, und zeigte mir die Mauerreste einer Synagoge, die schon fünf Jahrhunderte vor der Geburt Jesu erbaut worden sein soll.
Er berührte die bekannte Legende, nach welcher die Judenschaft von Worms gegen die Kreuzigung Jesu bei dem hohen Rathe zu Jerusalem Protest eingelegt habe. Er zeigte mir die alten vergriffenen und verbräunten Pergamentbände, die, lange vor der Erfindung der Buchdruckerkunst geschrieben, noch heute so wie damals bei dem Gottesdienst benutzt würden. Er hob den Deckel von einer vor der Bundeslade hängenden Ampel, die, wie er mir versicherte, schon sieben Jahrhunderte zum Gedächtnisse von zwei Unbekannten brannte, welche, als die Wormser Judenschaft im zwölften Jahrhundert der Brunnenvergiftung und des Kindermordes angeklagt und in Gefahr war, niedergemetzelt und gänzlich ausgerottet zu werden, sich als die Thäter angegeben und so für die jüdische Gemeinde geopfert hätten. Ich gestehe, es wehte mich aus diesen Erzählungen an wie der Zauber, der über Heine’s „Rabbi von Bacharach“ ausgebreitet liegt, und gern und lange hörte ich meinem Cicerone zu. Dabei drängte sich mir von selbst der Vergleich auf zwischen jenen finstern Zeiten, aus welchen diese Sagen herübertönten, und der lichtvollen Gegenwart, die eben jetzt durch ein Fest ohne Gleichen den Gewinnst an Liebe und Humanität, welchen die Menschheit seit Luther’s Auftreten nach allen Seiten hin eingeheimst hat, feierlich zu bestätigen und seiner sich zu freuen im Begriff war. Bewegt in meinem tiefsten Herzen, nahm ich Abschied von meinem Führer. „Gott, was ein Himmel!“ sagte er, als wir wieder in’s Freie getreten waren, mit einem Blicke nach oben, darauf anspielend, daß das Wetter des vorhergehenden Tages das Fest ernstlich zu stören gedroht hatte. „Ach, wie gut! wie gut! Gottes Segen ist mit diesem Feste! Gottes sichtbarer Segens! Gottes Segen sei auch mit Ihnen! Ein fröhliches Fest! Ein fröhliches Fest!“ Dabei stand dem Mann das Wasser in den Augen. Ich gab ihm die Hand und wandte mich, meine eigene Rührung zu verbergen, schnell zum Gehen. Und in der That, schon jetzt war ein überströmendes Gefühl des Segens über mich gekommen, des Segens, aus dem hohen, heiligen Geiste sich ergießend, dem zu Ehren das heutige Fest gefeiert ward.
Mit Uebergehung alles sonstigen Festbeiwerks, wie des Festzuges und der eigentlichen Festreden, die im vollkommenen Gegensatze zu Luther’s kraftvoll-oratorischer Regel: „Tritt stark auf! Thu’s Maul auf! Hör’ bald auf!“ – die Rede des Herrn Oppermann aus Zittau, des Biographen Rietschel’s, ausgenommen – durch Breite ersetzen zu wollen schienen, was ihnen an Tiefe abging, gelange ich nunmehr zu dem eigentlichen Gipfelpunkte des Festes, der Enthüllung des Lutherdenkmals.
Wo aber nehme ich Worte her, um die Wucht und Gewalt dieses Augenblickes zu schildern?! – Höchster Erschütterung gegenüber ist alles Reden doch nur Stammeln.
Machen wir uns noch einmal in kurzen Zügen die Situation klar!
Vor dreihundertsiebenundvierzig Jahren war ein einfaches Mönchlein, der Sohn eines armen Bergmanns aus Thüringen, in Worms eingezogen, um vor Kaiser und Reich mit einem reineren Christenthum die geschwundene Treue und das verlorene Gewissen des deutschen Volkes von einem Klerus zurückzufordern, der in Sünden und Lastern die heiligsten Schätze unserer Nation vergeudet und verpraßt hatte. Damals mußte es flüchten bei Nacht und Nebel. Heute hat dasselbe Mönchlein die deutschen Fürsten und Völker zu einem Reichstage geladen, den er selbst ausgeschrieben, und sie haben seinem Rufe gehorcht.
Damals lag der Fluch der katholischen Kirche auf seinem Haupt, wie auch noch heute. Heut’ aber gilt er dem deutschen Volke als ein Prophet, wie es einen größeren aus seinem Schooße noch nicht geboren hat.
Damals hatte die Reichsacht seinen Leib den Hunden und den Vögeln unter dem Himmel zugesprochen. Heute hat die deutsche Nation sein Bild in Erz verewigt.
Damals war unser armes Volk von einem grauenhaften
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Priesterthum wie von einem Lindwurm umrungen, und wenn es sich regte, spritzte sein bestes Herzblut noch unter den sich zusammenziehenden Ringen, die das Ungeheuer um dasselbe geschlungen. Heute zittert der Lindwurm, von der siegenden Masse des neuen Siegfried’s getroffen, in schwachen Zuckungen sein letztes Leben aus, trotz aller päpstlichen Allocutionen, bischöflichen Hirtenbriefe und ökumenischen Concile.
Damals hielt der Ultramontanismus seine Hand noch über die Welt. Heut’ hat er aufgehört endgültig über die Schicksale der Völker zu entscheiden. Damals saß ein rechtgläubiger Kaiser, der rechtgläubigsten einer, auf dem Herrscherthrone des deutschen Volks. Heut’ ist es ein Ketzer, mit seinem Haus und seinem Volk noch immer von der katholischen Kirche verflucht, der zum Haupt der deutschen Nation emporgewachsen ist und ihre Schicksale verwaltet.
Tausende und Abertausende erfüllen den Festplatz, die Herzen offen für die Dinge, die da kommen sollen, und von der Ahnung eines herannahenden Augenblicks erfüllt, den so groß und gewaltig Nationen oft in Jahrhunderten nicht erleben. Die mächtigsten Fürsten Deutschlands sind erschienen, – an ihrer Spitze der natürliche Schirmherr deutscher Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Einiger des Reiches – um dem Geist und der That des Bergmannssohnes zu huldigen, zum Zeugniß dafür, daß es noch gewaltigere Dinge giebt in der Welt, als irdische Größe, Macht und Herrlichkeit.
Da weht in der Hand eines Mannes ein weißes Tuch in der Luft. Kanonen donnern, Glockengeläut mischt seinen Schall hinein. Posaunen klingen und aus tausend und aber tausend Kehlen braust es empor, das hohe, heilige Lied, der Schlachtgesang des freien deutschen Geistes, das Lied: „Ein’ feste Burg ist unser Gott.“ Die Hüllen um das Denkmal sinken nieder, allmählich, es ist als ob die mächtige Gestalt Luther’s hinein in den blauen, [462] sonnigen Himmel wachsen wollte! Endlich liegt es da, frei, vor jedem Blick, das ganze Denkmal,[3] ein Denkmal Luther’s, ein Denkmal der Reformation, eine Trophäe, die das deutsche Volk sich errungen in seinem Jahrhunderte langen Kampfe um die heiligsten Güter der Menschheit, ein Siegeszeichen der Freiheit und der Wahrheit, der Liebe und des Glaubens, und vor Allem der ewigen Hoffnung des deutschen Volks, der Hoffnung, die es durch alle Kämpfe getragen hat und weiter tragen wird, der Hoffnung, daß es der Geist ist, und nur der Geist allein, der überwindet!
Als wäre mir ein ungeheurer Schmerz geschehen, so stand ich da bei diesem Anblick. Fassungslos rang ich nach Athem, die Thränen stürzten mir aus den Augen, die Worte versagten mir. Und doch war es nur die ungeheure Erschütterung der Freude, des Jubels, des Entzückens, die über meine überwältigte Seele hereinstürmten. Und wohin ich sah, Gesichter bleich vor tiefinnerster Erregung, Thränen in Aller Augen, sprachloses Entzücken.
Wie die Hülle fiel, wurde es mir auf einmal klar, warum Rietschel so früh gestorben ist. Solche Gedanken, wie dieses Denkmal, denkt ungestraft kein Sterblicher. Die Göttlichkeit derselben sprengt die irdische Hülle, die Ströme der Begeisterung, die einem solchen Schaffen entquellen, reißen die Seele fort und tragen sie weiter, immer weiter, widerstandslos, in’s Meer der Ewigkeit! Aber es muß ein seliges Sterben sein, an der Größe und Herrlichkeit seiner eigenen Gedanken zu sterben! Ein Künstlersterben!
Lassen Sie mich hier abbrechen! Es verschwindet doch Alles, was das Fest noch brachte, neben dem Eindruck dieses Moments.
Nach der Sonnenwende pflegt die Zeit der Ernte herbeizukommen. Möge die Ernte, welche diesem Sonnenwendfeste folgt, der Feier selbst entsprechen: dann wird unser Volk auf Jahrhunderte hinaus gesegnet sein!
- ↑ In den nächsten Wochen wird die Gartenlaube eine sehr lebensvolle Abbildung dieses originellen Schuhplatteltanzes bringen, die wir noch dem Griffel des kürzlich der Kunst und den Seinigen so früh entrissenen talentvollen Münchner Malers Oswald Rostosky verdanken. D. Red.
- ↑ Die am häufigsten vorkommenden Arten der Unterleibsbrüche, zur Beachtung und Belehrung für Jedermann, insbesondere für Bruchkranke. Dargestellt und durch Abbildungen erläutert von Joh. Reichel. Leipzig. Magazin für Literatur.
- ↑ Bekanntlich ist der Guß des Monumentes – wie wir in Nr. 27
des letzten Jahrganges unseres Blattes, wo wir auch die einzelnen Gruppen
und Figuren des Denkmals beschrieben und erläutert haben, bereits ausführlich
erzählt – aus den großartigen Werkstätten der Gräflich Einsiedel’schen
Hütten von Lauchhammer in der preußischen Provinz Sachsen hervorgegangen,
denen somit auch kein unwesentlicher Theil der Ehren des
großen Tages gebührt. Die Redaction.
Es blüht ein Baum, wo der Weg sich trennt.
Es blüht’ ein Baum, wo der Weg sich trennt,
Als sie gingen zur Rechten und Linken.
Die Thräne heiß auf der Wange brennt,
Und die Hände noch Abschied winken.
Einen Heerd, eine Heimath zu gründen.
„Dann giebt’s, du Geliebte, kein Trennen mehr,
Wenn wir drüben uns wiederfinden.“
„Und wann er mir schreibt, und wenn er auch ruft,
Ich lasse ihn nimmer, und auch in der Gruft
Leg’ ich stille mich ihm zur Seite.“
Es blüht kein Baum, wo der Weg sich trennt,
Die Blätter fielen hernieder.
Wann sind’ ich den Liebsten wieder?“
In dem Gotteshaus auf der letzten Bank,
Da saß sie und betete leise:
„O Mariens Sohn, wie so lang, so lang,
Da horch’! Was lieset der Priester nun
Von dem Blatt mit zitterndem Munde?
„Auswandererschiff! … und sie Alle ruh’n
Nun still auf dem stillen Grunde.“
Laut schluchzen die Bräute, die Frauen.
Ach, lägen auch wir auf der Bahre schon,
Im Himmel uns wieder zu schauen!
Auf der letzten Bank in dem Gotteshaus
Sie wankte still, ohne Klage hinaus,
Hat nicht von dem Todten gesprochen.
Nun wandelt sie stumm, mit bleichem Gesicht,
Ruhlos durch des Dorfes Gehege.
Die spielenden Kinder am Wege.
Die Zeit verweht, sie merkt es wohl kaum.
Sie schenken ihr Kleid und Speise.
Sie lächelt nie, doch wie im Traum
„Es blüht’ ein Baum, wo der Weg sich trennt,
Als wir gingen zur Rechten und Linken –
Keine Thräne mehr auf der Wange brennt
Seit dem letzten Abschiedswinken.“
Blätter und Blüthen.
Die beiden kühnsten Gebirgsreiterinnen. Schamyl, der Müridenhäuptling, hatte sich, wie es genau doch nur Wenigen bekannt sein dürfte, im höheren Daghestan gegen die Heerschaaren, welche der nordische Koloß mit seinen thönernen Füßen aus dem Erdboden stampfte und in die Steinwüsten des Kaukasus emportrieb, dergestalt verschanzt, daß es nur den ungeheuersten Anstrengungen der Söhne Rurik’s und der Straßenbaukunst gelang, zu dem Schlupfwinkel des Tapfersten der Tapfern vorzudringen. Schwindelig jäh abfallende Hänge, reißende Gebirgsströme, gesteinverrammte, versteckte Saumpfade, Schurren, Geröllberge, Gräten, Zacken und Felsenmeerklippen mußten chaotisch überwunden werden, um den auf der Lauer liegenden, sprungbereiten Leuen in der eigenen Höhle anzugreifen. Das schlimmste Stück war die Bezwingung des gefährlichen, über den etwa achttausend Fuß hohen Kodorr führenden Klippenpasses. Knochenbrüche, Arm und Beinverrenkungen, Stürze in die Tiefe, Keulenhiebe und aus dem Hinterhalt jählings gezückte Tscherkessendolche harrten derer, die es unternahmen, die Felsenleiter nach Weden und dem Berge Gunib zu Schamyl’s Horst emporzuklimmen, Und dennoch haben einmal zwei Damen, deren Ahnentafel das Fürstenwappen schmückt, den Ritt durch das Felsenlabyrinth zu dem geradezu unzugänglichen Gunibkegel empor machen müssen. Dies zu erzählen und besonders jenen Schönen als Spiegelbild vorzuhalten, welche mittels Sänfte oder Maulesel die breiten Schweizerpässe besiegen, ist die Aufgabe dieser Skizze.
Zu der Zeit, als sich um Schamyl, den Müridenhäuptling, immer mehr Anhänger schaarten, mußten auch die Excursionen oder Raubzüge vom Berge Gunib in die Thäler und Schluchten hinab immer weiter ausgedehnt werden. Die Steinwüste hoch oben bot nichts. Daselbst konnte die Gemse nicht einmal einen dürftigen Halm nagen. Es mußte aber doch täglich in dem Felsenlabyrinth ein großer Mittagstisch gedeckt werden, denn die Gäste vermehrten sich stündlich. Umfaßten anfangs die Raubzüge nur zehn Meilen im Umkreise, so mußten sie schließlich bis auf zwanzig und doppelt so viel erweitert werden. Sie erstreckten sich sogar bis in das von Schamyl’s Horst Tagereisen entfernte, fruchtbare Alassan-Thal. Nicht weit davon wohnte am schattigen Hange des Gebirges auf ihrem Sitze Isinandal die Fürstin Orbeljani mit ihrer Schwester. Beide waren an in russischen Diensten stehende georgische Fürsten verheirathet. Die Männer waren nicht daheim, sondern standen als Generale an der Spitze zweier [463] Streifcorps, welche dem Vordringen Schamyl’s über den Kodorrpaß und weiter in das Alassangebiet Einhalt gebieten sollten.
„Fürchtest Du Dich nicht, meine Liebe,“ sagte nach einer stürmischen, schlaflosen Nacht die Fürstin Orbeljani zu ihrer Schwester, „vor einem - zudringlichen, unheimlichen Besuch? Ich habe in der vergangenen Nacht ein marmorblasses Gesicht mit einen, langen flatternden Turban gesehen. Das Gesicht verzerrte sich zuweilen und der flatternde Turban schlug an mein Gesicht, wie im Sturm die Fahne an den Helm des Fahnenträgers schlägt.“
„Wer sollte uns jetzt besuchen!“ entgegnete die Schwester und liebkoste ihr einige Monate zählendes Kind. „Unsere Nachbarn stehen alle vor dem Feinde und Frauen kommen ohne ihre Männer nicht.“
„Nun, die Nachbarn und Freunde meinte ich nicht. An sie erinnert nicht der flatternde Turban und das blasse Antlitz. Es mahnt vielmehr daran, auf der Hut vor den Feinden zu sein,“ sagte die Fürstin Orbeljani, öffnete das Schlafzimmer ihrer Kinder und weckte ihre Lieben früher als gewöhnlich.
Die Schwester der Fürstin antwortete nur mit einem Lächeln, wie es die Lippen der schönen Grusinerinnen so oft und so schelmisch umspielt. Dann setzte sie sich in ihrem reizenden Morgengewande bequemer in die schwellenden Kissen des Divan.
Während diese wenigen Worte zwischen den beiden Schwestern gewechselt wurden, näherte sich ein glänzender Reiterzug unhörbar, denn die Hufe der Rosse waren umwickelt, dem Sitz der grusinischen Edelfrauen. Der Nebel, welcher auf Thal und Hang lagerte, entzog den Trupp den Blicken etwaiger Späher. Er hatte den Wind von vorn, und die vielen ledigen Handpferde, welche er mitführte, deuteten auf einen Ueberfall. Sämmtliche Rosse galoppirten so vorsichtig thalab, als wäre der Weg mit rohen Eiern gepflastert. Kaum war Isinandal, der Sitz der beiden abwesenden georgischen Fürsten, in Sicht, als der Trupp plötzlich lautlos hielt. Der Naib Schamyl’s, denn dieser befehligte das Corps, ertheilte einige Befehle, und sofort sprengte der Troß in drei, vier Colonnen auseinander. Im Nu war Schloß Isinandal im Besitz des Unterfeldherrn Schamyl’s. Keine Maus konnte ungesehen daraus entschlüpfen oder sich unentdeckt hinein schleichen. Alle Zugänge waren besetzt. Die Reiter schwangen sich, nachdem sie abgesessen, über die Mauer, wie sich der geschmeidigste Turner über eine Barrière schwingt. Die Thore wurden lautlos geöffnet, die Handpferde auf den Schloßhof gezogen, Haupt- und Nebeneingänge des Wohnhauses blitzschnell besetzt, Treppen, Fenster, Galerien erstiegen.
Plötzlich, wie das Gespenst der vergangenen Nacht, aber nicht mit marmorblassem Antlitz und langem flatternden Turban, sondern roth von dem Morgenritt und in russische Uniform gehüllt, stand der Naib Schamyl’s vor den beiden grusinischen Fürstinnen, deren erste Bewegung – sie waren ja im leichten Nachtgewande – der Flucht galt.
„Sie werden überall auf Hindernisse stoßen, meine Schönen! Fliehen Sie nicht, sondern folgen Sie mir so leicht, wie sich der Schmetterling auf Blumen wiegt!“ sagte der Naib statt des üblichen Morgengrußes und verneigte sich vor den Damen.
Leider mußte der Abgesandte des Müridenhäuptlings, der ausgesucht höflich sein konnte und es auch war, so lange sich seine Sitte und zarter Anstand mit seiner Dienstvorschrift und eigenen Sicherheit in Einklang bringen ließen, die Bitte der Damen, sich erst ankleiden zu dürfen, ganz entschieden abschlagen. Im leichten Ueberwurf, den Säugling auf dem Arm, folgte die Schwester der Fürstin Orbeljani dem Naib, welcher ihr noch auf wiederholte Bitte gern mittheilte, daß sie als Geisel für ihren gegen Schamyl kämpfenden Gatten dienen und in das Gebirge emporreiten müsse. Dasselbe galt auch der Schwester, welche bereits unten auf dem Kreuz eines Gebirgsrenners hinter dem Reiter und fest an seinen Gürtel geschnallt saß. Sie brauchte keinen Säugling zu halten. Ihre Kinder hatten schon das Roß getummelt und saßen schon weinend je hinter einem Reiter. Die arme Fürstin mit dem Säugling zitterte wie Espenlaub. Nicht das leichte, nur von einem dünnen Ueberwurf verhüllte Nachtkleid, das der kalte Thauwind neckend zu lüften suchte, ließ sie wie im Todesfrost erbeben, nein, die Angst um ihren Säugling schüttelte sie. Mit der Taille und dem linken Arm an den Gürtel des Naib gebunden, hielt sie weinend mit der Rechten das Kind, und drückte es an die mütterliche Brust. „Pascholl!“ (Fort!) befahl der Naib, der auf seinen Streifzügen nur Russisch sprach und oft den Feind gründlich damit täuschte. Der Zug setzte sich in Bewegung, und die Handpferde nachziehend, welche mit geraubten Lebensmitteln und geplündertem Silberzeug belastet waren, sprengten die Reiter die Thalsohle hinauf.
Die beiden grusinischen Fürstinnen waren vortreffliche Reiterinnen. Wer sie früher im blitzenden Reitkleid, den Falken auf der Faust, in den Bergen einhersprengen und über Schlucht und Kluft setzen sah, beneidete sie nicht nur um das schöne sichere Roß, sondern auch um die seltene Fertigkeit und Anmuth, mit welcher sie ritten und die schwersten Hindernisse spielend besiegten. Sie legten auch jetzt in der kümmerlichen erzwungenen Sitzung hinter dem Reiter auf dem Kreuz des Pferdes die erste Tagereise ohne Beschwerde zurück, obschon der Weg meilenweit über Geröll empor, durch finstere Schluchten hinab und an schroff abfallenden, bewaldeten Thalhängen entlang führte. Am zweiten und dritten Tage vermehrten und vergrößerten sich aber die Hindernisse dergestalt, daß die Reiterinnen oft einen jähen Angstschrei ausstießen und den Naib inständig baten, einen andern Weg einzuschlagen. Ihre Bitten konnten natürlich nicht erfüllt werden, weil die Müriden ihrer eigenen Sicherheit wegen nur die heimlichsten verstecktesten Schlupfwege wählen mußten. Bald ging es über einen reißenden Gebirgsstrom, der von den zu Thal tosenden hundertarmigen Gießbächen gebildet wurde, welche der Thauwind aus Schnee und Eis entfesselte. Nicht selten drehte der Strom das Roß wirbelnd im Kreise herum, und der Reiter mußte seine ganze Kraft und Gewandtheit aufbieten, um sich und die kostbare Geisel, welche Schamyl lebend zu überliefern war, aus den Fluthen zu retten. Bald mußte der Reiter auf dem schmalen Grat eines bodenlosen Abgrundes, in dessen Tiefe das wildeste Gebirgskind kochte, zischte und emporschäumte, stundenlang dahinreiten. Ein Fehltritt des Pferdes überlieferte Roß und Reiter unrettbar dem Untergange. Hier war eine Kluft zu überspringen, vor welcher das gewandte Gebirgsroß selbst scheu zurückbäumte. Ein Hieb mit der Peitsche mußte das Roß zur äußersten Kraftanstrengung treiben, und der Todtensprung wurde mit schnaubenden Nüstern, funkelnden Augen und stampfendem Huf gewagt. Er gelang, gelang wiederholt, aber noch harrten weit gräßlichere Abgründe, schroffere Klippen, steilere Abstürze des Renners. Da schäumte aus dunkler waldüberragter Gebirgsschlucht ein Wildbach so reißend und unzugänglich, daß selbst der Naib Schamyl’s davor zurückbebte. Der Bach war geschwollen und raste gleich einem Wütherich, der die Ketten gesprengt, durch das Thal. Hochauf zischte, leckte der Gischt der tosenden Wässer. Die beiden Fürstinnen rangen die Hände und flehten um Erbarmen. Die Schwester der Orbeljani drückte den halb erstarrten Säugling krampfhaft an sich und hüllte ihn dichter in ihre Kleider, welche zerfetzt, durchnäßt herniederhingen. Da hatte das spähende Auge des Naib eine Stelle entdeckt, die dem Uebergange kein unbesiegbares Hinderniß in den Weg legte. Er klopfte auf die Mähne des treuen Thieres. Das Roß verstand die Liebkosung, hob den Kopf, schüttelte sich, und stand dann regungslos, mit spielenden Nüstern, ohne ein Schweifhaar zu bewegen.
„Dir bangt? Vorwärts!“ und die schwere Peitsche sauste auf den Kopf des Thieres hernieder. Ein Sprung! Das Roß lag in der tosenden Fluth und kämpfte gegen die im rasenden. Wirbel es umzischenden Wogen an. Ein Schrei entrang sich der Brust des gequälten geängstigten Mutterherzens. Das Roß bäumte, suchte Fuß zu fassen, die Felsen zu erklettern. Da sprang es hoch empor. Durch die jähe mächtige Erschütterung entsank das Kind den Armen der Mutter. Es wurde augenblicklich vom Strudel hinweggeschwemmt. Der Schrei der Mutter verhallte im Tosen des Gießbachs. Sie glitt vorn Pferde, um dem Kinde nachzustürzen. Vergebliche Mühe! Der Naib, an den sie gefesselt, zog sie empor, umklammerte sie. Roß und Reiter hatten die jenseitige Anhöhe erreicht, um in ein finster trotziges, wild zerrissenes Felsenlabyrinth hinabzusteigen.
Ueber eine Woche dauerte der entsetzliche haarsträubende Ritt Nachts wurde nur wenige Stunden gerastet, oft aber auch in stockfinsterer Nacht geritten. Halb erstarrt, nur in wenige feuchte modernde Lumpen gehüllt, langten die grusinischen Fürstinnen in dem Felsenhorst Schamyl’s, dem inmitten einer schauerlichen Einöde und Wüstenei gelegenen Weden, an. Der Müridenhäuptling bot Alles auf, um die Unglücklichen, die sofort nach dem Todtenritt auf das Siechbett sanken, zu retten. Es gelang ihm in Folge der emsigen Geschäftigkeit, mit welcher er sie pflegte und mit welcher vor allen Dingen die Frauen Schamyl’s sich um die seltenen Gäste bemühten. Die Gefangenen erhielten das beste Frauengemach in der entlegenen Veste des Gunibkönigs, aber es war niedriger, feuchter und dumpfer, als der schlechteste Keller in Isinandal. Die Auslieferungsangelegenheit zog sich auch in die Länge. Monate verstrichen, und den Armen konnte die Stunde der Erlösung nicht angekündigt werden. Schamyl forderte für die beiden Schönen ein Lösegeld, wie es nur als großes Loos in einer preußischen Lotterie gewonnen werden kann. Die Unterhandlungen, darin die Russen ihre bekannte sprichwörtlich gewordene Zähigkeit mit dem Motto: „Eile mit Weile“ entwickelten, zogen sich so sehr in die Länge, daß der Aar Rutheniens, der doppelhäuptige, oder mit andern Worten der Kaiser selbst die Fäden mit abwickeln helfen mußte. Er stellte eine bedeutende Summe und den Sohn Schamyl’s, der im Petersburger Cadettencorps Exercitien machte, zur Verfügung. Die Unterhandlungen wurden jetzt etwas nachdrücklicher weiter geführt. Sie gelangten aber doch erst zum Abschluß, als die beiden kühnen Gebirgsreiterinnen weit über ein halbes Jahr in der unzugänglichen Steinwüste vertrauert hatten. Endlich wurden sie befreit und der Ritt von den Bergen in das Thal ging auf geebneteren Pfaden vor sich. Er war zwar noch etwas gefährlicher, als ein Ritt über die Gemmi nach dem Leukerbad oder über die Furka nach Reichenbach im Haslithale, hätte aber von den kühnsten Schweizer Reiterinnen immerhin in seinem untersten Abschnitt, namentlich etliche Meilen vor Isinandal, gefahrlos zurückgelegt werden können – besonders m einem bequemen Gebirgssattel, wenn der mit seinen stark benagelten Sohlen sicher tretende Führer den Gaul am Zaume führt.
Die Fürstin Orbeljani hatte sich durch den Ritt ein so hartnäckiges Augenleiden zugezogen, daß sie die Gräfe’sche Klinik in Berlin besuchen mußte.
Die Pariser Straßen-Astronomen. Es giebt in Paris vier Individuen,
die den gestirnten Himmel ausbeuten, um sich auf der Erde
schlecht und recht fortbringen zu können. Der Eine pflanzt sein Teleskop
auf dem Concordienplatz, der Zweite auf dem Vendomeplatz, der Dritte
auf dem Bastilleplatz und endlich der Vierte auf dem Pont-neuf dicht an
der Reiterstatue Heinrich’s des Vierten auf. Der Gelehrteste unter ihnen
ist der Astronom auf dem Vendomeplatz. Ein verfehlter Kopernicus, ist
er im Innersten zerknirscht darüber, daß er nicht, wie Leverrier, Director
des Observatoriums ist und im Senate Sitz und Stimme hat. Er kennt
das Firmament sehr genau und weiß mit vieler Geschicklickkeit die Sonne,
den Mond und die Planeten auf dem Asphalt des schönen Platzes zu
zeichnen. Dabei vergißt er nicht die Größe, die Dauer der Umwälzung
eines jeden Sternes um sich selbst und die Entfernung desselben von der
Sonne unter die Figuren zu schreiben. Der heiterste und gesprächigste
unter ihnen ist der Astronom auf dem Pont-neuf. Er war früher Schreiner
und wohnte auf der Höhe von Montmartre. Das Glück kehrte seiner
Hobelbank beständig den Rücken zu, und es schien ihm auch, als ob er
seinen Beruf verfehlt hätte, als ob er zu etwas Besseren, bestimmt worden
wäre. Eines Abends nun, als er, aus der Weinschenke nach Hause kehrend,
ein gewaltiges Meteor wie eine glühende Bombe den Horizont durchfliegen
sah, entschloß er sich, der Schreinerei zu entsagen und sich der Sternkunde
zu widmen. Schon am folgenden Morgen verkaufte er seine Hobelbank, seine
[464] Hobel, seine Sägen und seinen Holzvorrath, und mit dem Erlös seiner Siebensachen
schaffte er sich ein Teleskop an und stellte dasselbe hinter das eherne
Pferd, auf welchem der eherne König Heinrich der Vierte sitzt. Aber ach!
das Glück, das ihm in der Tischlerwerkstatt so abhold war, hat ihm auch in
seiner astronomischen Laufbahn nicht lächeln wollen, und seine Hoffnung,
wenigstens einen einzigen, wenn auch ganz kleinen Planeten zu entdecken,
ist bis jetzt noch nicht in Erfüllung gegangen.
Die Pariser Straßen-Astronomen verdienen höchstens vier bis fünf Franken an einem Abend; denn die Pariser Bevölkerung hat so viele andere Ausgaben, daß sie keine drei Sous wagen will, um die ausgebrannten Vulcane und ausgetrockneten Seen im Monde, oder die vier Trabanten des Jupiter kennen zu lernen. Der Himmel selbst macht auch gar zu häufig diesen Astronomen einen Strich durch die Rechnung; denn bei schlechter Witterung, die nicht selten gerade dann eintritt, wenn der arme Teufel sein Instrument aufgestellt hat, verdient er keinen rothen Heller und muß sein Teleskop und das Gestell unverrichteter Dinge wieder nach Hause schleppen. Nur wenn eine Sonnen- oder Mondfinsternis bei heiterer Witterung stattfindet, oder wenn sich ein Komet sehen läßt, wird die Einnahme etwas beträchtlich. Allein solche Erscheinungen sind leider selten, und so gehört die Pariser Straßen-Astronomie zu den brodlosen Künsten. Ein Teleskop kostet tausend bis zwölfhundert Franken, und es bringt jährlich ungefähr so viel ein wie es kostet. Das ist auch die Ursache, warum die Zahl der Pariser Straßen-Astronomen so gering ist. Dieselben müssen, beiläufig gesagt, von der Polizei Präfectur zur Aufstellung ihrer Instrumente autorisirt sein. Das ist indeß eine Gunst, welche nur auf besondere Empfehlung erlangt wird.
Es ist höchst wahrscheinlich, daß die gelehrten Mitglieder des französischen Instituts mit einer gewissen Verachtung auf die Straßen-Astronomen herabsehen; es ist aber auch gewiß, daß diese vor den Gelehrten des Observatoriums keine sonderliche Hochachtung hegen. Der Astronom auf dem Pout-neuf nennt Leverrier einen Farceur und zuckt lächelnd die Achsel, wenn er von Babinet spricht. „Alles in diesem Leben kommt auf Zufall an,“ sagte er mir einst, indem er aus seiner kurzen Thonpfeife die Wolken seines Caporals dampfen ließ; „Alles kommt auf Zufall an; allein der Zufall ist dumm, sonst säße ich im Institut, Herr Leverrier aber, wenn er Schreiner geworden wäre, stünde gewiß noch an der Hobelbank.“
J. J. Weber’s „Illustrirte Zeitung“ ist in die Reihe der Jubilare eingetreten: mit dem unlängst vollendeten fünfzigsten Bande feiert sie die Vollendung des ersten Vierteljahrhunderts ihres Bestehens. Sie kann sich rühmen, nicht nur die Mutter, sondern die gewissenhafte Erzieherin der Holzschnitt-Illustration unserer periodischen Presse gewesen zu sein, und selbst als die Nachfolge eine zahlreiche und mit guten Kräften vorwärtsstrebende wurde, behauptete die „Illustrirte Zeitung“ durch sorgfältige künstlerische Ausführung von Zeichnung und Holzschnitt ihren hohen Rang in der gesammten, nicht nur deutschen, sondern europäischen illustrirten Literatur.
Von den Süßigkeiten, welche, besonders in Deutschland, jeder Bahnbrecher zu einem neuen Fortschritt zu genießen hat, ist auch dem ebenso kenntnißreichen wie geschäftstüchtigen J. J. Weber sein Theil geworden. Seiner Energie und klugen Leitung gelang es trotz alledem, das Blatt, welches nicht blos eine Quelle der Bildung für alle Stände, sondern zugleich des Erwerbs für viele Familien ist, durch alle Schwankungen und Stürme der politischen und Geschäftswelt glücklich hindurchzuführen, so daß heute, wo es sein fünfundzwanzigstes Jahr hinter sich hat, seine äußere stattliche Erscheinung wie sein innerer Gehalt dafür zeugt, daß es mitten in seiner kräftigsten Blüthe steht.
Der Hauptwerth, welcher der Illustrirten Zeitung auf die Dauer bleibt, ja mit den Jahren sich erhöht, ist ihre Eigenschaft einer „illustrirten Chronik ihrer Zeit“. Noch nach Jahrhunderten werden ihre Illustrationen beitragen, den Nachkommen das Gesammtbild unserer Gegenwart zu verdeutlichen. Bis heute hat die Illustrirte Zeitung in etwa achtzehn Millionen Exemplaren nicht weniger als fünfundzwanzigtausend Illustrationen in die Welt geschickt. Diese Zahlen sprechen laut genug für das großartige Unternehmen, so daß es einer besonderen Empfehlung desselben für unsere Leser nicht bedarf.
Zur Geschichte der Kunst, Staatsschulden zu tilgen. Schon
vor zweihundert Jahren übte man die Kunst der Zinsenreduction, wenn
auch damals zur Abtragung des schuldigen Capitals und nicht zur Deckung
eines fortdauernden Deficits. Die Kunst ist so einfach, man kommt so
leicht von einer drückenden Schuld, daß es wunderbar ist, daß sie nicht
von allen schlechten Schuldnern ausgeübt wird.
Schon im Jahre 1658 entschlossen sich die Staaten von Holland die Zinsen von einhundertundvierzig Millionen Gulden um ein Procent nämlich von fünf auf vier herabzusetzen. Die Staaten ersparten dadurch einhundertundvierzigtausend Gulden jährlich, wodurch in einundzwanzig Jahren die ganze Schuld abgetragen werden konnte. So viel man weiß, war dies der erste sinking fund (Amortisationsfond). Diese Einrichtung machte Papst Innocentius der Elfte im Jahre 1685 nach, ungeachtet sie eine Erfindung der Ketzer war. Er sorgte dafür, daß drei bis vier Millionen Kronen ausgeborgt wurden, und setzte dann die Zinsen von vier auf drei Procent herab. So gewann die päpstliche Kammer ein Capital, womit sie ihre Schulden jährlich vermindern konnte.
Man sieht, diese Kunst ist so leicht, so natürlich, so ohne alle Hexerei, daß man versucht ist, sich ein Patent daraus geben zu lassen, so weit sie nämlich neu und eigenthümlich ist.
Buchhändlerische Annexion, um die mildeste Bezeichnung zu wählen,
ist die Benutzung von Titel, Format und Ausstattung eines bereits gangbaren
Unternehmens, um etwas neues Aehnliches an dessen Stelle beim Publicum
einzuschmuggeln. Dies ist soeben mit dem seit Jahren erschienenen „Illustrirten
Familien-Kalender“ von Payne’s Kunstanstalt in Leipzig geschehen,
welchem plötzlich der hiesige Verlag von Karl Minde einen solchen
nachgeborenen Zwilling für dieses Jahr voraus in die Welt geschickt hat.
Daß hier eine Täuschung des Publicums beabsichtigt ist, erkennt der Fachmann
auf den ersten Blick, denn Alles, Papier, Farbe und Format desselben,
Titelvignette und innere Einrichtung, ist bei diesem Minde’schen genau
dem Payne’schen Kalender nachgeahmt. Obwohl die Payne’sche Kunstanstalt
und namentlich die Redaction des „Illustrirten Familien-Journals“ sich
nicht so verdient um die Gartenlaube und deren Herausgeber gemacht haben,
daß wir Beiden besondere Zuneigung schuldig wären, so müssen wir doch
das ihrem Geschäftsrechte durch eine solche buchhändlerische Annexion widerfahrene
Unrecht rügen und unser Bedauern darüber aussprechen, daß überhaupt
solche Kunststückchen von Verlagsspeculation im deutschen Buchhandel
noch möglich sind und gegen die eigene Collegenschaft ausgeführt werden.
Deutsch-amerikanischer Gemeinsinn. Unser am Ende dieser Nummer mitgetheilter Schlußbericht über die seiner Zeit unternommene Sammlung für die Abgebrannten der sächsischen Bergstadt Johann-Georgenstadt bringt unter andern zwei von Deutschen in Amerika eingesandte Posten: 215 Thlr. vom Verein „Sachsenbund“ in Philadelphia, vor Jahresfrist von den Herren Louis Winter, Besitzer des Hotel de Saxe, Hermann Gerth, Carl Güttner, Carl Reimer und Heinrich Wolf gegründet, zur gegenseitigen Hülfsleistung sowohl, wie zur Unterstützung bedrängter Landsleute, und 407 Thlr. von einer Anzahl Deutscher in Chicago, die uns mit dem Ausdruck des tiefsten Bedauerns seitens der Beauftragten zugehen, daß der Ertrag nicht größer ausgefallen, was ohne Zweifel geschehen sein würde, „wenn nicht in der letzten Zeit der Gemeinsinn der Deutschen in Chicago durch Aufbringung von 2500 Thlr. für die Familie Mögling, 1000 Thlr. für Freiligrath, 4000 Thlr. für den Einwanderungs-Hülfsverein, 4000 Thlr. für eine neue Turnhalle und 12,000 Thlr. für ein israelitisches Hospital etwas stark in Anspruch genommen wäre“.
Nothwendige Maßnahme. Die Menge unbrauchbarer Manuskripte
aller Art, die wir, da sie uns entweder anonym oder Pseudonym zugingen
oder poste restante remittirt werden sollten, den Verfassern nicht zurücksenden
können, wächst mit jedem Tage mehr an, so daß wir kaum noch
Raum zu ihrer Aufbewahrung haben. Wir erklären demnach, daß,
wenn die betreffenden Einsender ihre Arbeiten nicht binnen
zwölf Wochen von uns reclamiren, wir die Manuscripte
alsdann ohne Weiteres den Flammen übergeben werden.
Leipzig, am 27. Juni 1868.
Für Johann-Georgenstadt.
ging noch ein: Gesammelt beim Turnerkränzchen in Ober-Oderwitz durch C. E. Martini 3 Thlr.; K. in Texel 5 Thlr.; Mülheimer Turner 1 Thlr.; C. B. 3 Thlr.; Turngemeinde in Jena 3 Thlr.; H. Köhler in Striegau, gesammelt beim Abendbrod einer zu Wasser gewordenen Schlittenpartie nach Jauer 4 Thlr. 15 Sgr.; von Margarethe 15 Sgr.; von Schulze in Gifhorn 1 Thlr.; Sammlung in der Neustadt-Krone zu Kempten in den Weihnachtstagen 4 Thlr. 6 Sgr.; Ertrag einer dramatischen Aufführung des deutschen und englischen Literaturkränzchens in Nördlingen, durch H. Kerler 11 Thlr, 123/4 Sgr.; gesammelt bei einer frohen Verlobung am 5. Januar durch P. Kr. in Leipzig 11 Thlr.; Leop. H. in Darmstadt 1 Thlr; ein Ungenannter aus Bamberg 28 Thlr. 17 Sgr.; gesammelt unter den Mitgliedern des Gesangvereins Glocke in Leipzig bei ihrer Christbescheerung 6 Thlr.; R. in R. 17 Sgr. 3 Pf.; Ergebnis einer Sammlung unter Bekannten durch Emma Wehner in Greiffenberg i. S. 3 Thlr.; aus Strückhausen im Großherzogthum Oldenburg 60 Thlr.; aus Hamburg: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt“ 2 Thlr. 15 Sgr.; gesammelt beim Weihnachtsfest des deutschen Arbeiter-Bildungs-Vereins in Marseille 4 Thlr. 10 Sgr.; gesammelt durch Schullehrer Schmeißer in Schöndorf bei Weimar 2 Thlr.; aus Znaym l Thlr.; C. P. in Ilmenau 2 Thlr.; H. G. aus G. W., K. Schw., Pr.-Schl. 5 Thlr.; A. B. in Antwerpen 5 Thlr. 12 Sgr. (20 Fr. Pap.); R. Br. in Rudolstadt 1 Thlr.; gesammelt in gemüthlicher Gesellschaft durch Th. Herrmann in Schwiebus 1 Thlr. 20 Sgr.; ein Ungenannter 3 Thlr.; gesammelt unter einigen Leserinnen der Gartenlaube in A. 3 Thlr. (5 fl. 15 Kr. rh.) und ein Paket Kleidungsstücke; Sammlung der Plemperie in Leipzig beim Carneval 9 Thlr. 4 Sgr.; Ertrag einer Sammlung bei einer Gesangproduction der Liedertafel am zweiten Weihnachtsfeiertage in der Rosenau in Schmalkalden 7 Thlr. 12 Sgr.; Gemeinde Göbschelwitz bei Leipzig 8 Thlr. 211/2 Sgr.; Verein Sachsenbund in Philadelphia 215 Thlr.; eine Anzahl deutscher Bürger in Chicago durch Hrn. H. Raster und H. Claussenius 407 Thlr.
Unsere Sammlung für Johann-Georgenstadt, die nunmehr geschlossen, hat die Summe von 1680 Thlr. 3 Sgr. 3 Pf. ergeben, die wir laut Quittungen an das Hülfs-Comits einsandten.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Nr. 28