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Die Gartenlaube (1869)/Heft 18

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[273]

No. 18.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Mädchen von Liebenstein.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Friedrich Bodenstedt.


1.

Vor einigen Jahren gebrauchte die Stahlbäder von Liebenstein in Thüringen ein junger russischer Fürst von sehr einnehmendem Aeußern, liebenswürdigem Charakter und feiner Bildung. Er führte ein sehr zurückgezogenes Leben und befolgte die Vorschriften des Arztes auf das Gewissenhafteste, stand früh auf, nahm regelmäßig seine Bäder, mied alle größeren Gesellschaften, brachte den größten Theil des Tages in Berg und Wald zu und legte sich frühe schlafen. Er war schon Mitte Mai nach Liebenstein gekommen, um den Frühling in seiner ganzen Herrlichkeit zu genießen, und wurde dabei vom Wetter außerordentlich begünstigt. Eines Tages, als er, in Gedanken an seine ferne Heimath verloren, langsam durch den Wald schleuderte, der über den Feodorenplatz und das Felsentheater zu der alten, den Waldberg krönenden Ruine führt, welche dem Bade seinen Namen gegeben hat, hörte er plötzlich hastige Schritte hinter sich, unterbrochen durch eine sehr wohltönende Stimme, welche rief: „Gnädiger Herr, gnädiger Herr!“

Sich umdrehend, sah er ein hochgewachsenes, maienfrisches Mädchen auf sich zu kommen, das in der linken Hand einen großen Strauß Maiblumen trug und in der rechten Hand ein Taschentuch, welches sie ihm entgegenhielt mit den Worten: „Haben Sie nicht dies Taschentuch verloren, gnädiger Herr?“

Mechanisch nahm er das Taschentuch wieder zu sich und vergaß selbst der Ueberbringerin für ihre Mühe zu danken, so ganz verloren war er in dem Anblick der jungfräulichen Gestalt vor ihm. Die Maiglöckchen in ihrer Linken sahen aus, als ob sie zu ihr gehörten, als ob sie ihr aus der Hand gewachsen wären, so frisch und fühlingsartig war ihre ganze Erscheinung. Sie trug nach thüringischer Sitte ein turbanartig um den Kopf geschlungenes buntes Tuch, welches ihr üppiges dunkles Haar fast ganz verhüllte, die reine hohe Stirn aber frei ließ. Der hohe Hals war ebenfalls mit einem bunten Tuche umwunden, dessen Enden sich vorne in dem viereckigen Mieder verloren. Der kurze Rock ließ die hohe Gestalt etwas weniger groß erscheinen, als sie wirklich war, und zeigte dafür ein Paar nicht gerade ganz kleine, aber schlanke, hochspannige, wohlgeformte Füße.

Dem Russen kam das junge Mädchen, trotz seiner bäuerlich einfachen Tracht, fast wie eine überirdische Erscheinung vor. Er hatte kaum den Muth, sie anzureden, und faßte sich erst ein Herz, als sie, ohne seinen Dank abzuwarten, mit der größten Unbefangenheit, leichten Schrittes, weiter ging.

„Sie müssen mich für recht unartig halten,“ sagte er, sie rasch einholend, „daß ich Ihnen noch nicht einmal für Ihre Mühe gedankt habe, aber …“

„Was ist da zu danken?“ unterbrach sie ihn lächelnd; „ein verlorenes Taschentuch aufheben, ist keine Mühe.“

„Darf ich fragen, für wen Sie die Maiblumen gepflückt haben?“ sagte er bescheiden.

„Nur für’s Haus,“ antwortete sie freundlich; „es ist morgen Sonntag, und da sorge ich immer dafür, daß Blumen im Zimmer sind.“

Sie hatten in diesem Augenblick den Saum des Waldes erreicht, und es war, als ob ein gewisses Zartgefühl den Russen abhielt, das junge Mädchen in’s Freie zu begleiten. Auch war er unter dem Zauber ihrer Erscheinung in einer Befangenheit, deren er sich vergeblich zu erwehren suchte. Doch konnte er den Gedanken nicht ertragen, sich auf längere Zeit von ihr trennen zu müssen.

„Ihre Eltern leben noch?“ fragte er sie in treuherzigem Tone.

„Ja freilich!“ antwortete sie.

„Und würden es Ihre Eltern nicht mißdeuten, wenn ich Ihnen morgen einen Besuch machte?“

„Ei gewiß nicht! Warum sollten sie das mißdeuten? Sie werden uns morgen zu jeder Zeit willkommen sein; nur dürfen Sie nicht während der Kirche kommen, sonst würden Sie Niemanden zu Hause treffen.“

„Wann ist die Kirche?“

„Morgens von halb zehn bis elf Uhr und Nachmittags von zwei bis drei Uhr.“

„Und wo ist Ihr Haus?“

„Wenn Sie mit mir gehen wollen, will ich es Ihnen gleich zeigen.“

Er begleitete sie bis zu ihrem nicht fern gelegenen Häuschen und nahm dort mit einem herzlichen Händedruck, den sie ebenso herzlich erwiderte, von ihr Abschied, mit der Bitte, ihn für morgen bei ihren Eltern anzumelden.




2.

So lange hatte dem jungen Fürsten die Zeit nie gedauert, wie an diesem Sonnabend-Nachmittage, der seinem Sonntagsbesuche vorherging. Er ließ bei Tisch fast Alles unberührt passiren und besuchte gleich nach Tische die Stelle im Walde, [274] wo ihm das schöne Mädchen von Liebenstein begegnet war. Wenigstens fünf Mal kam er im Laufe des Nachmittags nach dieser Stelle zurück, warf sich auf den Rasen nieder und ließ das Bild des Mädchens mit solchem Entzücken an seinem geistigen Auge vorüberziehen, als ob er früher nie etwas so Schönes und Anmuthiges gesehen hätte. Am Sonntag-Morgen ließ ihn seine Ungeduld nicht so lange warten, bis die Kirche vorüber war; er ging selbst in die Kirche und war, trotz der ihm völlig fremdartigen Formen des Gottesdienstes, so andächtig, wie er lange nicht gewesen. Er hatte sich wohlbedächtig einen Platz ausgesucht, wo er seine schöne Waldnymphe bequem sehen konnte, allein er wagte kaum die Augen zu ihr aufzuschlagen, um nicht die Aufmerksamkeit der Andern zu erregen. Auch nach der Kirche hielt er sich in angemessener Ferne von ihr, um ihr möglichst unbemerkt in ihr Haus zu folgen. Der Weg führte sie am Curhause vorüber und hier wurde er durch eine Begegnung aufgehalten, die ihm unter anderen Umständen höchst willkommen gewesen sein würde, in diesem Augenblicke aber sehr störend war. Eine wohlbekannte Stimme scholl ihm in’s Ohr, seinen Namen rufend, und unter den mächtigen Kastanienbäumen vor dem Curhause her sah er seinen Onkel Dimitry auf sich zu kommen, der ihm entgegen rief: „Gottlob, lieber Junge, daß ich Dich endlich finde! Schon über eine Stunde bin ich in diesem langweiligen Neste umhergelaufen, um Dich zu suchen; ich komme direct von Rußland an und bringe Grüße und Briefe für Dich mit; thue mir jetzt den Gefallen und lasse uns ein bischen zusammen frühstücken, die lange Fahrt hat mich hungrig gemacht; beim Essen können wir gemüthlich miteinander plaudern.“

Dabei küßte er ihn nach russischer Sitte auf Stirn, Mund und Wange, war aber nicht wenig erstaunt, daß seine Zärtlichkeit nur geduldet, nicht erwidert wurde und daß überhaupt die Überraschung, die er seinem Neffen durch seinen Besuch bereitete, diesen mehr verlegen als freudig zu stimmen schien.

Der junge Fürst, den wir fortan Alexander nennen wollen, konnte trotz inneren Widerstrebens nicht gut umhin, seinem Onkel in das Curhaus zu folgen und sich von ihm erzählen zu lassen, was er Neues aus der Heimath zu berichten hatte. Nach einiger Zeit sagte der scharfblickende Onkel zu ihm: „Lieber Junge, Dir geht etwas ganz Anderes durch den Kopf, als das, wovon wir sprechen; sage mir aufrichtig, was Du hast, ich will Dich in keiner Weise geniren.“

„Ich war, als ich Dir begegnete, lieber Onkel, eben im Begriff, einen gestern angemeldeten Besuch abzustatten,“ stammelte Alexander in sichtbarer Verwirrung.

„Nun, dazu wird ja nach dem Frühstück wohl noch Zeit sein,“ warf Dimitry ein, „zum Besuchemachen ist es ohnehin noch etwas früh.“

Es entging dem Onkel nicht, daß trotz seiner beschwichtigenden Worte der Neffe immer noch wie auf Kohlen saß und mit seinen Gedanken ganz wo anders weilte, als beim Frühstück. Dem welterfahrenen Manne wurde es nicht schwer, herauszubringen, daß bei dem beabsichtigten Besuche seines Neffen das Herz stark im Spiele war.

„Sind schon viele Badegäste in Liebenstein?“ fragte er scheinbar gleichgültig.

„Nein, noch sehr wenige.“

„Hübsche Damen darunter?“

„Nein, gar keine.“

„Hast Du Dich mit den hier ansässigen Familien bekannt gemacht?“

„Nein.“

„Nun, was zum Teufel setzt denn Dein Herz so in Flammen?“ fragte Dimitry, einigermaßen ungeduldig werdend, „denn daß Du verliebt bist, steht Dir auf dem Gesichte geschrieben. Hast Du vielleicht mit einem hübschen Bauernmädchen ein kleines Verhältniß angefangen?“

„Aber, lieber Onkel …“ entgegnete Alexander unmuthig.

„Nun, was wäre denn das für ein Unglück? Etwas muß der Mensch doch haben, um sich in einem so langweiligen Neste die Zeit zu vertreiben.“

„Ich begreife nicht, was Dir hier so langweilig erscheint,“ erwiderte Alexander in der Absicht, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben; „ich habe von Liebenstein immer als von einem der reizendsten Badeplätze Thüringens sprechen hören und habe Alles noch weit schöner gefunden, als ich erwartete. Diese reine, gesunde Luft, diese Baumgruppen, dieses frische, üppige Grün, diese waldreichen, anmuthig geschwungenen Berge und Höhen ringsumher, diese mannigfaltigen Abstufungen und Fernsichten –“

„Nun höre auf mit Deiner Naturschwärmerei,“ rief Dimitry, „ich habe die schönsten Gegenden der Welt besucht und mich darin gelangweilt, wenn ich nicht Menschen fand, die mir zusagten; und wo ich solche Menschen fand, da konnte ich alle Berge, Wälder, Hügel und Fernsichten entbehren. Ich brauche Aufregungen, Zerstreuung, Gesellschaft, Spiel – das giebt’s hier nicht und darum ist’s hier langweilig. Doch,“ fuhr er einlenkend fort, „Du wirst schon wissen, warum es Dir hier gefällt, und ich will Dich in Deinem Vergnügen durchaus nicht stören. Mein Aufenthalt hier sollte ohnedies nur von sehr kurzer Dauer sein und ich fühle gar keine Lust, ihn länger auszudehnen. Thue mir jetzt den Gefallen, Deinen Besuch zu machen; ich schreibe inzwischen einen Brief, dann kannst Du mich ein wenig umherführen und mit den Herrlichkeiten von Liebenstein bekannt machen, und beim Diner werden wir das Weitere besprechen. Es ist jetzt zwölf Uhr, ich denke, wir bestellen unser Diner gegen vier Uhr, da wird sich für Alles Zeit finden.“

Alexander war froh, endlich loszukommen, er machte sich sogleich auf den Weg, hatte aber Mühe, das Häuschen wieder zu finden, wo er seinen Besuch abstatten wollte, denn es standen mehrere kleine Häuser nebeneinander, die sich sammt den umgebenden Gärtchen auf’s Haar ähnlich sahen. Während er noch so umherspähte, ohne Jemandem auf der Straße zu begegnen, den er hätte fragen können, bemerkte er durch ein offenstehendes Fenster den nicht zu verkennenden Kopf des schönen Mädchens von Liebenstein, dessen Namen er bis dahin nicht einmal kannte. Ungesehen trat er durch das offene Gärtchen näher hinzu und sah, wie sie mit ihren Eltern bei Tische saß, eben im Begriff, das Tischgebet zu sprechen. Der Vater hatte sein Käppchen abgenommen, und alle Drei schauten mit gefalteten Händen andächtig vor sich hin, während die Suppe auf dem Tische dampfte.

Alexander, gerührt von dem erbaulichen Anblicke, wollte sich schon wieder zurückziehen, da es ihm unpassend schien, den guten Leuten gerade bei Tisch in’s Haus zu fallen, allein in diesem Augenblicke bemerkte ihn die Tochter des Hauses, ging auf das Fenster zu und bat ihn, hereinzutreten. Dieser Einladung vermochte er nicht zu widerstehen.

Die beiden Alten empfingen ihn mit einer ungezwungenen Höflichkeit, die ihn überaus wohlthuend berührte. Sie ließen sich beim Essen gar nicht stören, sondern baten ihn, bei ihnen Platz, zu nehmen.

„Marie, bring’ doch einen Stuhl herbei und einen Teller für den Herrn,“ sagte die Mutter, eine wohlerhaltene, noch sehr hübsche Frau von etwa vierzig Jahren, und trotz ihrer großen, auffallend klugen Augen von sehr gutmüthigem Ausdruck.

Marie hätte der Weisung der Mutter nicht bedurft, um Teller und Stuhl für den jungen Fürsten herbei zu tragen, der sich plötzlich als Gast an diesem Tische sah, ohne selbst recht zu wissen, wie er dazu gekommen war; nur Eines fühlte er deutlich, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, der Einladung nicht zu folgen. Obgleich er noch nie unter so bescheidenen Verhältnissen gespeist hatte, fühlte er sich doch gleich ganz wie zu Hause und aß die Suppe, sowie die großen thüringischen Knödel (oder „Hütes“ wie man sie im Volksmunde nennt), welche das Mittagsmahl bildeten, mit einer Behaglichkeit, als ob er nie bessere Sonntagsspeise gekostet hätte. Nach Tisch wurde wieder ein kurzes Gebet gesprochen, und Marie sagte zum Fürsten:

„Wenn es Ihnen recht ist, gnädiger Herr, so wollen wir ein Bischen in den Garten gehen; mein Vater pflegt nach Tisch im Armstuhl hinter dein Kachelofen ein kleines Schlummerstündchen zu halten und ich möchte ihn darin nicht stören.“

Dem guten Alexander war in Mariens Gegenwart Alles recht; er folgte ihr in den Garten und fand ein ganz besonderes Sonntagsvergnügen darin, mit ihr, die etwas Brod mitgenommen hatte, über den Zaun weg die Hühner zu füttern, wobei er lächelnd bald sich, bald Marie, bald die Hühner ansah, gleichsam als wollte er sich überzeugen, daß er nicht träume, sondern wache. Darauf mußte er Marie in den Stall folgen, wo sie ihm, nicht ohne Stolz, zwei wohlgenährte Kühe und vier Ziegen als Viehbesitzthum des väterlichen Hauses zeigte. Auch für diese Thiere hatte sie etwas zu schnuppern mitgebracht, sie streckten ihr gleich [275] beim Eintritt verlangend die Schnauzen entgegen; man sah es ihnen an, daß sie gewohnt waren, bei solchen Besuchen von ihr freundlich bedacht zu werden.

Vom Stalle aus ging es wieder in den Garten, Marie holte im Vorbeigehen einen blauen Strickstrumpf aus dem Hause und sagte: „Wir trinken gewöhnlich erst um vier Uhr Kaffee; die Mutter meint, ob es Ihnen nicht angenehmer wäre gleich jetzt eine Tasse zu trinken, wie die großen Herren nach Tische zu thun pflegen?“

„Ich hätte auch ebensogut bis vier Uhr warten können, liebe Marie, aber wenn er fertig ist, so trinke ich auch gleich gern eine Tasse.“

Die Beiden ließen sich im Garten auf einer Bank nieder, Marie setzte unverzüglich ihren Strickstrumpf in Bewegung, während der Fürst seinen Kaffee schlürfte, den ihm die Mutter, ohne weiter zu fragen, selbst gebracht hatte, indem sie dabei bemerkte:

„Ich dachte mir gleich, daß der gnädige Herr wohl lieber vor der Kirche, als nachher den Kaffee tränke.“

Alexander ließ sich mit Mariens Mutter in ein Gespräch ein und fand ihre Antworten und Bemerkungen überaus verständig.

Inzwischen hatte das Kirchenläuten schon wieder begonnen und ermahnte die Hausfrau ihren Mantel umzuthun (ohne welchen keine verheirathete Thüringerin vom Lande Sonntags ausgeht, und wenn die Hitze noch so drückend wäre), und den Hausvater zu wecken. Marie brachte ihren Strickstrumpf in Sicherheit, um das Gesangbuch dafür zu holen, und Alexander verließ zugleich mit dem frommen Kleeblatt das Haus, kam aber auf seinem Kirchgange nicht weiter, als bis zum Curhause, wo ihn sein Onkel wieder abfing, der unter den schattigen Kastanienbäumen mit gelangweiltem Gesicht auf und ab schlenderte und den Dampf seiner Cigarre mit einer Verdrossenheit von sich blies, als ob ein kurzer Aufenthalt in dein reizvollen Liebenstein zu den schwersten Prüfungen des Lebens gehörte.

„Wohin sollte der Weg jetzt wieder gehen?“, fragte er Alexander, der in seiner harmlosen Unterhaltung mit Marien den Onkel gar nicht bemerkt hatte und unangenehm überrascht war, als dieser ihm plötzlich in den Weg trat.

„In die Kirche,“ erwiderte Alexander.

„Du würdest mir einen großen Gefallen thun, jetzt ein wenig bei mir zu bleiben, um mir vor Tisch die vielgerühmten Herrlichkeiten Liebenstein’s zu zeigen, da ich gleich nach Tisch wieder abzureisen gedenke.“

Alexander verabschiedete sich von Marie und ihren Eltern und versprach, sie bald wieder zu besuchen. Die wackern Leute setzten ihren Weg zur Kirche fort; Dimitry, der schon vorher Marie scharf in’s Auge gefaßt hatte, warf jetzt auch ihren Eltern einen langen, prüfenden Blick nach und zog dann seinen Neffen am Arm mit sich fort.

„Du scheinst die frischen Walderdbeeren zu lieben,“ sagte er nach einer Weile, „und hast keinen üblen Geschmack. Wie lange kennst Du das Mädchen schon?“

„Seit gestern.“

„Seit gestern? und heute nach einem langen Besuche, auf dem Wege zur Kirche, in Gesellschaft der Eltern; das nenn’ ich rasch und schlau zu Werke gehen. Dein Vater würde es nicht glauben, wenn ich es ihm sagte, und ich selber hätte dem jungen, schüchternen Heiligen so etwas nicht zugetraut.“

In dem Tone, mit welchem dies gesagt wurde, lag etwas Verletzendes, Herausforderndes, und Alexander hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, hielt sie aber zurück bei dem Gedanken, daß sein ihm wenig sympathischer Onkel nur auf einige Stunden in Liebenstein verweilen werde, die er nicht in Unfrieden mit ihm verbringen wollte. Er schlug ihm vor, mit ihm einen Waldspaziergang nach der hohen Klinge zu machen, und Dimitry ging darauf ein, blos, wie er sich ausdrückte, um die Zeit todt zu schlagen. Beim Anblick der mannigfaltigen Naturschönheiten, auf welche der empfängliche Alexander ihn aufmerksam machte, hatte er nur ein gleichgültiges Achselzucken, und das einzige Ziel, welches er in der Unterhaltung verfolgte, war, seinen Neffen zu bewegen, spätestens in vierzehn Tagen nach Baden-Baden zu kommen, wo sich noch andere Verwandte und Freunde seines Hauses einfinden würden. „Baden-Baden,“ sagte er ein Mal über’s andere, „ist nach Paris der einzige Ort, wo man leben kann, ohne sich zu langweilen.“

Alexander, dessen Gedanken bei Marie waren, ließ seinen Onkel reden, ohne mehr als nöthig zu antworten, und war froh, als er ihn am Abend wieder los war, denn der Onkel hielt Wort und fuhr gleich nach dem Diner, an dem Alexander nur zum Schein theilnahm, wieder ab, um am Spieltische und bei den Bajaderen in Baden-Baden die Aufregungen zu suchen, welche er in den friedlichen Naturreizen von Liebenstein nicht finden konnte.

Schon am folgenden Tage machte Alexander „seiner Marie“ (wie er sie in Gedanken nannte) schon wieder einen Besuch, fand aber weder sie noch ihre Eltern zu Hause und erfuhr von einem kleinen Mädchen, welches vor der Thür des Nachbarhauses saß, daß sie auf dem Felde beschäftigt sei. Er besann sich eine Weile, was er thun sollte; der Gedanke, Marie den ganzen Tag nicht zu sehen, war ihm unerträglich; bei Tisch mochte er die guten Leute nicht wieder überfallen, und so entschloß er sich, sie auf dem Felde aufzusuchen, was ihm denn auch mit Hülfe des kleinen Mädchens, dem er gleich vorweg ein großes Geldstück zur Belohnung gab, glücklich gelang. Er fand sie beschäftigt, Bohnenstangen in das Feld zu stecken, und sie waren so eifrig bei der Arbeit, daß sie sich durch seine Ankunft durchaus nicht stören ließen. Er wurde freundlich bewillkommt, aber zu einer gemüthlichen Unterhaltung bot sich keine Gelegenheit. Es blieb ihm nichts übrig, als sich anzubieten auch bei der Arbeit zu helfen, was ohne weitere Umstände angenommen wurde. Marie gab ihm lachend die nöthigen Anweisungen, und der Alte sah mit Vergnügen, daß sich der junge Fürst unter der Leitung seiner Tochter sehr anstellig zeigte, obgleich er sich in seinen zierlichen Lackstiefeln und feinen Handschuhen als Ackerbauer drollig genug ausnahm und es keines großen Scharfblicks bedurfte, um zu merken, daß er solche Arbeit zum ersten Male im Leben verrichtete. Es lag ihm aber daran den wackern Leuten zu zeigen, daß es ihm nicht an Kraft und gutem Willen fehle, tüchtig zuzugreifen, und so ging das Stangeneinstecken rüstig von Statten.

Am andern Morgen fand er sich wieder bei der Arbeit ein; diesmal galt es Rüben zu stecken, was ihm ein bischen schwerer ankam, da er sich immer dabei bücken mußte; doch ließ er sich die Mühe nicht verdrießen und war glücklich, so oft ihm ein lohnender Blick aus Mariens braunen Augen dafür zu Theil wurde. Die Arbeit hatte schon am vergangenen Tage seinen Appetit so mächtig geweckt, daß er nicht begreifen konnte, wie die Leute bei so einfacher Kost bestehen konnten. Da er am Sonntag ihr Gast gewesen war, so hielt er es nicht für unpassend, sie auch einmal zu bewirthen, wozu sich gleich am folgenden Tage gute Gelegenheit bot, da ein Festtag war, der auf höhere Veranlassung durch den berühmten Salzunger Kirchenchor verherrlicht werden sollte. Alexander’s Einladung wurde von Mariens Eltern mit unbefangener Dankbarkeit angenommen, und es traf mit den Wünschen des jungen Fürsten zusammen, daß es ihnen lieber war, das Mahl in ihrer kleinen Häuslichkeit einzunehmen, als in dem Curhause. Alexander hatte sich schon so an die kleine Familie und an den traulichen Verkehr mit Marie gewöhnt, daß er den Gedanken gar nicht fassen konnte, sich von ihr trennen zu müssen, und daß er nie einem Tage mit solcher Freude entgegengesehen, wie dem folgenden, den er wenigstens zur Hälfte an der Seite Mariens gemüthlich zu verleben dachte.

Der Gesang, des Salzunger Kirchenchors fand unter der Leitung des trefflichen Cantor Müller am Festmorgen im Cursaale statt. Obgleich noch wenig Badegäste in Liebenstein waren, hatte sich doch aus der Nähe und Ferne ein zahlreiches Publicum eingefunden, und Maria mit ihrer Mutter waren auch unter den Zuhörern; der Alte war zu Hause geblieben. So schwer es dem jungen Fürsten ankam, seine Augen und Gedanken von Marie abzulenken, wurde er doch so ergriffen von den nur Compositionen älterer Meister enthaltenden weihevollen Klängen des wunderbar geschulten Chors, daß er seine Bewegung kaum bemeistern konnte. Als das Kyrie eleison von Palestrina erscholl, brachen ihm unwillkürlich die dicken Thränen reinster Andacht und Begeisterung aus den Augen. Es gemahnte ihn an den schönen heimathlichen Kirchengesang im Jungfrauen-Kloster zu Moskau, wohin ihn seine fromme Mutter so oft in seinen Kinderjahren geführt hatte, und wenn etwas dienen konnte, ihm Liebenstein noch heimischer und lieber zu machen, als es ihm schon war, so war es dieser erhebende Kirchengesang, der mit dem vierundzwanzigsten Psalm von Neidhardt schloß, welcher beginnt: „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdboden und was darauf wohnt.“

Er fühlte das Bedürfniß, sich erst einsam eine Stunde im [276] Walde zu ergehen und seine sich überstürzenden Gedanken und Gefühle zu ordnen, bevor er Mariens Haus wieder betrat, wohin sein Diener beauftragt war, das eigens bestellte Mittagsmahl zu bringen. Er hatte bis dahin noch nicht recht darüber nachgedacht, was aus seinem Verhältniß zu Marie eigentlich werden sollte, und fühlte sich jetzt wie durch eine höhere Macht getrieben, darüber mit sich in’s Reine zu kommen. Als er den Weg nach Mariens Haus antrat, war sein Entschluß gefaßt, und mit aufgeräumtem Gemüthe setzte er sich an die kleine, aber wohlversorgte Tafel, um seine gastlichen Pflichten zu üben. Es freute ihn herzlich, zu erfahren, daß auch auf Marie und ihre Mutter der Kirchengesang einen tiefen nachhaltigen Eindruck gemacht hatte. Marie war besonders von der alten Kirchenmelodie, harmonisirt von Prätorius, ergriffen worden: „Thu’ recht, nichts scheu, auf Gott vertrau, er wird Dein’ Sach’ wohl wenden, er hat’s in Händen“, während die Mutter mehr Wohlgefallen an den mehr künstlich von David Perez componirten Bibelversen (Matth. 25, V. 6): „Um Mitternacht ward ein Geschrei, siehe: der Bräutigam kommt, geht aus, ihm entgegen“, gefunden hatte.

Alexander glaubte darin eine gute Vorbedeutung für das, was er auf dem Herzen hatte, sehen zu dürfen; doch rückte er nicht gleich damit heraus, sondern erzählte erst lange von seiner Heimath, von den Gütern seiner Eltern, wo er seine Kinderjahre verlebt, von dem malerischen Moskau mit den goldenen Kuppeln und dem stattlichen Petersburg mit seinen schnurgeraden Straßen. Endlich aber drängte es ihn doch, seinem Herzen Luft zu machen, als der Alte wieder im Lehnsessel hinter dem Kachelofen sein Schlummerstündchen hielt, die Mutter in der Küche den Kaffee kochte und Alexander sich mit Maria allein im Garten befand. Sie saßen dicht beisammen auf einer Bank, von lang herabhängendem Goldregen beschattet, Hand in Hand. Es war das die größte Vertraulichkeit, die er sich bis dahin erlaubt hatte, jetzt aber konnte er sich nicht enthalten, den Arm um sie zu schlingen, sie an sich heranzuziehen, einen Kuß auf ihre Stirn zu drücken und sie dann strahlenden Auges zu fragen: „Marie, willst Du mein Weib werden?“

Sie hatte sich Alles gefallen lassen, ohne zu widerstreben und ohne entgegen zu kommen, bei dieser Frage wand sie sich aber unwillkürlich von ihm los und war wie aus den Wolken gefallen.

„Gnädiger Herr,“ sagte sie, „das habe ich nicht um Sie verdient!“

In diesem Augenblick kam die Mutter mit dem Kaffee in den Garten. Alexander ließ sich durch sie nicht stören, er suchte die sich sträubende Marie wieder an sich heranzuziehen und sagte mit dem sanftesten Ausdruck:

„Du glaubst doch nicht, Marie, daß ich Dich habe verletzen wollen? Wie kann ich Dir einen größern Beweis meiner Liebe, meines Vertrauens und meiner Achtung geben, als indem ich Dich zu meiner Frau mache?“

„Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein, gnädiger Herr, zu einer großen Dame taugt ein so einfaches Landmädchen, wie ich bin, nicht. Ich habe Ihre Freundlichkeit gegen mich nicht für Liebe genommen, sondern für freundliches Wohlwollen, und ich bin Ihnen herzlich entgegengekommen, weil Sie so lieb und gut sind und ich Sie gern habe; aber der Gedanke, Ihre Frau zu werden, wäre mir nicht im Traume gekommen. Die Kluft zwischen uns ist zu groß.“

„Da hat Marie Recht,“ fiel die Mutter ein, welche das Letzte gehört und das Vorhergehende schnell errathen hatte, „eine so ungleiche Ehe thut nimmer gut. Keine Ehe thut gut, zu welcher die Eltern nicht ihren Segen geben, und das würden Ihre Eltern nicht thun, wenn Sie Marie heirathen wollten.“

Sie sagte das mit einer Sicherheit, als ob sie dergleichen Fälle schon öfter zu behandeln gehabt hätte.

„Sehen Sie, gnädiger Herr,“ fuhr sie fort, „ich bin in meiner Jugend auch ein ganz hübsches Mädchen gewesen, wie ich ohne Ruhmredigkeit sagen darf, und habe mit den Männern allerlei Erfahrungen gemacht, ohne vom rechten Weg abgeleitet worden zu sein. Ich hätte auch leicht über meinen Stand hinaus heirathen können, und habe es nicht gethan, weil ich ein sicheres Glück, nach mir anerzogenen, klaren Begriffen, einem unsicheren Glücke, nach mir fremden Begriffen, vorzog. Vielleicht mag es auch dazu beigewirkt haben, daß ich in meiner Jugend bei hohen Herrschaften gedient, in deren Hause das Glück nicht wohnte, obgleich sie an allen den Gütern Ueberfluß hatten, in welche man das Glück zu setzen pflegt. Meine gute Mutter pflegte zu sagen: Es giebt kein besseres Glück auf Erden als Gesundheit, Gottvertrauen, häuslichen Frieden und das Bewußtsein nach Kräften zu arbeiten und seine Pflicht zu thun.“

Der junge Fürst war nicht wenig überrascht, eine so kühle Aufnahme seines Antrages zu finden, durch welche er geglaubt hatte, eine große Freude im Hause hervorzurufen; doch gab er sich nicht so leicht gefangen.

„Ich habe gedacht,“ sagte er, „daß Marie mich ein Bischen lieb hätte; ihre Freundlichkeit berechtigte mich, dies zu glauben; allein ich sehe nun, daß ich mich geirrt habe.“

Hiergegen protestirte Marie und ihre Mutter auf das Eindringlichste; indeß der junge Fürst fuhr kopfschüttelnd fort: „Wenn Marie mich lieb hätte, so würde die Freude, mir vor Gott und den Menschen angehören zu können, alle Bedenken leicht überwinden. Auch meinen Wünschen standen solche Bedenken entgegen –“

„Die noch nicht überwunden sind, gnädiger Herr,“ fiel ihm die Alte in’s Wort. „Wenn Sie auch Ihren Entschluß schnell genug gefaßt haben und (davon bin ich überzeugt) es vollkommen ehrlich mit Marie meinen: die Zustimmung Ihrer Eltern wird nicht so leicht zu gewinnen sein. Sie haben uns viel von Ihrer lieben Mutter erzählt, an der Ihr Herz besonders zu hängen scheint, von Ihrem Vater haben Sie fast gar nicht gesprochen, ich mochte nicht fragen warum; es wird wohl seine guten Gründe haben; aber wenn ich auch von Ihrem Vater absehe, würde es Ihre Mutter nicht unglücklich machen, wenn ihr einziger Sohn ihr eine Frau zuführte, welche nichts von dem hat, wonach man in Ihren Kreisen den Werth der Frauen zu schätzen pflegt?“

„Meine Mutter würde bald das unverdorbene Herz Mariens schätzen lernen und dann alles Uebrige als Nebensache betrachten. Auch habe ich gar nicht die Absicht, mit Marie in der großen Welt zu leben; ich werde ihr eine Thätigkeit anweisen, welche ganz ihren Gewohnheiten und Neigungen entspricht. Wir werden entweder auf einem meiner Güter im Innern Rußlands leben, oder ich werde, wenn es ihr oder Euch lieber ist, hier in der Nähe ein Gut kaufen, das sie mir helfen soll zu bewirtschaften, denn ich habe mich von jeher mehr zum Land- als zum Stadtleben hingezogen gefühlt und jetzt hier bei Euch, bei dem bescheidensten Tagewerk kennen gelernt, welcher Segen in geregelter Arbeit liegt. Darum, wenn Marie sich als meine Frau glücklich fühlen kann, so fehlt unserem Glücke nichts als Eure Einwilligung –“

„Und die Einwilligung Ihrer Eltern,“ fügte die Mutter hinzu. „Bis Sie uns diese bringen, lassen Sie uns nicht weiter von der Sache reden, damit nicht Hoffnungen genährt werden, die doch nicht erfüllt werden können.“

„Sie werden erfüllt!“ rief Alexander, „dafür laßt mich sorgen.“

„Sobald Sie die Einwilligung Ihrer Eltern haben, soll Ihnen die meinige nicht fehlen,“ sagte die Mutter in ebenso entschiedenem Tone.

(Schluß folgt.)




Der Wassereinbruch in Wieliczka.

Von Dr. W. Hamm.

„Das Salzwerk Wieliczka ist verloren! Ein gewaltiger Einbruch unterirdischer Wasserströme füllt mit reißender Geschwindigkeit seine Räume! Die Stadt und ihre Bewohner sind in höchster Gefahr!“ – Diese Schreckenskunde durchlief in den letzten Tagen des November 1868 die Zeitungen und fand überall bedauernden, auch zürnenden Nachhall. Denn wer kennt nicht Wieliczka? In der Schule schon ist uns mit vielen fabelhaften Ausschmückungen erzählt worden, daß es das größte und merkwürdigste Salzbergwerk der ganzen Welt sei, Tausende haben es befahren und bewundert. Sein Alter reicht bis in graue Vorzeit.

[277]

An der überschwemmten Strecke (Horizont) Austria in Wieliczka.
Nach der Natur aufgenommen von W. H.

[278] Gewöhnlich wird angenommen, es sei im dreizehnten Jahrhundert aufgefunden worden, und zwar auf das Gebet hin der heiligen Kinga (Kunigunde), der Gattin Herzogs Boleslaus des Verschämten, welche ihren Ring in einen ungarischen Salzbrunnen geworfen und denselben später bei Bochnia von einem Salzkrystall umschlossen wiedergefunden habe; allein es ist verbrieft, daß schon im elften Jahrhundert Wieliczka ein „Magnum Sal“, eine große Saline, gewesen ist. Sie hat bis auf unsere Zeit merkwürdige Schicksale und Wechselfälle erlebt, wie das Land, dem sie angehört, aber immer ist sie unerschöpflich geblieben, hat sich alljährlich erweitert, im Ertrag verbessert, und verspricht noch auf Jahrhunderte hinaus eine stetige, reiche Ausbeute.

Ehe man mit der Vorsicht des jetzigen wissenschaftlich regelrechten bergmännischen Betriebs verfuhr, besonders in jenen Zeiten, wo das Werk an Pächter vergeben war, welche, unbekümmert um die Zukunft, abbauten, was ihnen am bequemsten zur Hand stand, hatten sich zahlreiche Unglücksfälle ereignet; heute noch sieht man die Spuren furchtbarer Tagbrüche – weiß man doch mit Bestimmtheit, daß die ganze Stadt Wieliczka, welche unmittelbar über den unterirdischen Salzhöhlen erbaut ist, sich im Laufe der Jahre beträchtlich gesenkt habe; man will sie früher von dem dreiviertel Meilen entfernten Krakau aus überblickt haben, was heute nicht mehr möglich ist. Auch von verheerenden Wassereinbrüchen sind beglaubigte Nachrichten genug vorhanden, wenn es gleich der Bergmannskunst immer gelungen ist, diese zu bewältigen und unschädlich abzuleiten. Aber mehr als einmal haben sie die Bevölkerung der Salzstadt aus ihren damaligen Holzhütten in die Flucht gejagt, und die Ueberlieferung hat mit romantischen Zusätzen die Angst vor solchen Ereignissen in den Gemüthern wach gehalten. Daher war es nicht zu verwundern, daß das jüngste Unglück eine so gewaltige Aufregung hervorbrachte. Unverstand und Aberglaube, zum Theil auch der Eigennutz, nährten sie, mancher Besitzer glaubte die Gelegenheit benutzen zu müssen, um sein baufälliges Häuslein zu gutem Preise an den guten Mann, Aerar genannt, zu bringen; die nimmersatten Tageblätter bemächtigten sich des willkommenen Sensationsstoffes in stiller Zeit; die derbsten Uebertreibungen wurden ausgeschrieen, und eine Unzahl von Projectenmachern bestürmte Regierung und Publicum mit Rettungsplänen, einer abenteuerlicher als der andere.

Allerdings standen unermeßliche Werthe auf dem Spiel, aber nicht unwiederbringlich. Denn es ist gar kein Zweifel, daß das Land Galizien noch unendlich größere Salzschätze in seinem Schooße birgt, als Wieliczka jemals geliefert hat; an zahlreichen Orten brechen die Salzquellen zu Tage, stößt der Brunnengräber auf gesättigte Soole; eine Ausnutzung erschien aber bisher völlig überflüssig, das Monopol gestattete neben der großen Saline nur einigen wenigen Sudwerken den nicht einmal lohnenden Betrieb. Nichtsdestoweniger durfte jedoch nicht daran gedacht werden, das weltberühmte, wohlorganisirte Bergwerk, an welches das Wohl von Tausenden gebunden ist, ohne Kampf aufzugeben; er ward aufgenommen, anfangs mit Bedenken und Irrthum, allein die Kraft erstarkte, die Energie erwachte, und jetzt ist es ein lehrreich erhebendes Schauspiel, zuzusehen, wie hier der Mensch ringt mit den Gewalten der dunklen Tiefe, in dem Willen und der Hoffnung, ihrer Herr zu werden.

Es waren besonders günstige Umstände, welche mir verstatteten, Augenzeuge zu sein von dieser entschlossenen Bekämpfung eines unheimlichen Feindes, unter und über der Erde Vieles zu sehen, was Anderen unzugänglich bleibt, zu erfahren, was nicht Jedermann zu wissen braucht – wenngleich mit löblicher Umsicht den Gästen nicht das mindeste Hinderniß bei dem Besuche des Bergwerks, nach wie vor, in den Weg gelegt wird. Nebenbei sei ausdrücklich bemerkt, daß dieser Besuch völlig kostenlos geschehen kann, die Bergleute dürfen sogar bei strenger Ahndung nicht die kleinste Gabe annehmen oder gar fordern. Am 20. Februar befuhr ich das Werk in Begleitung einer Anzahl ausgezeichneter Ingenieure und unter einer Führung, wie man sie besser und fachkundiger wohl nicht haben kann. Wir fuhren, nach Anlegung der Grubenkittel, ein im Tagschacht Danielowice, der seinen Namen, wie viele Schachte und Strecken einem früheren Bergcommissär verdankt, welcher ihn im Jahre 1640 anlegte. Die Einfahrt ist so bequem wie möglich; in einer geräumigen Vorhalle wartet man, bis die Gesellschaft beisammen ist, oder betrachtet einstweilen die dicht daneben befindliche St. Antoniuscapelle mit ihren Altären, Heiligen, Kanzeln und Geräthen, sämmtlich aus festem Grünsalz herausgehauen, das Werk eines schlichten Bergarbeiters, dessen Name unbekannt ist, aus dem siebzehnten Jahrhundert, ohne allen Kunstwerth und fast grotesken Eindrucks, wenn man das Material und den Bildner vergißt.

Hier sei gleich beigefügt, daß sich auf diese früher täglich zum unterirdischen Gottesdienst benutzte Capelle reducirt, was man in älteren Reiseschriften und geographischen Handbüchern gefabelt hat von aus dem Steinsalz gehauenen ganzen Kirchen und Dörfern. Es bleibt doch an Wundern und imposanten Domen der Tiefe genug übrig. Die letzteren, weite, unregelmäßige Wölbungen, sind entstanden durch den Abbau der ungeheuren Grünsalzkörper – bis zu dreitausend Kubik-Lachter Mächtigkeit und darüber – welche im oberen Mittel des Salzgebirgs eingebettet sind. Dieses führt überhaupt drei Hauptsalzgattungen: das Grünsalz, von seiner grünlichen Farbe benannt, durch Thon verunreinigt; das Spiza-Salz, welches seine Bezeichnung von aus der Zips (Spisa) eingewanderten Bergleuten erhalten hat, dunkelgrau, mit organischen Resten vermengt; und das Szybicker Salz, von Szybik, Schacht, das in drei regelmäßig übeinander von Osten nach Westen allmählich abfallenden Flötzablagerungen ansteht, das reinste von allen, weiß und von festem Gefüge. Wir begegnen diesen verschiedenen Salzen auf der sogenannten Gasttour, d. h. den Wegen, welche die gewöhnlichen Besucher geführt werden. Anfänglich folgten auch wir denselben. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, die oft wiederholten Wunder dieser vielverschlungenen Unterweltreise auf’s Neue zu beschreiben; in glänzender, wunderbare Effecte hervorbringender Beleuchtung sahen wir die riesigen Kammern, befuhren die schwarzen Salzseen unter dem Klang von Musikchören der Bergleute, lauschten dem langhinrollenden Echo der Kanonenschläge, waren geblendet von der magischen Wirkung der Raketen und Feuerwerkskörper in den unabsehbaren Hallen der Nacht und des Geheimnisses. Aber nicht der leiseste Gedanke an Gefahr kann sich hier aufdrängen, man geht so sicher, bequem und trocken, wie im wohlgepflegten Park zur Sommerszeit; höchstens, daß die mit den talggenährten Grubenlichtern nebenherschreitenden Bergleute ein Nisko! (Nieder!) zurufen, damit man sich bückt, wenn eine Strecke nicht hoch genug ist, was aber nur ganz selten vorkommt. Besonders auffallend ist die große Trockenheit, welche allenthalben herrscht; deshalb und durch die Imprägnation mit fein zertheiltem Salz sind auch die Schutzbauten aus Holz so gut erhalten, daß in dem Tagbruch der Kammer Wlodkowice, dicht neben dem mächtigen und prächtigen Tanzsaal mit seinen riesenhaften Statuen und Kronleuchtern aus Salzkrystallen, welchen einst Suwarow herstellen ließ, das Holz der geborstenen Pfeiler noch so frisch aussieht, als sei es erst vor Wochen zersplittert, und nicht im Jahre 1703.

Die Temperatur ist dabei eine durchaus angenehme, zwischen zwölf und fünfzehn Grad Reaumur, die Luft frisch, der Pfad völlig eben, das Treppenwerk solid und bequem. Nur flüchtig besichtigten wir diesmal die besonderen Merkwürdigkeiten; von der Gasttour abweichend stiegen wir nieder in die Räume der Gefahr. Diese zu erreichen brauchten wir über eine Stunde angestrengten Marsches durch phantastisch schimmernde Gänge, finstere Höhlen, klingende Betriebsschläge; vorbei an rollenden Hunden, welche die gewonnenen Berge fördern, an fleißigen Hauern, bemüht die gewaltigen Balvanen zu lösen (Balvan, eigentlich der Name eines altslavischen Götzenbildes, werden cylindrische Formsteine des Salzes von über drei Centner Schwere genannt), an den Packorten, wo Löhner die Minutien (Salzabfälle) in Fässer packen, zuletzt in die schweigende Einsamkeit. Es wurde still und stiller unter uns, die Tritte hallten dumpf wieder, seltsam flackerten die Grubenlichter, eine bängliche Erwartung war über jeden gekommen.

Nach langem Schreiten ertönte endlich das Commandowort: Halt, Vorsicht! Und zugleich flammte ein romantisches Licht auf, mit Tagesschein eine weite Wölbung übergießend und vor unseren Füßen einen schwarzen See. Wir standen dem Eingang zum Horizont Oesterreich gegenüber, welchen das eingebrochene Wasser schon bis zu fünf Fuß Höhe überschwemmt hatte, so daß nur noch seine oberste Wölbung gleich einem dunklen Höllenthor jenseits sichtbar erschien. Still, unbewegt lag vor uns die Fläche, als sei sie unverrückbar immer gewesen und doch lauert in dem Abgrund, den sie deckt, die wilde Rau; wir wußten, und die Messungen sagten es uns deutlich, daß das Element vor uns, welches jetzt [279] Sieger war, im Kampf mit dem andern, seinem ewigen Feind, nicht ruhte, unablässig sich hob, unmerklich, aber sicher. Und Niemand wußte, ob und wie weit es schon den Boden unterwaschen, auf dem wir standen; mehr als einmal wurde der Ruf: Vorsicht! laut. Es war ein großartiges, überwältigendes Schauspiel, sowohl an und für sich, als auch mit Rücksicht auf seine Wirkung und Bedeutung. Erhöht wurde es durch den seltsamen Anblick, die Schienen der unterirdischen Eisenbahn mit ihren Schwellen auf dem Wasser schwimmend zu gewahren, das sie unterspült, losgelöst hatte und sie nun in der gesättigten Soole trug neben Berghunden, Fässern, Geräthen und Holzstücken. Die Höhe des Wassereinbruchs betrug zur Zeit meiner Anwesenheit neunzehn Klafter fünf Fuß, die tägliche Steigung zwei Zoll, trotz der unaufhörlichen, aber noch unvollkommenen Bewältigungsarbeit. Der Einbruch erfolgte am 19. October 1868 in dem Querschacht Kloski, der mit dem Horizonte Austria ziemlich in gleicher Ebene geführt ist. Man hatte daselbst, gelockt von der Auffindung des Sylvins in Kalusz (in Ostgalizien an der Lomnicza), einen Hoffnungseinschlag auf Kalisalze eröffnet und dabei – was nicht ganz aufgeklärt ist – entweder den Sandstein geritzt oder den salzlosen Thon beleidigt.

Im Anfange legte man nicht viel Gewicht auf den Einbruch von Süßwasser. Die Bergarbeiter, welche ihn zuerst bemerkten, gaben an, daß es in einem breiten, schrägen Strahl, wie aus einem engen Spalt, hervorgerieselt sei, und dachten dabei, an derlei Unfälle gewöhnt, an keine größere Gefahr. Erst allmählich steigerte sich der Zustrom, am dritten Tage betrug er schon fünfzig Kubikfuß in der Minute. Nunmehr erwachte die Angst, man suchte Vorkehrungen zu treffen, doch zu spät. Die aufgemauerten Dämme wurden umwaschen, überspült; unaufhaltsam ergoß sich die Fluth durch den Schacht Wodnagora (Wasserberg) in die tiefer liegenden Baue. In dem Franz-Joseph-Schachte war zwar eine Pumpe aufgestellt, aber sie leistete viel zu wenig; eine zweite Pumpentour ward eingebaut. Gleichzeitig beschloß man auch, die nutzlos aufgerichteten Dämme wieder zu durchbrechen und den ganzen Kloskischlag zu bewältigen, um im salzleeren Hangendtegel etwa abermals neue, erfolgreichere Dämme zu errichten. Diese schwierige, zeitraubende Arbeit, bei welcher nur je zwei Mann, die halbstündig abgelöst werden mußten, in unerträglicher Atmosphäre, im engsten Raum und bei steter Lebensgefahr vordringen konnten, wurde bis nahezu in die sechszigste Klafter fortgesetzt, mußte jedoch ebenfalls aufgegeben werden, da das Wasser, unter fünfunddreißig Kubikfuß Zustrom per Minute, endlich auch den Kloskischlag überschwemmte. Von nun an war man ganz auf die oberirdischen Bewältigungsarbeiten durch die Maschinen angewiesen.

Aber woher kommt die ungeheure Wassermenge des Einbruchs? ist die natürliche Frage, welche Jeder aufwirft. Man weiß es nicht: ist man auf eine wasserführende Schicht, einen unterirdischen Sumpf oder ein Reservoir gestoßen, hat sich das Wasser der Weichsel durch eine Kluft des Gebirgs Bahn gebrochen in das Bergwerk? Viele sind geneigt, das Letztere anzunehmen, obgleich der Strom über eine Stunde von Wieliczka entfernt ist; nahe der Stadt fließt das Serawa-Flüßchen, in welches die Grubenwässer geleitet werden, jenem zu.

Nach genauer Besichtigung und Untersuchung, deren Einzelergebnisse hier mitzutheilen nicht der Ort ist, fuhren wir wieder aus zum Tageslichte, sehr beruhigt über die Gefahr und mit vollem Vertrauen in die Umsicht der Männer, welche die Vorkehrungen zu ihrer ferneren Abwehr und gänzlichen Bannung in die Hand genommen haben. Die Besten ihres Faches, bekannte Namen in der wissenschaftlichen Welt, haben dazu mit Rath und That gewirkt; gegenwärtig ist die Leitung der Bewältigungsarbeiten, wie der ganzen Saline, dem rechten Manne übertragen; sie hat in bessere Hände nicht gelegt werden können, und Anerkennung verdient, was seine Energie und Kenntniß binnen kurzer Zeit geschaffen hat. Die Ueberzeugung vom endlichen Erfolg muß sich jedem aufdrängen, der, wie wir, mit den Augen des Sachverständigen die an Tag errichteten Bewältigungswerke betrachtet. Nicht, daß Alles vollkommen, nichts zu tadeln wäre, im Gegentheil; aber mit Hinsicht auf die drängende Eile der Nothwendigkeit ist geleistet worden, was möglich war. Die Salzförderung geht ununterbrochen vorwärts im Franz-Joseph-Schacht, welcher täglich fünf- bis siebentausend Centner Szybicker Salz mittels Dampfkraft fördert, und in dem Göpelschacht Boza wola mit sechshundert Centnern Herausgebung (Porrecte). Im erstgenannten Förderschacht heben die Pumpen in der Minute zehn Cubikfuß Einbruchwasser. Der Elisabethschacht wird jetzt blos zur Wasserhebung mittels Dampfkraft benutzt; zwei eiserne Förderkästen im Wechsel bringen in 2,5 Minuten zweiunddreißig Cubikfuß Wasser an den Tag. Da der Zufluß gegenwärtig höchstens vierzig Cubikfuß in der Minute beträgt, so wird schon über die Hälfte desselben bewältigt. Binnen wenigen Tagen wird aber in dem Elisabethschacht eine kolossale Dampfpumpe spielen, welche neunzig Cubikfuß in der Minute fördert, so daß ein Steigen der Wässer unbedingt unmöglich, das ganze Entleeren des Werkes binnen vier bis sechs Monaten aber sehr wahrscheinlich ist. Leider fließt die zu Tag geförderte, völlig gesättigte Soole von achtzehn Grad in krystallklarem, durch den Salzinhalt wunderbar funkelndem Strome völlig unbenutzt ab in den Bach Serawa, dessen Wasser sie zur Tränkung der Heerden untauglich macht. Sie durch Sud zu verwerthen, ist aber trotzdem nicht rathsam, der Anlagekosten und der Theuerung des Brennmaterials halber, auch weil man darauf baut, die Saline bald wieder vom Einbruch zu befreien. Um nichts zu versäumen, wird jedoch zugleich ein Schacht auf den Kloskischlag niedergeteuft, um womöglich das Unheil an der Wurzel zu fassen und durch kunstgerechte Eindämmung gänzlich zu beseitigen. Die Gesammtkosten aller Schutz- oder Hülfsvorrichtungen und Arbeiten werden sich auf ungefähr dreihunderttausend Gulden belaufen.

Aber die Gefahr ist beseitigt, deß darf man sicher sein. Sehr groß ist sie überhaupt nicht gewesen. Selbst wer es als Gast befahren, hat nicht den geringsten Begriff von der ungeheuren Ausdehnung des Wieliczkaer Bergwerks. Dasselbe besteht aus sieben Etagen oder Horizonten untereinander, deren tiefster 128,9 Klafter oder 774 Wiener Fuß unter dem Tagkranz Danielowice liegt; es führen aber Schachte bis in 150 Klafter Tiefe. Die Horizonte heißen: 1. Danielowice, 33,4 Klafter; 2. Ludovica (oder Kunigunde), 14,5 Klafter; 3. Kaiser Franz, 9,3 Klafter; 4. Albrecht, 14,4 Klafter; 5. Rittinger, 22,5 Klafter; 6. Haus Oesterreich, 15,2 Klafter; 7. Tiefster Regis 19,1 Klafter. Allein nur in seiner Mitte, in einer Länge von etwa vierhundert Klaftern, ist das Bergwerk so tief; nach den beiden Endpunkten, welche, so viel bekannt, mindestens zweitausend vierhundert Klafter auseinanderliegen, verflacht es sich gegen Tag auslaufend. Der Wassereinbruch ist demnach genau zu vergleichen dem in den Keller eines mehrstöckigen Hauses, der die Bewohner der oberen Stockwerke wahrscheinlich wenig geniren wird. Zwar löst das Wasser das Salz auf, laugt die Pfeiler aus, doch nur so lange, bis es gesättigt ist. Zudem ist auch überall durch Holzverzimmerung etwa zu fürchtenden Senkungen zuvorgekommen; sagt man doch, daß die kahlen Höhen der Umgegend von Wieliczka nur davon herrührten, daß ihr einst prächtiger Hochwald Stamm nach Stamm unter die Erde gewandert sei.

In der Holzverschwendung bei solchen Schutzbauten hat die Vorzeit allerdings Unglaubliches geleistet; jetzt ist man klüger. Da das Bergwerk, je höher zum Tag, um so mehr in Länge und Breite sich ausdehnt, so mußte auch das Wasser um so langsamer steigen, je mehr es sich emporhob; man hat ausgerechnet, daß es bei ungemindertem Zustrom mindestens fünfzehn Jahre brauchen würde, um die Soole des Tagschachtes Danielowice zu erreichen, wodurch das gesammte Werk ersoffen sein würde. Man wolle nur erwägen, daß schon im Jahre 1840 nach der Messung des Markscheiders Hrdina die Strecken und Gänge des Wieliczkaer Salzbergwerks, aneinander gereiht, eine grade Linie von sechsundachtzig geographischen Meilen Länge gebildet haben würden; und wie viele sind bis heute hinzugekommen, wie viele sind gänzlich unbekannt, von keinem Fuß mehr betreten! Es bedarf langer, langer Jahre, ehe die erfahrensten Markscheider und Bergmeister sich in diesem unermeßlichen Labyrinth der Unterwelt mit einiger Sicherheit zurechtfinden, trotz der jetzt vorhandenen trefflichen Karten. –

Die kurze Schilderung meiner interessanten und ergebnißreichen Grubenfahrt schließe ich, im vollen Einverständniß aller Sachverständigen, deren Begleitung ich mich erfreute, mit dem zuversichtlichen Ausspruch: „Noch ist Wieliczka nicht verloren!“



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Pariser Bilder und Geschichten.

Die Fremden in Paris.
Von S. Kalisch.

Die Pariser behaupten, daß in ihrer Vaterstadt die fremden Nationalitäten viel zahlreicher vertreten seien, als ihre eigene. Das ist freilich eine gewaltige Uebertreibung, die indessen gerade durch die große Menge der in Paris wohnenden Ausländer veranlaßt worden. Der zehnte Theil der Pariser Bevölkerung – das ist statistisch nachgewiesen – besteht aus Ausländern. Es giebt in der That kaum ein Volk auf Erden, von dem in der Hauptstadt Frankreichs nicht ein Exemplar zu finden wäre. Doch will ich nur von den Ausländern reden, welche sich in Paris angesiedelt haben und hier mehr oder weniger Colonien bilden. Die deutsche Colonie ist bei weitem die größte. Dann kommen die Engländer, Belgier, Italiener, Polen, Russen, Schweizer und Amerikaner. Nichts ist interessanter als das Wesen dieser Nationalitäten zu beobachten. Wir werden von unseren Landsleuten zuletzt und am ausführlichsten, und hier zuerst von den Engländern sprechen.

Unter allen civilisirten Völkern der Erde hat der Engländer das geringste Assimilationstalent. Der Engländer bleibt Engländer, in welchem Lande er auch sein möge. Er opfert keinen Gebrauch, keine Gewohnheit seines Vaterlandes; er nimmt keine Gewohnheit, keinen Gebrauch des Auslandes an. Wie er sich in seiner Heimath individuell in seinem Hause abschließt, so schließt er sich in der Fremde mit seinen Landsleuten streng ab. Man sieht dies so recht in Paris. Die Engländer bewohnen hier einen besondern Stadttheil, das Faubourg St. Honoré, und sie haben dafür gesorgt, daß man ihnen in diesem Viertel die irdische und himmlische Speise auf englisch verabreicht. In dem genannten Stadttheil sind nicht nur englische Kirchen, sondern englische Hôtels, Speisewirthschaften und Eßwaarenhandlungen in Menge vorhanden. Der Engländer hat einen orthodoxen Magen und hält es für eine Sünde, fremde Elemente in seine alleinseligmachende Küche zuzulassen. Yorker Schinken ist ihm der vorzüglichste auf Erden, und er versteht sich nur im äußersten Nothfalle dazu, denselben mit einem Senf zu genießen, der nicht in England das Licht der Welt erblickt hat. Der Engländer ißt stark, trinkt aber noch viel stärker, als er ißt. Er trinkt nicht nur viel, sondern auch vielerlei; er trinkt aber am liebsten die Getränke seiner Heimath. Niemals ändert er den Schnitt seiner Kleidung, und er hat selbst in Paris seine englischen Schneider. Er vertraut sich auch nicht leicht einem Pariser Arzt an. Es haben sich daher im Quartier St. Honoré viele englische Aerzte und Apotheker angesiedelt. Ja, Herr Haußmann hat den Söhnen des „perfiden Albion“ zu Gefallen dicht am Palais Elysées sogar eine lange Reihe Häuser in englischem Stil, d. h. mit Eisengittern und tiefen Gruben versehen, aufführen lassen. Indessen lassen sich doch seit einigen Jahren wenige Engländer hier bleibend nieder. Paris ist ein sehr theurer Platz geworden. Die kleinen englischen Rentiers, die hier früher auf einem großen Fuß leben konnten, müssen sich jetzt zusammennehmen, wenn ihre Jahresrente nicht vor Ende December versiechen soll. Sie suchen daher Deutschland, die Schweiz und Italien auf. Ein großer Theil der in Paris lebenden Engländer besteht übrigens aus Arbeitern, aus Kutschern und Jockeys, kurz aus Leuten, die hier mehr erwerben als verzehren.

Hingegen gehört die russische Colonie, die etwa zweitausend Köpfe zählt, ausschließlich der höhern Gesellschaft an. Die Russen leben in der Nähe der Elysäischen Felder, wo sie vor einigen Jahren eine prachtvolle Kirche unweit des großen Triumphbogens errichten ließen. Der Russe kommt nicht nach Paris, um zu sparen sondern um zu genießen, und zwar mehr sinnlich als geistig. Die Cultur hat ihn beleckt, aber nicht durchdrungen. Er schließt sich leicht an und besitzt einen äußern Schliff, der ihn zum angenehmen Gesellschafter macht. Auch läßt er gern daraufgehen, besonders wenn es mit einer gewissen Ostentation geschehen kann. Die Russen sind daher in Paris, das von Fremden lebt, beliebte Gäste. Früher hat die Halbwelt für die Russen sehr geschwärmt; diese Schwärmerei hat indeß stark nachgelassen, seit die Leibeigenschaft in Rußland abgeschafft und die Einkünfte des russischen Adels beträchtlich zusammengeschmolzen. Sie lassen nicht mehr die Rubel so leicht springen, und das hat die Achtung vor ihnen in der Welt, die jedes Feuer eher als das Feuer der Vesta nährt, bedeutend vermindert. –

Kommen wir jetzt zu den Polen, die eine Colonie von fast fünftausend Individuen bilden. Sie wohnen großenteils in der Vorstadt Batignolles, wo sich auch die von der französischen Regierung unterstützte polnische Schule befindet. In derselben wird neben den verschiedenen Zweigen des Wissens vorzüglich die polnische Sprache gelehrt, so daß die Jugend, in dieser Beziehung wenigstens, mit ihrem unglücklichen Vaterland im Zusammenhang bleibt. Der Enthusiasmus für die Polen, der in den dreißiger Jahren in allen Ländern unsers Welttheils so stark loderte, ist längst erkaltet. Seit jener Zeit sind auf unserm Continente so viele Revolutionen ausgebrochen und in Folge derselben so viele Tausende in die Verbannung getrieben worden, daß das Mitgefühl für polnische Flüchtlinge sich abgestumpft hat. Freilich haben sich viele derselben durch lockeres Betragen gerechten Tadel zugezogen; indessen giebt es in der polnischen Emigration nicht mehr verwerfliche Naturen als in jeder andern. Ich kann dies um so bestimmter behaupten, als ich Gelegenheit hatte, politische Flüchtlinge aus allen Ländern kennen zu lernen. Jede Emigration ist reich an faulen Elementen. Der Mensch wurzelt viel tiefer in seinem Vaterland, als er selbst glaubt. Plötzlich in die Fremde geworfen, wird er dort wie ein Wrack von sturmbewegten Wellen hin- und hergeschleudert. Er hat Noth und Drangsale auszustehen, Demüthigungen aller Art zu ertragen, bevor er sich eine geachtete Stellung erringt. Wer nicht mit einem eisernen Willen, mit einem unerschütterlichen sittlichen Charakter ausgerüstet ist, verkommt sehr schnell. Wie viele Deutsche sind seit 1848 im Exil untergegangen! Ein sehr beträchtlicher Theil der polnischen Colonie ist in Paris geboren, aber auch dieser Nachwuchs hegt die Hoffnung, einst für die Wiederherstellung Polens kämpfen zu können.

Die italienische Colonie war vor dem italienischen Befreiungskriege sehr zahlreich und großenteils aus politischen Flüchtlingen zusammensetzt. Unter diesen befanden sich ausgezeichnete Männer, die sich kümmerlich ernährten. Manin, der Präsident der Republik Venedig, z. B. gab Unterricht in der italienischen Sprache. Seit 1860 hat die Zahl der Italiener hier bedeutend abgenommen, doch leben in Paris noch an achttausend Individuen. Der Gesangunterricht ist fast ausschließlich in den Händen der Italiener. Ein Charakterzug derselben ist ihre bis zum Aeußersten getriebene Sparsamkeit. Man sieht eher zwei weiße Raben als einen verschwenderischen Italiener. Die Anekdoten, die man sich von der Knickerigkeit Rossini’s erzählt, sind durchaus nicht übertrieben. Der Italiener hat den Grundsatz: Nehmen ist seliger, denn Geben. Durch Rossini’s Tod haben die höheren Schichten der italienischen Colonie einen unersetzlichen Verlust erlitten. Der Salon Rossini’s bildete einen Vereinigungspunkt für seine Landsleute, welcher politischen Meinung sie auch angehören mochten. Sie sonnten sich im Glanze seines Ruhmes, und der alte Maestro freute sich ihrer Huldigungen. Gegenwärtig haben sie zur Befriedigung ihres Nationalstolzes blos die italienische Oper, in welcher aber vielleicht kaum die Hälfte der Künstler aus Italienern besteht; ein großer Theil des singenden Personals ist aus Deutschen, Franzosen und anderen Ausländern mit italienisch zugespitzten Namen zusammengesetzt. Wenn ich nicht irre, so ist der jetzige Capellmeister der italienischen Oper ein echter Germane.

Eine sehr zahlreiche und nach der deutschen die bedeutendste Colonie ist die belgische. Es leben in Paris fünfunddreißigtausend Belgier, die in allen Zweigen des Handels und der Gewerbe äußerst thätig und rührig sind. Auch in den Künsten sind sie verhältnißmäßig sehr stark vertreten. Die Compositeurs Grisar und Gevaert sind Belgier, und Adolph Sax, der berühmte Fabrikant und Erfinder musikalischer Instrumente, ist ebenfalls ein Belgier. Die im Paris lebenden belgischen Maler bilden eine ansehnliche Gruppe, deren Werke sich besonders durch vortreffliches Colorit auszeichnen. Gustav Wappers, der Schöpfer der belgischen Malerschule und ehemaliger Director der Antwerpener Akademie der Schönen Künste, lebt seit einer Reihe von Jahren in Paris. Neben [281] diesem Altmeister der Kunst wirken die jüngeren Künstler Alfred Steevens, Verlat, Willems und Hamann. Letzterer ist durch die Reproduction mehrerer seiner Werke, deren Sujets Haydn, Mozart und Beethoven bilden, auch in Deutschland sehr bekannt.

Die neue Welt ist in Paris ebenfalls zahlreich vertreten. Es leben hier an fünftausend Nordamerikaner, und sie leben fast alle von ihren Renten. Die Salons des Gesandten der Vereinigten Staaten von Nordamerika sind der Mittelpunkt ihrer Geselligkeit. Sie feiern jedes Jahr den Tag ihrer Unabhängigkeitserklärung durch ein großes Diner und einen sehr glänzenden Ball, auf welchem man die beste Gelegenheit hat, die Schönheit und Anmuth der nordamerikanischen Damen zu bewundern. Die Zahl der in Paris lebenden Südamerikaner ist zwar bei Weitem nicht so groß; sie sind indessen sehr gern gesehen, da sie einen üppigen Luxus treiben. Sie bewohnen die neuen, eleganten Boulevards Haußmann und Malesherbes, und man erkennt sie leicht an ihren scharf ausgeprägten Zügen und an ihrer schwarzen Dienerschaft; die Creolinnen sind sehr graciös, und vor ihren feurigen Augen haben sich leicht entzündbare Herzen stark in Acht zu nehmen.

Die bedeutendste Colonie in Paris ist die deutsche. Man greift freilich viel zu hoch, wenn man dieselbe auf neunzig- oder gar hunderttausend Köpfe zählt; allein die statistische Angabe von fünfunddreißigtausend Köpfen ist viel, viel zu niedrig, und man kann ohne Uebertreibung ungefähr das Doppelte annehmen. Die deutsche Colonie ist nicht gleichmäßig in der Riesenstadt vertheilt. Es giebt Stadttheile, wo unsere Landsleute massenweise anzutreffen, es giebt andere, wo sie sehr vereinzelt leben. Auf dem Boulevard des Italiens hört man fast ebenso viel deutsch wie französisch sprechen und auf der Börse fast weniger französisch als deutsch. In der Pariser deutschen Colonie sind alle Stände, alle Künste, alle Handwerke, alle Gewerbe vertreten; allein nicht alle in Paris wohnende Deutsche leben mit ihren Landsleuten in innigem Zusammenhang. Im Stadtviertel St. Antoine, wo die meisten deutschen Handwerker wohnen, giebt es viele, die ihre Muttersprache so ziemlich vergessen haben. Ich sah dort mehrere, die sich nur mit großer Schwierigkeit in derselben ausdrückten, und als ich meine Verwunderung darüber äußerte, sagten sie, daß sie mit Französinnen verheirathet seien, daß ihre Kinder nur französisch sprechen, daß sie blos mit Franzosen in Geschäftsverbindung stehen und ihnen daher die Gelegenheit fehle, sich im Deutschen zu üben. Andere sagten mir, daß sie als Handwerksburschen von der Polizei in Deutschland arg drangsalirt worden und, einmal in Frankreich angekommen, wo sie die freundlichste Aufnahme gefunden, dasselbe als zweites Vaterland betrachten. Doch gehören diese Leute einer früheren Generation an. Jetzt ist es anders; und wenn unsere Landsleute französisches Wesen auf sich einwirken lassen, so bleiben sie doch ihrerseits nicht ohne Einfluß auf das materielle und geistige Leben der Hauptstadt. So sind hier in jüngster Zeit sehr viele deutsche Bierbrauereien entstanden, die auch von Franzosen stark besucht werden. Diese Etablissements, die vortrefflich gedeihen, wirken freilich nicht wohlthätig. Es ist viel wünschenswerther, daß die Deutschen mit Franzosen Wein trinken, als daß diese mit jenen beim Bierglase sitzen. Bacchus ist ein begeisternder Gott, Gambrinus blos ein verdummender König.

Auch die Gewohnheit des Tabakrauchens ist in Paris durch die Deutschen sehr befördert worden, und das ist jedenfalls kein großes Verdienst. Hingegen haben unsere Landsleute sehr viel zur Verbreitung der deutschen Musik in der Hauptstadt Frankreichs beigetragen. In den weltberühmten Pariser Conservatoriumconcerten hört man fast ausschließlich die Meisterwerke deutscher Tonkunst, die Werke Haydn’s, Händel’s, Gluck’s, Mozart’s und ganz besonders des gewaltigen Beethoven, dessen Name selten auf einem Programm dieser Concerte fehlt. Der Gründer der Conservatoriumconcerte war Habeneck, zwar kein geborener Deutscher, aber, wie schon sein Name verräth, von deutscher Abkunft. Sein Vater war ein Mannheimer.

Die seit mehreren Jahren bestehenden, von Pasdeloup geleiteten populären Concerte bieten dem Publicum dasselbe Programm und erfreuen sich seit ihrem Bestehen eines außerordentlichen Zudrangs. Ein deutsches Nationalfest hat dieselben in’s Leben gerufen. Meyerbeer hatte nämlich zu dem in Paris mit großem Glanz im Cirque de l’Imperatrice gefeierten Schillertage eigens eine Schillerhymne und den seither so beliebt gewordenen Schillermarsch componirt. Auch ein Theil der neunten Symphonie von Beethoven und Mendelssohn’s Hymne an die Künstler wurden bei dieser Gelegenheit von einem vortrefflichen Orchester aufgeführt, mit dessen Leitung Pasdeloup von Meyerbeer betraut worden. Der Erfolg war ein so außerordentlich günstiger, daß Pasdeloup, ein feuriger Bewunderer deutscher Tonkunst, auf den Gedanken kam, für die gewerbtreibenden Classen, denen die Conservatoriumconcerte sowohl wegen des beschränkten Raumes als auch wegen der hohen Eintrittspreise unzugänglich sind, ein ähnliches Institut zu gründen. Sein Unternehmen wurde, wie gesagt, vom schönsten Erfolg gekrönt.

Die lyrischen Scenen in Paris führen dem Publicum ebenfalls deutsche Tonwerke vor. So hat das Théâtre lyrique im jüngsten Jahrzehent sämmtliche Opern Mozart’s und Weber’s zur Aufführung gebracht, und zwar immer bei überfülltem Hause, ein Beweis, wie empfänglich die Franzosen für unsere Musik sind. Im Reiche der Töne herrscht der Deutsche, und je mehr er diese Herrschaft über fremde Länder ausdehnt, desto besser; denn ebenso viel als Deutschland dadurch an Ruhm gewinnt, ebenso viel gewinnt das Ausland an reinem, edlem Kunstgenuß.

Wenn nun die Muse der Tonkunst das Band der Eintracht zwischen Deutschen und Franzosen knüpft, so hält sie auch einen Theil wenigstens der Deutschen in der Weltstadt zusammen. Es bestehen hier mehrere Gesangvereine, welche die Geselligkeit unter unseren Landsleuten erhält. Die Liedertafel, die Teutonia, die Germania und der Deutsche Schweizergesangverein haben ihre regelmäßigen Zusammenkünfte und begehen ihre Feste, an denen auch die Franzosen lebhaften Antheil nehmen. Die genannten Gesellschaften, sowie der Turnverein, der auch musicirt, bilden zugleich Mittelpunkte, wo deutsche Künstler, die zum ersten Mal die Hauptstadt besuchen, freundliche Aufnahme finden und wo ihnen Gelegenheit geboten wird, ihr Talent zu zeigen und sich dann in weiteren Kreisen geltend zu machen.

Die deutsche Musik wird auch in der Seinestadt durch eine Menge ausübender Künstler verbreitet. Die Zahl deutscher Musiker in Paris ist sehr groß; indessen gelingt es nicht allen, sich eine glänzende Stellung zu erringen. Gar manche, die mit den heitersten Aussichten herkommen, gehen langsam unter. Das Talent allein genügt hier nicht, man muß auch demselben Geltung zu verschaffen wissen. Mit veilchenhafter Bescheidenheit kommt man trotz aller Begabung nirgends fort, am wenigsten in Weltstädten; damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß die unbescheidene Talentlosigkeit zu Reichthum und Ehren gelangt.

Giebt es nun in Paris sehr viele deutsche Musiker, so fehlt es auch nicht an deutschen Malern, die in den jährlichen Gemälde-Ausstellungen sich durch eigenthümliche, treffliche Werke auszeichnen und deren Namen in der Pariser Kunstwelt mit Achtung genannt werden. Ich führe hier nur Adolph Schreyer, Georg Saal, Carl Schloeffer, Otto von Thoren, Otto Weber an und behalte mir vor, denselben, sowie manchen Anderen, eine besondere Besprechung in diesen Blättern zu widmen. In der Kunstindustrie sind die Deutschen in Paris nicht minder thätig. Ich habe eben von den Malern gesprochen und will bei dieser Gelegenheit erwähnen, daß mehrere unserer Landsleute an der Spitze vortrefflicher photographischer Anstalten stehen. Ch. Reutlinger, ein geborener Baier, hat sogar das Verdienst, in Paris die erste photographische Anstalt gegründet zu haben. Sein Atelier ist jetzt das besuchteste in Paris, und es giebt kaum eine Berühmtheit in der Diplomatie, in der Wissenschaft, in der Kunst- und Literaturwelt, die sich nicht schon vor seiner Camera obscura befunden hätte.

Die deutsche Gelehrsamkeit findet in der deutschen Pariser Colonie eine nicht minder glänzende Vertretung. Mohl, Mitglied des Instituts, ist ein Deutscher, und hier sei noch des berühmten Orientalisten S. Munk gedacht, den der Tod allzu früh der Wissenschaft entrissen, deren Zierde er war und in deren Dienst er erblindete. Munk war Mitglied des Instituts und Professor am Collège de France und hat durch sein reiches Wissen, durch seinen edlen Charakter und sein unbegrenztes Wohlwollen dem deutschen Namen viel Ehre gebracht.

An Millionären fehlt es unter den Deutschen in Paris auch nicht. Ein beträchtlicher Theil des Pariser Bankgeschäfts befindet sich in deutschen Händen. Leider giebt es aber unter unseren in Paris lebenden Landsleuten gar viele, denen zu der ersten Million [282] noch mehr als eine Million fehlt. Es giebt in der Pariser deutschen Colonie sehr viel Nothdürftige, deren Zahl durch ununterbrochene Einwanderungen sich vermehrt. Die Mittel, über welche der Pariser deutsche Hülfsverein gebietet, sind verhältnißmäßig gering und kaum zulänglich, der allerdringendsten Noth abzuhelfen, so daß die individuelle Mildtätigkeit nur allzu oft Gelegenheit hat, die Hand zu öffnen.

Merkwürdig ist es, daß die so zahlreiche deutsche Colonie in Paris, in der, wie wir gesehen, alle Elemente menschlicher Thätigkeit vertreten sind, bisher noch kein deutschs Organ in der Presse besitzt. Alle Versuche, die in den letzten drei Decennien gemacht worden, eine deutsche Zeitung in Paris zu gründen, sind an der kalten Gleichgültigkeit unserer Landsleute gescheitert.

Vor einigen Jahren taten sich mehrere Männer zur Gründung eines großen geselligen Vereins zusammen. Derselbe sollte ein Mittelpunkt für die in Paris lebenden und zugleich für die zum Besuch nach Frankreich kommenden Deutschen bilden. Deutsche Gelehrte, Künstler, Kaufleute und Gewerbtreibende aller Art würden hier beim Besuche der Weltstadt jede mögliche Anleitung und Förderung gefunden haben, und ihr Aufenthalt wäre ihnen in jeder Beziehung angenehm und ersprießlich geworden. Eine bedeutende Summe war bereits unterzeichnet und ein Local für Restauration, Lese- und Concertsaal gefunden. Plötzlich zerfiel das Unternehmen, dem man aus Zersplitterungssucht allerlei Parteizwecke unterschob.

Freilich wird in keiner andern Stadt des Auslandes die Zersplitterungssucht des Deutschen so sehr befördert wie in Paris. Der Franzose mit seinem lebhaften Geselligkeitstrieb schließt sich vor dem Fremden nicht ab, sondern öffnet ihm gern sein Haus. Er hat eine nicht genug zu lobende Nachsicht gegen fremde Sitte und läßt jedem Ausländer seine Eigenart. Nirgendwo fühlt sich dieser leichter heimisch als in Paris. Er wird Pariser, ohne es zu merken. Keine Stadt der Welt hat eine solche Assimilationskraft wie die Hauptstadt Frankreichs. Was nun die Deutschen im Besondern anlangt, so werden sie in allen Kreisen gern gesehen. Tausende unserer Landsleute haben in Paris einen Hausstand gegründet und sind mit Französinnen verheirathet, und wenn sie nun auch ihr deutsches Wesen nicht aufgeben, so erwidern sie doch die Sympathieen, die sie in Frankreich gefunden und hegen keinen heißern Wunsch, als Deutschland und Frankreich, diese zwei großen Culturstaaten des Continents, in Frieden und Eintracht zu sehen. Diesen Wunsch theilt auch mit ihnen das französische Volk. Ein blutiger Conflict zwischen den zwei Nationen wäre der Ruin Europa's. Niemand fühlt dies lebhafter, als der in Frankreich lebende Deutsche. Wenn je eine Allianz vernünftig und naturgemäß war, so ist es die Allianz zwischen Frankreich und Deutschland. Beide Länder sind wie geschaffen, sich gegenseitig zu ergänzen, durch ein inniges Bündniß zu erstarken und die Freiheit und den Fortschritt in unserm Welttheil zu verbreiten und zu sichern. Der gesunde Menschenverstand sieht dies leicht ein und möchte lieber die Spinngewebe in den Arsenalen als in den Werkstätten sehen. Leider werden aber die Lenker der Nationen nicht immer von diesen Anschauungen geleitet. Daher die beständige Furcht, es könnten die Hinterlader und die gezogenen Kanonen am Ende doch die Stimme der Vernunft übertäuben. In welche Lage würden die in Frankreich lebenden Deutschen durch den Ausbruch eines deutsch-französischen Krieges gerathen! Nur wenige unserer Landsleute würden Frankreich verlassen können, und die Zurückbleibenden würden sich, wie auch die Kriegswürfel fallen mögen, in einem beklagenswerthen Zustande befinden. Die Siege Frankreichs würden ihren Patriotismus verwunden, die Siege Deutschlands ihren Aufenthalt in Frankreich verbittern. Wer eine unabhängige Feder führt, sollte daher Alles aufbieten, was zur Versöhnung, zur Verständigung der zwei großen Nationen beizutragen vermag.




Der Welfenschatz.

Im Dezember des Jahres 1650 kamen in die welfischen Lande über den dritten Sohn des Herzogs Georg, des Odysseus im dreißigjährigen Kriege, seltsame Gerüchte: der Fürst war nach Italien gereist; hier sei er stets von Jesuiten umlagert, das Disputiren über Religion nehme kein Ende und es sei wohl gar ein Confessionswechsel zu befürchten. Die Sache war richtig. Herzog Johann Friedrich nahm auf die dringenden Vorstellungen seiner Mutter und seiner Brüder, die ihn „von dem für einen norddeutschen Prinzen nicht anständigen Schritte abzumahnen“ strebten, gar keine Rücksicht, sondern trat wirklich zu Assisi förmlich und feierlich zur katholischen Religion über.

Diese Nachrichten erregten in den welfischen Stammlanden ein gewaltiges Aufsehen. Nach dem Testamente des Herzogs Georg († 1641), des Vaters des Convertiten war es Grundsatz, daß wichtige Aemter nur von Anhängern des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses verwaltet werden sollten. Nach einem Statute der Altstadt Hannover vom Jahre 1588 sollten nur Lutheraner in der Stadt geduldet werden und kein Andersgläubiger auch nur eine Nacht in Hannover zubringen. Selbst noch im Jahre 1798 mußte der zum Auditor bei der Justiz-Kanzlei in Hannover ernannte Graf Ferdinand von der Lippe-Biesterfeld vor Zulassung zu den gewöhnlichen Prüfungen das reformirte Glaubensbekenntniß verlassen und das lutherische annehmen! Hiernach ermesse man den Eindruck, den in den Stammlanden die Nachricht von des Herzogs Uebertritt zum Katholicismus machen mußte. Als Johann Friedrich unmittelbar darauf nach Hause schrieb und für den Fall, daß man ihm freie Ausübung seiner Religion und die früheren Deputatgelder bewilligen würde, seine Heimkehr in Aussicht stellte, kam die Sache zunächst vor die Consistorien, die Helmstädter Theologen und den Ausschuß der Stände. Nach langem Debattiren erfolgte der Bescheid, daß in Folge der frühern Recesse einem Mitgliede der fürstlichen Familie die Ausübung der katholischen Religion im eigenen Lande nicht zugestanden werden könne.

Im Jahre 1665 gelangte Herzog Johann Friedrich in Hannover zur Regierung. Man war mittlerweile im Punkte der Religion milder geworden, und das Privat-Exercitium der katholischen Confession von Seiten des Fürsten ward in keiner Beziehung mehr beanstandet. In das eifrig protestantische Land kam der zum apostolischen Vicar und Bischof von Marocco ernannte Valerio Maccioni, die Schloßkirche wurde für den Hof zur Messe geweiht, italienische Sänger zur Capelle verschrieben, den Capuzinern im Schlosse ein Hospitium eingeräumt - und das Land erlebte nun das Schauspiel des katholischen Gottesdienstes, wovon man anderthalb Jahrhunderte lang keine Spur mehr gesehen, das aber auch den Tod des Herzogs († 1679), also vierzehn Jahre, nicht überdauern sollte.

Dem Herzog Johann Friedrich nun verdankt Hannover die weitberühmte Sammlung von kirchlichen Gefäßen und Reliquien, die gegenwärtig in dem Museum für Kunst und Industrie zu Wien der allgemeinen Bewunderung als Theil des Welfenschatzes zur Schau gestellt ist.

Die Geschichte dieses wirklichen Schatzes von Kunstwerken und Alterthümern ist nicht ohne Interesse. Sie knüpft sich zunächst an Heinrich den Löwen und seine sagenreiche Wallfahrt nach dem gelobten Lande. Heinrich unternahm dieselbe im Anfange des Jahres 1172, gelangte am Charfreitage nach Constantinopel und wurde mit seinem Gefolge von dem griechischen Kaiser Manuel Comnenus auf die ehrenvollste Weise glänzend aufgenommen, der ihm, als Heinrich, von Jerusalem zurückgekehrt, wieder in Byzanz einsprach, viele und köstliche Reliquien der Heiligen und dazu eine Fülle kostbarster Edelsteine zum Geschenk machte.

Nach seiner Rückkehr in Braunschweig begann Heinrich den Bau der neuen Stiftskirche St. Blasius. Die innere Ausstattung war eine glänzende. Heinrich schmückte die Kirche, die er für sich und seine Gemahlin Mathilde zur letzten Ruhestatt erkoren, mit herrlichen (jetzt wieder hergestellten) Wandgemälden und Fensterzierrathen, mit einem prächtigen Fußboden, setzte auf den Altar ein kostbares, von Gold und Edelsteinen strahlendes Kreuz, stellte in das Schiff der Kirche den jetzt auf dem Chor befindlichen siebenarmigen Candelaber, ließ aus den mitgebrachten morgenländischen Stoffen köstliche Meßgewänder anfertigen und vor Allem: er begabte sein Stift mit den unschätzbaren Reliquien, den Geschenken des Kaisers Manuel, die er, soweit dies noch nicht geschehen, in Gold und Silber, Perlen und Edelsteine fassen ließ. Dazu [283] kamen noch die bereits dem ältern Stifte in der Burg verehrten Gaben, besonders die von der ersten Gräfin Gertrud († 1077) herrührenden kostbaren Kreuze und die Stiftungen des Propstes Athelold († 1100). Alle diese Schätze überwies Heinrich der Löwe dem St. Blasiusdome, und hier blieben sie lange Jahrhunderte hindurch zur Erbauung der Gläubigen aufbewahrt, bis der Gang der Ereignisse sie ihrer ursprünglichen Stätte entzog und nach Hannover entführte.

Die Stadt Braunschweig, im allzu sehr gehobenen Gefühl ihrer Bedeutung, wollte dem Herzoge Rudolph August von Wolfenbüttel nur unter den von ihr selbst gestellten Bedingungen huldigen. Es vereinigten sich nun alle regierenden Fürsten des welfischen Hauses zu einem gemeinsamen Unternehmen gegen die Stadt, und dieselbe wurde im Jahre 1671 unterworfen. Herzog Johann Friedrich forderte und erhielt für seine Ansprüche an die Stadt und für seinen Beistand die Reliquien des St. Blasiusstiftes. So kamen diese nach Hannover.

Warum Johann Friedrich gerade diese Entschädigung wählte, läßt sich aus seinem oben erzählten Religionswechsel nur zum Theil erklären. Auch sein Kunstsinn hat Antheil daran gehabt. Er war ein Fürst mit seltenen Gaben des Geistes ausgestattet, der an dem, was Wissenschaften und Künste bieten, den reinsten Gefallen hatte. Bigotterie stand ihm fern. Er war heitern Temperaments, über ein Vierteljahrhundert lang zog er durch fast alle Länder Europa’s, fast überall knüpfte er mit gelehrten Männern Verbindungen an, correspondirte mit gleicher Leichtigkeit in deutscher, französischer, englischer und italienischer Sprache, begründete zu Hannover eine ansehnliche Bibliothek und besonders – er berief hierher den größten Gelehrten seines Jahrhunderts: Leibniz.

Seinen Reliquienschatz suchte Johann Friedrich auf den zahlreichen Reisen, namentlich in Italien, nach Kräften zu vermehren. Er bestellte darüber besondere Aufseher, und von einem derselben, dem berühmten Gerhard Molanus, Abt von Loccum, erschien im Jahre 1697 in deutscher Sprache eine eingehende Beschreibung, die auf Veranlassung des Papstes Clemens des Eilften in’s Lateinische übersetzt wurde. Der Papst erhielt für die vaticanische Bibliothek ein Exemplar auf Pergament, ein anderes auf kostbarem Papier für sich; ein drittes Exemplar auf Pergament befindet sich jetzt im Welfen-Museum. Die Gefäße und Reliquien selbst wurden mit höchster Sorgsamkeit verwahrt; sie zu sehen war für den gewöhnlichen Mann mit den größten Schwierigkeiten verbunden, selbst für „Standespersonen“ und Fürsten war der Zutritt zu ihnen eine Vergünstigung, und von Zeit zu Zeit wurde mit ihnen eine genaue Untersuchung vorgenommen, um ihren Bestand protokollarisch zu constatiren. Alles dies sowie mancherlei Sagen von ihrer Kostbarkeit verbreiteten um sie einen geheimnißvollen Nimbus. Man erzählte sich von einzelnen Stücken fast Wunderbares. Es befindet sich unter den Reliquien ein Daumen des heiligen Marcus; nun sollen die Venetianer, denen von dem Körper des Heiligen eben nur dieser Daumen fehlte, hierfür dem Könige Georg dem Ersten nicht weniger als hunderttausend Ducaten geboten haben!

Als im Jahre 1861 König Georg der Fünfte von Hannover das Welfen-Museum gründete, wurde der Reliquienschatz seiner Verborgenheit in den eisenbeschlagenen Schreinen der Schloßkirche endlich entzogen. Der König befahl, denselben im Welfen-Museum aufzustellen, und mit großer Liberalität wurde er nun dem Publicum allgemein zugänglich gemacht. Wir erinnern uns noch lebhaft des Staunens, der Ueberraschung und der Bewunderung aller Kenner, auch der weitgereisten, in der sonst an Sammlungen ziemlich dürftigen Stadt Hannover einen solchen Schatz zu finden, um den das junge Welfen-Museum zu beneiden selbst die größten Anstalten dieser Art vollen Grund hatten. Das größere Publicum staunte wenigstens über das hohe Alter der Gefäße, und wenn auch nicht gerade die Heiligengebeine, so flößten ihm doch die Namen Heinrich’s des Löwen und seiner noch ältern Ahnen eine gewisse Ehrfurcht ein. Dann kam das verhängnißvolle Jahr 1866. Das Eigenthum des Königs Georg ward mit Beschlag belegt. Nach dem bekannten Vertrage wurde es für kurze Zeit, bis zur bald darauf folgenden Sequestration, wieder freigegeben und in dieser kurzen Zwischenzeit der Reliquienschatz nebst der königlichen Münzsammlung und der bis dahin in den Gewölben des Residenzschlosses verborgenen großartigen Silberkammer, deren Werth aus mehrere Millionen geschätzt wird, auf Befehl des Königs Georg mittels Extrazuges nach Wien befördert.

So gingen diese Kostbarkeiten, der Stolz Hannovers, einstweilen, und wer kann sagen: auf wie lange? zum größten Leidwesen aller Hannoveraner in’s Ausland. Sie stehen jetzt im Wiener Museum für Kunst und Industrie – für Hannover nicht einmal der einzige Verlust. Die übrigen Sammlungen des Königs Georg befinden sich in dem nahe gelegenen Herrenhausen, der Benutzung und dem Genusse, wenigstens was die Gemälde und Sculpturen betrifft, so gut wie völlig entzogen. –

Betrachten wir nun die Geräthe, Gefäße und Reliquien selbst, so umfassen dieselben etwa einhundertundvierzig Nummern. Die Reliquien, deren Alter und Echtheit lassen wir unberücksichtigt, die Gefäße dagegen, abgesehen von den Stücken byzantinischen Ursprungs, datiren der Zeit nach etwa vom elften bis zum fünfzehnten Jahrhundert, kennzeichnen also die verschiedenen Entwickelungsphasen des romanischen und gothischen Stils bis auf des letzteren Entartung. Wir wollen sie so viel wie möglich zunächst nach ihrer Form zusammenstellen.

Zuerst erwähnen wir eine Folge von Kreuzen und Crucifixen, elf an der Zahl. An die oberste Stelle setzen wir ein Werk byzantinischer Kunst, ein Reliquienkreuz von massivem Gold, reich ausgeführt in durchbrochener Arbeit, mit Filigran, Sapphiren, Granaten, Topasen und anderen Edelsteinen, sowie mit einer großen Zahl Perlen besetzt. Der Gekreuzigte, auch die Brustbilder der Mutter Maria und des Evangelisten Johannes zu dessen Seiten glänzen in Email, dessen Feuer mit den Edelsteinen wetteifert, welchen es auch seiner Zeit nahezu gleich werth gehalten wurde. Auf der Rückseite bezeichnen vier niellirte Schrifttafeln die hier gefaßten Reliquien des heiligen Petrus, Marcus, Johannis des Täufers und Sebastian. Dieses Kunstwerk von höchstem Alter, wie schon die Figur Christi bekundet, die, bärtig, mit offenen Augen, horizontal gehaltenen Armen und nebeneinander auf das Fußbrett gestellten Beinen sowie mit dem langen Schurze, dem frühesten Typus sehr nahe kommt, ruht auf einem romanischen Säulchen von vergoldetem Silber aus ziemlich jüngerer Zeit (elftem oder schon zwölftem Jahrhundert), dessen Untersatz mit drei phantastischen Löwenköpfen und drei Engeln geschmückt ist. Crucifix und Fuß sind etwas über einen Fuß hoch.

Zwei andere Kreuze sind Weihgeschenke der Gräfin Gertrud von Braunschweig, die wir schon oben erwähnten. Auch diese sind reich mit Filigran, Sapphiren, Amethysten, Carneolen und Perlen geschmückt. Ein viertes, fast zwei Fuß hoch, stammt freilich aus bedeutend späterer Zeit (etwa Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts), zeichnet sich aber durch den verschwenderischen Besatz von Edelsteinen, Perlen und Korallen ganz besonders aus. Die Rückseite desselben enthält unter Bergkrystallen und Hornscheiben verschiedene Reliquien. Aelter ist wiederum das Kreuz, wovon wir unter Nr. 1 eine verkleinerte Abbildung geben. Das Material ist vergoldetes Kupfer; der Zeit nach könnte es noch in das elfte Jahrhundert gehören. Ein großer Krystall in der Mitte bedeckt gleichfalls verschiedene Reliquien. Die übrigen Kreuze, von geringerer (etwa drei bis acht Zoll) Höhe, entstammen dem dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, zeigen ebenfalls zum Theil einen reichen Schmuck von Edelgestein und Email und sind meistens, wie die obigen, zur Aufbewahrung verschiedener Reliquien bestimmt.

Hieran schließt sich eine Reihe von etwa zehn kleineren tragbaren Altären verschiedener Größe, und auch darunter sind wieder Meisterwerke ersten Ranges. Als ältesten möchten wir den von der erwähnten Gräfin Gertrud gestifteten bezeichnen: auf der Oberfläche mit einer Porphyrplatte belegt, die Einfassung filigranirtes Goldblech mit der Widmungsinschaft in Uncialen. Die Vorderseite, von gleichem Metall, zeigt die Figürchen von Christus und sechs Aposteln unter romanischen Arcaden von Email; auf der Rückseite steht mit den sechs anderen Aposteln Maria; die Schmalseiten nehmen fünf Erzengel sowie ein emaillirtes Kreuz und die Figürchen des heiligen Sigismund, Constantins, der heiligen Helena und Adelheid ein. Das Altärchen, etwa einen Fuß lang und acht Zoll breit, hat den Reliquienbehälter an der mit Silberblech überzogenen Unterseite und ist an den Rändern reich mit Perlen und Steinen besetzt.

Ein zweiter Tragaltar kennzeichnet sich durch die griechischen Beischriften als byzantinisches Werk und ist daher wohl von [284] Heinrich dem Löwen aus dem Oriente mitgebracht. Der Figurenschmuck ist getrieben, die schöne Achatplatte ruht in einer silbervergoldeten Einfassung. Der erste Platz gebührt aber unzweifelhaft einem Tragaltare aus dem Ende des zwölften Jahrhunderts, der zufolge einer Inschrift von dem Kölner Eilbertus verfertigt ist. Die Oberseite enthält als Mittelstück eine Miniature auf Pergament, unter einer großen Platte von Bergkrystall: der thronende Christus in der Mandorla, umgeben von den Zeichen der vier Evangelisten. Eingeschlossen wird dies Mittelstück von Emaillen mit den sitzenden Figuren der zwölf Apostel mit Schriftbändern und rechts

Nr. 3. Die Perle des Welfenschatzes.

und links von acht Darstellungen aus dem Leben der Maria und des Erlösers. Die Seiten sind durch Pfeiler in kleine Felder getheilt und enthalten siebenzehn Standbilder von alttestamentlichen Personen; selbst der Boden, mit einer Klappe für die Reliquie, ist durch Email und Gold blumig gemustert. Die Figuren, wird richtig bemerkt, sind von überaus schöner Zeichnung, das Email von großer Leuchtkraft und Gluth der Farben, die zum großen Theil ihre Pracht der sorgfältig ausgeführten Politur verdanken - das ganze Werk überhaupt ein Meisterwerk höchsten Ranges.

Auch von dem schon genannten Propst Athelold ist ein Tragaltärchen als Geschenk vorhanden, die Deckelplatte aus Malachit bestehend. Die übrigen sind der Zeit nach etwas jünger und entweder durch die kunstvolle Arbeit oder ihren reichen Schmuck von mannigfachem Interesse.

Ungemein reichhaltig ist die Reihenfolge der verschiedenen Reliquiarien und Ostensorien in Monstranz-, Kasten- und sonstigen Formen, Gefäße und Geräthe, die den Gegenstand der Verehrung entweder offen, in Krystall- oder Glascylindern oder unter Krystallplatten zeigen oder in einem besonderen Behälter solchergestalt bergen, daß dieser Behälter von der Art der Reliquie schon durch seine Form eine Andeutung giebt. Bei der Menge dieser kostbaren Gefäße und Geräthe im Welfenschatze können wir unmöglich in alle Einzelnheiten beschreibend eingehen, wir müssen uns mit einer ganz oberflächlichen Musterung begnügen.

Ein mit vergoldetem Silber überzogenes Täfelchen mit der Reiterfigur des heiligen Demetrius ist, zufolge der griechischen Inschrift, byzantinische Arbeit. Der berühmte Daumen des heiligen Marcus, dessen wir schon oben gedachten, ist mit einer Reliquie des heiligen Blasius in einem monstranzförmigen Gefäße aus dem vierzehnten Jahrhundert verwahrt. Aehnlich ist das Reliquiar, wovon wir in Nr. 2 eine verkleinerte Abbildung mittheilen – nur daß, statt wie dort ein Krystallcylinder, hier eine kunstreiche Patene das Mittelstück bildet, ein Werk des hochberühmten Bischofs Bernward von Hildesheim. Ungefähr ein Dutzend anderer Behälter aus ungefähr gleicher Zeit zeigen dieselben gothischen Formen in mehr oder minder reicher Entwicklung und sind angeblich mit Reliquien des Täufers Johannes, Sebastian’s, Godehard’s und anderer Heiligen angefüllt. Von zwei Holzbüsten, mit Silberblech überzogen und vergoldet, enthält die eine ein Schädelstück des heiligen Blasius, die andere des heiligen Cosmas. Die erstere ist reich mit Sapphiren, Amethysten, Granaten und anderen Edelsteinen besetzt. Von demselben Heiligen sind auch noch zwei andere Gegenstände vorhanden, nämlich eine kleine mit Perlen geschmückte Statuette und ein großes Horn von Elfenbein, reich mit Ornamenten verziert. Eine ganz besondere Erwähnung verdient dann eine Anzahl von Reliquienbehältern in Form von Armen, größtenteils von außerordentlich schöner und kostbarer Arbeit, aus edlen Metallen und mit Steinen besetzt, mit getriebenen, gravirten und emaillirten Ornamenten und, entsprechend ihrer Form, mit den Armknochen verschiedener Heiligen gefüllt.

Schließlich kommt noch eine ganze Reihe größerer und kleinerer Reliquienkasten, Kapseln und sonstiger Geräthe, ebenfalls entweder durch den Werth des Materials oder durch die Kunstfertigkeit in der Ausführung in ihren mannigfaltigen Formen für den Beschauer im höchste Grade anziehend. Unter diesen verdient der eine Behälter, zweifelhaft das Hauptstück der ganzen Sammlung, noch eine nähere Erläuterung. Zunächst haben wir auf Nr. 3 unserer Abbildungen zu verweisen. Das Hauptwerk hat die Form einer Kuppelkirche, die über einem griechischen Kreuze erbaut auf vier geflügelten Löwen mit Adlerköpfen ruht. Der untere Theil gliedert sich durch romanische Arcaden in zwanzig Nischen, die in Reliefs von Elfenbein die Geburt Christi, die heiligen drei Könige, die Kreuzigung und die drei Frauen am Grabe, außerdem die Standbilder von sechszehn alttestamentlichen Personen mit Schriftbändern enthalten. Die oberen Arcaden an der Kuppel sind mit den Figuren Christi und der zwölf Apostel besetzt. Die Inschriften sind entnommen aus Matthäus 16, 13-16. Der Behälter ist über anderthalb Fuß hoch und hat etwa ein und ein Viertel Fuß im Durchmesser. Das Ganze, über und über mit Email in reichster und geschmackvollster Zeichnung incrustirt, macht durch die Zusammenstellung der satten Schmelzfarben und den Goldglanz des Metalls den Eindruck würdigster Pracht und kann den bedeutendsten Emailwerken, die uns erhalten sind, so dem Schrein der heilige drei Könige in Köln, ebenbürtig an die Seite gestellt werden. An dem South-Kensington-Museum zu London befindet sich ein sehr ähnlicher Reliquienbehälter. Derselbe wurde [285] zu Paris auf der Soltikow’schen Sammlung für sechsunddreißigtausend Thaler angekauft, ist aber, nach der Aussage des Directors Cole, in Bezug auf Reichthum und Erhaltung dem des Welfenschatzes kaum zu vergleichen.

Wenn wir nun noch erwähnen, daß der Welfenschatz auch das überaus prachtvolle Evangeliar Heinrich’s des Löwen, welches von dem Mönche Herimann im Benedictinerkloster Helmershausen an der Diemel ausgeführt wurde und das vor einigen Jahren König Georg aus Prag für zehntausend Thaler erwarb, ferner das Breviar, angeblich vordem ein Geschenk von Kaiser Karl dem Fünften an den König Heinrich den Achten von England, welches durch die Schönheit der Miniaturen wohl einzig in seiner Art ist, sowie zwei Pergamentmanuscripte (Plenarien) enthält, das eine aus dem neunten, das andere aus dem vierzehnten Jahrhundert, beide mit kostbaren Deckeln, die auch Reliquien bergen, aus dem vierzehnten Jahrhundert versehen, so glauben wir damit unsere kurze Uebersicht über den Welfenschatz beschließen zu müssen.

Nr. 2. Reliquiar von Bischof Bernward in Hildesheim.

 

Nr. 1. Kreuz aus dem elften Jahrhundert


Der Welfenschatz – welche Geschichte, welche Erinnerung knüpft sich daran! Auf der Höhe seines Ruhmes von dem Löwen unter den Welfen aus dem geheimnißvollen Orient heimgebracht, der kostbarste Gewinn einer sagenreichen Pilgerfahrt, das Ehrengeschenk des Kaisers von Byzanz, theilweise schon das Erbe in grauester Vorzeit sich verlierender Ahnen – und die jähe Katastrophe des Jahres 1866, der flüchtende König von Hannover und der geflüchtete Welfenschatz – welch' lange Zeit und welcher Wechsel! Jahrhunderte lang suchte der Glaube in den Reliquien Erhebung und Stärkung, bis die Reformation sie des Nimbus entkleidete und sie von den Altären verbannte. Als sie durch Johann Friedrich, den Convertiten, wieder der Vergessenheit entrissen wurden, war dennoch der Glaube an ihre Wunderkraft dahin – sie waren nur seltsame Zeugen längstverflossener Jahrhunderte, nur ein Südländer oder ein Russe mochte sich bei ihrem Anblick noch bekreuzen. Die Gegenwart betrachtet sie blos als Material zum Studium, das sie in dem mächtigen Wetteifer der Nationen für den Fortschritt nach Kräften zu verwerthen sucht; und fürwahr, auch unter diesem Gesichtspunkte sind die Reliquien des Welfenschatzes ein Schatz von der höchsten Bedeutung.




Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung)
19.

„Himmel, was für ein Mann!“ rief die Hofdame draußen im Corridor. „Da können sich unsere sämmtlichen Herren nur verstecken!“

„Ich fürchte mich vor ihm,“ sagte die zarte, blasse Blondine und legte stehenbleibend die gekreuzten schmalen Hände auf die Brust. „Der Mann kann nicht lächeln. … Clemence, Ihr Alle seid blind! Das ist keiner von den Unseren – er bringt Unheil – ich fühle es!“

[286] „Edle Kassandra, so viel wissen wir armen, blinden Sterblichen auch!“ spottete die Hofdame. „Freilich stiftet er Unheil – er macht dem Volke zu viel weis’; aber das giebt sich – lasse ihn nur erst heimisch werden in unserem Kreise! … Es ist wahr, er kann nicht lächeln; was er sagt, das klingt unbeugsam, und sieht aus wie ein Felsblock neben dem elegantes Conversationston unseres Durchlauchtigsten. … Liebste Lucie, diesen Mund lächeln zu machen, den stolzen Sinn zu brechen, alle die gerühmten Vorsätze über den Haufen zu werfen, einzig durch die Liebe – das wäre eine Aufgabe, eine Wonne!“ …

„Probir’s nur und verbrenne Dich!“ entgegnete die Blondine und verschwand hinter der Thür ihres Zimmers, die Hofdame aber fuhr erglühend empor – die Baronin Fleury war unbemerkt auf dem weichen Teppich hinter ihnen hergegangen und maß jetzt die junge Dame vorüberschreitend mit einem langen, spöttisch mitleidigen Blick.

Die schöne Excellenz war bereits zum Spaziergang gerüstet und betrat mit den Herren zugleich das Vestibüle. Die Thüren des Musiksalons standen weit offen, um die kühle Luft der Halle in den sonnenerhitzten Raum einströmen zu lassen. Es sah schwül aus da drinnen – die purpurnen Vorhänge verbreiteten einen gleichmäßigen dunkelblutigen Schein, den nur dann leuchtende Reflexe durchzuckten, wenn draußen der Windhauch einzelne Blätter her Orangenbäume bewegte und dem Sonnenlicht eine Bresche öffnete. Diese Lichtpunkte glitten unheimlich geschäftig über den Plafond und die weißen, mit vergoldeten Ornamenten bedeckten Wände; es lag etwas Beseeltes in dem huschenden Spiel, etwas wie ein Aufleben musikalischer Reminiscenzen – unter ihnen flatterte vielleicht auch jenes Notturno von Chopin, welches einst das Signal zu einem grausamen Verrath gewesen war.

Die Baronin trat rasch, mit ärgerlich gerunzelter Stirn, in den Salon – sie war heute plötzlich von ihren gewohnten Morgenübungen abgerufen worden und hatte vergessen, den Flügel zu schließen.

„O nein, meine Gnädigste,“ protestirte der Fürst, als sie den Deckel ergriff, „der Moment ist zu günstig für mich, der Flügel steht offen und die Noten liegen auf dem Pult – o bitte, nur eine einzige Pièce – Sie kennen ja meine Schwäche für Liszt und Chopin!“

Die Baronin lächelte, streifte aber sofort die Handschuhe ab, warf den Hut auf einen Stuhl und setzte sich an den Flügel. Sie legte das Notenblatt weg und griff präludirend in die Tasten. Das blendend schöne Weib war wie überschüttet von der rothen Gluth, und als die Saiten in stürmischer Gewalt unter den weißen Händen erbrausten, während sie langsam die Wimpern hob und die lodernden Augen wie in trunkener Selbstvergessenheit durch das Zimmer schweifen ließ, da erinnerte dieser Kopf freilich nicht an das keusche Gebild der heiligen Cäcilie, wohl aber an jene trojanische Helena, deren Gestalt noch zu uns herüberdämmert voll bestrickenden Liebreizes, aber auch angestrahlt von der Gluth, welche Dämonen schüren.

Die Herren traten geräuschlos in den Salon und verharrten an der Thür; der Portugiese dagegen hatte das Schloß verlassen er stand draußen unter den Orangenbäumen mit fest zusammengepreßten Lippen und schwerathmender Brust. … Lief nicht eine unverwischbare Linie über diesen weiten Platz hinweg durch die Alleen und weiter, die sumpfigen Wiesen drüben jenseits der Mauer durchschneidend? Eine Linie, geröthet von edlem Herzblut, das weder der strömende Regen, noch die bleichenden Sonnenstrahlen wegzulöschen vermochten? … Da war er ja gewandelt, der muthmaßliche Brandstifter, und neben ihm die hehre, schweigende Gestalt mit dem zu Tode getroffenen Herzen in der Brust! … Scholl nicht durch die rauschenden Accorde da drinnen der schrille Ton der Klingel, mittels dessen der Hochgeborene einst eine Meute elender Bedientenseelen auf das fliehende Brüderpaar hetzte? … Und da drüben starrte die schroffe Felsenkante in die Lüfte – golden floß das Sonnenlicht an den Zacken nieder und in die Ritzen und Spalten hinab, da, wo das verwitternde Gestein seinen eigenen Staub aufspeicherte, kroch das Grün des Waldbodens mit schmeichelndem Fuß. … Und wenn es den ganzen starren Block umwob, es konnte doch nicht die Fußstapfen Dessen verwischen, der einst, die hereinbrechende Nacht über dem Haupte und in der Seele, da droben seinen letzten furchtbaren Kampf gekämpft, während ihm unten die reißenden Wasser bereits das kühle Bett bereiteten, in welchem plötzlich Alles, Alles, das wilde Weh, die Verzweiflung und die nicht zubesiegende Liebe verstummen sollten. …

Ha, ha, ha, und die Frau da drin in dem Zimmer mit den rothglühenden Vorhängen spielte eben wieder Chopin! Sie hatte die Treue gebrochen und einen Mord auf der Seele – aber das gerade machte sie pikant. … Die Herren, die bewundernd um sie her standen, hatten ja alle, ehe sie sich standesgemäß verheirathet, kleine Liaisons gehabt – lächerlich, wer dabei an Sünde denken wollte! Aber ein nicht zu sühnendes Vergehen wäre es gewesen, aus einem solchen Spaß Ernst Zu machen und bürgerliches Element in das blaue Blut zu mischen. Die letzte Zweiflingen hatte mit bewundernswerthem Tact und Standesgefühl das Erniedrigende ihrer sogenannten Brautschaft begriffen und, vollkommen berechtigt, die Kette zerrissen, die sie hinabziehen wollte. Von dem, der darüber zu Grunde ging, sagte man einfach, im Hinblick auf die Motte, die sich an das strahlende Licht wagt und elend verbrennt: „Warum war er so einfältig!“ … Fluch, Fluch und ewigen Haß der ganzen Kaste, die Gottes Gebote und Absichten geradezu auf den Kopf stellt, die sich einen Thron baut aus zertrümmerten Menschenrechten und darüber hinaus in alle Welt ihr Banner flattern läßt mit der hohnvollen Devise: „Mit Gott und Recht.“

Der Portugiese stieß ein dumpfes, heiseres Hohnlachen aus, seine Rechte krümmte sich zur Faust und zuckte hoch in die Luft, als wolle sie mit einem zerschmetternden Schlag wieder niederfallen, während die Kiesel zu den Füßen des empörten Mannes umherstoben – diese kleinen, abgerundeten Steine glänzten in der Sonne und rollten flink und lustig weiter. … Waren nicht auch einstmals die blanken Kupferdreier der kleinen Gräfin Sturm über diesen Platz hingerollt? Und hatte nicht eine unbarmherzige Faust den armen, gebrechlichen Kindeskörper geschüttelt, in welchem ein mißverstandenes, barmherziges kleines Herz schlug? … Aus dem grüngoldenen Halblicht unter den Eichenwipfeln, umsprüht von den funkelnden Tropfen des Wasserstrahles, dämmerte ein Mädchenhaupt mit blond niederwallendem Haar empor, und die blaßrothen, unschuldigen Lippen sagten lächelnd: „Die schlimme Zeit liegt hinter mir.“

Die gehobene Faust des Portugiesen sank schlaff nieder, und seine Linke legte sich über die Augen. Er hörte nicht, wie drin das Musikstück, in welchem ein diabolischer Geist wühlte und sprühende Raketen auswarf, geschlossen wurde; er sah und hörte nicht, daß Frauengestalten an ihn heranschwebten und die feinen Lackstiefeln der Herren mit leisen Sohlen auf den Kies heraustraten. … Eine leichte Hand klopfte schmeichelnd auf die Schulter des „Träumers“.

„Nun, mein lieber Oliveira?“ sagte der Minister.

Der Portugiese fuhr bei dem Klang dieser Stimme empor und wich zurück, als sei die Hand, die ihn berührt, rothglühendes Eisen gewesen. Er stand plötzlich in seiner ganzen Majestät vor der „zutraulichen Excellenz“ und maß den schmächtigen Mann mit einem stolzen Bück von Kopf bis zu Füßen.

„Was wünschen Sie, Fleury?“ fragte er zurück, den Namen ohne jedwede Titelverzierung schwerbetonend.

Die Wangen Seiner Excellenz färbten sich mit einer fahlen, jäh aufflackernden Röthe, und die plötzlich entschleierten Augen, funkelten in maßloser Entrüstung; über die Gesichter der umstehenden Cavaliere aber glitt ein unverkennbarer Ausdruck von Schadenfreude: Sie sämmtlich waren Creaturen des Ministers; bei allem übermäßigen Dünkel auf ihre alten, aristokratischen Namen litten sie es doch stillschweigend, daß der allmächtige Minister ihre Standesattribute in seiner Anrede ignorirte, während sie die „Excellenz“ so ängstlich streng festhielten, wie die „Durchlaucht“ dem Fürsten gegenüber. Sie knirschten in den Zaum, und das Lächeln der Unbefangenheit wurde ihnen blutsauer, aber sie lächelten trotzdem – war doch Seine Excellenz in solch’ zutraulichen Momenten guter Laune und manchem stillen Wunsch zugänglich. … In diesem Augenblick aber hatte er seinen Meister gefunden – die Lehre war ihm zu gönnen.

Er machte ihnen übrigens nicht die Freude, seiner Verblüffung weiteren Ausdruck zu geben – Seine Excellenz bemerkte ja nie eine Niederlage, die zu strafen augenblicklich nicht in seiner Macht lag; er hatte die Antwort nicht verstanden und reichte mit bewunderungswürdiger Gelassenheit der sehr verlegenen Gräfin Schliersen den Arm.

[287] Der Fürst, welcher, die Baronin Fleury führend, achtlos an der kleinen Scene vorüber gegangen war, winkte Oliveira an seine Seite, und während die Gesellschaft langsam durch die schattigen Alleen wandelte, erzählte der Portugiese, von Serenissimus mit ziemlich fühlbarer Neugierde befragt, von seiner brasilianischen Heimath. Alles lauschte schweigend, der Mann sprach zu interessant. Der erste Eindruck, nach welchem dieser merkwürdige Fremde in steter Verneinung, ja, in unausgesetzter Kriegsbereitschaft Anderen gegenüberstand, verschwand vollständig. Die Damen waren bezaubert von dem Klang seiner Stimme, und manchem Cavalier, der nichts besaß als seine Hofcharge und die damit verbundenen ziemlich schmalen Einkünfte, schwindelte bei der Schilderung der großartigen Eisenbergwerke, die, durch einen regelrechten Betrieb ausgebeutet, dem Portugiesen kolossale Summen einbringen mußten.

Auf die Frage des Fürsten, weshalb er Brasilien verlassen und gerade Thüringen zu seinem Aufenthalte gewählt habe, schwieg Oliveira einen Moment, dann sagte er fest, mit einem ganz besonderen Nachdruck, wobei jedoch seine Stimme eigenthümlich bedeckt klang, er werde den Grund Seiner Durchlaucht in einer besonderen Audienz mittheilen.

Der Minister sah überrascht auf, und ein lauernder, tief mißtrauischer Blick hing sekundenlang durchbohrend an dem Profil des Portugiesen, und obgleich der Fürst in diesem Augenblick die Audienz gnädig in Aussicht stellte, konnte doch Jeder, der das Gesicht des Ministers nur einigermaßen kannte, sicher wissen, daß der Tag, welcher diese „besondere Audienz“ bringen sollte, niemals kommen werde.

Jenseits der Schloßgartenmauer blieb der Fürst unter den schattigen Ulmen stehen und betrachtete das Holzgerüst eines neuerbauten Hauses von ziemlich bedeutender Ausdehnung. Es lag, wenn auch nur in geringer Entfernung von Neuenfeld, doch ziemlich isolirt, gleichsam auf dem vorgestreckten Knie des gegenüberliegenden Berges und war wohl heute in seiner Aufstellung fertig geworden, denn ein Mann saß rittlings auf dem Firstbalken und befestigte die übliche Tanne, von deren Wipfel bunte Bänder flatterten.

„Es sieht aus wie ein Schlößchen,“ meinte Seine Durchlaucht. „Soll ein Asyl für arme Kinder werden?“ frug er über die Schulter den Portugiesen.

„Ich baue es zu dem Zweck, Durchlaucht.“

„Hm … ich fürchte nur, sie werden nicht wieder herauswollen, die kleinen Menschen, wenn sie einmal drin sind – ich kann’s ihnen auch nicht verdenken,“ bemerkte einer der Cavaliere; die Gräfin Schliersen aber hob warnend den Zeigefinger.

„Nur nicht verwöhnen, bester Herr von Oliveira!“ sagte sie. „Ich warne Sie lediglich aus Humanitätsrücksichten. Man macht diese Menschenclasse nur unglücklich, wenn man sie mit Ansprüchen erzieht, welche sie in ihrer angeborenen Lebensstellung, über die sie doch nun einmal nicht hinaus können, nothwendig aufgeben müssen.“

Die dunklen Augen Oliveira’s ruhten mit einem sarkastischen Ausdruck unabweisbar auf dem Gesicht der humanen Dame.

„Und weshalb sollten sie nicht über diese Lebensstellung, die da mit anderen Worten Noth, Elend und Entbehrung heißt, hinaus können, meine Dame?“ fragte er. „Haben sie nicht einen Kopf wie wir Alle? Und werden sie diese Mitgift des Himmels nicht genau so brauchen lernen – ich sage nochmals, wie wir Alle, meine Dame – wenn sie die richtige Erziehung und Anleitung erhalten? Schon dadurch allein sind sie vor dem Uebel geschützt, welchem Sie die Bezeichnung ‚angeborene Lebensstellung‘ geben. …. Uebrigens gehe ich auch noch ein wenig weiter – Neuenfeld hat Brod und ein heimathliches Dach für sie Alle, wenn sie später nicht vorziehen sollten, sich selbst draußen in der Welt eine ehrenhafte Existenz zu suchen.“

Niemand erwiderte ein Wort auf diese unumwundene Erklärung. Der Fürst schritt langsam weiter, aber er hatte durchaus keinen Zug der Mißbilligung auf seinem schmalen Gesicht, wie ihn die Gräfin Schliersen vielleicht zu sehen gewünscht hätte. Sie war offenbar eine jener energischen Frauen, die gewohnt sind, sich maßgebend sprechen zu hören, und die ein Thema um so hartnäckiger festhalten, als sie, mit demselben bereits eine Niederlage erlitten.

„Ohne Zweifel schweben Ihnen bei diesem Asyl unsere berühmten evangelischen Rettungshäuser vor?“ wandte sie sich nach einer Pause, stehenbleibend, wieder an den Portugiesen.

„Nicht ganz,“ entgegnete er gelassen. „Im Hauptprincip kann ich nicht mit ihnen gehen, weil ich nicht an die verschiedenen Confessionen rühren will. Ich habe da zum Beispiel gleich vier Judenkinder, die Waisen zweier sehr tüchtigen Arbeiter.“

Diese Antwort fuhr wie ein elektrischer Schlag durch die ganze Damengesellschaft. „Wie, Juden nehmen Sie auf?“ klang es im Chor von all’ den schönen Lippen.

Zum ersten Mal schwebte um den strengen, ernsten Mund des Mannes, „der nicht lächeln konnte“, ein leiser Zug der Belustigung.

„Halten Sie denn den Juden für so bevorzugt vom Himmel, daß er den Hunger weniger fühlt, als der Christ?“ fragte er.

Die Damen, über deren Gesichter sein durchdringender Blick hinglitt, schlugen unwillkürlich die Augen nieder.

„Jene zwei israelitischen Männer sind mit der heißen, dringenden Bitte auf den Lippen gestorben, daß ihre Hinterlassenen dem Glauben ihrer Väter nicht entfremdet werden möchten,“ setzte er tiefernst hinzu. „Ich ehre diesen letzten Willen und werde nicht dulden, daß man den Kindern einen anderen Glauben octroyirt.“

„O mein Gott,“ rief die Gräfin Schliersen empört, „liegt denn diese nicht genug zu verurtheilende Toleranz in der Luft des Neuenfelder Thales? … Da drüben predigt ein protestantischer Geistlicher unausgesetzt ‚Liebet Euch unter einander‘, und fragt viel danach, ob er zu Türken, Heiden und Juden spricht – und Sie? … Ach verzeihen Sie – ich vergaß – als Portugiese sind Sie ja jedenfalls Katholik?“

Abermals leuchteten die Augen des Mannes in einer Art von spöttischer Heiterkeit auf.

„Ah, Sie wünschen mein Glaubensbekenntniß, Frau Gräfin?“ fragte er. „Nun denn, ich glaube fest und unerschütterlich an einen allliebenden Gott, an die Unsterblichkeit meiner Seele und an meinen Beruf als Mensch, der mir die Pflicht auferlegt, mich der Mitwelt so nützlich zu machen, wie nur irgend in meiner Macht liegt. … Und was jenen protestantischen Geistlichen da drüben betrifft, so möchte ich Sie doch bitten, ein wenig vorsichtiger in Ihrem Urtheil zu sein – der Mann ist ein tadelloser Christ!“

„Davon haben wir uns nicht überzeugen können,“ warf der Minister mit gleichgültiger, aber scharfzugespitzter Stimme ein – seine Lider lagen tief über den Augen, und gaben der Physiognomie etwas unbeschreiblich Verächtliches. „Er ist ein erbärmlicher Prediger und giebt den gläubigen und heilsbedürftigen Seelen durch seinen saloppen Vortrag unausgesetzt Aergerniß. … Wir haben uns veranlaßt gesehen, ihn von der Kanzel zu entfernen.“

Die so völlig herz- und seelenlose Stimme, deren Klang darauf berechnet war, zu reizen, verfehlte ihre Wirkung nicht – die braunen Wangen des Portugiesen färbten sich dunkelroth und seine vornehm kühle Haltung schien ihm für einen Augenblick treulos zu werden, aber er bezwang sich.

„Das weiß ich,“ sagte er anscheinend gelassen. „Excellenz werden nach bestem Ermessen gehandelt haben. … Trotzdem möchte ich mich an die Gnade des Durchlauchtigsten Fürsten wenden und bitten, daß dieser Fall noch einmal in Erwägung gezogen würde. … Bei näherer Beleuchtung dürften sich diese gläubigen und heilsbedürftigen Seelen lediglich auf eine herrschsüchtige Frau und einige wegen Untreue und Arbeitsscheu aus dem Hüttenwerk entlassene Arbeiter reduciren –“

„Ein ander Mal, ein ander Mal, lieber Herr von Oliveira!“ unterbrach ihn der Fürst heftig abwehrend; seine kleinen, matten Augen streiften scheu und ängstlich das Gesicht des Ministers, auf welchem sich jetzt der tiefste Ingrimm unverhohlen spiegelte. „Ich bin hier, um mich zu erholen, und muß Sie dringend bitten, nichts Geschäftliches zu berühren – erzählen Sie uns lieber von Ihrem wundervollen Brasilien.“

Der Portugiese trat wieder an die Seite des Fürsten.

„Die Razzia auf diese im alten Schlendrian versunkenen, unverbesserlichen Geistlichen ist eine Ihrer vortrefflichsten Maßregeln, Excellenz – sie wird in den Annalen unseres Landes glänzen!“ sagte die Gräfin Schliersen zu dem Minister.

Diese Frau mußte doch das letzte Wort haben, und es war lediglich für die Ohren des Portugiesen bestimmt. Der Mann [288] stand mit beiden Füßen in einem aufgescheuchten Wespennest, und der gereizte Schwarm tobte und brauste um sein Haupt, allein dieses Haupt mit dem Ausdruck tödtlicher Verachtung in den Zügen saß majestätischer als je auf den Schultern; mit leise durchklingendem Spott erzählte er dem ängstlichen Landesherrn von den herrlichen Schmetterlingen und den berühmten, kostbaren Holzarten Brasiliens, von den Topasen und Amethysten, die auf seinem eigenen Grund und Boden in bedeutender Menge gefunden wurden – und damit war man wieder im alten Fahrgeleise der harmlosen Conversation, wie sie die einzig schickliche war auf diesem heiklen Boden, der das Kräutlein ,Rühr’ mich nicht an‘ so üppig wuchern und gedeihen ließ.

(Fortsetzung folgt.)




Briefkasten.

K. in L. Wenn es gilt, das Andenken eines treuen, redlichen Volksmannes, eines rastlosen Förderers der Volkswohlfahrt und eines unerschrockenen Rechtsverfechters – und als solchen haben die Leser der Gartenlaube aus Nr. 50 des vorigen Jahrgangs „Unsern Präsidenten“ kennen gelernt – auf die würdigste Weise der nachkommenden Generation zu erhalten, so haben die Vorsteher jener drei Berliner Vereine, in welchen Lette als Mitglied und Vorsitzender die segensreichste Thätigkeit entfaltete, sicherlich das Rechte gewählt. Der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Classen, der Handwerkerverein und der Verein für Erwerbthätigkeit des weiblichen Geschlechts haben durch ihre Vertreter, unter welchen wir Namen wie Gneist, Franz Duncker und v. Holtzendorff finden, öffentlich zu Ehrengaben auffordern lassen, deren Betrag zu einem Lette-Stipendium für die Zwecke der genannten Vereine und der deutschen Pestalozzi-Stiftung verwendet werden soll. Insbesondere hat der Vereinsausschuß beschlossen, daß das Drittel der Lette-Stiftung, welches demselben zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts zufällt, dem Zwecke gewidmet sein soll: „durch darlehnsweise Unterstützung befähigte und bedürftige Mädchen oder Wittwen in den Stand zu setzen zur Begründung einer selbstständigen wirthschaftlichen Existenz.“ Wir bitten bei dieser Gelegenheit unsere Leser, „Unsern Präsidenten“ sich noch einmal vor Augen zu stellen, und wenn der Anblick ihre Herzen neu erwärmt hat, dann mögen sie zum Portemonnaie greifen und zu Lette’s und ihrer eigenen Ehre die rechte Hand nicht wissen lassen, was die linke thut.

H. in B. Wir haben das Preis-Lustspiel „Schach dem König“ von Schauffert nicht gesehen und können deshalb auch kein selbstständiges Urtheil darüber abgeben. Thatsache aber ist es, daß bei den vielen und wiederholten Aufführungen des Stückes das Publicum den gelungensten Scenen mit dem größten Interesse folgte, und – was sehr mitspricht – viel und herzlich gelacht hat. Dagegen ist das mit dem dritten Preise prämiirte Stück „Der Narr des Glückes“ von Ernst Wichert nach dem Urtheile aller Wiener Blätter überaus langweilig und deshalb auch gründlich durchgefallen. Die „Neue freie Presse“ hält dem Autor und dem Stücke eine vernichtende Leichenrede. – Auch Hans Hopfen’s „Aschenbrödel in Böhmen“ hat in Leipzig nicht angesprochen.

G. in B–n. Wie kommen Sie zu der sonderbaren Frage? Der Name des Redacteurs, der die Gartenlaube seit der am Weihnachtsfest 1852 erschienenen ersten Nummer bis heute stets geleitet und selbst redigirt hat, steht deutlich genug am Kopfe und Schlusse des Blattes! Was soll’s also mit den mysteriösen Andeutungen und Fragen, die uns ganz unverständlich sind?

M. in New-York. Der Abdruck des Marlitt’schen Romans: „Gisela“ in der New-Yorker Staatszeitung ist kein Nachdruck, da der Eigenthümer der genannten Zeitung die Erlaubniß zur Aufnahme in sein weit verbreitetes Blatt auf durchaus legalem Wege erlangt hat.

E. O. in D. (Rußland). Bedauern, von dem längern Roman „Die Auburn“ keinen Gebrauch machen zu können. Für unsere deutschen Leser hat der gewählte Stoff kein Interesse.

H. D. in J.U. in Ch.O. Gpke. in L. Die Frage ist schwer zu entscheiden. Die Verfasserin der Erzählung sowohl wie das Publicum legen die Betonung auf die zweite Silbe des Namens Gisela, wie das auch Petri in seinem Wörterbuch thut, Uhland, Wackernagel und Heyse dagegen streiten für Gisela, betonen also die erste Sylbe und lassen das e kurz erscheinen.

J. M. in S. Verfügen Sie über Ihre Kreidezeichnung, die Gartenlaube hat keine Verwendung dafür. Der Stoff, den Sie gewählt, besitzt nichts weniger als den Reiz der Neuheit, und textliche und illustrative Behandlung haben ihm auch keine fesselnde Seite abgewonnen.

F. L. in M. Was Sie uns brieflich klagen, hat einer unserer Mitarbeiter sehr poetisch in dem nachfolgenden Gedicht ausgedrückt:

Längst sank herab die Sommernacht,
Gelöscht sind alle Lichter;
Im monderhellten Zimmer wacht
Von Qual erfüllt der Dichter.
Sein Genius hat ihn geweiht:
Aus Schmerz und Nacht und Einsamkeit
Entströmen ewige Lieder!

Sie gehen in die Welt hinaus –
Sie wandern schon seit Jahren
In manche Hand, in manches Haus!
Er hat es oft erfahren,
Daß ihm ein Herz entgegenschlug,
Sein Bild im tiefsten Innern trug,
Und seine ewigen Lieder.

Das eine Herz, das er begehrt
Mit seinem Dichterherzen,
Das Bild, um das er sich verzehrt
In nie geträumten Schmerzen,
Um das ihm Muth und Leben bricht,
Das eine Herz gewann er nicht
Mit all’ seinen ewigen Liedern!

K. K. in O. Pater Roman, der Banzer Mönch und Jenaische Professor, dessen denkwürdiges Schicksal wir in Nr. 1 dieses Jahrgangs der Gartenlaube erzählten, ist noch nicht ganz von der Erde verschwunden: er lebt noch in einer Enkelin fort, welche selbst uns diese Nachricht schrieb. Schad’s Tochter Tullia war vermählt mit H. Iversen; sie folgte ihrem Vater schon 1838, zwei Jahre später der Gatte im Tode ihr nach. Beide hinterließen eine Waise, Anna, die, von der Hand der Wohlthätigkeit freundlich geschützt, seit Jahren als die glückliche Gattin Friedrichs von Postels, Inspectors am vierten Gymnasium in St. Petersburg, lebt.

Ihr wie zugleich Fr. K. K. in O. beantworten wir hiermit die Anfrage über Schad’s Selbstbiographie. Sie erschien zuerst 1803 in der Hennings’schen Buchhandlung in Erfurt unter dem Titel: „J. B. Schad’s, Doctors der Philosophie, ehemaligen Benedictiners zu Banz, Lebens- und Klostergeschichte, von ihm selbst beschrieben.“ – Ein zweiter Band dazu, 1804 erschienen, führt den besondern Titel: „Die Mönche am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, oder Gefahren des Staats und der Religion von Seiten des Mönchthums etc., von J. B. Schad.“ – Dasselbe Werk wurde dann noch einmal, 1828, zu Altenburg in drei Bänden gedruckt.



Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig sind erschienen:

Herman Schmid’s
Gesammelte Schriften.
Volks- und Familienausgabe.
Novellen und Erzählungen.
In 18–20 Bänden. Subscriptionspreis jedes Bandes 7½ Sgr. = 27 kr. rhein.

Erschienen sind: Band 1. Tannengrün. Inhalt: Die Huberbäuelin. Unverhofft. Der Schütz von der Pertisau. – Band 2. Am Kamin. Inhalt: Der Jägerwirth von München. Das Todten-Gesicht. – Band 3. Erzstufen. Inhalt: Mohrenfranzel. Die Goldsucher. – Band 4 und 5. Das Schwalberl. Ein Bauernroman aus dem oberbairischen Gebirg. – Band 6 und 7. Mein Eden. Eine Münchner Geschichte aus den Zeiten Karl Theodor’s. – Band 8. Alte und neue Geschichten aus Baiern. Erster Theil. Inhalt: Der Greis. Eigner Heerd. Ein treuer Mann. – Band 9. Der bairische Hiesel. Volkserzählung aus Baiern. – Band 10–13. Der Kanzler von Tirol. Geschichtlicher Roman.

Herman Schmid ist durch seine vortrefflichen Novellen namentlich den Lesern der Gartenlaube schon lieb und vertraut geworden. Wer einmal die eine oder die andere seiner Geschichten gelesen, wird sie nicht leicht wieder vergessen haben. Es weht aus ihnen nicht blos erfrischend der kräftige Hauch jener sonnigen Berge und grünen Thäler, in denen sie meistens sich ereignen, sie sind auch rein und keusch wie dieser Hauch, dabei voll spannender Vorgänge und warmen dramatischen Lebens. Erzähler wie dieser, die nicht wie Handwerker fabriciren, sondern aus der Tiefe des Gemüths heraus poetisch gestalten und das innerste Sein des Volks in so mannigfaltig anheimelnder, und ergreifender Weise und in so markigen Gestalten zu schildern wissen, werden auch im Herzen des Volkes stets einen sicheren Platz behaupten. Wir glauben daher, daß unser deutsches Publicum die gesammelten Schriften von Herman Schmid freudig willkommen heißen wird. Um auch den Unbemittelten die Anschaffung dieser geschmackvoll ausgestatteten in 18–20 Bänden erscheinenden Familienbibliothek zu ermöglichen, setzt die Verlagshandlung den 10–17 Bogen starken Band, der in früheren Ausgaben 1½ Thlr. gekostet, auf den enorm billigen Preis von nur 7½ Sgr. oder 27 kr. rhein. Einzelne Bände werden nur zu dem vierfachen Subscriptionspreis abgegeben.


Inhalt: Das Mädchen von Liebenstein. Der Wirklichkeit nacherzählt von Friedrich Bodenstedt. – Der Wassereinbruch in Wieliczka. Von Dr. W. Hamm. Mit Abbildung. – Pariser Bilder und Geschichten. Die Fremden in Paris. Von L. Kalisch. – Der Welfenschatz. Mit Abbildungen. – Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Briefkasten.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.