Die Gartenlaube (1869)/Heft 2

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 2.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung)


„Die Nacht ist keines Menschen Freund, heißt’s,“ unterbrach sich der alte Soldat, herb auflachend; „die Spitzbuben haben keinen besseren Freund! Möchte wissen, ob die Frau Gräfin auch alleinige Erbin geworden wär’, wenn die helle Sonne in‘s Sterbezimmer geschienen – glaub‘s nicht! … Wie der Prinz den letzten Seufzer ausgestoßen hatte, da stand sie auf – sie sah aus wie ein Geist, aber nicht eine Spur von Mitleid, oder gar eine Thräne war auf dem hochmütigen, weißen Gesicht zu sehen – also, sie stand auf und schlug mir die Thüre vor der Nase zu. Ueber eine halbe Stunde lang hat sie drin in einem fort gesprochen, was, das weiß ich nicht – ich hörte nur die Todesangst in ihrer Stimme. Nachher kamen die beiden Herren heraus und zeigten den Schloßleuten den Tod des Prinzen an. Mein Major ging an mir vorbei, als sei ich auf einmal ein Mauerstein oder so was geworden – er sah mich nicht an … Herr, ich sagte vorhin, daß in der Nacht die ganze wilde Jagd über den Thüringer Wald hingetobt sei – nu ja, die Gräfin kam als Frau Venus mitgeritten, und wer der Tannhäuser war, das weiß ich – mein Herr war seitdem ein verlorener Mann, die Gräfin aber die reichste Frau weit und breit. Das Testament, das sich vorfand, fiel in die Zeit, wo die Feindschaft mit dem Hofe zu A. am schlimmsten und die Macht der Gräfin am höchsten gewesen war – es soll förmlich niet- und nagelfest gewesen sein, und kein Gerichtshof hat dran rütteln können. Was da war, gehörte der Erbschleichern, nicht einmal die Armen im Lande kriegten einen Groschen“

„Verwünscht, daß der Fürst zu spät kam!“ stieß der Student hervor und schlug mit der Hand auf den Tisch.

„Zu spät?“ wiederholte Sievert. „Er kam gar nicht. Gegen Morgen fingen Bauern in der Nähe von A. ein herrenloses Pferd ein, und der Baron Fleury wurde im Chausseegraben gefunden. Er war im Hinreiten nach der Stadt mit dem Pferde gestürzt und hatte sich die Gliedmaßen dergestalt verstaucht, daß er nicht von der Stelle konnte. … Hei, der sah aus, wie er auf der Trage eingebracht wurde! Die Kleider zerrissen und voll Chausseeschlamm, und die Haare, die der Pomadenheld alle Tage so schön kräuseln und ringeln ließ, hingen wie bei einem Zigeuner über das Gesicht! … Nu, er hat sein Schmerzensgeld vollauf gekriegt. Es ist ihm nicht vergessen worden, daß er sein Leben in die Schanze geschlagen hat, um dem Fürstenhause die Erbschaft zuzuwenden, und drum ist er auch schließlich – Minister geworden.“

„Und Herr von Eschebach?“ frug der Student.

„Ja so, Herr von Eschebach!“ wiederholte Sievert, indem er sich die Stirn rieb. „Um seinetwegen hab' ich ja eigentlich die Schandgeschichte erzählt. Je nun, der verging so zu sagen seit der Nacht. Zuerst war er noch ziemlich lustig und guter Dinge – er ritt viel nach Greinsfeld; das hörte aber schon nach ein paar Tagen ganz auf. Er zog nach A., und just an dem Tage, wo in Greinsfeld große Hochzeit war – die junge Gräfin heiratete den Grafen Sturm – da ging er auf und davon. … Nu, der konnte freilich so mir nichts, dir nichts in die weite Welt gehen, er hatte ja nicht Weib und Kind, wie mein Major –“

Der Hüttenmeister war während der letzten Mittheilung des Alten an eines der Fenster getreten und hatte die Vorhänge auseinander geschlagen – ein berauschender Blumenduft strömte sofort in das Zimmer. Auf dem Fenstersims blühten in Töpfen Veilchen, Maiblumen und Tazetten. Der junge Mann schnitt erbarmungslos die schönsten Blüthen ab und schob sie vorsichtig in eine weiße Papierdüte. Bei Sievert’s letzten Worten bog er den Kopf in’s Zimmer zurück, ein rascher Seitenblick streifte die gespannten Gesichtszüge seines Bruders, wobei ihm eine helle Röthe über Stirn und Wangen flog.

„Aber nun lassen Sie die alten Geschichten ruhen, Sievert!“ rief er, die Rede des alten Soldaten rasch abschneidend, hinüber. „Sie selbst machen ja Vieles gut, was Andere verschuldet haben. Sie sind der getreue Eckardt –“

„Wider Willen, ganz wider meinen Willen, Hüttenmeister!“ fuhr Sievert grimmig auf, indem er sich erhob und hastig seine Sachen zusammenpackte. „Hat Einer seinen Herrn lieb gehabt, so bin ich's gewesen; ich wär’ für ihn durch’s Feuer gelaufen in der Zeit, wo er noch gut und strenge und ein rechter Cavalier war. Aber nachher wurde er der Gräfin ihr Narr, er spielte und trank mit dem Baron Fleury und dergleichen Gelichter die Nächte durch und machte alle ihre ,noblen Nichtsnutzigkeiten‘ mit; er mißhandelte seine Frau – die Frau, die ihr Herzblut tropfenweise für ihn hingegeben hätte – und da kam mir der Grimm, ich hab’ ihn gehaßt und verachtet, und es war sein und mein Glück, daß er mich fortschickte. … Ja, ja, da heißt’s: ,er ist auf dem Felde der Ehre gestorben!‘ Das klingt gar gewaltig und löscht alle Sünden aus; wenn aber Einer Bankerott macht und geht in der Verzweiflung sich selbst an's Leben, da ist er verurteilt für alle Zeiten. Herr, es war Alles fort und verjubelt bis auf die elende Barake, das Waldhaus, die Frau Gräfin wollte mit dem Bettler auch nichts mehr zu schaffen haben, und da ging der letzte [18] Zweiflingen nach Schleswig-Holstein, stürzte sich in den dichtesten Kugelregen und ließ sich niederschießen. Aber das ist beileibe kein Selbstmord - sollte 'mal Einer sich untersteh’n, das Ding so zu nennen! Die Cavalier-Ehre ist gerettet, und nun sieh du, Wittwe, wie du zurecht kömmst! Seine adligen Hände konnten wohl Geld ausgeben, aber rechtschaffen arbeiten und das gut machen, was sie gesündigt hatten, das durften sie nicht - dazu waren sie zu vornehm!“

Er warf den Mantelzipfel über die Schulter und griff nach der Laterne. „So, nun hab’ ich einmal meinem Herzen Luft gemacht!“ sagte er nach einem tiefen Athemzug. „Hätten Sie den Namen ,Eschebach‘ nicht genannt, wär’s nicht geschehen. … Und nun gehe ich heim und schleppe mein Joch weiter! … Aber noch Eines, Hüttenmeister. Nennen Sie mich nie wieder den getreuen Eckardt! Zu dem Posten gehört ein Herz voll Liebe und Geduld, und das hab’ ich nicht, absolut nicht. … Der Major hätte nur zehn solcher Briefe hinterlassen können, wie sie nach der Schlacht bei Idstedt einen bei ihm gefunden haben, ich wär’ deshalb noch lange nicht zu seiner Frau und Tochter gegangen, denn die Liebe war ausgelöscht, aber es war einmal eine Zeit, wo mein Vater sein Bauergütchen durch einen nichtsnutzigen Proceß verlieren sollte; da nahm der Major den besten Advocaten im Lande an und bezahlte ihn, und mein Alter blieb auf seinem rechtmäßig ererbten Eigenthum. An die Zeit dachte ich, packte meine sieben Sachen zusammen und wurde wohlbestallter Haushofmeister, resp. Küchenmagd, Holzlieferant, Scheuerfrau etc. etc. bei Frau von Zweiflingen.“

Der Ausdruck beißenden Hohnes in der Stimme des alten Soldaten wurde noch verstärkt durch die ironische Würde in Haltung und Geberden, die er bei Aufzählung seiner Functionen annahm. Auf den Hüttenmeister aber wirkte diese Art und Weise sichtbar peinlich und verletzend. Er kniff die Lippen unter dem Vollbart fest aufeinander, seine Brauen falteten sich noch düsterer als zuvor, und stillschweigend legte er die Papierdüte, die er bis dahin in der Hand gehalten, auf einen Seitentisch. Sievert trat jedoch mit zwei raschen Schritten zu ihm.

„Geben Sie nur her!“ sagte er, indem er die Düte ergriff und auf das Brod in seinem Korbe legte. „Den Gefallen thu' ich Ihnen schon. … Aendern kann ich doch nichts mehr, und die armen Dinger da sollen nicht umsonst abgeschnitten sein. … Will’s schon ausrichten, weshalb Sie heute nicht zur ‚Theegesellschaft‘ kommen können. Und nun gute Nacht und gute Besserung für den Herrn Studenten!“

Damit verließ er das Zimmer und trat wieder hinaus in den stürmischen Abend.




2.

Er schlug denselben Weg ein, wie die Pfarrerin – nach dem Dorfe Neuenfeld, das ohngefähr einen Büchsenschuß weit vom Hüttenwerk lag. Aber der Weg war unterdessen ein sehr mühseliger geworden, der Sturm hatte fußhohe Schneewälle zusammengefegt und quer über die Chaussee geworfen, und der Flockenwirbel erfüllte die Luft so compact und undurchdringlich, daß auch nicht eine Spur der Ebereschenbäume zu beiden Seiten der Chaussee sichtbar war.

Der alte Soldat stampfte mit Todesverachtung im förmlichen Sturmschritt vorwärts; ihm wurde wohl inmitten des Tumultes. Er schob die wohlbefestigte Mütze nach dem Hinterkopf zurück und ließ sich von dem kalten Schnee die Stirne bestäuben, hinter der die plötzlich wachgerüttelten alten, bösen Erinnerungen brannten. Das Knirschen und Krachen unter seinen Füßen erfüllte ihn mit einer fast kindischen Befriedigung; er trat noch einmal so fest auf und dachte an seinen Lebensweg, den er mit Mißbehagen und tiefem Widerwillen ging, da durfte er ja nie auftreten, wie er wollte, und wurde unter der Einlösung alter Verpflichtungen grau, verbittert und menschenfeindlich.

Neuenfeld, eines jener armseligen Gebirgsdörfer, wie der Thüringer Wald deren genug auf seinem Rücken trägt, lag in lautloser Stille vor ihm es sah aus, als habe es sich geduldig und willenlos ergeben in die kleine Thalsenkung hingestreckt, um sich nun bis an seine Schindeldächer einschneien und einsargen zu lassen. Am Tage erschienen die elenden, unregelmäßig durcheinander gestreuten Häuser mit den verwahrlosten Gärtchen an ihrer Seite nichts weniger als einladend; in diesem Augenblick jedoch, wo Schnee und Nacht die Lehmwände und grauen Schindeln deckten, fiel der matte Lichtschein der kleinen Fenster gastlich und anmuthend in das Schneewetter draußen. Die Glasscheiben bedurften keiner Laden oder verhüllenden Vorhänge - das besorgte der wohlgeheizte Ofen, der ja tröstlicher Weise selbst im ärmsten Hause nicht fehlt, er behauchte sie mit einer dicken Dunstschicht, und so konnte kein Nachbar bei dem anderen sehen, ob er seine Abendkartoffeln einfach in das Salzfaß tunke, oder sich den Luxus einiger Loth Butter auf seinem ungedeckten Tisch erlaube.

Sievert durchmaß das Dorf mit verdoppeltem Eilschritt. Die erleuchteten Fenster erinnerten ihn, daß daheim das letzte Stümpfchen Licht auf dem Leuchter steckte, es hatte bereits sieben geschlagen, eine ziemliche Strecke Weges lag noch vor ihm, und die Bewohner des Waldhauses waren auf das Abendbrod angewiesen, das er im Korbe heimbrachte. Am Ende des Dorfes verließ er die Chaussee, die auf der Thalsohle noch ein Stück fast schurgerade in die weite Welt hineinlief, und betrat, links abbiegend, einen jener vernachlässigten Holz-Fahrwege, die nach einem aufweichenden Regen bodenlos, bei frosthartem trockenem Wetter aber durch die fußtiefen Geleise geradezu halsbrechend werden.

Das Waldhaus führte seinen Namen mit Recht. Vor Jahrhunderten von einem Herrn von Zweiflingen lediglich zu Jagdzwecken erbaut, lag es wie verloren im Walde. Bewohnt hatten es seine Besitzer niemals; das eigentliche Haus bildete eine einzige ungeheure Halle, und nur die zwei ziemlich umfangreichen Thürme, die zu beiden Seiten der Vorderfronte emporstiegen, enthielten einige Gemächer, in denen ehemals die Theilnehmer an den großen Jagden übernachtet hatten. Nach dem Tode des Majors von Zweiflingen war dessen Wittwe in eine kleine Stadt Thüringens übergesiedelt. Ihr ganzes Einkommen bestand in einer sehr schmalen Pfründe, die ihr infolge einer uralten Zweiflingen’schen Stiftung zufiel - eine kleine Pension, die ihr der Minister, Baron Fleury, beim Fürsten von A. ausgewirkt, hatte sie zurückgewiesen. Den Luxus, irgendwelche Dienerschaft zu halten, schloß der kleine Etat selbstverständlich aus; Sievert mußte demnach selbst für seinen Unterhalt sorgen, und er konnte es, er hatte das von seinem Vater ererbte Bauerngütchen verkauft, und die Zinsen des Capitals reichten vollkommen aus für seine geringen Bedürfnisse. Vor zwei Jahren nun war ein Rückenmarkleiden bei Frau von Zweiflingen zum Ausbruch gekommen, sie hatte sich damals bereits dem Tode nahe gewähnt und mit fieberhafter Heftigkeit verlangt, auf Zweiflingen’schem Grund und Boden zu sterben. Unter unsäglichen Mühen war sie nach dem Waldhaus, dem letzten Rest ehemaligen glänzenden Besitzthums, geschafft worden und erwartete hier in völliger Abgeschiedenheit die erlösende Stunde.

Allmählich stieg der Boden unter Sievert’s Füßen aufwärts. Der alte Soldat watete bis über die Knöchel in dem zwischen den Furchen liegen gebliebenen Schnee und hatte schwer zu kämpfen mit dem Sturm, der hier widerstandlos über den baumlosen Wiesenabhang hinpfiff. Aber schon brauste es schutzverheißend von droben herab – wohl heult der Sturm um ein altes Schloß in einer ganz besonderen Tonart, allein nicht weniger ergreifend klingen seine Stimmen, wenn er die Waldwipfel schüttelt, wenn er jedes dürre, zusammengekrümmte Eichenblatt zu seinem Sprachrohr macht und die leblose Blätterleiche zwingt, klagend mitzusingen von todter Waldesherrlichkeit, von Lenzesliebe und Sommertraum, aber auch von alten, alten Zeiten, da das Trara aus dem Hifthorn des Knappen scholl und das goldige Haar der pürschenden Edeldame über dem Dickicht wehte.

Für Sievert klang auch noch Anderes mit in dem Tosen, das jetzt über seinem Haupte hinzog. Die zürnenden Stimmen der alten gestrengen Herren von Zweiflingen – sie hatten hier geherrscht mit dem ganzen Gewicht feudaler Macht und Rechte, sie hatten oft unerbittlich grausam und blutig gerichtet über den Walddieb und Wilderer in ihrem Revier – und jetzt mußte der alte Soldat auf dem nun fremden Grund und Boden die dürren Reiser auflesen, um den letzten Nachkommen des glänzenden Geschlechts eine warme Stube zu verschaffen, er war noch vor Kurzem in dem Untergehölz, inmitten der scheelsehenden Bettelkinder des Dorfes, umhergekrochen und hatte von dem scharlachnen Teppich der Preißelsbeeren ein paar Körbe voll eingeheimst, zur Erquickung der letzten Frau von Zweiflingen.

Der Alte pfiff leise zwischen den Zähnen, wie Einer, der ein [19] bitteres Auflachen verbeißen will. Plötzlich blieb er stehen – ein zornig knurrender Ton entschlüpfte seinen Lippen – von fern flimmerte ein matter Lichtpunkt durch die Flocken, die in diesem Augenblick minder dicht niederfielen.

„Aha, da hängt wieder einmal die Decke nicht vor dem Fenster! Bei dem Wind!“ murmelte er grimmig. „Das wird ja hübsch durch die Stube pfeifen! … Nun fehlt nur noch, daß sie auch den Ofen vergessen hat.“

Er lief vorwärts und lachte plötzlich auf – der Wind trug ihm einzelne volle Clavieraccorde entgegen.

„Nu ja, da haben wir’s – sie rast wieder einmal – konnte mir’s schon denken!“ grollte er weiterlaufend. Alle Reflexionen waren im Nu verflogen vor dem Aerger, der sich des alten Soldaten bemächtigte. Was kümmerten ihn jetzt noch die wehklagenden und zürnenden Schatten der längstvermoderten Herren von Zweiflingen – er hörte nur die allmählich zur rauschenden Melodie werdenden Töne und sah den Lichtschein, der, unruhig hin und her flackernd, in der That aus einem unverhüllten Thurmfenster fiel und dessen Eisenvergitterung in schwankenden, mattgezeichneten Umrissen auf die Schneedecke draußen warf.

Die Façade des Waldhauses trat um einige Schritte hinter die Thürme zurück; vor ihr hinlaufend und um eine Anzahl Stufen erhöht, verband eine Galerie die beiden Thürme. Der unmittelbar vom Waldboden hinaufführenden Treppe gegenüber, die das Steingeländer der Galerie in seiner Mitte durchbrach, erhob sich eine ungeheure Doppelthür, welche direct in die große Halle führte. Bei Sievert’s Hinaufsteigen floß der Laternenschein über zwei lebensgroße Steinfiguren, die auf der Brüstung zu beiden Seiten der Treppe standen, geschmeidige Jünglingsgestalten in Edelknabentracht. Das umlockte Haupt zurückgeworfen und mit hochgehobenem Arm das steinerne Horn an den Mund setzend, bliesen sie seit Jahrhunderten das Hallali hinaus in den Wald. … Was für eine Versammlung wäre das geworden, wenn der Ruf all die todten Schläfer geweckt hätte, die hier, trunken von Wein und Jagdlust, als Gebieter auf der Terrasse gestanden und in stolzer Unantastbarkeit ihr weites Waldrevier überschaut hatten, all die Vertreter so vieler Generationen, grundverschieden in Tracht, Sitten und Anschauungen, aber heute wie immer zweifellos einig in dem einen Gedanken: Um jeden Preis das Heft in der Hand behalten, herrschen und abermals herrschen, nicht um Haarbreite abgeben von den verbrieften Vorrechten, wohl aber sie ausdehnen und erweitern, wo irgend die Gelegenheit sich bietet!

Das unerhebliche Geräusch des Aufschließen dröhnte verzehnfacht drin im Hause wider, und als Sievert den Thürflügel öffnete, da that sich die Halle in ihren kolossalen Dimensionen auf wie ein unergründlicher Schlund. Sievert’s erste Schritte galten dem Ofen; er schlug die eine Thür zurück – die Kaminöffnung gähnte ihn in schwarzer Finsterniß an.

„Richtig – kein Funken Feuer! ’S ist eine Sünde und Schande!“ zürnte er. Im Nu hatte er sich der mitgebrachten Sachen entledigt und gleich darauf prasselte ein tüchtiges Feuer im Ofen.

Der Sturm fährt durch den Schornstein und jagt die Flammenzungen weit in die Halle herein. Dann stiegen jedesmal gelbrothe Lichter über die gegenüberliegende Wand und aus verwitterten Rahmen treten, dicht neben einander gereiht, lebensgroße Männergestalten. Sie alle sind im Jägerkleide und meist in Situationen gemalt, welche den Muth und das aristokratische Blut der Zweiflingen kennzeichnen sollen – der Kampf mit riesigen Ebern und Bären ist als Sujet am meisten vertreten. Ueber der Bilderreihe aber tauchen Hirschköpfe auf, die stolze Last seltener Geweihe tragend, weiße Tafeln mit schwarzer Inschrift besagen, wann und von wem jedes der edlen Thiere erlegt worden ist, und greifen dabei in eine so graue Vergangenheit zurück, daß ein altadeliges Herz einen wahren Wonneschauer darüber empfinden könnte. Auch ein Orchester wird sichtbar; hier hatten einst die Trompeten geschmettert und mit lustigen Weisen die edlen Herren „ergötzet“ beim üppigen Jagdschmause – jetzt klang ein leises Meckern von dorther, der Bretterverschlag unter der Tribüne war zum Ziegenstall degradirt worden.

Sievert stellte einen Dreifuß in das Fester und einen Topf voll frisches Wasser darauf – es war die primitivste Kücheneinrichtung, die sich denken läßt – dann steckte er eine der mitgebrachten Talgkerzen auf einen Messingleuchter. Während dieser Verrichtungen wich ein stereotypes grimmiges Lächeln nicht einen Augenblick von seinem Gesicht. Durch die Wand klang nämlich das Clavierspiel immer voller und rauschender. Der alte Soldat war offenbar kein Musikschwärmer, sonst hätte er doch wenigstens die unglaubliche Fingerfertigkeit und Sicherheit an dem Spiel bewundern müssen – diese perlenreinen Triller und Läufer konnten sich vor dem ausgesuchtesten Concertpublicum hören lassen. Gleichwohl hatte der alte feindselige Kritiker nicht ganz Unrecht mit der naiven Bezeichnung „Rasen“. Die brillante Tarantella wurde in schwindelnd schnellem Tempo genommen – die Töne sprühten, aber wie sogenannte kalte Funken, sie zündeten nicht und ließen den Zuhörer im Zweifel, ob in den flinken, aber automatenhaft gleichförmig herunter spielenden Fingern auch wirklich lebenswarmes Blut pulsire.

Der alte Soldat nahm die Kerze und öffnete die Thür, die in das Erdgeschoß des südlichen Thurmes führte. Welche Gegensätze trennte diese Thür! Draußen die öde, leere Halle mit dem schauerlich widerhallenden Steinfußboden und dem Mangel an jeglichem Geräth, und hier ein Gemach, angefüllt mit einer wahrhaft kostbaren Möbeleinrichtung. Wir müssen sagen „angefüllt“, denn das Zimmer war ziemlich klein und umfaßte die vollständige Ausstattung eines ehemaligen großen Salons. Das war der letzte Rest alter Herrlichkeit, den die Wittwe zu behaupten gewußt hatte. Im ersten Moment blendete diese unerwartete Pracht, aber bald wich die Ueberraschung einem Gefühl der Wehmuth, des tiefen Mitleids. Diese geschnitzten Palissander-Etageren und Tische, diese Causeusen und Fauteuils mit dem aprikosenfarbenen Seidendamast-Bezug standen an Wänden, die eine uralte brüchige Ledertapete bedeckte; die gepreßten, ehemals vergoldeten Arabesken in derselben hatten längst ein schmutziges Braun angenommen und traten um so widerwärtiger da hervor, wo sie mit der blinkenden Einfassung des deckenhohen Spiegels oder dem Goldrahmen eines Oelbildes in Berührung kamen; vor den Fenstern aber hingen bunte Zitzgardinen, und der riesige dunkle Ofen ragte grob und ungeschlacht in die zierliche Ausstattung und nahm ihr den letzten Anschein von Harmonie.

Sievert zerdrückte den im letzten Stadium aufflackernden und qualmenden Lichtdocht zwischen den Fingern und stellte dafür die frische Kerze auf den Tisch.

Die Frau, die einsam, in sich zusammengesunken, in einem Fauteuil kauerte, bemerkte den wohlthuenden Wechsel nicht – denn sie war blind – „blind geweint hat sich die arme Frau!“ sagten die Leute, und sie hatten wohl nicht Unrecht. Auch sie erhöhte den peinlichen Eindruck, den das Zimmer in seinen Widersprüchen erweckte; sie war mehr als einfach gekleidet, ihr dunkles baumwollenes Kleid breitete sich förmlich hohnvoll über die strahlenden Polster des Lehnstuhles.

„Sind Sie endlich da, Sievert!“ sagte sie verdrießlich mit schwacher, aber scharfklingender Stimme. „Sie brauchen ja immer eine halbe Ewigkeit zu Ihren Ausgängen! Meine Tochter übt und hört mein Rufen nicht – ich habe mich fast heiser geschrien. … Mich friert. Jedenfalls haben Sie den Ofen nicht gehörig versorgt, ehe Sie fortgegangen sind, und Jutta hat vergessen, das Fenster zu verhängen – Sie hätten auch daran denken können. … Und was für schauderhafte Lichte bringen Sie jetzt immer in’s Haus – das ist ja ein Geruch und ein Qualm – nicht in unserer Domestikenstube hätte ich früher dergleichen gelitten!“

Der alte Diener ließ diese Vorwürfe ohne Widerrede über sich ergehen. Wachs- und Stearinlichte konnte die gnädige Frau nicht bezahlen noch weniger aber das Oel, das die prachtvolle, aus dem Ruin gerettete Astrallampe verbrauchte. Er öffnete schweigend einen Schrank, nahm eine verblichene, rothseidene Steppdecke heraus und hängte sie vor das der Kranken am nächsten liegende Fenster.

Frau von Zweiflingen ergriff eines ihrer langen Haubenbänder und rollte es mechanisch zwischen den dünnen, wachsgelben Fingern auf und ab – es lag etwas nervös Aufgeregtes in dieser Bewegung.

„Sie haben einen abscheulichen Rauchgeruch in Ihren Kleidern mit hereingebracht, Sievert,“ hob sie wieder an und richtete ihre erloschenen Augen nach dem Fenster, wo sie Sievert noch hantiren hörte. „Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie nasses Holz brennen, [20] wenn ich auch nicht begreife, wie Sie dazu kommen… Sie haben doch ohne Zweifel unser Winterholz im Sommer zur rechten Zeit einfahren lassen – denn Sie sind ja sehr praktisch – liegt es denn nicht an einem trocknen Ort?“

Ein beißendes Lächeln glitt um Sievert’s Lippen, als er das Wort „einfahren“ hörte. Ja, auf diesen seinen Schultern hatte er heute das Winterholz der gnädigen Frau „eingefahren“, und es mochte freilich mancher noch grüne Ast mit untergelaufen sein, der jetzt im Ofen zischte und die Nase der Dame beleidigte. … Sievert hatte die Casse der Frau von Zweiflingen unter seinen Händen, seit er bei ihr eingetreten war. Früher gelang es ihm, auszukommen und, wenn auch mit großer Mühe, den Anschein eines behaglichen Auskommens der Welt gegenüber aufrecht zu erhalten; aber jetzt kostete die Krankheit viel Geld. Daran dachte die Frau nicht im Entferntesten, ebensowenig hatte sie eine Ahnung, daß das Abendbrod, welches sie heute essen sollte, wie auch das verabscheute Talglicht aus Sievert’s Tasche bezahlt seien – denn es war kein Groschen mehr im Hause.

Der alte Diener versicherte indeß seiner Gebieterin, daß das Holz wohlverwahrt im nördlichen Thurm liege, und schob alle Schuld auf den Sturm, der den Rauch in die Halle blase. Dabei nahm er gleichmüthig eine Serviette, zwei Tassen und eine messingne Theekanne aus dem Schranke und arrangirte einen Theetisch vor dem Sopha.

In diesem Augenblick schloß das Clavierspiel im Nebenzimmer mit einem rauschenden Accord. Frau von Zweiflingen seufzte erleichtert auf und preßte ihre Hände einen Moment gegen die Schläfe – für ihr zerrüttetes Nervensystem mußte die geräuschvolle Musik eine wahre Marter gewesen sein.

Die Thür des Nebenzimmers ging auf. Wenn statt der Gardinen plötzlich bestaubte Spinnweben die tiefen Fensternischen des Thurmgemachs überhangen hätten, wenn die elegante Möbeleinrichtung in den Erdboden gesunken und statt des Theetisches eine Kunkel zur Seite der Frauengestalt im Fauteuil auferstanden wäre, dann hätte Prinzessin Dornröschens Erscheinen bei der mörderischen Frau Stubenpoesie nicht lieblicher verkörpert werden können, als in diesem Moment. Dicht neben dem gräulichen schwarzen Ofenungeheuer, im Rahmen der Thüröffnung, erschien ein junges Mädchen. Diese kinderhaften Hände, die jetzt prüfend und ordnend durch die auf die Büste niederfallenden dunklen Locken glitten, waren eben noch mit ungewöhnlicher Energie über die Tasten hingeflogen. Wie leicht mußte das so schwierige Clavierstück der jungen Spielerin geworden sein – auch nicht die leiseste Röthe des Echauffements lag auf dem Gesicht, das zwar blaß, aber frühlingsfrisch wie die Blüthe des Kirschbaumes war. Es hatte nichts gemein mit jenem hippokratischen Frauenprofil, welches so lebensmüde und mumienhaft braun auf dem gelben Seidenpolster lag – wohl aber wiederholten sich seine köstlichen Linien voll griechischer Schönheit immer und immer wieder in der langen Bilderreihe der Halle, und die schwarzen Augen, die da draußen in wilder Jagdlust funkelten oder in ihrem aristokratischen Bewußtsein kalt gleichgültig auf die Welt niedersahen, strahlten auch hier groß und weit geöffnet aus dem weißen Mädchengesicht. Um den Contrast zwischen Mutter und Tochter noch schreiender zu machen und letztere in Allem lediglich als Sproß der Zweiflingen zu kennzeichnen, die fast durchgängig in grünem, mit Goldstickerei bedecktem Sammet prunkten, umrauschte die jugendliche Gestalt ein brochirtes, blaßblaues Seidenkleid, um dessen viereckigen Halsausschnitt sich echte Spitzen in gelblicher Weiße kräuselten.

„Nun, Sievert,“ sagte das junge Mädchen, in das Zimmer tretend, „kann man endlich heißes Wasser bekommen?“ Ihre Augen fielen auf den Theetisch. „Wie, nur zwei Tassen?“ rief sie. „Haben Sie denn vergessen, daß wir Besuch erwarten?“

„Der Besuch kann nicht kommen, weil der Herr Student krank geworden ist,“ rapportirte Sievert kurz, während er die Theekanne noch einmal prüfend neben das Licht hielt, ob sie auch fleckenlos blinke.

Die junge Dame sah plötzlich aus, als seien ihre sämmtlichen Lebenshoffnungen vor ihr in’s Wasser gefallen – ein Zug der bittersten Enttäuschung flog um ihre Lippen.

„O, wie abscheulich!“ klagte sie. „Darf man sich denn auch auf gar nichts mehr freuen? … Krank soll der junge Erhardt sein? Was fehlt ihm denn, wenn man fragen darf?“ Eine Beimischung von Ironie und Unglauben trübte mißtönend die kinderklare Stimme des jungen Mädchens.

(Fortsetzung folgt.)




Der Sohn des „alten Brehm“.

Es hat einmal in der Gartenlaube Einer die Entdeckung veröffentlicht, daß die meisten Menschen mit dem vierzigsten Jahr zwar klug, aber auch hypochondrisch und nörgelsüchtig werden, weil sie dann Vieles sehen, was nicht da ist. Ist diese Entdeckung gegründet, so gehört zu den Glücklichen, welche ausnahmsweise von dieser Krankheit verschont bleiben, sicherlich der Sohn des „alten Brehm“,[1] jener allerweltsthierkundige Thüringer, dessen Geburtstag auf den 2. Februar 1829 fällt und welchem wir es gleich im Portrait dieser Nummer ansehen, daß er nicht krank ist.

Mit welchen Schätzen begrüßt unser Alfred Edmund Brehm das vierzigste Jahr! Das sechsriesenbändige „Illustrirte Thierleben“ liegt vollendet und ziemlich „vergriffen“ vor ihm und der Welt. „Das Leben der Vögel“ erlebte schon die zweite Auflage. Der prachtvollste und größte Felsentempel lebendiger Naturwissenschaft, das Berliner Aquarium, vollendet sich unter seiner und nobler wissenschaftlicher Genossen kräftiger Leitung. Unzählige Freunde aus allen Weltgegenden des Thier- und Menschenreiches, auch „viel Feind’, viel Ehr’“ umdrängen ihn, und in einer nach eigenem Geschmack ausgestatteten Häuslichkeit umblühen ihn eine geliebte und liebende schöne Frau und herzige, gesunde Kinder. Nein, die „Vierzigjahre-Krankheit“ kann ihm nichts anhaben. Schon seine fröhliche, glückliche Kindheit und Jugend wurde zu einem Bürgen für die Gesundheit und Kraft des Mannes.

Es ist jedenfalls schon ein besonderes Glück, in Thüringen überhaupt geboren zu sein, aber in Renthendorf zwischen Gera, Saalfeld, Jena und Schleiz in den Thälern der Roda, in welche von allen Seiten liebliche Wassernajaden aus ihren Mulden murmelnde muntere Bäche herabgießen, zwischen Wald und Wasser, Feld, Berg und Thal zu einem wilden, kräftigen Jungen aufzuwachsen und von der „Mutter Frohnatur“ trotz aller „Lust zum Fabuliren“ für tolle Streiche immer gleich mit baarer Bezahlung honorirt zu werden und keinen höheren Lohn für Tugenden zu kennen, als mit dem Vater, dem verehrungswürdigen Menschen, Forscher und Priester, und dessen Vogelflinte Waldspaziergänge zu machen und am achten Geburtstage schon mit eigenem Gewehr den ersten Vogel zu schießen, eine Goldammer, und sie auch gleich zu treffen und hernach unter den beinahe neuntausend Vögeln des Vaters ausgestopft zu sehen, dabei von ihm nie gescholten, sondern nur immer liebevoll ermahnt und mitten in der lieblichen Natur lebendig durch das Leben belehrt zu werden – das ist eine beneidenswerthe Kindheit, die musterhafteste Elementar- und Hochschule.

„Da fliegt eine Feder. Von welchem Vogel ist sie, Alfred? Hörst Du es dort pfeifen und fingen? Wer ist der Tonkünstler, wie heißt er und wie sieht er aus? Wie machen wir’s, um ihn aufzusuchen? Hier ist ein Nest. Welcher Vogel kann es nur gebaut haben? Wie erkennt man überhaupt den Vogel nicht nur an den Federn, sondern an irgend einer Feder? An seinem Neste? Seinen Eiern? Seinem Schlage oder Rufe? Wie spricht dieser oder jener Vogel in Liebe, Zorn, Gefahr oder Furcht?“ – So lernte der junge Brehm vom alten dessen Lieblinge in der Natur kennen und diese Kunde zu einer ganz neuen Wissenschaft ausbilden. Der Vater der deutschen Ornithologie wurde so durch den Sohn auch Vater der deutschen Ornithobiologie, der Vogellebenskunde. Häufig unternahmen Vater und Sohn größere Fußtouren von denen sie erst spät über waldige Berge und durch tiefe Thäler zurückkehrten. Auch wurde zuweilen schon lange vor Sonnenaufgang aufgebrochen, um in Gesellschaft befreundeter Waidmänner ein besonderes Schauspiel der Natur, ein Morgenconcert der Künstler, welche alle „vom Blatte“ singen,

[21]

Alfred Brehm.

oder ein Ballet berühmter Tänzer unter den Vögeln zu besuchen. Der Morgen graut durch den thautriefenden, wasserdichtenden Wald herein und schimmert mit zweifelhaftem Lichte auf den Tanzplatz des balzenden Birkhahns. Die Waidmänner schleichen sich, mit dem Knaben Brehm in der Mitte, heran und harren mit schlagenden Herzen des ersten Tones. Bald dringt auch ein vernehmliches „Töd“ durch die Zweige und ihm folgt mit beschleunigter Geschwindigkeit eine ganze Reihe von Töd-öd-öd-öd’s, welche mit einem schnalzenden „Glack“ abschließen. Niemand rührt sich, und auch der blonde Junge muß mäuschenstill sein, bis der eigentliche Tanz beginnt, wozu sich der verliebte Hahn mit einem schleifenden und wetzenden „Heide-heide-heide-heide-heide-heiderei“ selbst die Musik macht. Das ist der Augenblick, sich auf künstlerische Weise näher heranzuschleichen und das tödtliche Rohr zu richten. Plötzlich knallt es durch die Waldesstille und der Knabe sieht es heute noch als Mann, wie sich die Dampfwolke schwer auf das nasse Gesträuch senkt, als wollte sie den mitten in seinem Lieblingstanze dahingestreckten Tänzer wie mit einem Leichentuche bedecken. Aber der Auerhahn, der höchste Triumph des Waldjägers, wird freudig dem alten Priester Gottes und der Natur für sein unvergleichliches Vogelmuseum übergeben.

Wir können uns nun ungefähr vorstellen, wie der Sohn des alten Brehm heranwuchs. Doch war er freilich auch manchmal zu Hause und in der Schule und saß Abends oft mit seinen Geschwistern still und lauschend in dem Studirzimmer des Vaters, und sie sahen zu, wie er „stopfte“, während die Mutter sehr dramatisch Erlebnisse erzählte oder aus Goethe und Schiller vorlas. Ihr dramatisches Talent war sehr bedeutend und ist ziemlich ungeschwächt auf den Sohn und dessen Bruder Reinhold, den Doctor in Madrid, übergegangen. Mit einer von den Gebrüdern gemeinsam verfaßten Posse, benannt „Die beiden Zimmerleute“, die beide Meier heißen, beide aus Ruhla und beide verheirathet sind (die ganze Handlung des spannenden Stücks), haben sie manchen Thüringer Philister und Bauer in Lachkrämpfen unter den Tisch gebracht. Er hätte einen vortrefflichen Schauspieler gegeben und auch als Sänger seinen Mann gestellt. Doch sein Beruf waren nicht die Breter, welche die Welt nur bedeuten, sondern die vieltausendgestaltig belebte Erde selbst. Schon im achtzehnten Jahre überraschte den Jüngling das seltene Glück, von einem begeisterten Natur- und Geschichtsfreunde (Baron von Müller) die Mittel zu seiner ersten Reise in die weite Welt zu erhalten; so zog er denn mit einem älteren Bruder den geheimnißvollen Nil bis zum zwölften Grade hinauf und sah all die Wunder Gottes in Berg und Thal, Strom, Feld, Wald und Wüste. Wir sehen es noch heute in seinen dreibändigen „Reiseskizzen aus Nordost-Afrika (Aegypten, Nubien, Sennaar, Rosseres und Kordofan)“, wie er zwischen Pyramiden, Sphinxen, Mumien, Tänzerinnen, Krokodilen, Kranichen heiligen Ibis, Straußen, Marabus, Pharao-Ratten, Geiern, Scorpionen, Affen, wunderbaren Vogelherbergen durch „dicke Urwälder und hoch auf dem Rücken des Wüstenschiffes“ über unabsehbare Steppen und Einöden dahinforscht und mit allerhand schwarzen und braunen Völkern, Racen und Menschen in fabelhaften Dörfern und Städten unter brennender, stechender Sonne oder dem goldbesternten nächtlichen Himmel Allah’s Brüderschaft trinkt, ißt und nicht selten auch hungert und dürstet oder mit bösartigen Bestien in Menschengestalt auf Leben und Tod kämpfen muß. Wir sehen ihn in fünfziggradiger Samumhitze auf dem Kameelrücken in Wolle gehüllt und vom Fieber geschüttelt, hülflos darnieder [22] geworfen einsam in einer Hütte, unfähig einen Schritt zu gehen, während ein Erdbeben ihn mit all seinen Schrecknissen umtobt, und dann wieder friedlich und würdig im schönsten echt türkischen Costüm bei einem ehrwürdigen Türken echten Tabak rauchen und echten Mocca dazu.trinken. Ja, ihm wurde manches herzliche „Salamaht! Keïf halak?“ manche biedere Hand mit „Marhabahbkum!“ und mancher aufrichtige Dank mit „Allah ketter cheïrak!“ und zum Abschiede manch hundert Mal „Leïlkum saaide!“[2] zugerufen. Nach fünfjährigem Forschen im Wunderlande der Pharaonen und der Palmen und nachdem zu den großartigen Eindrücke der Natur noch der großem Seelenschmerz kam, seinen Bruder im Nil vor seinen Augen ertrinken sehen zu müssen, nachdem die höchste Wonne und das tiefste Weh die junge Brust erfüllt hatte, wandte Brehm sich wieder heimwärts und bezog nach dieser afrikanischen Hochschule der Natur die großherzoglich weimar’sche in Jena, und später die in Wien. Doch das ist ihm und deshalb auch uns Nebensache.

Auch seine Abenteuer in Spanien mit Schmugglern, Räubern, Ziegenhirten, Geiern und anderen geflügelten Bewohnern Iberiens erwähnen wir nur deshalb, weil die südeuropäischen Vögel und die spanische Sprache und Cultur ebenfalls wesentliche Töne in der kräftigen Symphonie seines Charakters bilden.

Nun finden wir den jungen bärtigen Mann plötzlich auf dem Katheder eines sogenannten „modernen Gymnasiums“ zu Leipzigs wo er den Jungen ihre Neigung, allerhand Unsinn zu machen durch den Zauber seiner kosmischen zoologischen Geographie vertreibt, so daß sie Stunde für Stunde ebenso andächtig lauschen, wie die holden Töchter Leipzigs in dem höheren Mädcheninstitut, denen er ebenfalls die großen, fesselnden Bilder seiner zusammenfassenden Naturanschauungen vormalen muß.

In diese Leipziger Zeit Brehm’s, fällt die für seine schriftstellerische Laufbahn bedeutungsvoll gewordene Verbindung mit der Gartenlaube. War auch Brehm bis dahin als Afrikareisender und Naturforscher eine bereits hervorragende Erscheinung, so verdankt doch sein Autorname diesem Blatte hauptsächlich jenes rasche Bekanntwerden in weiteren Kreisen, wohin ohne dieselbe des jungen Mannes Ruf wohl damals noch nicht gedrungen wäre.

In Leipzig wird auch „das Leben der Vögel“ angefangen. Es fehlen noch die nordischen Vogelberge und die geflügelten Reichthümer der Gegenden, wo der nordische Riesen-Alk über seinen Untergang trauert und ganze Felsen und Berge sich beim herannahenden Dampfschiff und dessen Schuß in Millionen von Wolken bildenden Seevögeln auflösen. Brehm eilt, beflügelt von dem Redacteur der Gartenlaube (welchem ich zur Pflicht mache, wenigstens diese schwache Andeutung nicht zu streichen), nach Norwegen bis zum Nordcap, und wandelt sechs Wochen lang unter nie untergehender Sonne.

Wer das Leben der Vögel kennt, wird wissen, was wir dieser Reise verdanken. Noch vorher schuf er mit Roßmäßler das mit zwanzig Kupfern und einundsiebzig Holzschnitten gezierte Prachtwerk „Die Thiere des Waldes“, worin die Verfasser die geflügelten und vierfüßigen Hüter und Wohlthäter des Waldes, dessen Tonkünstler und Choristen, Ansiedler und Gäste dramatisch und drastisch in Wort und Bild unter den Schutz der Wissenschaft stellen. Bald darauf finden wir ihn und die junge Frau im Gefolge des Herzogs von Coburg-Gotha auf dem rothen Meeres in allen möglichen Gebirgen und Schluchten Abessinien’s auf der wissenschaftlichen Thier- und besonders Vogeljagd, deren selbsterworbene reiche Beute er in dem ausführlichen Berichte „Ergebnisse einer Reise nach Habesch“ der Welt auf mehr als vierhundert Druckseiten zum Besten gab.

Aus der tödlichen Hitze der Wüste, den furchtbaren Gebirgsschluchten der afrikanischen Schweiz, den grimmigen Nilstürzen und den rings auf ihn gerichteten Speeren schwarzer, wüthender Menschenbestien war er glücklich entkommen um in Hamburg als Director des zoologischen Gartens (von 1863 an) nach dem Tode des Barons v. Merk die Erfahrung zu machen, daß die naturwissenschaftlichen Dilettanten einer zoologischen Gesellschaft noch unangenehmer sein können als alle diese Schrecknisse. „Schweigen Sie nur davon. Diese Zeit in Hamburg ist für mich todt und verloren und soll vergessen und gestrichen sein.“ Wir folgen diesem Rathe gern, um ihn in Berlin mit einem noblen Aufsichtsrathe, dem Baumeister Lüer und dem Herrn v. Stückradt, als Schöpfer und wissenschaftlichen Director des riesigen Felsentempels lebendiger Naturwissenschaft, des Aquariums, zu begrüßen. Wir kennen es schon einigermaßen unvollendet aus der Gartenlaube durch einfache Schilderung Brehm’s selbst und durch Abbildung eines charakteristischen Theiles der Architektur. Das Leben darin wird zu seiner Zeit auch unseren Lesern zu Gute kommen. Jetzt sollen uns die Götter vergebens versuchen, hinein- und hinaufzuschauen in die Labyrinthe von Felsenzacken, schauerlichen Buchten und unheimlich murmelnden Wassern, den tobenden Eifer von hundert Arbeitern, die lebensgefährlichen Leitern und Löcher, auf den salzkochenden und beinahe selbst kochgaren Director und seine begeisternden Mühen, womit er die sich immer mehrenden Vertreter von achttausend Vögel-, eintausend vierhundert Säugethier-, und achthundert Lurcharten füttern und pflegen, curiren und kirren, seinen befittigten Lieblingen verdorbene Schwänze ausreißen und Platz für neue, bessere machen muß etc. etc.

Um den neuen Sieg in den eleusinischen Mysterien dieses Aquariums muß er freilich noch wacker kämpfen. Desto ruhmreicher ging er aus dem siebenjährigen Kriege zur Eroberung des ganzen Königreichs der Natur in seinem „Illustrirten Thierleben“ hervor. Selbst Könige und Kaiser mit Lorbeerkränzen haben manche Collegen; aber ein solches Werk hat keine Zeit, Zone und Zunge aufzuweisen. Dies ist nicht mein laienhaftes Urtheil, sondern der Kern unzähliger Rechtssprüche naturwissenschaftlicher Gewährsmänmer. Nicht blos er, sondern alle vernünftige Leser dieses Werkes können nun mit Faust sagen: „Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, sie zu fühlen, zu genießen, nicht blos kaltstaunenden Besuch erlaubst du mir; vergönnest mir in ihre Brust, wie in den Busen eines Freund’s zu schauen.“

Doch nein. der vernünftige Leser, muß auch mit Brehm scharfes Auge, tiefes Gemüth und dichterische Empfänglichkeit besitzen. Dies sind beneidenswerthe Hülfsgeister unseres wissenschaftlichen Dichters des Naturlebens, die ihm auch bei Auffassung, Genuß und Vortrag unserer Dichterwerke, der Schönheiten in Kunst und Leben vortreffliche Dienste leisten. Er kann den ganzen Abend lang sich und eine Gesellschaft bald für dieses, bald für jenes Meisterwerk der Poesie, Kunst und Wissenschaft begeistern, so daß ihm die geliebte Cigarre dabei ausgeht und er mit seiner klangvollen, kräftigen Baritonstimme immer wärmer und weicher wird. Doch diese Stimme lernt man erst recht kennen wenn ihn der Zorn gegen eine auftauchende oder zudringliche Lumperei oder pfäffische Lüge packt. So bequem er auch gern in Mußestunden sitzt (beim Arbeiten liegt er oft und dictirt dem Stenographen), so knackt jetzt das Sopha vor Schreck und er richtet sich empor und die verhältnißmäßig kleinen graublauen sanften Augen können dem schlagenden Donner seines Zornes ganz entsprechende Blitze schleudern. Auch für mattherzige Mittelmäßigkeit kennt er keine Milde. Mit dem unsterblichen Bilde seines Vaters, des Gottes- und Naturpriesters, im Herzen, haßt er aber mit besonderem Grimme die Zerrbilder echter Priester, die Pfaffen. – Keine Milde? O ja, in schönster Fülle zu Hause gegen Frau und Kinder und die kranke Glanzdrossel, die ihm aus der Hand frißt; auch Monate lang gegen mich bei Ausarbeitung meines Buches: „Die Bewirthschaftung des Wassers.“ Wie hätte ich, schon seit drei Jahren sitzend und liegend zu einem grausamen Tode verurtheilt, das bereits vielfach als nützlich und zeitgemäß anerkannte Werk ohne ihn, den Rath- und Thaturheber desselben, ohne seine kostbare schriftliche und mündliche Hülfe verfassen und vollenden können? Mein Wort der Dankbarkeit finde darum wenigstens in dieser Kürze hier Platz.

Ja. der mittelgroßes markige, muskulöse Mann mit dem gewaltigen Kopfe über den breiten Schultern und dem convexnasigen Zinken der Energie in der Physiognomie kann auch sehr weich, warm und barmherzig werden. Von der kleinen schlanken Frau läßt er sich sogar zuweilen in die ihm und manchem andern echten Thüringer besonders verhaßte „schwarzschwänzige Schwippe“ stecken, um feierliche Visiten zu machen. Sonst aber läßt er sich freilich selten etwas gegen seine Natur, gegen Wahrheit und Manneswürde gefallen. Kommt man ihm damit, wird sein ausgeprägtes Selbstgefühl besonders stark, und der aufflammende Zorn schließt dann gewöhnlich mit den beiden entschieden für Punctum geltenden Sätzen: „Wozu denn? Ich thu’s nicht!

H. Beta. 
  1. Vergl. Gartenlaube Nr. 42, Jahrgang 1864.
  2. Sei mir gegrüßt! Wie geht es? – Willkommen! Allah mehre Dein Wohl! (so viel wie bei uns: Ich danke.) – Gute Nacht!


[23]

„Ein wahrer Vater der Stadt“.

„Wir haben der Erde die irdische Hülle eines Mannes anvertraut, der zu den besten zählt, welche je an der Spitze eines großen Gemeindewesens standen. Wir beweinen in ihm einen der reinsten Träger der Idee der Menschenliebe, Güte und Milde. Wir bedauern in ihm den Rechtsfreund im edelsten Sinne des Wortes, den Schützer der Wittwen und Waisen, den wahren Christen, den liebenswürdigen Genossen und Freund. Wir betrauern in ihm vor Allem den wahren Vater der Stadt, der stets und überall den echten Mannesmuth der Wahrheit, die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit eines getreuen Bürgermeisters bethätigt hat etc.“ So lauteten ungefähr die Worte, mit welchen der Vicebürgermeister Dr. Newald in Wien seine Leichenrede an der Gruft des Bürgermeisters Zelinka einleitete.

„So war der Mann!“ schluchzten Hunderttausende. „So war der Mann!“ wiederholen wir. Seiner Treue und Ehrlichkeit verdankte er das unbeschränkte Vertrauen seiner Mitbürger und seine schöne Popularität, die sich in historischen Momenten bis zum Enthusiasmus steigerte. Alle Kränze wurden vergriffen für sein Grab und seinen Sarg, – wir legen nachträglich nur noch einige Blumen der Erinnerung auf den Hügel.

Zelinka fand bei seinem Auftreten als Bürgermeister in seiner Umgebung offene Gegner von Talent und Beredsamkeit, an deren Spitze der gegenwärtige Minister Dr. Berger stand, die fest entschlossen waren, ihm seine Stellung zu verleiden und ihn zum Rücktritt zu bewegen. Aber man zerrte und rüttelte vergebens an ihm. Wenn ihn Einer seiner vertrauten Freunde auf seine allerdings mächtige Gegenpartei aufmerksam machte, pflegte er achselzuckend zu antworten. „Mich kümmert nur der Gemeinderath, – die Parteien kümmern mich nicht.“ Aber die Zahl der Großen, die er gegen sich hatte, verschwand gegen die Zahl der Kleinen, die er für sich hatte, – der Armen nämlich, die er mit wahrhaft verschwenderischer Wohlthätigkeit bedachte. Niemandem wehe und womöglich Allen wohlzuthun, war seine Devise, der er jährlich über zwanzigtausend Gulden aus seinem Privatvermögen opferte.

Als Präsident des Gemeinderathes hatte das kleine Männchen nichts Imponirendes, auch klangen seine Worte oft zu drollig, um nicht seine Gegner zur ironischen Heiterkeit aufzufordern, aber sein gestählter Charakter, sein warmes fühlendes Herz und seine unantastbare Redlichkeit setzten ihn auch äußerlich in Respect und erwarben ihm selbst die Hochachtung seiner Feinde. Er sprach wenig, – aber das, was er sprach, war immer schlagend und traf mitten in’s Schwarze.

Um alle Verdienste dieses schlichten, anspruchslosen Mannes aufzuzählen, müßten wir für mehrere Monate die Spalten dieser Blätter in Anspruch nehmen. Wir beschränken uns daher, in Kürze mitzutheilen, daß während der Dauer seiner Amtsführung ein neues Wien geschaffen wurde, Paläste mit Gärten und Promenaden aus der Erde auftauchten das Pädagogium gegründet und Kirchen, Versorgungshäuser und Schulen gebaut und reformirt wurden Auch das Hochquellen-Project und die Douauregulirung wurden zur Thatsache, – aber unter allen seinen Werken, die er gefördert, waren es vorzugsweise die beiden Waisenhäuser, mit welchen der gute Zelinka am meisten prunkte. „So viel auch geschaffen worden ist, seitdem ich Bürgermeister bin,“ pflegte er stolz zu sagen, „halte ich doch die Waisenhäuser der Commune für die schönsten und segensreichsten Schöpfungen, welche die Stadt jemals in’s Leben gerufen hat.“

Am thatkräftigsten zu beweisen, daß er nicht nur Vater der Waisen, sondern aller Armen war, gelang ihm im Winter 1862 bis 1863, wo, mit der Erwerblosigkeit, Noth und Elend einen schauerlichen Höhepunkt erreichten. Viele Tausende verschenkte er in diesem Winter, namentlich an die brodlosen Weber, aber das waren dennoch nur Tropfen im Meere. Erst als auf seine Intervention von der Commune öffentliche Arbeiten ausgeschrieben wurden, war größere Abhülfe betroffen, denn Arbeit ist Brod für die Armen. In demselben Winter wurde Zelinka zum Landmarschall-Stellvertreter von Niederösterreich ernannt.

Schon als Landtagsabgeordneter hatte er die Oeffentlichkeit überzeugt, daß er kein Reactionär, sondern ein Mann von aufrichtig constitutioneller Gesinnung war, indem er mit freimütig kräftigem Wort für den unbeschränkten Einfluß der Gemeinden auf die Volksschulen eintrat, aber populär wie der beste Mann des Volkes sollte er erst im verhängnisvollen Jahre 1866 werden, als dessen Herold wir das Jahr 1863 gelten lassen können.

Wenige Wochen nach dem Frankfurter Fürstentage nahm Zelinka in Begleitung seiner beiden Stellvertreter Felder und Mayrhofer eine Audienz beim Kaiser, um ihm die Adresse des Gemeinderathes zu Gunsten Schleswig-Holstein’s zu überreichen.

Es ist bekannt, daß das Präsidium des Gemeinderathes in dieser Audienz von Seite des Kaisers ungnädig aufgenommen wurde und zwar mit dem Bemerken, daß sich dieser Körper nicht mit politischen Fragen zu beschäftigen habe.

In Folge dieser Rüge war Zelinka entschlossen, von der Bürgermeisterstelle zurückzutreten. Da aber auch die Majorität des Gemeinderathes auszuscheiden willens war, befürchtete er, daß dieser Massenaustritt als illoyale Demonstration gedeutet werden könnte, und nahm abermals eine Audienz beim Kaiser, in welcher er sich mit männlichem Freimuth über die gemeinnützige Thätigkeit des Gemeinderathes aussprach. Der Kaiser nahm den Vortrag huldvollst entgegen und die Krisis im Gemeinderathe kam damit zu einem friedlichen Abschlusse.

Im Frühling 1864 wurde Zelinka mit imposanter Stimmenmehrzahl abermals zum Bürgermeister gewählt und seine Wiederwahl durch ein glänzendes Banket in den Sälen des Augartens gefeiert. Noch in demselben Jahre hatte Zelinka das Vergnügen, die aus Schleswig-Holstein heimkehrende siegreiche Armee, aber auch das Mißvergnügen, ein Sistirungsministerium zu begrüßen, dem gegenüber er in die Reihen der Opposition trat. Noch energischer machte er später gegen das Stadtbefestigungs-Project Front und nahm keinen Anstand, der Regierung zu erklären: Wenn man im Ernst daran dächte, die Stadt zu befestigen, möge Bürgermeister werden, wer wolle, – unter seiner Bürgermeisterschaft solle nie und nimmer der Grundstein zum Verfalle Wiens gelegt werden. Zudem wäre es ihm unmöglich für die Ruhe der Bevölkerung zu bürgen, die der Meinung wäre, Wien solle nicht gegen einen auswärtigen Feind, sondern gegen die Wiener selbst befestigt werden.

In dieser scharfen Opposition harrte er auch im Kriege gegen Preußen aus, und ihm und der kräftigen Haltung des Gemeinderathes hatte Wien es zu danken, daß man die Befestigung der Stadt auf ein verschanztes Lager am linken Donauufer beschränkte.

Wir haben jetzt diese Unglückszeit mit ihrer Invasionsgefahr erreicht, – es war die Zeit, in welcher sich Zelinka, als eiserner Mann mit goldenem Herzen, die immergrüne Bürgerkrone erwarb. Noch vor Beginn des Krieges hatte er im Verein mit dem Landmarschall Fürsten Colloredo-Mannsfeld mit dem berühmten Nothschrei „Das Vaterland ruft!“ zur Wehrkraft des Reiches ein Freiwilligen-Corps gebildet, dessen Ausrüstung und Aufstellung Zelinka bei Ausbruch des Kriegs leitete. So war es Zelinka, der, im Interesse der Sicherheit der Stadt, die Errichtung einer Volkswehr betrieb und, im Interesse der Approvisionirung der Stadt, die Sistirung des Frachtenverkehrs mit Lebensmitteln durchsetzte. Von ihm wurde ferner die Errichtung von Nothspitälern eifrigst betrieben und gefördert, – hier und dort und überall wachte, sorgte und opferte er für sein Vaterlaud und seine Bürger, mit bitterm Groll gegen ein Sistirungsministerium, das seinen Fortbestand durch einen Kampf um die Existenz Oesterreichs ermöglichen wollte. Da hieß es plötzlich. Der nahenden Kriegsgefahr wegen solle Wien in Belagerungszustand versetzt und im Falle einer feindlichen Invasion vertheidigt werden. Zelinka eilte bestürzt zum Kaiser und richtete ernst und ehrfurchtsvoll die Bitte an ihn, Wien, im Falle eines Angriffes, als offene Stadt behandeln zu lassen.

Der Kaiser sicherte das zu, – eine andere Bitte des Bürgermeisters, um Aenderungen im Regierungssystem, wurde frostig zurückgewiesen. Aber die Nothwendigkeit umfassender Reformen lag so klar am Tage, daß der Gemeinderath beschloß, ihr in einer Adresse an den Kaiser kräftigen Ausdruck zu geben. Aus dieser Adresse, die Zelinka dem Kaiser überreichte, heben wir folgende Stelle hervor:

[24] „– – – Die gegenwärtige tief ernste Lage ist weniger durch die letzten Mißerfolge im Kriege, als die unglückliche Politik herbeigeführt worden, welche die Rathgeber der Krone, zum Theil schon seit einer langen Reihe von Jahren sowohl im Innern als nach außen verfolgten. Möge Euer Majestät zu dem segensreichen Entschlusse kommen, zur Leitung der Staatsgeschäfte solche Männer zu berufen, deren entschiedene Thatkraft und politische Gesinnung den Völkern Oesterreichs die Gewähr einer besseren Zukunft zu geben geeignet ist.“

Der Kaiser antwortete kalt und ernst: „Ich anerkenne den Ausdruck der Loyalität, nur mögen den Worten auch die Thaten entsprechen. Ich will unter den gegenwärtigen Verhältnissen übersehen, daß die Ueberreichung dieser Adresse nicht in den Wirkungskreis des Gemeinderathes gehöre, und sie nur als die Aeußerung einzelner Mitglieder desselben ansehn.“

Diese höchst ungnädige Entgegennahme der Adresse wirkte wie ein eisiges Sturzbad auf die warmen Patriotenherzen. Die meisten Gemeinderäthe waren entschlossen, ihre Mandate niederzulegen, und die ganze Bevölkerung fühlte sich auf das Schmerzlichste ergriffen. In diesem höchst peinlichen Moment war es Zelinka, der seine gekränkten, guten, opferwilligen Mitbürger zu vertreten und ihnen Genugthuung zu geben sich entschloß. Ohne den Gemeinderath in Kenntniß zu setzen, verfügte er sich mit seinen beiden Stellvertretern abermals zum Kaiser, um mit edlem Mannesmuth ein freies ernstes Wort zum Throne zu tragen.

Ein paar Stunden nach dieser Audienz (24. Juli) saß der Bürgermeister wieder im Saale des Gemeinderathes, erhob sich von seinem Präsidentenstuhl und hielt folgende Ansprache an die Versammlung:

„Ich habe es für meine Pflicht gehalten, heute nochmals eine Audienz bei Seiner Majestät anzusuchen, die mir allergnädigst zugestanden wurde. Ich berufe mich auf das Zeugniß meiner beiden Herren Stellvertreter, daß ich Seiner Majestät unumwunden, wie es einem getreuen Bürgermeister der Stadt Wien zukommt, über die Lage und Stimmung der Stadt wahrhaften und getreuen Bericht erstattet habe. Ich habe Seiner Majestät vorgestellt, daß die Bevölkerung Wien’s und der Gemeinderath immer, namentlich aber in der letzten Zeit, alle möglichen Opfer gebracht haben, die sie überhaupt zu bringen im Stande waren. Ich habe mir erlaubt, Seiner Majestät vorzustellen, daß der Gulden, welcher jetzt dargebracht wird, in dieser so schwer bedrängten Zeit, in der Zeit der Geschäftslosigkeit und Stockung aller Gewerbe, gewiß den gleichen Werth hat wie Hundert in anderen besseren Zeiten. Ich habe Seiner Majestät vorgetragen, daß die Bevölkerung ihre Opferwilligkeit und ihren Patriotismus nicht nur in der Errichtung eines Freiwilligen-Corps bethätigte, sondern daß sie insbesondere für die Pflege der Verwundeten sowohl in Geld als Materialien, freudig Opfer brachte, und was mehr zählt als alles Andere, daß sie selbst Verwundete in ihre häusliche Pflege genommen und sie wie Kinder des eigenen Hauses behandelte. Ich habe Seiner Majestät vorgestellt, daß der Gemeinderath in dieser schwerbedrängten Zeit seine Pflicht wie in ruhigen Zeiten erfüllt und daß die Regierung gerade in der jetzigen Zeit die Thätigkeit des Gemeinderathes in viel umfassenderer Weise in Anspruch nimmt, als es sonst zu geschehen pflegt, und habe seiner Majestät ausdrücklich bemerkt, daß im Falle einer feindlichen Invasion sämmtliche Cassen, Linien-Aemter, Regieanstalten und Feldspitäler der Obsorge des Gemeinderathes übertragen sind, daß kein Mitglied desselben auch nur einen Augenblick Anstand genommen hat, sich diesen schweren Verpflichtungen zu unterziehen und daß ich mich daher verpflichtet fühle, den schmerzlichen Eindruck zur allerhöchsten Kenntniß zu bringen, welchen die Entgegennahme der Adresse in der Bevölkerung und im Gemeinderathe hervorgerufen hat. Ich betonte insbesondere, daß meine Stellung eine andere als die eines Beamten, auch eine andere, als die eines Ministers ist, daß ich nicht nur verpflichtet bin, die Bande der Sympathie und Loyalität zwischen der Bürgerschaft und dem allerhöchsten Hofe festzuknüpfen, sondern auch Pflichten gegen die Bürgerschaft habe, in deren Erfüllung ich frei und unumwunden, wie ich es vor Gott und meinem Gewissen zu verantworten getraue, Seiner Majestät die Stimmung der Bevölkerung zur allerhöchsten Kenntniß zu bringen mich berufen hielt. Ich habe endlich selbst nicht ermangelt, Seine Majestät aufmerksam zu machen, daß die dermaligen politischen Verhältnisse es sind, welche in der Bevölkerung Besorgnisse hervorgerufen haben, und daß, wenn manche Opfer zu klein erscheinen, es nur der allgemeinen Noth und Bedrängniß zuzuschreiben ist. Seine Majestät geruhten zu antworten: ‚Ich habe nie Zweifel gehabt und bin überzeugt von der Opferwilligkeit und dem Patriotismns der Bewohner Wien’s, insbesondere in dieser bedrängten Zeit, die mich so schwer getroffen hat und auch meine Wiener, wie ich einsehe.‘ Seine Majestät geruhten uns sohin gnädigst zu entlassen.“

Die Stellen in dieser Rede, in welchen Zelinka von seiner Pflicht und den Opfern und Lasten der Gemeinde sprach, wurden mit lebhaften Acclamationen begleitet. Nach dem Schluß der Rede erhob sich die ganze Versammlung einmüthig und verließ lautlos den Saal. Das Publicum hatte sich indeß in lebhaft debattirenden Gruppen vor dem Rathhause versammelt, um ihrem wackeren, freimüthigen Bürgermeister Ovationen darzubringen, – er aber merkte was dergleichen und machte sich durch eine Hinterthür aus dem Staube. Den Vertrauens-Adressen konnte er aber dennoch nicht entgehen und von dem Fackelzuge rettete ihn der Ausnahmezustand.

Diese Audienz beim Kaiser machte Zelinka zum populärsten Mann in Wien und sicherte ihm einen Ehrenplatz in erster Reihe in der Geschichte der Patrioten Oesterreichs. Der Mann, dem das Herz des Wiener Volks gehörte, war er, wie bereits bemerkt ist, längst, und den besten Beweis dafür liefert der Eifer, mit welchem seine originellen Aeußerungen und edlen Thaten gleich in Aller Mund waren. Davon hier noch Einiges.

Unter ihm war das Bürgermeisteramt von Nothleidenden jeden Vormittag derart belagert, daß man den Bürgermeister zur Einschränkung seiner Freigebigkeit zu bewegen suchen mußte, denn man befürchtete, daß die Zusammenrottungen der Hülfesuchenden vor dem Magistratsgebäude unabsehbare Dimensionen annehmen könnten. „Geht’s – geht’s! sagte er nach einer solchen Warnung. „Ihr seid Kinder und die da draußen Stiefkinder des Glücks und die brauchen einen guten Vater nothwendiger als Ihr. Stürmen wird uns meine große Familie nicht – laßt’s ihr auch eine kleine Freud’.“

Wer viel auf dem Herzen und nichts in der Tasche hatte, wandte sich an den Bürgermeister, dessen Vorzimmer stets von Bittstellern überfüllt war. Er konnte Niemanden leiden sehen. Als man einmal im Gemeinderathe den für die Armenbetheilung ausgesetzten Betrag zu hoch fand, rief Zelinka in gutmüthigem Zorn dem Redner zu: „Ja, Sie können leicht reden! Zu Ihnen kommen die armen Leut’ nicht, aber zu mir kommen’s. Und was soll ich da thun? In den Sack greifen muß ich, sonst bleibt mir nix übrig.“

Ein verarmter Bürger, Vater von sechs Kindern, wurde wegen eines Zinsrückstandes von vierzig Gulden ausgepfändet und trotz der großen Kälte delogirt. Ein Gemeinderath des Bezirkes überzeugte sich von dem Elend der Familie und eilte zum Bürgermeister, um für sie Hülfe zu erbitten. Er hatte kaum ausgesprochen, als ihm Zelinka schon die bezeichnete Summe einhändigte. „Aber warten’s doch noch!“ rief er dem Gemeinderath nach, der sich dankbar entfernen wollte. „Glauben’s denn, den Leuten ist mit dem Bissel Geld schon geholfen? Wer wird den neuen Zins zahlen? Wovon heizen und wovon leben, bis der arme Vater wieder was verdienen kann? Da – nehmen’s noch dreißig Gulden und sagen’s, Gott und wir werden weiter helfen!“

Als Zelinka noch ein Bruder Studio war, logirte er bei einem Schneider in der Leopoldstadt, der ihm eine „Kammer mit Durchgang“ vermiethet hatte. Der Student arbeitete sich rüstig vorwärts, der Schneider rüstig rückwärts, und als Jener Bürgermeister wurde, war dieser ein alter hinfälliger Bettelmann. Als Zelinka von dem Nothstande seines ersten Miethsherrn in Kenntniß gesetzt wurde, suchte er ihn auf, beschenkte ihn reichlich, machte ihn zum Bürger von Wien und brachte ihn im Bürgerversorgungshause unter. Dort fühlte sich der alte Mann so behaglich wie die alte Garde im Invalidenpalais, war aber auch nicht undankbar, denn als er starb, setzte er den Bürgermeister Zelinka zu seinem Universalerben ein. Die ganze Verlassenschaft bestand aus einem Silberthaler von altem Gepräge, den Zelinka mit nassen Augen, als ein ihm werthvolles Andenken, im städtischen Archiv hinterlegte.

[25] Wie bekannt, hatte ihm einer seiner Bediensteten eine bedeutende Summe entwendet und damit das Weite gesucht. Zelinka war nicht zu bewegen, den Mann verfolgen zu lassen. „Schad’t nix!“ meinte er. „’S hat keinen Armen betroffen. Ich will den Menschen nicht unglücklich machen. Er war halt undankbar. Du lieber Gott, nicht alle Leut’ können so dankbar sein, wie mein armer Schneider.“

Der städtische Pflasterermeister Schlepitzka, der etwas zu tief in den Säckel der Commune griff, brachte bei einem Banket dem Bürgermeister einen Toast. „Danke, danke!“ sagte Zelinka freundlich mit den Augen blinzelnd. „Aber billiger, mein theurer Herr Schlepitzka, billiger!“

Aeußerst drollig war die Anrede, mit welcher er den Kaiser auf einem Bürgerballe begrüßte. Der Kaiser erschien nur mit den Erzherzogen, denn die Kaiserin hatte, interessanter Umstände wegen, Zimmerarrest.

„Das is schön, daß Eure Majestät zu uns ’kommen sein,“ begann Zelinka in seinem gemüthlichen Wiener Jargon. „Schad’, daß die Kaiserin Majestät nit mitkommen is! Aber –“ setzte er mit vielsagendem Schmunzeln hinzu, – „schad’t nix! Besser so! Freut uns erst recht!“

Der Kaiser bemerkte lächelnd: „Ja, mein lieber Zelinka, die Kaiserin wäre gerne mitgekommen –“

„Weiß schon! Weiß schon! ’S is eh’ recht!“ fiel Zelinka mit schelmischem Augenzwinkern dem Monarchen in’s Wort. „Na, was macht die Kaiserin Majestät denn? Wie geht’s ihr? Die Wiener lassen’s schön grüßen!“

Der Kaiser lachte laut auf und dankte dem Großvater der Stadt mit herzlichem Händedruck.

Der Kaiser und der Bürgermeister haben sich bekanntlich nicht immer so gemüthlich mit einander unterhalten, aber gerade der manneswürdige Bürgermuth, den er bei jenen Ausnahmen bewährte, hat es verursacht, daß sein Name nicht nur in Oesterreich – sondern auch im Auslande, selbst jenseits des Meeres hoch gefeiert worden ist. Zelinka sorgte und wirkte in seinen beiden letzten Jahren fort und fort mit Geist und Herz für seine Bürger und Armen, die er bekanntlich reich in seinem Testament bedachte, und erlebte noch die Freude, in einer seiner letzten Sitzungen für sein Lieblingsproject, die Donauregulirung, acht Millionen votirt zu sehen.

„Gott sei Dank!“ rief er freudig aus. „Die Donau wird regulirt – jetzt kann ich ruhig sterben!“

Und er starb ruhig, mit dem Gebete: „Holz – für die Armen!“ Er ließ keinen Feind zurück und schied wie ein guter Vater von seinen Kindern. Die Zahl der Fürsten ist klein, die wie der schlichte Bürgermeister Andreas Zelinka zu Grabe getragen wurden.




Wunderliche Heilige.

3.0 In den Betstunden der Mormonen.

Dayton im Staat Ohio ist eine hübsche Mittelstadt, die in der Zeit, wo ich mich dort aufhielt, etwa zwanzigtausend Einwohner und die im Vergleich hiermit auffallend große Zahl von dreiundzwanzig Kirchen und Bethäusern hatte. Die Menge dieser letzteren schrieb sich von der Menge der Religionsgesellschaften her, in welche die Bevölkerung zerfiel und deren hier nicht weniger als anderthalb Dutzend ihr Wesen trieben. Es gab da Angehörige der bischöflichen Kirche, zwei Sorten Baptisten und drei Gattungen Methodisten, ferner Presbyterianer, Lutheraner, Swedenborgianer, Albrechtianer, dann Katholiken und Reformirte, Quäker und Shakers, Campbelliten, Universalisten und Congregationalisten, endlich auch eine kleine Gemeinde von Mormonen oder, wie sie sich selbst nennen, Latterday-Saints, d. h. „Heiligen des Jüngsten Tages“, und von diesen soll jetzt die Rede sein.

Von den Mormonen wußte ich damals nur, was der Leser vermuthlich auch wissen wird. Sie waren von Joseph Smith, einem Yankee, gestiftet, der von Gott Auftrag zur Vorbereitung der sündigen Menschheit auf den nahe bevorstehenden Anbruch des tausendjährigen Reichs erhalten und auf dem Berge Cumorah im Staate Newyork ein heiliges Buch gefunden haben wollte, welches die Vergangenheit der Indianer, deren Herkunft von den verlornen zehn Stämmen Israel’s und die unter ihnen erfolgten himmlischen Offenbarungen enthielt. Sie erwarteten eine baldige Wiederkunft Christi und die Errichtung eines glorreichen Priesterkönigthums auf Erden, dessen Mittelpunkte Jerusalem und das Thal des Großen Salzsees in den Felsengebirgen werden sollten, wohin die Hauptmasse der Secte nach mancherlei Verfolgungen und nach Ermordung ihres Propheten durch den Pöbel von Illinois ausgewandert war, und wohin einer ihrer Glaubensartikel allen Gliedern ihrer Gemeinschaft ebenfalls auszuziehen gebot. Sie erlaubten endlich die Vielweiberei nicht nur, sondern betrachteten sie als Gott besonders wohlgefällig und als Mittel, die jenseitige Seligkeit zu erhöhen. Was ich später Genaueres über diese seltsamste aller religiösen Genossenschaften der neuen Welt in Erfahrung brachte, ihre Geschichte, die Natur ihrer „Goldnen Bibel“ und ihre überaus wundersame Glaubenslehre, werden wir in anderen Artikeln behandeln. Für heute nur meine erste Bekanntschaft mit ihnen in Dayton und Cincinnati.

Ich hatte damals in Dayton einen Vetter, der in dem Powel’schen Schuh- und Stiefelgeschäft Commis und als solcher mit dem Prediger der dortigen Mormonen in Berührung gekommen war; denn besagter Prediger gehörte der ehrenwerthen Profession an, die durch häufig in ihrer Mitte beobachtete Neigung zu hohen Dingen dem Sprüchworte: ‚Schuster, bleib’ bei deinem Leisten‘, das Leben gegeben hat. Winthrop Graves – so hieß der Gute – machte als flinker und allenthalben sich zurechtfindender Yankee nicht nur die besten Stiefeln in Dayton, sondern verstand sich auch recht gut auf’s Versohlen von Seelen für die Reise in das Himmelreich. Ich bat meinen Vetter, mich bei ihm einzuführen, und dies geschah an einem schönen Herbstabend.

Unser Prediger und Schuhmacher wohnte in einem netten kleinen Hause auf der St. Clairstreet. Wir trafen ihn in Gesellschaft zweier Frauen im Hinterzimmer des Erdgeschosses vor dem Kamin, stellten uns ihm als Leute vor, die sich über Geschichte und Glauben seiner Kirche belehren wollten, und wurden freundlich aufgenommen. Anfangs zwar schien man uns nicht recht zu trauen; denn es gab in Dayton Viele, die im Rathe der Gottlosen wandelten und da saßen, wo die Spötter sitzen. Aber mit der Zeit überzeugte sich unser Mann, daß wirklich nur Wißbegierde mich zu ihm geführt, und seine ausweichende und einsilbige Art, meine Fragen zu beantworten, wurde zur Mittheilsamkeit. Ich erfuhr, daß er der Secte seit zehn Jahren angehörte und daß er den Propheten persönlich gekannt hatte. Er glaubte offenbar fest an dessen Lehre, obwohl er sonst den Eindruck eines nicht ungebildeten Mannes machte, und bedauerte nur, durch ein Gebrechen – er hatte einen lahmen Fuß – verhindert zu sein, dem „Rufe der Apostel zur Versammlung im Thale der Heiligen“, d. h. zur Auswanderung nach dem Utah-Territorium, Folge zu leisten. Als ich im Laufe des Gesprächs fragte, wie der Prophet ausgesehen habe, führte er uns in die sehr sauber gehaltene und mit hübschen Teppichen ausgestattete Putzstube und zeigte uns eine große bunte Lithographie unter Glas und Rahmen, welche „Bruder Joseph“ darstellte, wie er in Frack und weißer Weste indianischen Häuptlingen, die im Kreise um ihn saßen, sein Evangelium predigte. Da es mir zunächst nur darum zu thun war, mit dem Führer der hiesigen Mormonen bekannt zu werden, so brachen wir bald wieder auf, nachdem ich um die Erlaubniß gebeten, wiederzukommen.

Am nächsten Tage besuchte ich ihn wieder und erhielt von ihm einen Tractat, der von Parley Peter Pratt, einem ihrer zwölf Apostel, verfaßt war und den Titel „Eine Stimme der Warnung und Belehrung für alles Volk oder eine Einführung in den Glauben und die Lehre der Kirche der Heiligen vom Jüngsten Tage“ trug, sowie mehrere Blätter des „Grenzwächters“, eines zu Kanesville im westlichen Missouri erscheinenden Mormonenjournals. Hatte ich am vorhergehenden Abend die beiden Frauen für seine Gemahlinnen gehalten, so wurde ich jetzt eines Besseren belehrt. Er wußte nicht einmal, daß die Mormonen am Salzsee in Vielweiberei lebten. Die eine der Frauen war seine Nichte und die [26] Gattin eines Baptistenpredigers. Seine eigene Frau aber theilte nicht einmal seinen Glauben, sie ging in die Kirche der Universalisten. Graves war diesmal sehr liebenswürdig, er schien anzunehmen, daß ich seiner Secte beizutreten geneigt sei. Ich sollte nur prüfen, sagte er, was die Stimme der Warnung der Welt zurufe, und ich würde finden, daß sie Wahrheit und nichts als Wahrheit rede. Zuletzt versprach er, auf nächsten Sonntag eine Betstunde zu halten und mich dort bei den anderen Brüdern und Schwestern einzuführen.

Der Sonntag kam. Ich holte Graves ab, und wir begaben uns über einen der Hügel, welche Dayton einschließen, nach dem eine starke halbe Stunde von der Stadt entfernten Hause des Mormonen Faraway. Derselbe war Pächter einer Farm an der Straße nach Cincinnati und wohnte am Rande des Waldes in einem großen alten schwarzverräucherten Ziegelgebäude, welches ein moosbewachsener Riegelzaum umgab. Das Wetter war naßkalt und trüb. Der Wind hatte die Blätter schon großentheils von den Bäumen gestreift, und was noch in den Wipfeln saß, war dürr und fahl. Das Haus sah vernachlässigt und verfallen aus. Es lag einsam, grämlich, fast unheimlich in der sonntäglich stillen Gegend. Kein Mensch war auf der weithin zu überblickenden Straße zu sehen.

Kein Hund empfing uns. Kein Federvieh wandelte über den Hof. Auch das Innere des Hauses machte durch die Leere und Kälte der großen Stube, in die wir zuerst geführt wurden, einen unbehaglichen Eindruck, und das Wesen seiner Bewohner war zuerst nicht geeignet, denselben zu mindern. Die letzteren bestanden aus Mann, Frau und Tochter. Der Farmer war eine jener hagern, abgearbeiteten Gestalten, wie sie Einem in den Wäldern des Westens oft begegnen, seine Haltung gebückt, sein Gesicht lederfarben und voll Falten wie eine Tabacksblase. Auf die Frage des Schuhmachers nach seinem Befinden zuckte er mit den Achseln. Die Frau schien am Fieber zu leiden. Die Tochter, ein Mädchen, wie es schien, in den Dreißigen, blickte mit ihren bleichen, sommersprossigen Wangen und ihren graugrünen Augen so theilnahmlos und so säuerlich in die Welt, als ob es ihr darin niemals wohl zu Muthe gewesen wäre. Die einzige freundliche Erscheinung in dieser trübseligen Umgebung war eine junge Frau, die mir als eine verwittwete Mrs. Long vorgestellt wurde, und die mit ihren feinen Manieren und ihrer wohlklingenden Stimme einen eigenthümlichen Gegensatz zu dem Geschilderten bildete.

Wir hielten den Gottesdienst in der Küche, die, wie beim gemeinen Mann in Amerika gewöhnlich, zugleich Wohnstube war und in deren Kamin ein Feuer von großen Scheiten brannte. Graves schlug erst die Bibel, dann das Buch Mormon auf, legte beide auf ein Tischchen vor sich, sprach ein Gebet und hielt hierauf aus dem Stegreif eine Rede, in welcher er, jedenfalls mehr im Hinblick auf mich als auf die Andern, die Grundzüge des Glaubens und der Hoffnungen der Latterday-Saints auseinandersetzte. Es war hausleinene Beredsamkeit, aber gut gemeint, im Ganzen wohlgefügt und gegen das Ende hin, wo der Redner von den Leiden der „Kinder Gottes“ auf den Lohn zu sprechen kam, der ihrer wartete, von einem Schwunge, der Alle verklärte und selbst auf das Weltkind unter ihnen nicht ganz ohne Eindruck blieb.

Die verdrießlichen Mienen der vorhin beschriebenen drei Hausgenossen hellten sich auf. Der Mann schien seine Sorgen, die Frau ihr Fieber vergessen zu haben. Die grünen Augen des alten Mädchens strahlten von dem Sonnenschein, den die Worte des Predigers über ihr Herz ausgebreitet hatten. Selbst das Feuer im Kamin nahm Theil an der allgemeinen Aufregung. Es flackerte fröhlicher auf und knisterte und prasselte in die Rede hinein, als ob es ihre Hoffnungen bestätigen oder mit Ausrufen des Beifalls begleiten wollte. Der Redner schloß mit dem Bedauern, daß ihm der rechte Geist heute abgehe, weil er in der letzten Zeit nicht genug gebetet hätte. Aber er hatte genug geleistet. Die Sonne, die er über die düsteren Gemüther hatte aufgehen lassen, wurde zur Gluth, als er jetzt – beiläufig nach der Melodie „Du, Du liegst mir am Herzen“ – ein Lied anstimmte, welches den Propheten vom Himmel herab die Gläubigen über ihre Verfolgungen trösten ließ.

„Still, still, Zion, nicht weinet!
Singt laut! Jeder sich freu’.
Bald ja von droben erscheinet
In Wolken uns Juda’s Leu.
     Ja, ja, in Wolken uns Juda’s Leu!“

So sangen die Mormonen. Der Löwe Juda’s sollte, so hieß es weiter, mit der Ruthe seiner Macht die Feinde Zions niederschlagen. Während sein Antlitz finster blickend zürnte, sollten sie in Verderben und Pein sinken. Hebt jeder Busen jetzt, so schloß das Lied, sich von Kummer und glühender Pein, bald wird der gesegnete Morgen anbrechen, wo ihr Joseph wiedersehen sollt. Dann, wie selig dies Begegnen, Wonne wird jedes Herz füllen, wenn ihr Joseph und Hiram[1] auf Zions dreimal heiligem Berge begrüßen werdet.

Und immer höher steigerte sich die Inbrunst. Die Wangen der Frauen glühten, die Haltung und die Blicke der Männer wurden stolz und immer stolzer, je mehr sie durch die weiteren Verse an die Triumphe erinnert wurden, welche ihre Kirche erlebt hatte und fernerhin feiern sollte. Die junge Wittwe fiel auf die Kniee und sprach ein Gebet, welches von dem Farmer mit Ausrufungen wie „Glory“ (Heil) und „Oh Lord“ (o Herr) begleitet wurde. Die Tochter lehnte sich an die Wand zurück und verdrehte die Augen, indem sie unarticulirte Laute ausstieß. Sie schien „in Zungen reden“ zu wollen. Aber die Wittwe schnitt ihr die Gelegenheit dazu ab, indem sie sich, bebend vor schwärmerischem Feuer, erhob und, dem Leiter der Versammlung vorgreifend, in ein Triumphlied ausbrach, in welches die Uebrigen nach Kräften einstimmten. Sie sangen ein Lied von fünf langen Strophen, deren letzte lautete.

„Gesegnet der Tag, wo der Leu sich gewöhnet,
Harmlos sich zu lagern dem Lamme vereint,
Und Ephraim in Zion mit Segen gekrönet,
Und Jesus im feurigen Wagen erscheint.
     Auf, singt, und auf, jauchzt mit den himmlischen Heeren,
     Hosianna, dem Herrn in der Höhe sei Preis!
     Laßt ihn und das Lamm uns nun rühmen und ehren
     Fortan und in Ewigkeit. Amen, so sei’s!“

Auf das Lied folgte eine kurze Rede des Farmers. Dann sollte die Wittwe sprechen, lehnte es aber nach einigem Besinnen ab. Zuletzt forderte Graves auch mich zu einem Vortrag auf; denn in ihren Versammlungen sei Jedem das Wort gestattet. Ich glaube, er erwartete, ich werde meinen Beitritt zur Kirche erklären. Indeß gab er sich zufrieden, als ich ihm mit kurzen Worten dankte, daß er mir Gelegenheit gegeben, ihrem Gottesdienste beizuwohnen, und bedauerte, für eine längere Rede des Englischen nicht mächtig genug zu sein.

Den Schluß bildete der Segen, von dem Schuhmacher gesprochen. Dann gingen wir zu Tische, und ich entsinne mich nicht, während meines Aufenthaltes in Amerika fröhlichere Gesichter und ein liebreicheres Benehmen gesehen zu haben, als bei diesem einfachen Mahle. So adelt das, was in den Religionen die Religion ist, selbst den sinnlosesten Wahn, und so geht neben der Truglist der Führer immer das gute Herz und die redliche Einfalt der Massen her.

Einige Tage später verließ ich Dayton, um mich nach Cincinnati zu begeben. Winthrop Graves begleitete mich an die Eisenbahn und gab mir eine Empfehlung an den Vorsteher der Mormonengemeinde in Cincinnati mit, die mich an einen Dr. Merryweather auf der Vinestreet wies, welcher in der mormonischen Hierarchie das Amt eines Highpriest, d. h. eines Priesters höherer Ordnung bekleidete. Früher Advocat gewesen, beschäftigte er sich jetzt mit Leihen auf Pfänder und hielt nebenbei einen Laden, in dem er Alles heilende Pillen, Wundersalben und andere „Patentmedicin“ verkaufte. Er sowohl als seine Frau empfing mich sehr freundlich und mittheilsam. Bereitwillig holte man die Religionsschriften der Secte, die man hatte, herbei, um sie mir zu leihen, und gern versprach der Doctor, mich nächsten Sonntag mit in ihren Gottesdienst zu nehmen. Ja, die Frau fand an dem wißbegierigen Dutchman so viel Gefallen, daß sie ihm schon beim ersten Besuche ein hübsch in Leder gebundenes Exemplar des „Book of Mormon“ nebst einem Portrait des Propheten verehrte. Wahrscheinlich, daß auch sie meine Vorurtheilslosigkeit sich als Hinneigung auslegten und hinter dem Wunsche, die Sache kennen zu lernen, die Absicht zu spüren meinten, sich ihr anzuschließen.

Am folgenden Sonntag holte mich der Doctor zu einem Conventikel ab, welches unten am Canal in der Stube eines Zimmermanns abgehalten werden sollte, der auf dem Durchzuge von Pennsylvanien nach Utah, oder, wie die Mormonen sagen, [27] nach Deseret, für den Winter hier Halt gemacht hatte. Die meisten der übrigen Theilnehmer an der Versammlung – es waren neun Männer und zwei Frauen – schienen in dem gleichen Falle zu sein. Mehrere derselben waren Schotten, andere verriethen durch ihre Aussprache des Englischen, daß sie in Yorkshire reden gelernt. Unter den ersteren befand sich mein Stuhlnachbar, ein recht gesprächiger und zutraulicher junger Mann aus Glasgow, der damals eine sehr einträgliche Stelle in einem Bankgeschäfte Cincinnatis einnahm, zum nächsten Frühjahr aber demungeachtet der Aufforderung der Apostel zur „Gathering“ nachzukommen, d. h. nach der heiligen Stadt in den Felsengebirgen aufzubrechen gedachte. Die Uebrigen waren Handwerker und Farmer. Unter den anwesenden Amerikanern war einer, der das Unglück gehabt, bei dem einen von den vielen Angriffen der „Heiden“ auf die „Heiligen“, der im Stil der mormonischen Kirchengeschichte die Missouri-Verfolgung heißt, in hinterwäldlerischer Manier gemaßregelt zu werden. Man hatte ihn entkleidet, mit Theer bestrichen und dann durch Wälzen in Bettfedern in einen Vogel verwandelt, und davon schien ihm etwas für immer geblieben zu sein.

Es war ein kleines, spindeldürres Männlein, dessen spitze Nase wie ein Schnabel aus dem Reste einer hohen Halsbinde mit ungeheuren Vatermördern heraus sah. Der Leib steckte in einem Frack mit Schwalbenschwanz-Schößen. Den Kopf bedeckte ein fuchsiger, verbogener Hut, in Betreff dessen die Vermuthung erlaubt war, er habe die Verfolgung miterlebt und sei seinem Träger dabei angetrieben worden. Flink und ruhelos, wie ein Vogel, der im Bauer von Stange zu Stange hüpft, war der kleine Mann bald bei dem Einen, bald bei dem Andern, und beim Heimgehen erzählte er uns sein damaliges Mißgeschick in so pudelnärrischer Weise, daß ich in der Folge durch die Erinnerung an ihn ungemein heiter gestimmt wurde, namentlich wenn mir dabei einfiel, daß dieses schnurrige Ding mir von Merryweather mit vieler Salbung als „einer von unseren Märtyrern“ vorgestellt worden war.

Der Gottesdienst wurde vom Doctor mit einem Gebete eröffnet. Dann sang man ein Loblied auf Joseph Smith, hierauf wieder Gebet, wobei die Stelle, der große Jehova wolle denen, welche die Wahrheit suchen, die Augen öffnen, vermuthlich dem besuchenden Heiden galt, und hierauf nach lustiger Weise ein langes Reiselied, welches mit den folgenden Versen anhob:

„Kommt, geht mit mir, kommt, geht mit mir,
Ihr Heil’gen Gottes, weg von hier!
Die Zeit ist da, wir müssen fort
In fernes Land nach Gottes Wort.
Nicht länger laßt uns zögern. Noth
Und Weh und Graun die Welt bedroht.
Das Heidenvolk den Priester haßt,
Kein Heim für uns und keine Rast
In diesen Staaten. Auf denn, kommt,
Im Westen nur liegt, was uns frommt.“

Nach dem Liede gab’s einen etwa drei Viertelstunden langen Sermon im reinsten Cockney-Englisch, gehalten von einem rothhaarigen Jüngling, der geradenwegs aus den Werkstätten der großen Schneiderfirma Moses und Sohn in London kam. Den Haupt- und Glanzpunkt aber der ganzen Feier bildete eine Ansprache des Märtyrers von Missouri. Derselbe sprang nach seiner Vogelnatur fortwährend von der Stange ab und bald in’s Eine, bald in’s Andere. In dem einen Augenblicke knabberte er an einem mystischen Thema herum, im nächsten pickte er in die letzten Vorkommnisse der Alltagswelt hinein, wieder im nächsten saß er unter altindianischen Propheten, dann, nachdem er mit Vogelgeberde sich geduckt und aus einem Wasserglas auf dem Fensterbrete genippt, nahm er seinen Flug wieder hinauf in himmlische Regionen, und jetzt begab sich ein Wunder. Der Gute hatte sich in solche Aufregung hineingearbeitet, seine Inbrunst sich bis zu solchem Brande gesteigert, daß, wie erst die Sätze, so jetzt auch die einzelnen Worte seiner Rede aus Rand und Band gingen und sich mit allerlei unarticulirten Lauten mischten. Zuerst klang’s, als ob ein Träumender spräche, dann war’s completer Unsinn.

„Omi, ami, ami, la, la, la, si, si, si, Jehova, la, la, la, Adam ondi Aman, Lihei, Niphei, Moroni, la, la, la, si, si, si, sississi, la, la, la“ – so lallte, so zwitscherte er, mit verdrehten Augen nach der Wand zurückgebogen und mit weitgeöffnetem Munde. „Glory, lalala, Glory, lalala, Halleluja, Hosiannah, lalalalla“ etc., bis das Lalalalla endlich in dumpfes Gurgeln und Glucken überging. Zwei Minuten etwa mochte die seltsame Production gewährt haben, als ihr ein gewaltiger Hustenanfall ein prosaisches Ende machte. Erschöpft setzte er sich nieder.

Mit peinlichem Erstaunen hatte ich der Scene beigewohnt und jeden Augenblick erwartet, unser Märtyrer, der wie ein Vogel zwitscherte, werde, verrückt geworden, auch als Vogel zu hüpfen und zu fliegen versuchen. Die Mormonen aber, an solche Dinge gewöhnt, waren offenbar von dieser Leistung stark erbaut. Sie fanden Sinn darin. Adam ondi Aman hieß der Ort im Paradiese, wo Adam seine Kinder gesegnet hatte. Lihei, Niphei, Moroni waren Propheten, die in der Zeit, wo Gott sich den Indianern offenbarte, eine Rolle spielten, und die dem Verzückten jetzt vermuthlich erschienen waren. Glory (Heil, Ruhm, Herrlichkeit) hatte er gerufen, weil er wahrscheinlich den Himmel offen sah. Mit einem Worte: es war eine Probe des „Redens in Zungen“, dessen sich die Heiligen des Jüngsten Tages wie aller übrigen Gnadengaben der alten Apostelzeit rühmen, und aus dessen Vorkommen unter ihnen sie einen der Beweise für die Echtheit und Wahrhaftigkeit des von Joseph Smith verkündigten neuen Evangeliums herleiten.

Ob die Probe selbst echt war, lasse ich dahingestellt, möchte aber daran zweifeln, da der Märtyrer bald nachher beim Nachhausegehen eine nichts weniger als besonders heilige Stimmung entwickelte. Wie es aber mit der Echtheit und Wahrhaftigkeit der Lehre Smith’s steht, wollen wir in einem späteren Capitel sehen. Die Leser werden sich in ihm einen sehr wunderlichen Heiligen vorstellen. Ich denke aber, er soll ihre Erwartungen weit überbieten.




Ein Lied aus alter Zeit.

Von Albert Traeger.

In regungslosem Sinnen
Tief träumt die alte Frau,
Das Auge blickt nach innen,
Beglänzt von mildem Thau,

5
Was ihr die stille Stunde

So wunderbar geweiht,
Es ist von jungem Munde
Ein Lied aus alter Zeit.

Wie hat sie’s einst gesungen,

10
Wie hat sie’s einst gehört,

Es hat ihr Herz bezwungen,
Das lang’ sich stolz empört,
Und nun will es erneuen
Versunk’ne Tage ihr,

15
Das alte Lied vom treuen,

Vom tapfern Cavalier.

Der Tapfre ist gefallen,
Im Wind das Lied verweht,
Die Treue nur von Allen

20
Einsam auf Trümmern steht,

Da faßt des Liedes Mahnen
Ihr mächtig das Gemüth,
Ein todessel’ges Ahnen
In seinen Tönen blüht.

25
Die Züge sich verklären,

Das Herz ihr höher klopft,
In hellen Freudezähren
Ihr Sehnen niedertropft –
Doch die das Lied gesungen,

30
Theilt nicht der Alten Lust,

Leidvoll fühlt sich durchdrungen
Der Enkeltochter Brust.

[28]

Ein Lied aus alter Zeit
Nach dem Ölgemälde von Scheurenberg in Düsseldorf.


Ob jetzt in vollen Rosen
Ihr Herz und Wangen steh’n,

35
Mit schmeichlerischem Kosen

Des Lenzes Düfte weh’n,

Wie lange mag es dauern,
Und all die Herrlichkeit
Ist mit wehmüth’gen Schauern –

40
Ein Lied aus alter Zeit!
[29]

Aus der Küche der Altvordern.

Auch die Mahlzeiten eines Volkes, die täglichen wie die außerordentlichen und festlichen, sind ein Stück von seiner Cultur, und zwar ein keineswegs unwesentliches oder uninteressantes. Die Wahl, Bereitung und Zusammenstellung der Speisen hängt von sehr mannigfachen Bedingungen ab: von der Herrschaft über die Natur, die ein Zeitalter oder ein Volk bereits gewonnen hat, von der Fähigkeit, ihre Producte angemessen zu verwerthen, ihre Productionskraft zu steigern und zu vervielfachen, von dem Reichthum der eigenen Erzeugnisse und der Möglichkeit, deren Ueberschuß gegen die anderer Länder einzutauschen; endlich von Allem, was auf die Beziehungen zu fremden Ländern und Welttheilen einwirkt, als den geographischen Entdeckungen, den Fortschritten der Schifffahrt und des Verkehrs überhaupt, von dem ganzen Zustande des Welthandels. Wie allbekannt, hat die Entdeckung Amerikas, die Auffindung des Seewegs nach Ostindien und die Verpflanzung ostindischer Colonialgewächse nach Amerika alle Lebensverhältnisse der alten Welt, am meisten aber die Ernährung umgestaltet: der tägliche Genuß so vieler dem Alterthum und Mittelalter unbekannten Nahrungsmittel wie der Kartoffel, des Mais, des Zuckers, Kaffees, Thees ec. ist ja in Folge jener Ereignisse Millionen von Europäern zum Lebensbedürfniß geworden.

Aber auch die Entwicklung der gesammten Cultur übt ihre Wirkungen auf die Mahlzeiten, vermehrt und verbreitet die Consumtion feinerer Eßwaaren und setzt Mannigfaltigkeit und Abwechselung an die Stelle des rohen, einförmigen Ueberflusses, der den Luxus halbbarbarischer Zeiten und Völker charakterisirt. Bei großen Festen des Mittelalters wurden Hunderte von Ochsen, Kälbern, Schweinen etc. verzehrt, aber eine Menge von Gewürzen, Gemüsen und Früchten, die uns unentbehrlich geworden sind, war noch ganz unbekannt; die Engländer haben z.B. nicht vor 1660 Artischocken, Spargel, mehrere Arten Bohnen etc. kennen gelernt; selbst in Frankreich sind die feineren Obstarten erst seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts auf den Tisch der Mittelclassen gekommen. So sind denn wohl auch einige Küchenzettel, die uns aus verschiedenen Jahrhunderten überliefert sind, der Betrachtung nicht unwerth, insofern sie den Luxus der Bewirthung in den betreffenden Zeiten und Ländern charakterisiren.

Bevor wir zu einigen Küchenzetteln aus dem Mittelalter übergehen, werden einige allgemeine Bemerkungen über die damalige Küche, namentlich in Deutschland, nicht überflüssig sein, wobei wir hauptsächlich das von unseren Gewohnheiten Abweichende hervorheben. Bekanntlich liebten unsere Vorfahren sehr das Pferdefleisch, gegen das die Kirche eifrig kämpfte, da dieser Genuß mit Erinnerungen an die Pferdeopfer des altheidnischen Gottesdienstes zusammenhing. Auch Bärenfleisch war beliebt, desgleichen Biber- und Hasenfleisch, Papst Zacharias untersagte beides vielleicht aus demselben Grunde wie das Pferdefleisch. „Was die Vögel betrifft,“ sagt ein gelehrter Kenner des deutschen Alterthums (Weinhold, 'die deutschen Frauen im Mittelalter' „so war unser Alterthum merkwürdig geschmacklos, Papst Zacharias verbietet den Deutschen Häher, Raben und Störche zu essen; auf den vornehmsten Tafeln des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts wurden Kraniche, Schwäne, Störche, Rohrdommeln und Krähen gekocht und gebraten als ausgesuchte Speisen geschätzt; der Pfau und der Reiher waren nicht blos eine Augenzier der königlichen Tische. Solches Fleisch konnte natürlich nur durch die schärfsten Brühen genießbar gemacht werden. In gewürzten Brühen wurden denn auch die meisten Speisen bereitet, so Karpfen, Hausen, Hechte und Lammfleisch in der vielbeliebten Pfefferbrühe; auch Safran war als würzende Zuthat sehr gewöhnlich. In einem Speiseliede wird verlangt, daß Alles so scharf gewürzt sei, daß der Mund wie eine Apotheke rieche und ein heißer Rauch dem Becher entsteige. Man bedenke noch, daß auch die Weine stark gewürzt waren, und man wird den starken Durst unserer Vorfahren begreifen lernen. Die Brühen, in denen das Fleisch lag, mögen die Stelle unserer Suppen vertreten haben.“

Uebrigens standen ganz besonders die Geistlichen in dem Rufe, üppige Tafeln zu lieben. Peter von Clugny, genannt der Ehrwürdige, klagt um's Jahr 1130, daß die Mönche wie Habichte und Geier sich dahin stürzen, wo sie einen Braten riechen, daß ihre Tische von fetten Schweins- und Kalbsbraten, Hasen, auserlesenen Gänsen und Hühnern brechen; daß manche, auch damit nicht zufrieden, nach ausländischen Speisen suchen, sich mit Fasanen und Turteltauben mästen.

Der älteste aus dem Mittelalter aufbewahrte Küchenzettel macht einen urweltlichen Eindruck. Er ist aus dem Jahr 1303, wo bei der Einweihung der neuen Hauptkirche zu Weißenfels der Aebtissin des dortigen Claraklosters (Sophie, Landgräfin von Thüringen und Markgräfin von Meißen) und dem Bischof von Naumburg ein Ehrenmahl gegeben wurde. Der erste Gang bestand aus Eiersuppe mit Safran, Pfefferkörnern und Honig, einem Hirsengemüse, Schaffleisch mit Cypollen (Zwiebeln) darüber, einem gebratenen Huhn mit Zwetschen. Der zweite Gang aus Stockfisch mit Oel und Rosinen, in Oel gebackenen Bleien (?), gesottenem Aal mit Pfeffer, geröstetem Pökling mit Senf. Dritter Gang: sauer gesottene Speisefische, gebackene Barbe, kleine Vögel in Schmalz hart gebacken mit Rettig, eine Schweinskeule mit Gurken. Am zweiten Tag gab man als ersten Gang: Schweinefleisch, Eierkuchen mit Honig und Weinbeeren, gebratenen Hering; als zweiten: kleine Fische mit Rosinen, aufgebratene Bleie und eine gebratene Gans mit rothen Rüben; als dritten: gesalzene Hechte mit Petersilie, Salat mit Eiern und Gallert mit Mandeln belegt. Das Ganze kostete acht Gulden fünfzehn Groschen, neun Pfennige. „Und damit,“ sagt der Bericht, „syn syne Gnaden wol tofreden gewesen.“

Im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts zeigen die Küchenzettel nicht blos Fortschritte des Luxus, sondern auch in manchen Stücken eine Annäherung an die moderne Küche. Zwar die Taxe für Lebensmittel zu Costnitz während des Concils seit 1414 (in Reichenthaler's Geschichte des Costnitzer Concils) weist noch einiges Hochalterthümliche auf, namentlich unter den Fleischspeisen Biber, Dachs und Otter, unter den Fischen kommt vor: „ein Pfund Hausen um ein Plaphart (gleich sechs Rappen oder einen Schilling; genau so theuer als ein Pfund gut ungesottenes Schmalz, d. h. Butter) und auch um zween Dürrfisch, dürr Aal und Stockfisch, wie viel man deren wollt“. Aale waren im früheren Mittelalter vor anderen Fischen beliebt, die Angeln in Sussex hatten sie anfangs von allen allein gegessen, sie lernten erst durch ihren Apostel Wilfried († 711) auch die übrigen als Nahrungsmittel kennen. Zu Costnitz waren während des Concils „auch Brodbecken, die hatten geringe und kleine Oefelein, die führten sie auf Roßkärnlein durch die Stadt und buchen darin Bastelen, Ring und Bretscheln, und war solches Brot erfüllt, etliches mit Hünern, etliches mit Vögeln, Gewürz oder guter Spezerei und etliches mit Fleisch, etliches mit Fisch gebachen, wie die einer gern wollt haben, dero fand man genug, in gleichem und gutem Kauff, und darnach sie köstlich waren, kauffte man sie.“

Sehr genau sind wir über die Mahlzeiten der deutschen Ordensherren in Preußen vom Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts unterrichtet; der Geschichtsschreiber des Ordens, der vor wenigen Jahren gestorbene Johannes Voigt, hat die reichen urkundlichen Quellen über diesen interessanten Gegenstand mit einer Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt ausgebeutet, die nichts zu wünschen übrig läßt. Auf der sehr reich bestellten Tafel des Hochmeisters zu Marienburg sehen wir zuerst die bisher vermißte Suppe und Gemüse erscheinen. Man aß die erstere mit Mohrrüben, Schoten, Petersilienwurzel und Knoblauch; von den letzteren wurden außerdem Kohl, Kresse, Meerrettig, Erbsen gegessen. Hierauf trug man verschiedene Gerichte von Fischen auf; man aß Karpfen, Lachs, Morenen, Schmerlen und Lampreten, oder Gerichte von Aal, Brassen, Dorsch, Hecht, oder trockene Fische, als Streckfuß(?) Bergerfisch (?)[2] (?), Stockfisch, oder auch Krebse. Fleischspeisen waren außer den gewöhnlichen Hirsch- und Elensbraten; als Leckerbissen galten Eichhörnchen, Rebhühner, Staare und mehrere Arten kleiner Vögel; auch Kaninchen und Kraniche wurden bisweilen aufgesetzt. Den Durst reizte man durch Neunaugen oder durch schonische und bornholmische Heringe oder auch durch Käse; der bessere hieß Herrenkäse zum Unterschied vom Gesindekäse, schon damals auch Zwarg genannt. Die vorzüglichen Gattungen wurden aus Schweden und England bezogen. Butter kannte man wenigstens unter diesem Namen nicht. Unter dem Obst des Nachtisches verdienen die Trauben von inländischen Weinpflanzungen Erwähnung. Den [30] Beschluß des Mahls machten allerlei Leckerbissen und verschiedene Confectarten, als Caneel- (Zimmt-), Cubeben-, Coriander-, Cardamom- und Anis-Confect, Kaiserbissen, Pariskörner (Paradieskörner), Rosinen, Datteln, Mandeln, Pfefferkuchen und dergleichen. Als Speisegewürze gebrauchte man auch hier viel Pfeffer, ferner Ingwer, Caneel, Nelken, Muskatenblume, Anis, Safran, Kümmel etc.; man bezeichnete damals alle diese Gewürzarten mit dem im Niedersächsischen noch üblichen Wort ‚Krude‘. Zucker war noch etwas kostbar. Sein Gebrauch hatte schon seit dem zwölften Jahrhundert durch die Kreuzfahrer in Europa sich zu verbreiten angefangen, bald war er auf Sicilien und Malta gebaut und von dort ausgeführt worden (der noch jetzt übliche Name Melis kommt von Saccharum Melitense); auch der Zuckerbau Spaniens war im Mittelalter bedeutend, die Mauren hatten dort Siedereien. In Deutschland war er schon im vierzehnten Jahrhundert nicht mehr ganz selten; auf der Tafel des Erzbischofs Albrecht von Bremen sah man im Jahre 1376 geharnischte Männer von Zucker und Backwerk. Doch die Köche des Hochmeisters machten noch reichlichen Gebrauch von Syrup und Honig.

Selbstverständlich waren auch die Getränke bei Festmahlzeiten in Marienburg von mancherlei Art, als März-, Weiß- und Weizenbier, vorzüglichere Biere ließ man aus Wismar, Danzig, Elbing und Bromberg kommen. Vom Methe trank man zwei Arten, Tisch- oder Mittelmeth aus kleineren Schenkgläsern, alten und meist sehr starken Meth aus hohen Gläsern während der Mittelgerichte; dies Getränk, dessen Bereitung gegenwärtig zu den Specialitäten der slavischen Völker zu gehören scheint, kam damals aus Riga. Wein wurde zu den Nachgerichten gereicht, und zwar überraschte man fremde Gäste (ob angenehm, ist die Frage) zuweilen mit Landwein, der bei Thorn, Rastenburg, Riesenburg und Marienburg gewonnen war; im Herbst erschien auch Thorner Most auf der Fürstentafel; die Nordgrenze der Weincultur war im Mittelalter eine viel höhere als gegenwärtig, der deutsche Orden betrieb sie durch Winzer aus dem Rheinlande bis über Königsberg, ja selbst bis über Tilsit hinauf; wenn seit dreihundert Jahren kein Wein mehr in jenen Gegenden gekeltert wird, so darf man daraus nicht auf eine Verschlechterung des Klima’s, sondern auf eine Verbesserung des Geschmacks der Trinker schließen. Wie nachsichtig aber auch die Gäste des Hochmeisters das einheimische Gewächs beurtheilt haben mögen, so dürfen wir gewiß annehmen, daß sie den in silbernen und vergoldeten Bechern credenzten Rheinwein vorzogen. Als Köstlichkeit galt edler alter „Rheinfall“, der in einer Mischung mit Eiern und Milch getrunken wurde; mit ihm wechselten Elsasser, wälscher, griechischer, Ungarwein, Malvasier und andere Gattungen. Auch der den Ordensrittern sonst verbotene Luttertrank, wahrscheinlich eine Art gebrannten Weins, wurde bei außerordentlichen Festen gereicht.

Stellt man sich übrigens die mit silbernen und vergoldeten Tischgeschirren und Trinkgefäßen, künstlich gemalten hohen Gläsern, vergoldeten und silberbeschlagenen Straußeneiern auf’s Reichste prangende Tafel, umgeben von den festlich gekleideten ritterlichen Gästen vor, dazu Gesang und Saitenspiel der fremden und einheimischen Spielleute, die Possen der Gaukler und Narren – und dies Alles in dem heiter prächtigen, hohen, hellen Saal (Remter), dessen weitgespanntes Gewölbe wunderbar leicht auf einem einzigen Mittelpfeiler schwebt – so hat man ein Bild, wie es nur ein Paul Veronese auf die Leinwand werfen konnte.

Das sechszehnte Jahrhundert zeigt in Bezug auf die Feinheit der Küche keine großen Fortschritte gegen das funfzehnte: auch hier finden wir massenhafte, fett zubereitete Fleischspeisen, mit einem Uebermaß von Gewürzen. Bei der Vermählung Herzog Ludwig’s von Württemberg 1575 wurden Pfeffer, Zimmet, Safran, Ingwer, Nelken, Muscatnuß und Muscatblüthe nicht unzen-, sondern pfundweise verbraucht; außerdem Cubeben, Feigen, Damascener Pflaumen, Biscuit, Marcipan (der in dem lateinischen Hochzeitscarmen Martius panis heißt), und damit Gebäck, Braten und Fische recht schmackhaft wurden, nicht weniger als achttausend Pfund Butter!

Auch die Tafeln England’s waren in jener Zeit mit derber und nachhaltiger Kost besetzt. Die schöne Anna Boleyn, die Geliebte und Gemahlin Heinrich’s des Achten, frühstückte Speck und Bier; ein Frühstück, das ihre Tochter, Königin Elisabeth, am 22. November 1576 einnahm, bestand aus folgenden Speisen: Semmeln und Milchbrode, Weiß- und Braunbier, Hammelfleisch, große Rippenstücke, Lendenstücke von Ochsen, Hammel- und Kalbfleisch, Cotelettes von Kaninchen und Butter. Eine Chronik der Stadt Hall berichtet, wie dort Kaiser Karl der Fünfte an einem Fasttage „ohne allen Pampam“ tafelte; die Fischgerichte waren gelbe Stockfische, weiß in Schmalz gesottene blaue Kapfen, etwas dabei wie Pommeranzen; süße Hechte; Bratfische mit Kappern. „Seine Majestät aß, Gott segne es Ihm, weidlich und that nur drei Tränke aus einem Venedischen Glas.“

Um diese Zeit erschien auch der Truthahn auf europäischen Tafeln. Bei einem Banket, das der Geldfürst Jacob Fugger in Augsburg im Jahre 1561 gab, wurden nur zwei alte und vier junge „indianische Hanen“ (für je zwei und vierthalb Gulden) aufgetragen.

Im nächsten Jahrhundert war der Truthahn schon ebenso regelmäßig die Hauptzierde einer großen Tafel, wie früher der Pfau. Als der Günstling des Kurfürsten Georg Wilhelm von Brandenburg von seinen Feinden unsinniger Verschwendung angeklagt wurde, gehörte zu den Beweisen der Anklage auch ein Küchenzettel für die Hof- und Herrentafel zu Berlin, am 21. November 1638, in welchem der Truthahn die kostbarste Schüssel ist. Uebrigens vermögen wir keine Verschwendung in dieser Speisekarte zu entdecken, eher erregt die Masse der derben, jetzt zum Theil nur bei ländlichen Festen vorkommenden Speisen, und die wunderliche Art ihrer Zusammenstellung unser Erstaunen. Es war eine Bewirthung, die gegenwärtig etwa die Gäste und das Gesinde bei einer großen Bauernhochzeit zufrieden stellen, aber in jeder gastronomisch einigermaßen gebildeten Gesellschaft mit Blicken der Befremdung, wo nicht des Entsetzens, betrachtet werden würde.

Erst zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts kam die Kartoffel auf königliche Tafeln und zwar als Leckerbissen. In England aß man sie mit Oel, Essig und Pfeffer, benutzte sie aber auch zu Confituren und Confect oder mit Mark und Gewürzen gebacken. In Frankreich wurden sie 1616 als Seltenheit auf den Tisch des Königs gebracht. In Italien erhielten sie ihren Namen (tartuffoli, wegen der Aehnlichkeit der Knollen mit Trüffeln); diesseits der Alpen hat sich ihr Anbau bekanntlich fast überall erst im achtzehnten Jahrhundert in der Art verbreitet, daß sie das wichtigste Volksnahrungsmittel geworden ist.

Die zweite Hälfte des siebenzehnten und die erste des achtzehnten Jahrhunderts war die Zeit, in der die „große Nation“ in allen Fragen des Geschmacks für ganz Europa eine unangezweifelte Autorität übte, und wo also auch die französische Kochkunst mehr und mehr zur europäischen wurde, wo ihre Herrschaft aus den Kreisen der Höfe und der aristokratischen Gesellschaft sich auch in die des wohlhabenden Bürgerstandes verbreitete. Das erste französtsche Kochbuch, dessen Verfasser der Sieur de la Varenne war, erschien 1692; noch jetzt berühmt sind „Les Dons de Comus“ von Marin. Koch der Herzogin von Cherulans, wozu der gelehrte Jesuit Pater Brumoy die Vorrede zu schreiben nicht verschmäht hat. Nicht die Häufung einzelner, wenn auch noch so kostbarer Ingredienzien, sondern ihre Verbindung zu einem harmonischen Ganzen wird hier als das hohe Ziel der „Wissenschaft des Kochs“ hingestellt, die höheren Saucen also als seine Hauptleistung betrachtet; „die Harmonie,“ heißt es, „welche dem Auge an einem Gemälde gefällt, sollte in einer Sauce auf den Gaumen eine gleich angenehme Wirkung thun.“ Doch ihre höchste Ausbildung erreichte die Kochkunst erst in der Zeit des Regenten und Ludwig’s des Funfzehnten.

Es ist selbstverständlich, daß zunächst die Höfe und der hohe Adel in ganz Europa, namentlich in Deutschland, sich bestrebten, dem Beispiel Ludwig’s des Vierzehnten und seiner Nachfolger, wie in allen übrigen Stücken, so auch in Bezug auf Küche und Keller nach Möglichkeit nachzuleben. Bald war kein Unterschied zwischen einer vornehmen Tafel in Paris und in einer größeren deutschen Residenz. Eine Kennerin, Lady Mary Montague, zollt den Gastmählern der Magnaten in Wien im Jahre 1716 das höchste Lob. Mehr als einmal wurde sie mit fünfzig Schüsseln bewirthet, alles auf Silber und wohl angerichtet, das Dessert auf dem feinsten Porrcellan. Dazu wurden bis achtzehn Sorten ausgesucht feine Weine gegeben, deren Verzeichniß die Gäste mit den Servietten auf ihren Tellern fanden.

Aber auch die bürgerlichen Gastmähler in reicheren Städten waren von den großen Fortschritten der französischen Kochkunst nicht unberührt geblieben. Der Küchenzettel für das Essen bei [31] der Investitur des Superintendenten Deyling zu Leipzig (am 13. August 1721), der in der Biographie J. S. Bach’s von Bitter (I, 163 ff.) mitgeteilt ist, zeigt dies hinlänglich. Freilich haben die geistlichen Schmäuse zu allen Zeiten zu den Glanzpunkten in den Annalen der Gastronomie gehört, und Leipzig nahm ja überdies den Ruhm in Anspruch, ein kleines Paris zu sein. In der That verstand der dortige Magistrat schon viel besser zu speisen als hundert Jahre früher der Hof zu Berlin. Für die Haupttafel von vierundzwanzig Personen (die hohe evangelische Geistlichkeit, der Rath, Rector Magnificus) ist die Bemerkung gemacht: ‚Es muß ein Riß gefertigt werden, wie die Speisen und Confitüren zu setzen.‘ Zum ersten Gang erschien: Eine Wildpretspastete auf der Schüssel; eine Potage mit angeschlagenen Rebhühnern; große Forellen gesotten; Pörsche mit der Butterbrühe, Biranzen (?), Bistazien, Meerrettig; Hamburger Fleisch und Bohnen dazu; zwei Schöpskeulen mit Sateller-(?)Brüh; zwei Krebstorten. Zum andern Gang: ein Schweinsrücken mit sechs Fasanen belegt; ein ganz Reh gebraten; Schweinskopf mit Rindszunge belegt; allerhand Sallats; Babtißtorten, zwei Stück. – Die niedere Geistlichkeit, die an drei Tafeln zu je vierundzwanzig Personen speiste, erhielt nur sechs Schüsseln. Außerdem wurde ‚Ein Köstgen vor die Frau Superintendentin auf sechs Personen‘ angerichtet, in dessen sinniger Anordnung sich eine zarte Rücksicht und ein feines Verständniß des dirigirenden Künstlers für die Neigungen des weiblichen Geschmacks kundgiebt: ‚Ein Trütt Hühner (Truthühner-)Pastet, Eine Rehkeule mit zwei Rebhühner gebraten, drei Forellen gesotten, Johannisbeertortte.‘ Außerdem erhielt die Frau Deylingin für sich und die übrigen Damen einen Korb Confect, eine Mandeltorte, eine Krafttorte und Obst, während ‚vor die Herren Geistlichen‘ dreißig Stück Mandeltorten, dreißig ganze Krafttorten, dreißig Schälchen Confect und achtzig Stück Krafttorten gegeben wurden. Die Musikanten (zwölf Personen) und die Aufwärter (zweiunddreißig Personen) erhielten je vier Schüsseln. Getrunken wurde nur Bier (zwei Faß Wurzener, drei Achtel Faß Lobgünner) und Rheinwein (drei Eimer und sechs Kannen von einer gewöhnlichen Sorte, ein Eimer alter Rheinwein): eine Einfachheit, die bei einer so reich besetzten Tafel überrascht. Während übrigens, so weit man hieraus schließen kann, damals im innern Norddeutschland der Rheinwein allein verbreitet war oder doch den Vorrang vor allen anderen behauptete, bezogen die Bewohner der Küsten über See französischen Wein.

Das Danziger Archiv enthält eine Kostenrechnung einer Bürgerhochzeit im Danziger Werder am 26. Januar 1700, wobei an ‚Persohnen‘ vierhundertfünfundfünfzig Paar Theil nahmen. Verzehrt wurden: fünfundvierzig Pfund Gewürz, fünfzehn Stein Reis, zwölf Stein Pflaumen, fünf Ochsen, fünfundsechzig Kälber, fünfundvierzig Lämmer, hundert Paar Kapaunen, hundertfünfundvierzig Paar Tauben, sechszig Hasen, fünfundfünfzig Schweine, zehn Schock Karpfen, Brod von einer Last Weizen, zwei Last Roggen, an Zuckerwerk für dreihundertvierundvierzig Gulden. Getrunken wurden: sechszehn Tonnen Wismarer Bier, zehn Elbinger, sechsunddreißig Danziger, und vier Oxhofft Franzwein.

Wollte man die Musterung denkwürdiger Küchenzettel bis auf die neueste Zeit verfolgen, so müßte man ein Buch schreiben; denn je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto reichlicher wird das Material. Aber zugleich vermindert sich auch das Interesse. Der herrschende Einfluß der französischen Kochkunst absorbirt je länger je mehr die nationalen Eigenthümlichkeiten, und die gewaltige Zunahme des Weltverkehrs trägt auch nicht wenig dazu bei, die Unterschiede in den Mahlzeiten der verschiedenen Länder auszugleichen. Noch sind diese Unterschiede sehr erheblich, und selbst in ein und demselben Lande weichen die provinziellen Schattirungen stark von einander ab, wie in Deutschland die norddeutsche, rheinische und bairisch-österreichische Küche. Aber wer weiß, ob nicht schon unsere Enkel nur noch die schablonenhaften Menus kennen werden, die schon jetzt allen großen Gasthöfen von Mitteleuropa gemeinsam sind; ob nicht in hundert Jahren der Wanderer in abgelegener Gegend beim Anblick einer Dampfnudel oder eines Schmarrens ebenso erstaunen wird, wie der Mensch der Jetztwelt, wenn er in einer Gebirgsschicht auf einen fossilen Saurier oder ein anderes vorsindfluthliches Gebilde stößt!

  1. So hieß der Bruder des Propheten, der mit ihm ermordet wurde.
  2. Lengfisch




Blätter und Blüthen.

Nestroy und der Mann des Juxes. Der Schauspieler Ignaz Stahl war vor drei Jahrzehenten ein sehr verwendbares Mitglied des Theaters an der Wien und eine grundehrliche Haut; – aber er war dabei so possirlich zänkisch und bärbeißig, daß er jahrelang der Mann des Juxes war für seine Collegen. Wenn man es zu arg mit ihm trieb, wurde er grob wie ein Sesselträger und man ließ ihn einige Tage in Ruhe.

Aber wie zu seiner Zeit es den Arm juckt, der an den Aderlaß gewöhnt ist, so juckte es auch den Schauspieler Stahl, wenn man ihm zu seiner Zeit keinen Possen spielte, an den er gewöhnt war. „Laßt mich ungeschoren!“ brüllte er. Und wenn man ihn ungeschoren ließ, schien sein Auge wehmüthig zu fragen: „Warum scheert Ihr mich denn nicht?“ Der Arme konnte den Aderlaß nicht mehr entbehren.

Es ist eine Stunde vor der Vorstellung. In der Herrengarderobe des Theaters an der Wien finden wir sie alle bei einander die lustigen und traurigen Räthe der papiernen Krone: die Komiker Scholz, Nestroy, Grois, Hopp, den herrischen Kunst, den schönen Gämmerler, den grimmigen Spielberger und andere Musensöhne, die einen Spectakel machen, daß ihre jungfräulichen Mütter ihnen sicher einen strengen Verweis gegeben hätten, wenn ihnen der Weg vom Apollo bis zum Director Karl nicht zu weit gewesen wäre.

Das Bühnenvölkchen lebte in der Zeit der goldenen Laune und bot eine Anzahl von theuern und billigen Späßchen im Ausverkauf feil, wie z. B. die sogenannten „Bären“, die damals Castelli aus der Wildniß herbeigezogen. Wenn Scholz mit seinem eisernen Ernst im Gesicht seine „patscheten Bären“ oder „Rathsel“ vorführte, brach man sich vergebens die Köpfe, denn die Lösung war zu blitzdumm, um von gewöhnlichen Menschenkindern gefunden zu werden.

„Aufgepaßt, meine Herren!“ rief Kunst. „Ein Bär, oder vielmehr Räthsel als Bär: Die Erste ist das Haus eines Gimpels, – die beiden letzten war Friedrich der Große und das Ganze ist der Vater eines sehr bekannten Lumpen.“

„Nest–roy! Nest–roy!“[1] riefen Alle nach ein paar Secunden.

„Richard Löwenherz hat sich blamirt! Da weiß ich ein ganz anderes ‚Rathsel‘, das nicht so leicht zu lösen ist,“ bemerkte Scholz mit höchst wichtiger Miene.

„Das wird wieder was Sauberes sein!“

„Heraus damit, Wenzel! Laß den wilden Bären los!“

„Es ist ein Rathsel in vier Silben. Die Erste ist ein Engländer, die Zweite ein Vieh, die beiden letzten eine Engländerin und das Ganze hat heute mein Pudel gefressen. Was ist das?“

Die Gesellschaft sann nicht lange nach, denn, wie gesagt, die „Rathsel“ des Komikers Scholz waren zu berüchtigt, um sich mit ihnen lange zu befassen.

„Die Lösung! Die Lösung!“ begehrten Alle.

Serviladi!“ sagte Scholz.

„Bravo, Wurstmacher! bravo!“

Die Bärenjagd wurde unterbrochen, denn Stahl, der Mann des Juxes, trat in strengster Balltoilette in die Theatergarderobe und in den Kreis seiner staunenden Collegen.

„Was hast denn Du heut vor, Nazi?“ frug Nestroy.

„Ich bin zum Ball und Hochzeitschmaus geladen,“ antwortete der Gefragte mit wohlgefälligem Schmunzeln, indem er sich schnell auskleidete und sich in’s Costüm seines zärtlichen Bühnenvaters warf. „Mein Ballkleid, – meine Cravatte und Stiefel bleiben unberührt auf meinem Platz!“ befahl er streng dem Garderobier. „Ich muß mich über Hals und Kopf umkleiden nach meiner letzten Scene!“

Die lustigen Brüder waren mäuschenstill, – blinzelten jedoch mit fragenden Augen auf Nestroy hinüber, der offenbar wieder über einen neuen Schabernack brütete.

Die Vorstellung begann und haspelte sich ziemlich rasch und lebendig aus der trocknen Kehle des durstigen Souffleurs. Im dritten Acte, während Stahl als zärtlicher Vater das Liebespärchen auf der Bühne mit aller Salbung segnete, – stand Nestroy mit einem vollen Bierkruge, umringt von den Verschworenen, in der Garderobe und füllte eines der glänzend lackirten Ballstiefelchen fast bis zur Hälfte mit edlem Gerstensaft an. Der Vorhang fiel. Stahl stürzte in die Garderobe, warf das Theatercostüme von sich, brachte eiligst seinen Kopf in Ordnung, schlang sich die weiße Cravatte um den Hals, legte die Beinkleider an und fuhr hastig mit einem Fuß in den gefüllten lackirten Stiefel hinein. Der edle Gerstensaft machte sich Luft und sprudelte in zwei rothen Fontainen an beiden Strupfen empor. A tempo hörte man ein gewaltiges Grunzen, wie in van Aken’s Gesellschaftssaal bei der Fütterung, sah den Mann des Juxes wie einen Kautschukmann bis zum Plafond emporschnellen und, als er wieder auf festen Füßen stand, dem Schneiderjungen in die Haare fahren, daß dieser ein Zetergeschrei erhob, als müßte er der Löschmannschaft einen Theaterbrand signalisiren.

Das gutmüthige Künstlervölkchen blickte mit der rührendsten Theilnahme auf den unglücklichen Collegen und brachte eiligst aus allen Winkeln Schuhwerk herbei, um ihm so schnell als möglich aus der Noth zu helfen. Nestroy bot ihm Filzgaloschen, Scholz ein paar alte Pelzstiefel, Gämmerler sogenannte Kanonen, Grois rothe Schnabelschuhe aus den Zeiten der Madame Pompadour, Kunst seine hirschledernen Ritterstiefel und Hopp ein Paar zerrissene Pantoffeln. Aber Stahl schleuderte seinen Collegen die Gaben der Liebe an die Köpfe und schrie zähneknirschend die Fäuste ballend: „Gebt mir den Bösewicht her, der mir das angethan hat! Gebt ihn mir her – mir kömmt’s auf einen kleinen Mord nicht an! Aber es soll der letzte Streich sein, den Ihr mir gespielt habt, das schwör’ ich Euch!“

[32] Er hatte jedoch falsch geschworen, denn noch in derselben Woche wurden ihm zwei andere lose Streiche gespielt. –

Stahl hatte sich oft auf das Bitterste beklagt, daß er in allen Novitäten nur mit unbedeutenden kleinen Rollen oder Episoden betheilt wurde. An einem Abende brachte ihm der Theaterdiener zu einer neuen Posse, die auf dem Repertoire stand, seine Rolle in die Theatergarderobe.

„Morgen um neun Uhr Probe und Abends Vorstellung, Herr Stahl!“ sagte der Theaterdiener Maxel phlegmatisch, indem er sich den Empfang der Rolle bestätigen ließ.

Die Rolle war ein Ungeheuer, wie sie kein Mime noch gesehn. Stahl wog sie mit einem Gesichte, das kein Spiegel wiedergeben kann, in der Hand. Eine Rolle von mindestens zwanzig Bogen! Und die sollte er bis morgen studiren, – es schwindelte ihm vor Entsetzen und Entzücken! Nach der Vorstellung lief er nach Hause, als ob ihm der Kopf brannte, ließ eine halbe Klafter Holz in den Ofen werfen, schwarzen Kaffee sieden, hüllte sich in seinen Schlafrock, zündete eine Kerze an und nahm das Ungeheuer in die Arbeit. Es war von der ersten bis zur hundertundvierundsechszigsten Seite ein schwülstiger, bombastischer Unsinn, aber Stahl declamirte ihn mit so kräftiger Stimme und so begeistert, als ob ihn Shakespeare oder Goethe gedichtet hätte. Er brauchte drei volle Stunden, bis er die Rolle ein einziges Mal durchgelesen, – und als er sie zwei Mal, drei Mal durchgelesen, wußte er noch immer nicht, was er gelesen hatte.

„Was muß denn das für ein Charakter sein?“ frug er kopfschüttelnd. Ich kenne mich nicht aus. Und diese Sprache, – bald in Versen, bald in Prosa, – bald local-, bald reindeutsch, – bald im jüdischen, bald im böhmischen Dialect, – sogar hebräisch und türkisch oder so was dergleichen hab’ ich einige Seiten zu reden. Zudem finde ich gar keinen Zusammenhang. Man weiß nicht, was der Mensch eigentlich will und warum er so viel plaudert. Eine verflucht schwierige Aufgabe das! Aber ich will sie lösen, mit Ruhm und Ehre lösen, damit sich der Director endlich überzeugt, welch’ ein schätzbares Mitglied er an mir hat!“

Stahl büffelte fort bis zum frühen Morgen, – und als er sich fast verrückt gebüffelt hatte, wankte er wie ein Trunkener zur Probe.

„Hinaus! Hinaus! Ihr Stichwort, Herr Stahl!“ rief der Inspicient nach der dritten Scene.

Mit übereinander geschlagenen Armen betrat Stahl die Bühne und declamirte mit Pathos:

„Ihr Götter seht, zum hüpfenden Gesellen
Springt nackt die keusche Nymphe aus den Wellen, –
Und die Kanonen donnerten am Meeresstrande,
Heil dir, mein Siegeskranz, im Vaterlande!“

„Was zum Teufel sprechen Sie denn da?“ rief höchst erstaunt Director Karl, der persönlich die Probe leitete.

Aber Stahl ließ sich nicht decontenanciren und declamirte weiter:

„Und innig küßt die leichtgeschürzte Dirne
Des weißen Stieres hochgewölbte Stirne,
Indeß Endymion ganz ruhig saß
Und Hammelfleisch mit sauren Gurken aß.“.

„Sind Sie toll geworden? Geben Sie mir Ihre Rolle!“ schrie der Director, indeß das lose Gesindel auf der Bühne und hinter den Coulissen Grimassen schnitt, wie Jemand, der niesen will und nicht darf.

Nachdem Karl das Ungethüm von Rolle empfangen und ganz verblüfft durchblättert hatte, rief er den Theaterdiener.

„Wie kommt Herr Stahl zu dieser Rolle, Maxel?“

„Sie ist ihm zugetheilt!“ antwortete der Theaterpudel. „Da, unter dem Titel der Posse, steht der Name Stahl unter dem Ihrigen, Herr Director.“

„So, so! Und wie bist Du zu dieser Rolle gekommen?“

„Wie zu den anderen. Ich habe sie in der Kanzlei in meiner Mappe gefunden.“

„Schon gut! Herr Stahl, man hat sich wieder einen Jux mit Ihnen gemacht. Sie haben in dem heutigen Stücke einen alten ehrwürdigen Diener zu spielen und nichts weiter zu sagen, als ‚Die Pferde sind gesattelt!‘“

Die Pferde sind gesattelt!!“ brüllte Stahl, daß die Logen zitterten und die Sperrsitze krachten, und stürzte davon, daß das Podium erbebte und die Donnermaschine zu arbeiten anfing.

„Ich kann den Eulenspiegel errathen, der sich da wieder einen Jux gemacht,“ sagte Director Karl, indem er einen Seitenblick auf Nestroy warf, – und er hatte richtig gerathen.

Freilich war es Nestroy, der aus hundert Blättern der Theater-Maculatur eine Rolle geschaffen, die den armen Stahl so stolz und fast verrückt gemacht hatte.

  1. Der Verfasser der Posse „Lumpaci-Vagabundus“, wie bekannt.




Ein preisgekrönter Lustspieldichter. Nachträglich zu Nr. 1, S. 9 haben wir noch zu berichten: Schauffert ist zu Winnweiler in der baierischen Pfalz geboren, hat in den Jahren 1848 bis 1852 in München die Rechte studirt und befindet sich, nachdem er früher in Waldmohr und Dürkheim Polizei-Commissär gewesen, seit 1868 als Landgerichts-Assessor in Germersheim. Beruf und Talent für die schönen Künste, für Malerei, Declamation und poetische Darstellung verrieth er schon in früher Jugend, und namentlich war es die eifrige Lecture Walter Scott’s, welche in dem Knaben zunächst eine starke Neigung zum erzählenden Genre weckte. Trotz des väterlichen Verbotes las er den englischen Dichter mit einer wahren Leidenschaft, so daß ihn der Vater zu seinem nicht geringen Erstaunen eines Tages im Schweinstalle fand, zu dessen Insassen er sich in homerischer Einfachheit mit seinem Scott’schen Roman zurückgezogen hatte.

Auf lyrischem und dramatischem Gebiete hatte sich Schauffert schon als Gymnasiast und Student versucht. So entstand während seines Münchener Aufenthaltes ein zweiactiges Lustspiel „Der Schmetterling“, so wie der Entwurf zu einer Tragödie „Kaiser Otto der Dritte“, welche aber nur bis zum dritten Acte ausgeführt wurde, da die Anforderungen des erwählten praktischen Berufes dem immer regen Drange zu dichterischem Schaffen Schranken setzten. Erst später sehen wir den jugendlichen Dichter zu poetischer Thätigkeit zurückkehren, damit aber zugleich, im Selbstgefühl seiner Begabung, eine dornenvolle Bahn der Entmuthigungen und schmerzlichen Erfahrungen betreten. Während seines Aufenthaltes in der Pfalz vom Jahre 1856 bis heute verfaßte Schauffert eine Reihe von Lustspielen, ohne daß es ihm gelang, auch nur eines derselben bei irgend einer deutschen Bühne anzubringen. Er war eben ein unbekannter, abseits der großen Heerstraße lebender Mann, der nicht die Trommel der Reclame zu rühren, nicht mit den beiden Ellenbogen sich Bahn zu schaffen wußte, und wie viel Unbedeutendes sah er gelobt und aufgeführt, während er selbst überall zurückgewiesen und dadurch zuletzt ganz abgestumpft und verbittert wurde.

Nur Einer hatte ihn mit scharfem Blick erkannt und in ihm mehr als einen Dilettanten gesehen. Es war der greise König Ludwig, der dem Dichter auf ein ihm zu seinem einundachtzigsten Geburtstage im Sommer 1866 gewidmetes Gedicht eine goldene Medaille mit seinem Brustbilde und der von einem Lorbeerkranz umschlungenen Inschrift „Merenti“, in Begleitung des folgenden Handschreibens übersandte: „Ihr Gedicht habe ich erhalten, und die Frage in Ihrem Briefe beantwortend, sage ich Ihnen, daß dasselbe den Weg zu meinem Herzen fand. Eine ausgezetchnete Dichtergabe besitzen Sie. Ihre Anhänglichkeit ist mir um so werther, weil Sie mich persönlich nicht kennen, was ich daraus ersehe, daß von Ihnen meine Haare silbern genannt werden, die noch blond sind. Beiliegende Medaille mit meinem Brustbilde wird Ihnen sagen, wie sehr den Dichter ehrt sein ihm wohlgewogener König Ludwig.“

Auch bei der im Jahre 1865 vom Münchener Actien-Theater ausgeschriebenen Preisbewerbung betheiligte sich Schauffert, und seine Lustspiele „Actuar Lackmann’s Hochzeitsabenteuer“ und „Die Zipplinger“ gehörten zu den wenigen Stücken, welche das Comité zur Aufführung empfahl. Doch kam es auch hier, trotz wiederholter Versprechungen, zu einer solchen nicht.

Da fiel endlich im Spätherbst 1867 die Wiener Preisausschreibung wie ein Blitzstrahl in die Seele des vergeblich ringenden Mannes und weckte ihn aus seiner brütenden Niedergeschlagenheit. Noch einmal griff er zur Feder, aber mit dem festen Vorsatze, dieselbe für immer zur Seite zu legen, wenn auch sein „Schach dem König“ wegen „mangelnder Bühnengerechtigkeit“ – die gewöhnliche Ausrede, mit welcher sich Intendanten und Directoren namenlose Schriftsteller vom Leibe halten – das Schicksal seiner Vorgänger theilen würde.

In Bezug auf den Erfolg bedarf es keiner Hinzufügung. Wir haben keinen Ueberfluß an guten Bühnendichtern. Es scheint, als ob in Schauffert eine glückliche Kraft gefunden sei, denn wie die Kritik allgemein anerkannt hat, ist „Schach dem König“ ein Lustspiel, bei dem „das Publicum kaum eine Minute aus dem Lachen kommt.“



„Aus tiefster Noth schrei ich zu Dir!“ Wenn diese Worte Martin Luther’s je gerechtfertigt einer gequälten Menschenbrust entflohn, so ist es die Brust eines deutschen Schriftstellers, der, voll redlichen Strebens und dichterischer Begabung, jetzt, wo er dem Grabe näher als der Wiege, durch unverschuldete Schicksalsschläge an den Bettelstab gebracht ist. Doch Fälle von hereingebrochener Armuth gehören nicht gerade zu den Seltenheiten. Wenn aber einem geistig strebsamen Manne mit der entschwundenen Habe auch das Licht der Sonne erlischt, wenn kein Glockenklang mehr an sein Ohr schlägt – wenn Blindheit und Taubheit mit bitterster Armuth im entsetzlichen Wettkampf um den Unglücklichen ringen, wo wäre da ein Menschenherz, das sich so großem Herzeleid verschließen könnte?

Ja, und in so großem Herzeleid lebt in Dresden ein Ehrenmann, der unter dem Schriftstellernamen „Heinrich Martin“ in einer Reihe von Bänden für Geist und Herz so manches Schätzbare geboten, dessen „Buch der Weisheit“ und dessen „Spruchgedichte“ von der Kritik einstimmig als preiswürdig anerkannt worden sind.

Er ist unstreitig der Hartgeprüfteste unter allen denen, welche je der Muse ihre Feder geliehen. Ach, die eingekerkerte Seele in ihrer schrecklichen Einsamkeit vermag ja nicht den theilnehmenden Blick zu erkennen, welchen das tiefe Mitleid auf dem Bejammernswerten ruhen läßt; er vermag nicht die trostsprechende Menschenstimme zu vernehmen, und ein innigster Händedruck ist das einzige Erkennungszeichen, welches ihm ansagt, daß ein fühlend Menschenherz vor ihm steht.

Fragt man, wie so erschütterndes Elend eines Schriftstellers in einer volkreichen Stadt wie Dresden so lang verborgen bleiben konnte, so ist die einfache Antwort: weil Schüchternheit und Bescheidenheit in der Regel edle, unverschuldete Armuth zu begleiten pflegen. Erst als die leibliche Noth die äußerste Grenze erreichte, ward sie einigen Menschenfreunden bekannt und ist auf privatem Wege dem Hartgeprüften einige Unterstützung zu Theil geworden, welche zeitweilig die ärgste Noth lindern und die Mittel zu einer Augencur ermöglichen hilft.

Es ist ein altes schönes Wort: Wenn die Noth am größten, ist Gottes Hülfe am nächsten. Möge dieser Spruch gerade jetzt, wo die Tage des Weihnachtsfestes in so viel tausend Herzen mit dem Gefühl der Dankbarkeit auch die Freude am Wohlthun neu belebt haben, an dem hartgeprüften Dichter und Dulder dadurch zu Wahrheit werden, daß vor Allem Diejenigen, welchen ihre Bildung und ihr Wohlstand auch höhere Pflichten des Patriotismus und der Humanität auferlegt, durch recht zahlreichen Ankauf der Werke des Dichters diesen auf die würdigste Weise erfreuen und unterstützen.


Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Novelle von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der Sohn des „alten Brehm“. Von H. Beta. Mit Portrait. – „Ein wahrer Vater der Stadt“. – Wunderliche Heilige. 3. In den Betstunden der Mormonen. – Ein Lied aus alter Zeit. Gedicht von Albert Traeger. Mit Illustration. – Aus der Küche der Altvordern. – Blätter und Blüthen: Nestroy und der Mann des Juxes. – Ein preisgekrönter Lustspieldichter. – „Aus tiefster Noth schrei ich zu Dir!“


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)