Die Gartenlaube (1869)/Heft 35
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No. 35. | 1869. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Verlassen und Verloren.
„Nein, ich werd’ Euch nicht verrathen,“ antwortete der Sachsenhäuser. „Wenn Ihr aber ein Spion von den Oesterreichern seid und das die Ursache ist, weshalb Ihr in Frankfurt zu thun habt, so möcht’ ich lieber, Ihr zögt ab aus meiner Kammer, es könnte auch mir an den Kragen gehn, falls sie Euch packten …“
„Beruhigt Euch,“ erwiderte Wilderich, „ich bin kein Spion …“
„Der Duvignot, nach dem Ihr fragt, versteht keinen Spaß; das ist ein grausamer Hund, ein Bluthund von einem Kerl, und just deshalb hierher gesandt, um noch ein wenig in der Stadt zu wüthen und Schrecken einzujagen, damit sie sich ein paar Tage länger halten können; denn fort müssen sie doch einmal, sobald nur die Oesterreicher kommen! Wir haben schon unsre Nachrichten und wissen, wie’s steht … es braucht ja Einer auch nur die Augen aufzuthun und zu sehn, wie sie ausschaun. Aber just weil sie auf der Retirade sind, desto tückischer sind sie …“
„Und was ist denn dieser Duvignot?“
„Was sollt’ er sein, als Einer von ihren Generalen, diesen Morgen hier angekommen, vom Jourdan hergeschickt, um sofort das Commando in Frankfurt zu übernehmen und den Belagerungszustand aufrecht zu erhalten, der richtige Holofernes dazu!“
„Duvignot ist der Commandant von Frankfurt?“ rief Wilderich aus. „Nun, mag er’s sein, oder vielmehr, desto besser! Gebt mir doch einmal das Kistchen dort her!“
Der Hausknecht rückte die Schatulle, die Wilderich mitgebracht, neben diesen. Der letztere, während er aß und trank, öffnete sie zugleich und begann jetzt noch einmal den Inhalt zu durchmustern. Der Hausknecht ließ ihn dabei allein.
Wilderich knüpfte zunächst das Band, welches das gelbe Convolut zusammenhielt, auf; er fand eine Menge von Briefen darin, welche von einer Frauenhand in französischer Sprache geschrieben waren; es bedurfte keiner langen Lectüre, um zu sehen, daß sie an den General Duvignot gerichtet waren, daß sie die Ausbrüche einer leidenschaftlichen Neigung enthielten und daß sie, aus einer Reihe von Jahren herrührend, ein sehr inniges und – schuldiges Verhältniß verriethen; die Schreiberin der Briefe sprach darin wiederholt von ihrem Gatten.
Unterzeichnet waren sie: Marcelline, oder auch bloß M. Eine Ortsangabe enthielten sie nicht.
Wilderich durchflog die ersten, dann die letzten.
In einem dieser letzten machte eine Stelle ihn betroffen. Sie lautete: ‚B. ist und bleibt spurlos verschwunden. Wenn ihre Flucht überhaupt noch den geringsten Zweifel an ihrer Schuld übrig lassen könnte, so würde dieses Verschollenbleiben ihn nehmen. Mein Mann ist jetzt ebenso überzeugt, wie ich es bin; er hat alle Nachforschungen nach ihr verboten, was mich jedoch nicht abhält, diese im Geheimen anstellen zu lassen.‘
B. – der Anfangsbuchstabe des Namens Benedicte – und diese B. war verschwunden – sollte eine Schuld auf sich geladen haben … das war seltsam … hätte Wilderich gewußt, daß die Dame, welche Benedicte aus Goschenwald entführt, Marcelline hieß, er würde wie elektrisirt aufgefahren sein. So blätterte er nur in Hast weiter, ohne mehr Andeutungen über die Sache finden zu können. Doch war eine andere Stelle da, welche, wenn die erste eine Beziehung auf ein Wesen hatte, das Wilderich in kurzer Zeit so theuer geworden, vortrefflich dazu paßte. Es hieß: ‚Du wirst das Commando in Würzburg erhalten, und ich, ich werde Dir dahin folgen. Es ist mir nicht möglich, hier unthätig und ruhig daheim zu sitzen, während Du den Gefahren des Krieges entgegenziehst. Wenn Du auch nicht lange Zeit in Würzburg bleibst, wenn Du auch bald mit Deinen siegreich vorrückenden Cameraden weiterziehst – was thut es, ich werde Dir immer um so viel näher bleiben, und wenn Du verwundet würdest – Gott wende es ab – so könnte ich Dir nacheilen von dort, könnte Dich pflegen, mit mir zurück nach Würzburg nehmen. Ich habe eine Cousine, welche in dieser Stadt wohnt. Das giebt mir den Vorwand eines Besuches bei ihr. V. wird mir die Reise gestatten, er muß sie mir gestatten. Meine Cousine heißt Frau von Goller. Unterlaß nicht, im Hause derselben, sobald Du dort angekommen bist, einen Besuch zu machen; es ist besser, wenn ich Dich im Hause schon bekannt finde, als wenn ich dich erst einführen muß!“
V…? hieß das Vollrath? Was sollt’ es anders heißen … die Frau Vollrath’s war ja in Goschenwald gewesen, von Würzburg herkommend … und „B.“ mußte also Benedicte bedeuten – es konnte kaum ein Zweifel sein – die Verfolgerin, die Feindin Benedictens war die Geliebte Duvignot’s!
Jedenfalls, sah Wilderich, mußten diese Briefe einer verheiratheten Frau an ihn dem General von großer Wichtigkeit sein; er mußte das größte Gewicht darauf legen, daß sie nicht in fremde Hände kamen; Wilderich hatte damit ein höchst bedeutungsvolles Pfand in Händen, wenn ihn der Zufall in eine üble Lage brachte, in der er des Schutzes des Generals bedürfen konnte.
[546] Er blätterte weiter, er suchte nach weitern Erwähnungen des B., das ihn so betroffen gemacht hatte … da fiel sein Auge auf etwas, das ihn noch mehr betroffen machte – auf die Buchstaben G. de B. – ‚Es ist merkwürdig,‘ hieß es, ‚wie G. de B. so völlig verstummt ist, oder hast Du Nachrichten von ihm?‘
G. de B. hatte sich ja auch der Mann unterschrieben, der ihm das Kind hinterlassen! Wie seltsam! War …
Aber Wilderich durfte die Zeit nicht mit Grübeln darüber verlieren.
Er sprang auf, steckte die Briefe zu sich, ordnete seinen Anzug – des Hausknechts auf dem Tische liegende Kleiderbürsten kamen ihm dabei sehr zu Statten – und ging das Haus des Schöffen Vollrath zu suchen.
Es war nicht schwer, es aufzufinden. Ein Knabe zeigte es ihm.
Vor dem Hause standen zwei Schildwachen; es mußte also ein hoher Befehlshaber in demselben einquartiert sein. Für Wilderich hatte dieser Anblick etwas Beunruhigendes. War er bis jetzt im Wirrwarr des Rückzugs und der Flucht unangenehmen Begegnungen mit Leuten, welche ihn nach seinem Truppentheile, seiner Bestimmung, seiner Ordre fragten, entgangen, so konnte es anders sein, wenn er in das Quartier eines Generals, unter dessen Ordonnanzen und Adjutanten gerieth. Sollte er umkehren und sich einen andern Anzug verschaffen? Er hatte keine Mittel dazu, er wußte nicht, wie dazu gelangen. Wenn er zurückging und sich an seinen Hausknecht wendete und in dessen Sonntagskleidern aus der Kammer herauskam, in welche er in der Chasseuruniform geschritten, so mußte er sofort die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich ziehen, die im Hofe und Stalle seines Wirthshauses lagen und herumlungerten. Dazu der Zeitverlust! Und hatte er nicht als Sicherheitspfand für den schlimmsten Fall seine Briefe?
So trat er mit der Miene ruhiger Unbefangenheit in das Haus ein. Der geräumige Flur war voll Menschen; Ordonnanzen standen da, Unterofficiere mit Rapporten, Bürger mit Reclamationen wegen ihrer Einquartierungen, Unterbeamte des Senats mit Aufträgen, Officiere, die Meldungen machen oder Befehle einholen wollten – auch Leute, welche mit gespannten Gesichtern zwischen zwei Wachen standen, unglückselige Arretirte, die vor den Commandanten geführt werden sollten, waren da – kurz Alles, was in solchen Tagen sich in einer besetzten Stadt um den Commandanten und zu ihm drängt.
Auf der im Hintergrunde der Flur emporführenden Treppe stand mit untergeschlagenen Armen ein langer, verdrossen aussehender Gesell, in einem langen blauen Rocke mit rothen Epaulettes, Revers und Aufschlägen, dessen Schöße bis auf die Waden fielen, in hirschledernen Hosen und Kanonen, das Haupt bedeckt mit einem großen Sturmhut mit rothem Federbusch. So, an das Treppengeländer zurückgelehnt, zwischen den übereinander geschlagenen Beinen den geraden Pallasch in weißer Scheide haltend, blickte er mürrisch auf das Gedränge unter ihm nieder, gegen das er als eine Art Damm zu dienen schien, der die Erstürmung der Treppe durch all die Harrenden hinderte.
Wilderich drängte sich bis an den Fuß der Treppe und sagte dem Mann, den die Uniform als Gensd’arm kenntlich machte.
„Kann man zum Schöff Vollrath hinaufgehn?“
„On ne passe pas!“ lautete die barsche Antwort.
Ein wenig aus der Fassung gebracht, schaute Wilderich drein und wagte kaum, den bissigen Cerberus weiter anzureden, um ihm klar zu machen, daß er zum Hausherrn und nicht zum Commandanten wolle, als ein Diener in gelber Livrée an ihm vorüber kam, die Treppe hinaufzugehn. Er brachte diesem sein Anliegen vor.
„Folgen Sie mir nur,“ sagte der Diener, „diese Leute hier warten auf den Commandanten, der erst Punkt sechs Uhr wieder zu sprechen sein will; zum Herrn Schultheiß kann ich Sie führen.“
Er schritt die Treppe hinauf und Wilderich, jetzt unangehalten, ihm nach.
Während Wilderich die auf einen ziemlich dunklen Vorplatz führende gewundene Treppe hinanstieg, saß der vom Obergeneral Jourdan von Würzburg aus als Commandant nach Frankfurt gesandte General Duvignot in einem bequem und wohnlich, wenn auch nach unseren Begriffen sehr einfach eingerichteten, auf den Hof hinausgehenden Zimmer in höchst lebhafter Unterhaltung mit einer Dame begriffen, welche wir kennen.
Duvignot war in der frühesten Morgenfrühe in Frankfurt angekommen; er hatte sein Quartier im Hause des Schöffen genommen. Am Morgen schon hatte er energisch, scharf und schonungslos die Zügel des Regiments ergriffen und vor Geschäften kaum die Zeit gefunden, um Mittag Frau Marcelline zu begrüßen, die unter dem Schutz des Capitains Lesaillier glücklich mit ihrem Gefolge eingezogen war. Vor einer halben Stunde hatte er eine durchgreifende Maßregel getroffen, um so viel Ruhe zu gewinnen, rasch eine Mahlzeit einzunehmen und dann ein Gespräch mit der Frau vom Hause halten zu können. Sie saß in einem an das Fenster gerückten Lehnstuhl, müde hingegossen, die Arme im Schooße, das Haupt vornüber gebeugt und auf den Boden niederblickend.
Der General stand aufrecht an dem Fenster, die linke Hand auf dem Knopf der Espagnolettestange, mit der rechten lebhaft gesticulirend.
Doch wurde das Gespräch nur leise flüsternd geführt.
„Ich versichere Dich, Marcelline,“ sagte er, „darüber kann keine Täuschung sein; wir sind vollständig geschlagen, daß an eine Behauptung Frankfurts gar nicht mehr zu denken ist; wir werden uns halten, so lange wir können, vielleicht noch vierzehn, vielleicht noch acht Tage, es hängt blos von der Energie ab, womit die österreichische Armee ihre Siege ausbeutet und auf uns drückt. Auch im besten Falle, wenn der Erzherzog sich jetzt durch den Odenwald links werfen und Moreau’s Rheinarmee zum Rückzuge zwingen würde, auch dann könnten wir das rechte Rheinufer nicht halten und müßten zurück, zurück nach Frankreich. Glaub’ mir’s, Marcelline!“
„Ich glaube Dir’s ja – aber bedarf’s denn etwas andres als einer kurzen Waffenruhe für Euch, um bald siegreich zurückzukehren, und wenn ich mich nun in das Schicksal fügen will, zu warten – ich, die so lange, so lange Jahre diese unselige martervolle Lage des sich Fügens und Harrens habe aushalten müssen, ich muß es ja können!“
Frau Marcelline sprach dies mit einem tiefen Seufzer und schmerzbewegt ihre Finger zusammenpressend.
„Harren, auf unsere Wiederkehr? Weißt Du, ob, wenn wir wiederkehren, ich unter denen sein werde, die unsere Fahnen siegreich hierher zurücktragen? Ob ich nicht längst dann in weite Ferne, nach dem Oberrhein, nach Italien gesandt sein werde?“
„Das hängt ja doch von Dir ab …“
„Und wenn auch, ich sehe nun einmal voraus, daß wir gar nicht wiederkehren werden.“
„Du zweifelst an dem Siege Deiner eigenen Waffen?“
„Nein, nicht deshalb. Ich sehe nur voraus, daß diesem Feldzuge der Friede folgen wird. Das ist unausbleiblich. Wir sind erschöpft; wir bedürfen des Friedens, das Directorium will den Frieden, und unsere Feinde? Trotz ihrer jetzigen Erfolge bedürfen sie seiner weit mehr noch als wir. Verlassen von Preußen können sie es gar nicht auf einen weiteren Krieg im folgenden Jahre ankommen lassen. Dieser Winter bringt uns den Frieden, so gewiß ich diese Hand ausstrecke, und deshalb, Marcelline, fasse Muth, sei groß und stark und entschließe Dich!“
„Ich kann nicht!“ lispelte sie leise. „Es ist unmöglich!“
„Unmöglich! Das Wort ist so leicht bei der Hand, wenn der Muth und der Wille fehlen!“
„Aber mein Gott, Du selbst kannst doch nicht so verblendet sein, nicht einzusehen, daß ich nicht den furchtbaren Schimpf, die Schande, die Verdammung aller Menschen auf mich laden, daß ich nicht meinen Mann in Verzweiflung stürzen und, auf nichts Anderes als die Stimme der Leidenschaft hörend, Dir blindlings nachfolgen kann, wohin Du mich führst!“
„Nicht? – Das könntest Du nicht?“ antwortete Duvignot bitter. „Die Urtheile der Menschen, die Rücksicht auf Deinen Mann sind Dir wichtiger als mein Glück, mein Leben, mein ganzes Dasein, das ohne Dich vernichtet ist?“
„O mein Gott, Du weißt, wie ich Dich liebe …“
„Liebe – eine Liebe ohne Vertrauen … Du vertraust mir Dein Loos nicht an, Du kannst Dich nicht ‚blindlings‘ von mir führen lassen, Du …“
„Wie ungerecht Du bist, mir so bitter vorzuwerfen, daß ich nicht taub und blind für Alles bin! Währe ich achtzehn Jahre, [547] so könnte ich es sein, jetzt kann ich es nicht mehr. Die Folgen einer solchen verbrecherischen That stehen nun einmal vor meinen Augen – und ich kann, ich kann nicht!“
„Freilich … Du handeltest sehr thöricht … die reiche Patrizierfrau, die sorglos, im Wohlleben, in allem Luxus, der sie umgiebt, von Huldigungen umringt, hier ihre glückliche Existenz weiter führen kann, wird nicht so wahnsinnig sein, ihr Loos an das wechselreiche unstäte Leben eines armen Glückssoldaten zu fesseln!“
„Das sind Worte, die der Zorn aus Dir spricht, Etienne, und ich brauche deshalb nicht darauf zu antworten – ich bin zu stolz dazu.“
„Zu stolz – da liegt’s! Du bist zu stolz, Marcelline, um wahrhaft lieben zu können. Die Liebe ist demüthig! Was ficht sie der Menschen Urtheil an, und ob es sie hoch oder niedrig stellt? Sie hört nur auf die eine Stimme, die des Herzens – Marcelline, ich bitte, ich flehe Dich an, horche auf sie, ich will es, ich verlange es von Dir, ich kann es fordern, denn Du bist mein Weib, mein durch die heiligsten Bande an mich gekettetes Weib! Was hat die inhaltlose Form zu bedeuten, dieser Priestersegen, der Dich mit einem alten ungeliebten Manne verbunden hat – uns hat das Herz, hat die Natur mit heiligeren Banden verbunden, und das lebende Zeugniß dieses Bundes, wenn es nun vor Dich träte und zu Dir spräche: verlaß, verlaß meinen Vater nicht – dann …“
„Ich bitte, o ich bitte Dich, Etienne, rede nicht weiter!“ sprach das gepeinigte Weib, ihre Hände vor das Gesicht schlagend.
„Weshalb soll ich nicht weiter reden,“ eiferte Duvignot, „weshalb, da Du mich feige verlassen willst, nicht Alles Dir in’s Gedächtniß rufen, was uns für ewig zusammenkettet?“
„Will ich denn das Band zerreißen?“ rief Marcelline aus geängstetem Herzen aus. „Wie soll ich Dir folgen? Wie ist es möglich? Wohin? Zu wem? Wen hast Du auf Erden, zu dem Du mich bringen könntest? Hast Du einen Kreis, in dem ich, stolz darauf, die Deine zu sein, geschützt, geachtet und geehrt meine Tage zubringen könnte, wenn Du nicht bei mir, wenn Du auf Monate, Jahre hinaus im Felde bist? … und wenn Du fällst, Du mit Deinem rücksichtslosen Drang, der Gefahr zu trotzen, Deiner Verwegenheit, Deinem Ehrgeiz, Deinem Ruhmdurst, allem dem Feuer, das einen Soldaten nicht zu Jahren kommen läßt – wohin dann mit mir verlassenem, entehrtem, schmachbedecktem Geschöpfe?“
„Du bist sehr klug und besonnen, Marcelline,“ antwortete Duvignot, eine verächtlich abwehrende Bewegung mit der Hand machend, „Ihr Frauen könnt das, mit Besonnenheit lieben! Wenn die Besonnenheit nur nicht so feige wäre; eine muthigere Klugheit würde Dir die Dinge in anderem Lichte zeigen; Dein Mann wird einmal sterben, und dann wirst Du mein Weib werden – das ist einfach die Zukunft, die meine Klugheit mir zeigt! Höre, Marcelline, ich flehe Dich noch einmal an, folge mir, such’ Dich nicht von mir loszureißen …“
„O mein Gott, wer spricht davon?“
„Du, Du thust es; was kann uns ein armseliger Briefverkehr sein, wenn Hunderte von Meilen vielleicht zwischen uns liegen, wenn die Hoffnung, uns wiederzusehen, verschwindet, wenn andre Menschen, andre Schicksale, wenn die Jahre treten zwischen Dich und mich …“
„Menschen, Schicksale, Jahre – sie werden mich nicht verändern, sie werden mich nicht von Dir trennen!“
„So fühlst Du jetzt! Doch wer übernimmt die Gewähr dafür? Und deshalb will ich, daß Du mir folgst. Du wirst es. Aber sieh, das ist die Forderung der Leidenschaft in mir: ich will Dich freiwillig, ungezwungen, aus eigenem Antriebe, nur der Liebe gehorchend mir folgen sehn. Ich sträube mich auf’s Aeußerste, Dich zu zwingen.“
„Und wie könntest Du mich zwingen?“
„Ich kann es!“
„Weil Du die Gewalt in der Stadt hast? Willst Du mich als ein Beutestück betrachten? Willst Du mich mit Gewalt entführen?“
„Nein, nicht das!“
„Dann wüßte ich nicht, wie Du’s könntest!“ sagte Marcelline stolz.
„Vielleicht kann ich’s doch!“ versetzte Duvignot, den Blick abwendend. „Aber ich sage Dir ja, meine ganze Seele sträubt sich dawider – und deshalb flehe ich Dich an: entschließe Dich – wag’ es – vertraue mir – traue meiner Kraft, Dir die Zukunft so glücklich zu gestalten, daß Du es nie bereuen wirst! - Ich habe das Vorgefühl, ich möchte sagen, in meiner Brust die Bürgschaft eines großen und glänzenden Schicksals; die Geschichte ist im Rollen begriffen, wir gehen Alle einer Zukunft voll großer Ereignisse und Katastrophen entgegen, voll welterschütternder Wandlungen und gewaltiger Krisen im Leben der Völker; das ist die Zeit für starke Arme und muthige Seelen – darum Muth, Muth, Marcelline – und nur Muth; der Muth allein ist der Schlüssel zu allem Glück!“
„Glück – Glück, als ob es aus einem Verbrechen erblühen könnte, mit dem man den Himmel beleidigt und der ganzen Welt Trotz bietet – ist das möglich?“
„Wenn Du im Leben mit mir, in der Verbindung mit mir, in einer Zukunft an meiner Seite kein Glück mehr siehst, dann freilich …“ fuhr Duvignot zornig auf.
„Du wirst ungerecht,“ versetzte sie lauter; „ich habe Alles gethan, Alles, Alles was ich thun konnte für Dein Glück! Dies kann ich nicht. Ich kann meine Pflicht vergessen, aber nicht so meine Ehre, nicht so meines armen alten Mannes Ehre mit Füßen treten.“
„Seine Ehre!“ sagte Duvignot verächtlich. „Lebe wohl denn – wirf sie in eine Wagschale und mein Glück in die andere; sieh, welche Dir schwerer wiegt. Ich werde Dich morgen darnach fragen, denn meine Zeit ist hin, ich muß gehen, Du weißt, wie man mich drängt …“
„Du wirst nie eine andere Antwort von mir erhalten, als diese,“ erwiderte Marcelline.
„Vielleicht doch … wir werden sehen!“
„Was sollen diese Anspielungen, diese Drohungen, als ob Du mich zwingen könntest, bedeuten? Sprich offen heraus, ich fordere es.“
„Du wirst es erfahren – wenn Du unerbittlich bleibst.“
„Etienne – Etienne – was hast Du vor, woran denkst Du? – Du gestehst selbst, daß Du nicht vorhast, Gewalt zu gebrauchen!“
„Nein, nicht das. Ich werde Dich dadurch zwingen, daß ich Dir in der Ferne, in meiner Heimath etwas zeige, welches Dich unwiderstehlich dahin und mir nach ziehen wird.“
„Und dies Etwas?“
„Kein Wort mehr darüber!“
„O ich bitte Dich …“
„Nicht heute …“ entgegnete Duvignot, sich abwendend, „meine Stunde ist abgelaufen – der Dienst verlangt mich! Adieu, Marcelline! Fasse Dich, fasse Muth, sei mein großes und starkes Weib, fühle, daß Du mein bist, und … reich mir die Hand!“
Sie reichte ihm langsam und wie gebrochen die Hand, ohne die Augen zu ihm zu erheben. Dann ließ sie den Kopf mit einem tiefschmerzlichen Seufzer an die Lehne des Armstuhls zurücksinken.
Duvignot war mit raschen, heftigen Schritten davon gegangen.
In dem Augenblick, als er auf den Vorplatz draußen trat, betrat Wilderich Buchrodt, dem Bedienten folgend, die letzte Stufe der Treppe.
Duvignot blieb stehen und erwartete ihn.
„Was wollt Ihr, von wem kommt Ihr?“ fragte er barsch den Ankommenden. „Wer zum Teufel hat Euch wider meinen Befehl heraufgelassen?“
Wilderich mußte seine ganze Kraft, sich zu beherrschen, zusammennehmen, um nicht das Erschrecken zu verrathen, das bei diesem Zusammentreffen und bei der zornigen Anrede des heftig erregten Mannes so natürlich war. Er konnte nicht daran zweifeln, daß es der gefürchtete Commandant sei, dem er in den Wurf gekommen. Er legte die Hand an den Schirm des Czakos und antwortete in meldendem Tone:
„Exempt von der dritten Halbbrigade der Chasseurs zu Pferd, zweite Schwadron …“
„Der Mann will nicht zu Ihnen, Herr General,“ fiel der Bediente sich entschuldigend ein, „sondern zum Herrn Schultheiß, deshalb habe ich ihn heraufgeführt.“ … Duvignot sah von Einem auf den Anderen.
„So führt ihn zum Schultheißen!“ antwortete er und wandte sich einer Flügelthür zu, die in sein Zimmer führte … Wilderich [548] schlug das Herz schon von der Angst befreit hoch auf – er folgte dem rasch gehenden Bedienten unmittelbar hinter dem General.
„Wo steht Eure Halbbrigade in diesem Augenblick?“ fragte dieser, vor seiner Thür sich plötzlich um- und wieder zu Wilderich wendend.
„Sie ist in Hanau angekommen, Citoyen General!“ versetzte Wilderich auf gut Glück, da er fühlte, daß er mit einer Antwort keinen Augenblick zögern dürfe.
„Wann?“
„Gestern Abend!“
„In Hanau?“
„Zu Befehl!“
„Wie heißt Euer Divisionsgeneral?“
„Ney.“
„Und Euere Halbbrigade führt?“
„Major de la Rive!“ antwortete in steigender Beklemmung Wilderich, die Namen mit dem Muth der Verzweiflung hervorstoßend.
„Was habt Ihr bei dem Schultheißen zu melden?“
Wilderich stockte jetzt.
„Ich habe ihm einen Brief von einem gefallenen Cameraden zu bringen, der mich bat, ihn sofort zu überbringen, da Gefahr im Verzuge sei!“ sagte er endlich.
„Seid Ihr deshalb Eurer Abtheilung von Hanau hierher zuvorgeeilt?“
„Zu Befehl, Citoyen General!“
Der General trat auf die Schwelle der Thür, welche der Bediente ihm unterdeß diensteifrig aufgeworfen hatte … Wilderich sah ihn schon mit unsäglicher Erleichterung im nächsten Augenblick verschwinden – aber der General sagte, halb den Kopf zurückwendend, mit einem kalt trocknen Tone:
„Folgt mir!“
Wilderich konnte nicht anders als gehorchen. Er trat in das große, nach vorn auf die Straße hinausgehende Zimmer, das Prunkgemach des Hauses, das jetzt dem Commandanten als Empfangszimmer diente – der General winkte ihm mit der Hand heran, dem Fenster näher zu treten, dann sagte er:
„Gebt mir den Brief Eures gefallenen Cameraden.“
„Citoyen, General … Sie werden mich entschuldigen … ich habe dem Sterbenden gelobt, ihn nur dem Schultheißen selbst …“
„Ihr seid sehr gewissenhaft, mein lieber Exempt von den dritten Chasseurs zu Pferde! Ich achte das. Geht also hinauf, Euren Brief dem Schultheißen zu übergeben – da ich jedoch ein wenig neugierig geworden, was in dieser Depesche sein mag, die so eilig zu bestellen ist, so werde ich dabei sein. Hierher!“
Der General verließ das Zimmer wieder, schritt draußen über den Vorplatz der Treppe in das zweite Stockwerk zu und nachdem er mit Wilderich oben angekommen, klopfte er an eine Flügelthür, welche unmittelbar über der unten in seine eigenen Zimmer führenden lag.
Noch bevor er ein ‚Herein!‘ vernommen, öffnete er, winkte Wilderich, den er vorausgehen lassen wollte, einzutreten und trat selbst ein.
Der Schultheiß Vollrath bewohnte den über des Generals Empfangszimmer liegenden Raum – ein weites Gemach, das an den Wänden ringsum bis zu drei Viertel der Höhe mit Bücherrepositorien besetzt war. Ueber ihnen standen vergilbte Gypsbüsten, an den Wänden aber hingen eine Reihe alter Familienbilder; ein Paar Lehnsessel, Stühle mit hohen rohrgeflochtenen Rückenlehnen und ein Paar Tische mit Büchern und Schriften und Actenstößen darauf waren die ganze bescheidene Einrichtung dieses Wohngemachs, das nur an der Wand zwischen den beiden Fenstern den strengen und fast düsterm Eindruck, den es machte, verleugnete – hier hingen, wie es schien, allerlei Jugend- und Freundschaftserinnerungen des alten Herrn, zwei Pastellbilder von jungen Frauen, Silhouetten in runden Goldrähmchen, ein Bildwerk aus Haararbeit, das einen Tempel mit einer Thränenweide darstellte, und darunter eine alte, sehr vergilbte rothe Seidenschleife in einem noch älteren, noch vergilbteren Immortellenkranze.
Der Schultheiß Vollrath war ein Mann von über sechszig Jahren. Auf seinem Gesicht sprachen zwei hervorstechende Züge den ganzen Charakter des Mannes aus – die hohe und breite Stirn verrieth seine Intelligenz und Idealität und der weiche Mund eine unendliche Gutmüthigkeit, eine gefährliche Gutmüthigkeit, wenn man anders das schmale, so wenig ausgebildete Kinn als Zeichen jeglichen Mangels an Energie deuten durfte. Er hatte das dünne spärliche Haar hinter die Ohren zurückgestrichen – ein schwarzes Käppchen vertrat die Stelle der großen gepuderten Perrücke, die jetzt auf einem der Actenstöße vor ihm lag. So saß er an seinem Schreibtisch, die Stirn auf den Arm gestützt, wie in Sinnen verloren, mit der linken Hand wie in träumerischem Spiel die goldne Tabatiere drehend, die vor ihm lag. Bei dem hastigen Eintreten der zwei Männer fuhr er wie aufgeschreckt empor.
„General Duvignot,“ sagte er, diesem entgegenschreitend, „Sie sind es … und wen bringen Sie da?“
„Uebergebt jetzt Euren Brief, Chasseur!“ befahl der General trocken mit zornig gerunzelten Brauen.
Wilderich sah, daß er gefangen war. Er hatte von dem Briefe gesprochen – er konnte ihn jetzt nicht mehr zurückhalten. Er konnte auch den Schultheißen, der mit einem wohlwollenden Blicke ihm seine Augen zuwandte, nicht warnen. Er konnte nichts thun, als seinen Brief hervorziehen und, indem er ihn dem Schultheißen übergab, sagen:
„Er ist zu eigenen Händen und ganz privater, nur den Herrn Schultheißen persönlich betreffender Natur.“
Der Schultheiß nahm den Brief entgegen und betrachtete betroffen das Siegel; auch des Generals Blicke hefteten sich auf das Siegel. Der Schultheiß machte, ehe er das Schreiben aufriß, eine Bewegung mit der Hand, um den General einzuladen, Platz zu nehmen.
„Ich danke,“ versetzte dieser lakonisch und blieb, während der alte Herr das Siegel erbrach, stehen.
Wilderich hatte unterdeß Zeit, sich ganz das Gefährliche seiner Lage klar zu machen. Es war offenbar, daß der General Verdacht geschöpft, daß er die Maske, in welcher Wilderich stak, durchschaut … was sollte daraus werden, wenn er den Brief des feindlichen Feldherrn zu lesen bekam? Die Schlinge war um Wilderich zugezogen – sein letztes Hülfsmittel mußten jene erbeuteten Briefe bilden – oder er war verloren …
Wenn irgend ein Thier des heimischen Waldes den Blick des Vorüberwandelnden fesselt, so ist es das Reh. So viel Stolz im Ausdruck verbunden mit Lieblichkeit und Anmuth, so viel Feuer bei sprüchwörtlich gewordener Sanftmuth, so rege Wachsamkeit inmitten des vertrauten Wandels – wie sollten solche in einem Wesen von schöner Gestalt und feinem Gliederbau vereinigte Eigenschaften nicht Theilnahme erwecken? Um so belohnender ist die Aufgabe des Forschers, durch Belauschen der geheimen Züge des Wesens jener schmucken Thiere sich mit demjenigen Theile desselben bekannt zu machen, welcher höheres Interesse erweckt, als Gestalt und Farbe, nämlich mit der Seele in ihren vielfältigen Thätigkeitsäußerungen. Wir brauchen dazu, Gottlob, keinen Zoologischen Garten, sondern können Das nach Waidmannsart in der grünen Natur besorgen.
Die drückende Hitze der zweiten Hälfte des Juli herrscht. Still, wie ausgestorben, ist der Wald. Die Sänger schweigen, denn ihre Gesangszeit hat geendet und der Federwechsel begonnen. Im Schatten eines Stangenortes steht oder sitzt der Rehbock, aber ihn flieht die Ruhe. Der mächtigste aller Triebe beherrscht ihn. Erregt eilt das Blut durch seine Adern und zuweilen durchzuckt’s ihn wie elektrischer Schlag. Mit einem Male springt er auf, lauscht in äußerster Spannung und vorgebeugter Haltung. Jetzt vernimmt er deutlich das „Blatten“ (Rufen) einer vermeintlichen Rehgeis; aber die Erfahrung hat ihn vielleicht gewitzigt, oder es zieht ihn nicht so sehr zur alten Geis, als nach dem jüngern Reh. Er folgt nicht dem lockenden Ton. Da greift die List des verborgenen Schützen zu dem Mittel, den feineren Ton des Schmalrehs nachzuahmen, und nun stürmt der erhitzte Bock der
[549] [550] Gegend zu, woher der bezaubernde Klang gekommen. Nur der junge unerfahrene Spießer folgt dieser Verlockung, um sich dem Rohr des verborgenen Jägers zum Ziel zu stellen; der alte Bock zeigt sich in unzähligen Fällen als sehr mißtrauischer Verliebter, der den verdächtigen Platz umkreist und sich den Wind vom Anstehenden holt, um ihn sofort mit „Schmälen“ auszuschelten und „flüchtig“ zu werden. Oder er wartet eine Viertel-, ja eine halbe Stunde, ehe er dem Orte langsam zuschreitet, den der „blattende“ Schütze längst verlassen hat, und wo er mit zu Boden gesenkter Nase die erkaltete Fährte des Feindes prüft. In gewitterreichen Sommern hält der Bock, wie überhaupt das Reh, das Entladen des Gewehrs wohl auch einmal für eine Naturerscheinung und bleibt zum Erstaunen des Fehlschießenden stehen.
Noch ehe die eigentliche Brunftzeit beginnt, äußert der Bock seine Erregung schon durch Kämpfe mit Seinesgleichen, sowie durch häufiges Jagen („Treiben“) der Geis, so daß die „Brunftplätze“ oft wie eine kleine Reitbahn in Bogen von einigen Klaftern im Durchmesser zertreten sind und von dem ungestümen Gebahren des Bocks zeugen. Einige Monate nach der Brunftzeit, im November, wiederholt sich, jedoch seltner und in harmloser Weise, das Jagen der Rehe, wodurch man zu der Annahme verleitet wurde, die Brunftzeit falle in diesen Monat, zumal da man es für unwahrscheinlich oder gar unmöglich hielt, daß ein verhältnißmäßig so kleines Thier, wie das Reh, vierzig Wochen „beschlagen“ gehe. Die Meinung der also Irrenden und Getäuschten wurde durch solche Untersuchungen der Geis zwischen dem Monat August und November bestärkt, welche das in dieser Zeit auffallend langsam sich entwickelnde, noch in gebundenem Leben verharrende Ei übersahen. Was der Professor Bischoff mit aller Sorgfalt und Sicherheit durch genaue Erforschung der Entwickelung dieses Eis nachwies, nämlich die wirkliche Begattung im August, überraschte wenigstens die besseren Beobachter nicht, denn auch schon die Wahrnehmung, daß bei dem meisten Wilde gerade die Feist- oder Fettzeit der Brunft vorangeht, diese letztere also eintritt, wenn das Thier in seiner körperlichen Vollkommenheit und Kraft steht, hätte von vornherein die alten Nimrode von ihrer verkehrten Ansicht, daß die wahre Brunft des Rehs in den Vorwinter falle, zurückbringen müssen, abgesehen davon, daß bei dem Bocke dessen beste Kräfte für die Neubildung des Gehörns im Spätherbst und den Winter hindurch verwendet werden.
Wir übergehen die Treibjagden zur Neigezeit des Jahres, wo der Bock das „Gehörn“ abwirft und schon darum und des Schrotschusses halber von dem echten Waidmann mit einem gewissen Widerstreben erlegt wird. Wir lassen ihn im neuen Jahre erst wieder „frisch aufsetzen“ und „ausrecken“ und suchen ihn in der schönsten Jahreszeit auf dem Pürschgange auf.
Der Mai hat das junge, helle Grün dem Walde entlockt, die Waldwege, Wiesen und Lichtungen hauchen den Vollduft ihrer Kräuter aus, unserm jetzt sich gar heimlich haltenden Reh ist im wahren Sinne des Worts der Tisch gedeckt, die Orte der „Aeßung“ grenzen nahe an die Stellen, wo es in Ruhe und Verdauung „plätzt“, wie der deutsche Waidmann treffend das Bloßscharren des Waldbodens zu Stand und Lager bezeichnet. Vorzugsweise ist’s der Bock, der seinem mißtrauischen und vorsichtigen Wesen gemäß sich zurückhält und zu seiner Sicherheit doppelte Vorsichtsmaßregeln anwendet. Büsche und Stämmchen an Schneißen und wildverschlungenen Pfaden tragen die Spuren des „Fegens“, wie man das Reinigen der mit Bast überzogenen frisch aufgesetzten „Stangen“ nennt. Leise „pürscht“ sich auf diesen Pfaden gegen Abend oder früh Morgens der Schütze heran, scharf nach rechts oder links blickend, mit gehobener Büchse, das dürre Reis unter sich, das seine Anwesenheit knackend verräth, sorgfältig vermeidend. Zehn Mal geht er vielleicht vergeblich nach einem "Capitalbock“, endlich führt ihn Ausdauer und Unverdrossenheit doch zum Ziel. Auch der wenn noch so gut „äugende“, „vernehmende“ und „windende“ Bock wird schließlich einmal überlistet, die Kugel fitzt ihm auf dem „Blatt“, und das Gehörn ersten Ranges ziert die Wand der traulichen Stube.
Und fürwahr, das Gehörn des Bocks verdient einen genauern Blick sowohl wegen seiner Beliebtheit bei Waidmännern, als auch in Hinsicht seiner Entwicklungsstufen und seines eigentümlichen Zusammenhangs mit den Geschlechtsorganen und dies um so mehr, als diese interessante Erscheinung bei unserem heimischen Wilde erst in neuerer Zeit gründlich erforscht worden ist. Bekanntlich heißt der das Gehörn tragende Knochenzapfen des Stirnbeins „Rosenstock“, der ringförmige, perlig-krausige Wulst unmittelbar auf denselben unten an den beiden Stangen aber die „Rose“. Die ersten Anfänge zur Gehörnbildung entstehen erst dann, wenn sich die zapfenförmigen Fortsätze des Stirnbeins gebildet haben. Dies geschieht beim vier Monate alten Kitzböckchen; unmittelbar darauf erfolgt die Bildung der immer höher werdenden Kolben und endlich im Winter das Ausrecken der drei bis vier Zoll hohen unzerteilten, mit schwacher „Rose“ an der Wurzel versehenen „Spieße“. Im December wirft er ab und hat nach Verlauf eines Vierteljahrs zum zweiten Mal bereits wieder aufgesetzt.
Das Abwerfen der Stangen ist bedingt durch das völlige Absterben und Außer-Verbindung-Treten derselben mit den Organen des Körpers. Unter den alten Stangen aber hat sich bereits das Leben eines neuen Gebildes geregt, indem die von Blutadern (Venen) umgebene äußere Kopfschlagader in ihren Verzweigungen sich zu erweitern beginnt, fortwährend sich zu verlängern strebt und der Blutandrang nach den Rosenstöcken, durch die alten Stangen gehemmt, nun das Heraustreten eines ringförmigen Gefäßwulstes um die abgestorbene Rose herum aus dem Hautrande des Rosenstocks bewirkt. Durch diesen Wulst und den weiteren Erguß von Blut in die zackigen Verbindungsflächen zwischen Rosenstock und Stangen werden die letzteren gehoben und gleichsam unterhöhlt und deren Abstoßen auch noch durch die vom vermehrten Blutzufluß erhöhte Hautthätigkeit wesentlich befördert. Aus diesem wulstigen Gefäßringe, der bis zur Reife des Gehörns mit den Kopfadern in Verbindung steht und Nahrung erhält, bildet sich später durch Ausschwitzung von Knochensubstanz die Rose, sowie denn durch baldiges Umwulsten der Flächen, worauf die Stangen saßen, in Gefäßanhäufungen zugleich auch die Grundlage zu einem neuen, durch Säftezuführung immer weiter wachsenden Gebilde, den Kolben, entsteht, aus deren knolliger Masse sich nach und nach gestaltend das Gehörn in den angegebenen Formen entfaltet. Die Stange erscheint beim zweiten Gehörn in der Regel ungefähr in der Mitte getheilt. Die nach vorn gebogene Sprosse ist als Nebensprosse zu betrachten, während der nach hinten in knieförmiger Biegung verlaufende Theil Fortsetzung der Stange selbst ist. Es kann jedoch diese Biegung auch im zweiten Jahre vorhanden sein ohne Nebensprosse. Der dritte Gehörnwechsel findet etwas zeitiger als der zweite statt, und der alte Bock wirft schon im November ab. Bei der zweiten Kniebildung der Stange geht die Biegung wieder der ursprünglichen Richtung gemäß nach vorn, während die neugebildete Nebensprosse nach hinten steht. Der Bock heißt dann „stark“ oder ein „alter Bock“, sollte auch irgend eines der Nebenenden fehlen, denn jene Biegung giebt ihm allein Anspruch auf diese Bezeichnung.
So oft das neugebildete Gehörn vollständig zu Knochen erhärtet, fängt der Bock sich des umhüllenden absterbenden Bastes - nichts weiter als eine Fortsetzung der Haut oder „Decke“ des Thieres in etwas veränderter Gestalt - durch Reiben („Fegen“) zu entledigen an, und im fünften oder sechsten Monate nach dem Abwerfen des alten Gehörns erscheint dann das Thier bewehrt mit der verjüngten Zierde seines Hauptes. Durch das Fegen an der Rinde und dem Baste junger saftiger Holzarten entsteht die verschiedene Farbe des Gehörns, welche nichts als eine Beizung durch den Bastsaft ist. Vornehmlich wählt der Bock in Laubholzwaldungen unter andern den Trauben- oder Hirschhollunder, den Faulbeerstrauch, sowie die Erle zum Fegen. Im Nadelholz fegt er gerne an der jungen Edeltanne und der Lärche, dadurch oft bedeutenden Schaden in den Waldheegen anrichtend, besonders wenn diese beiden Nadelholzarten wie gewöhnlich im Laubholz eingesprengt vorkommen.
Der Spießbock betreibt im Frühjahr das Fegen mit einem Eifer, daß er sich zuweilen bis zur völligen Unvorsichtigkeit hinreißen läßt und in komischer Stellung an Büschen und zarten Stämmchen seinen jugendlichen Uebermuth ausläßt. Kein Wunder, wenn das Gehörn des Bocks durch das Reiben an dem lohreichen Baste der Erle, Edeltanne und Lärche besonders dunkel erscheint: die Lohe gerbt die poröse Substanz des Gehörns eben schwarzbraun. Einen deutlichen Beweis für diese Behauptung geben die anfänglich hell erscheinenden Stangen und ihr allmähliches Dunklerwerden beim fortschreitenden Fegen, sowie das stets hellere Aussehen der mehr gebrauchten Gehörnspitzen („Enden“) im Freileben und des ganzen Gehörns im Gefangenleben des Thieres, bei welch’ letzterem die
Farbe der Stangen sogar abgewaschen werden kann. –
[551] Es kommt nicht selten vor, daß starke Böcke kein Gehörn ausrecken, sondern nur Knöpfe ansetzen, namentlich zeigte sich dies im vorigen Jahre hier bei Alsfeld und in manchen anderen Gegenden. Von Mißbildungen des Gehörns („widersinnigem Gehörn“) gibt es im Freileben des Bocks, noch mehr aber in seinem Park- oder sonstigen Gefangenleben Beispiele der merkwürdigsten und mannigfaltigsten Art. Die Ursache ist meist in Verletzungen am Gehörn selbst zu suchen, welche sogar absichtlich von Solchen vorgenommen werden, welche einen besonderen Geschmack an Absonderlichkeiten haben. Sie werden aber auch hervorgerufen durch Verletzungen an den Geschlechtstheilen oder dem „Kurzwildpret“, wie es die Waidmannssprache eigenthümlich und zugleich schicklich bezeichnet. In inniger Wechselwirkung erscheinen Kurzwildpret und Gehörn: das zeigt die sichtliche Einwirkung von künstlichen und zufälligen Verletzungen oder Verstümmelungen an Ersterem auf die Bildung des Letzteren. Eine Entmannung hat fast immer das förmliche Versiechen der Gehörnerzeugungskraft zur Folge; nur ausnahmsweise kommen Gehörnneubildungen bei Castraten vor, welche jedoch immer als nicht zur Reife kommende Mißbildungen erscheinen. Auffallend sind hingegen die von uns mehrfach wahrgenommenen starken Gehörne bei kränkelnden Rehböcken oder sogenannten „Kümmerern“.
Die Zeit, der Monat Mai, ist da, wo die Rehgeis „setzt“ (je nach dem Alter Mutter eines, zweier oder gar dreier Kitzchen oder Kälbchen wird). Welche rührende Sorge und treue Anhänglichkeit äußert sie da! Der Feinde sich bewußt, die das zarte Leben des Lieblings bedrohen, wagt sie es nur, sich auf Augenblicke von dem Lagerplatz zu entfernen. Mit zitternder Angst vernimmt sie die Stimme des Räubers aus dem Walde oder aus der Luft, und wenn gar ein verkrüppeltes Kälbchen „gesetzt“ ist, deren eines ich vor mehreren Jahren durch Vermittlung des verewigten Roßmäßler in „Haus der Heimath“ abbilden ließ, wie müht sich da die Mutter ab, sein Verlangen zu stillen. Ueberall sind wunde Stellen am Boden wahrzunehmen, wo die Geis das „Gesäuge“ durch ihre Lage dem Kälbchen darzubieten suchte. Das Rufen des unbehülflichen und nicht zur Genüge gestillten Thierchens erfüllt den Waldraum und mehrt von Stunde zu Stunde die Gefahr. Der am meisten zu fürchtende Raubmörder vernimmt das „Fiepen“, welches ihn lüstern macht und ihm den Stand der Rehfamilie verräth. Doch nicht hier, wo er leichteres Spiel hat, sondern einem gesunden Kälbchen, welches der Geis zur Aeßung folgt, gegenüber mag er jetzt auf der Waldbühne erscheinen.
Auf einer Waldwiese, die einerseits von einer jungen Buchenheege, andererseits von Buchenhochwald begrenzt wird, erwarten wir einen starken Rehbock mit „ausgerecktem Gehörn“. Dort die dichtbelaubte junge Eiche in der heimlichen Waldwiese mag uns beim Ansitz decken
Immer weiter dehnen sich die Schatten aus, immer voller und lebhafter wird der Vögel Abendgesang. Plötzlich hören wir den störenden Schrei des im Dickicht aufgeschreckten Eichelhehers, und im nächsten Augenblick sehen wir ihn schon uns zu Häupten streichen, er bemerkt uns als scharfsichtiger Späher, macht, abermals schreiend, eine Wendung und strebt dann weiter dem Hochwalde zu. In der Richtung von jener Stelle her, wo der wachsame Vogel aufgeschreckt wurde, vernehmen wir ein leises Rauschen, dann zeigt sich, vorsichtig schreitend, eine alte Rehgeis. Am Rande der Heege bleibt sie stehen, sichert eine Weile und tritt nun etwas vertrauter auf die Wiese. Ihr folgt unmittelbar auf der Fährte das liebliche, buntscheckige Kälbchen. Mit dem eintretenden Gefühle der Sicherheit zeigt sich alsbald unbefangener und sorgloser der Verkehr zwischen Beiden. Während das Kälbchen die unerschöpfliche Quelle der Nahrung am mütterlichen „Gesäuge“ sucht, ergeht sich die Geis in allerlei Zärtlichkeiten gegen den kleinen Schützling oder „äßt sich“, von Zeit zu Zeit nur eine wiederkehrende, auffälligere Wachsamkeit nach verschiedenen Richtungen hin verratend. Urplötzlich wirft sie den Kopf in die Höhe, und gleich darauf hören wir dröhnende Sprünge und Rauschen, worauf der erwartete Bock in hohen Sätzen auf der Wiese erscheint. Erregt beugt er sich vor, sichert, und ehe ich mich entschließe, die Büchsflinte zu heben, stampft er auf, "schreckt“ (schreit) und „wird flüchtig“. Unmöglich kann er uns wahrgenommen haben, denn wir sitzen gedeckt und haben guten Wind. Aber siehe, nun wird auch das alte Reh unruhig. Wie es zittert! - Was raschelt von Neuem in den Hecken? Ein Fuchs! Dort schleicht er eben am Rande des Dickichts auf das Reh zu. Wie er mit den Augen blinzt und das untrügliche „Gehör“ regt, wie er jetzt thut, als ob er die friedlichsten Gedanken habe! Er kratzt, beleckt sich, wirft sich nieder in das Gras und wälzt sich auf den Maulwurfshaufen umher. Dabei schielt er beständig nach dem alten und jungen Reh, und sicherlich entgeht ihm keine ihrer Bewegungen. Es scheint, als wolle sich das alte Reh beruhigen, denn schon senkt es wieder den Kopf, um sich zu äßen. Da springt der Fuchs mit rüstigen Sätzen nach dem Kälbchen, das in sich zusammenfährt und fiepend bei der Mutter Schutz sucht. Wie ein Pfeil fliegt diese zwischen das Kleine und den Mörder und schlägt letzteren mittelst der Vorderläufe tapfer in die Flucht.
Wiederum sucht der Fuchs das alte Reh in Sorglosigkeit einzuwiegen. Zuweilen hat es den Anschein, als seien ihm alle Glieder am Leibe zerschlagen, so schlotternd, schleifend und trollend ist sein Gang. Er fängt an, sein ausersehenes Opfer zu umgehen, aber die treue Beschützerin weiß immer den rechten Standpunkt zur Abwehr zu wahren. Der immer lüsterner Werdende wiederholt seinen Angriff und bietet alle Kraft, Erfahrung und List auf, um zu seinem Ziele zu gelangen. Er läuft und springt in allerlei Wendungen, aber immer wieder muß er dem hartnäckigen Widerstand des alten Rehes weichen. Dieses entwickelt die ganze Schärfe seiner Sinne, die ganze Gewandtheit seines Körpers und bekundet einen so festen, aufopfernden Muth, daß man nichts mehr von der ursprünglichen sanften Natur an ihm wahrnimmt. Wahrlich ein rührendes Bild der zärtlichsten Mutterliebe! Wir sind empört über die Fuchsnatur und folgen mit ängstlich pochendem Herzen der weiteren Entwickelung des Schauspiels. Das Spannende, welchen Ausgang der Kampf nehmen werde, und der Gedanke an Bereicherung unserer Erfahrungen halten mich vom Gebrauch der Waffe ab. – Sieh' da, was regt sich dort im Gehege? Es schleicht ein Thier durch das hohe Gras im Rücken der beiden Rehe. Ein zweiter Fuchs! Der Gauner hat mit scharfen Sinnen die Gelegenheit ausgewittert und will sich jetzt mit gleichen Mordgedanken zu dem sonst Gemiedenen seiner Sippschaft schlagen. Doch schon hat das alte Reh den neuen Feind entdeckt, denn es wendet den Kopf nach ihm hin, und kaum hat er den ersten Sprung aus dem Versteck hervor nach dem Kälbchen gethan, so setzt die Mutter über dieses hinaus und schlägt auf den Anstürmenden wacker los. Der andere, schon etwas abgehetzte Fuchs sieht in seinem Gefährten einen Gehülfen seines Unternehmens (offenbar verstehen sich die beiden Räuber sogleich) und greift ermuthigt nochmals an. Aber wie vom Dämon besessen, springt das Reh stets zur rechten Zeit vor, der Raubgier stellt steh die immer regere Mutterliebe entgegen, wächst und wächst, bis das geängstete Thier von den erstaunlichen Anstrengungen nach und nach ermattet. Bei der eintretenden Schwäche der Geis wächst der Füchse Zuversicht und Dreistigkeit. Schon fürchten sie nicht mehr so sehr, wie anfänglich, die Schläge, und der Augenblick der Entscheidung naht.
Da donnert ein Schuß aus der gehobenen Büchsflinte, und wie vom Blitz erschlagen, sinkt der stärkere Fuchs nieder, während der schwächere der Dickung zueilt. Rasch wird der Schrotlauf auf ihn gerichtet und glücklich auch er noch erlegt. Wir eilen aus die Beute zu. Geis und Kälbchen sind im Geheege verschwunden. Wir überzeugen uns, daß die Kugel einen männlichen und die Schrote einen weiblichen Fuchs erlegt haben. Du hast es verdient, treue Mutter, von solchen Plagegeistern befreit zu werden, und nun kannst du mit deinem Kleinen vertraut zur Aeßung ziehen.
Diese tapfere That der Mutterliebe konnte nicht schöner verherrlicht werden, als es durch den Stift unsres Künstlers geschah.
Hundertfach zufriedener, als wenn wir den Bock erlegt hätten, machen wir uns über dessen Feigheit lustig, mit der er unbekümmert um die Drangsal des Sprößlings und der todesmuthigen Vertheidigerin desselben in einen anderen District „flüchtig wurde“.
[552]
Erinnerungen aus meinem Leben.
Die Masse des Volkes, und insbesondere die jüngere Generation hat schwerlich einen Begriff von dem Ringen und den Kämpfen einer verhältnißmäßig kleinen Zahl von Männern gegen die systematische Unterdrückung aller bürgerlichen Freiheit in der düsteren Zeit von 1832 bis 1848. Man sehe sich nur die mit jesuitischer Casuistik stylisirten despotischen Bundesbeschlüsse von 1832 bis 1846 an, welche das sogenannte „öffentliche Recht“ bildeten, und vergleiche damit die Cäsarengesetzgebung von Rom und Byzanz.
Die Volksvertretung, wo sie überhaupt bestand, bereits zu einem elenden Gaukelspiel herabdecretirt, überwacht, bespionirt und vergewaltigt, sollte noch weiter bis zur Fratze erniedrigt werden, jede freie Aeußerung in Wort und Schrift mit endlosen Untersuchungen, Haft und Kerkerstrafen verfolgt; unschuldige Bänder, Hüte und Mützen Grund zu ruinosen Verfolgungen; Preßfreiheit, Vereins- und Versammlungsrecht, Volksfeste verpönt; die Universitäten und andere Unterrichts-Einrichtungen zu Dressur-Anstalten „zerbrechlicher Werkzeuge“ (Blittersdorf’scher Ausdruck für Staatsdiener) entwürdigt, gefälschte Geschichtschreibung decorirt und empfohlen, ein Spionirsystem der raffinirtesten Art bundestaglich officiell organisirt und mit „schwarzen Büchern“ und Listen versehen, welche die Namen aller dem herrschenden Systeme Verdächtigen nicht blos des In-, sondern auch des Auslandes enthielten. Das Reisen war mit endlosen Formalitäten, Plackereien und polizeilichen Flegeleien verwürzt; Erholungsreisen und Besuche bei Freunden Gegenstand einer auf Schritt und Tritt nachschleichenden Ueberlauerung. Die Post war zur Dienerin der infamsten Inquisition geworden, das Briefgeheimniß existirte nicht, wohl aber eigene Cabinete mit einem Apparat von nachgemachten Siegeln, feinen Messern, Scheeren und ähnlichen Instrumenten zur Eröffnung der Briefe, Apparate zur Lösung und Wiederaufsetzung von Siegeln, Lösung von Oblaten und Leim. Diese niederträchtige Kunst war zu solcher Perfection gediehen und von höchst salonfähigen Personen prakticirt, daß das schärfste Auge nicht im Stande war, zu entdecken, daß der Brief eröffnet worden war, und doch lieferten uns die, ähnlich dem schwarzen Streusand, verkleinerten schwarzen Katzenhaare, vom Schreiber verabredetermaßen benützt, den Beweis. Sie waren beim Eröffnen der Briefe herausgefallen oder herausgeweht, entflogen. Gegenstand ganz besonderer Ueberwachung waren nicht blos die im Auslande lebenden politischen Flüchtlinge, sondern überhaupt alle freisinnigen oder nur im Verdachte der Freisinnigkeit stehende Männer und vor Allen die Abgeordneten ständischer Körperschaften. Ja es ging, wie wir uns mit eigenen Augen überzeugten, so weit, daß sogar die Consuln entfernter kleiner Staaten, zum Beispiel von Chili, Spionenberichte über Reden, Gesinnungen und Treiben der dort sich aufhaltenden Deutschen liefern mußten und richtig regelmäßig lieferten. Auf den Reissepässen waren geheime Zeichen angebracht, so daß jede deutsche Polizeibehörde wissen konnte, mit wem sie es zu thun habe. Das ging so weit, daß selbst auf Pässen in’s Ausland, insbesondere Frankreich, solche Zeichen angebracht waren, damit auch sofort Louis Philippe’s Polizei über das Individuum informirt sei. Ich selbst habe, als ich 1847 eine Reise durch Frankreich und nach Afrika unternahm, Erfahrung gemacht. Es fiel mir auf und ich war erstaunt über die Art und Weise, wie die französischen Polizeibehörden, deren Visas ich bedurfte, sofort, nachdem sie kaum den Paß überblickt, mir recht deutlich merken ließen, ich sei eine verdächtige Person. Ich untersuchte auf das Sorgfältigste meinen Paß und fand endlich in einem Winkelchen, kaum sichtbar, mit Bleistift die Buchstaben F. O. Ein Franzose, kein Verehrer Philippe’s und seines Systems, erklärte mir das Zeichen fait opposition d. h. der ist schwarz, auf den paßt auf!
Das Empörendste bei dem ganzen reactionären Treiben war dies, daß die Bundesbeschlüsse, Gesetze und Ordonnanzen in solcher Sprache und solchem Style abgfaßt waren, daß sie für die Philisterruhe sorgend aussahen und so glatt und vieldeutig ein fast harmloses Aussehen annahmen und nur gegen die „schlechten Kerle“ gerichtet schienen, während sie, analysirt und mit Beispielen, in welchen sie zur Anwendung kamen, zusammengehalten, sich als ein mit jesuitischer Schlauheit abgefaßtes Gewebe von Maschen, Schlingen, Fußeisen und Fallthüren darstellten, um mißliebige Personen in willkürliche Verhaftungen, Untersuchungen und Strafen zu bringen, besonders aber die Aengstlichen und Vorsichtigen zu schrecken. Das System der Hierarchie mit Inquisition und Ketzergerichten war auf den weltlichen Staat übertragen und für ihn zurecht geschnitten.
All’ diesem gewaltigen Rüstzeuge der Macht und ihren tausenden von Hülfsmitteln und Hülfsbütteln gegenüber stand ein verhältnißmäßig kleines Häuflein von Männern, entschlossen das heilige Feuer zu hüten und zu bewahren und einen ständigen Guerillakrieg gegen die verbündete feindliche Macht zu führen. Es thut nach einem Menschenalter und schweren Erlebnissen wonnig wohl, auf den Aufwand von Ausdauer, Muth, Scharfsinn, Schlauheit und List hinzublicken, der in diesem Kampfe gegen die Uebermacht aufgeboten wurde. War das gesammte Postwesen zum Polizeispion geworden, so hatten wir eine mit Etappen, Boten zu Fuß, Pferd und Wagen versehene Volkspost. Ja mit fürstlicher Extrapost reisten Briefe und Documente, und drinnen im Wagen saß die hochmüthig prunkende Macht. Die Schnüffler fühlten den verbotenen Verkehr, er umschwebte sie wie Banquo’s Geist, aber fassen konnten sie ihn nicht, bei der Volkspost dienten keine Verräther. Hatten sie ihre Polizeibureaux, Gensd’armen und Posten, um Flüchtlinge aus Deutschland, Polen etc. zu hetzen, so hatte die Action ihr Personal und ihre sichern Etappen, und welche Wollust, wenn es gelang, die Polizei zur unwissentlichen Gehülfin zu narren! Wie die geheime Presse arbeitete, davon ein Beispiel an den 1834er Beschlüssen. Jede Kirmeß ober sonstige Lustbarkeit wurde zur geheimen Volksversammlung der Gesinnungsgenossen. Der Kitzel, der mit allen Mitteln versehenen Uebermacht ein Paroli zu biegen, war so groß, daß alle persönliche Gefahr vergessen wurde und das Häuflein täglich anwuchs. Vergebens keuchte, hetzte, zappelte der Polizeistaat sich ab und häufte hinterher nur Dummheiten zu Bosheiten und machte damit Proselyten für die gerechte Sache; er wurde der Masse nicht blos unerträglich und verhaßt, sondern auch verächtlich. Sie lernten 1848, daß es stets Danaidenarbeit sein muß, wenn man den Volksgeist einfangen will. Sie haben Alles probirt, Nichts ist ihnen gelungen. Werden sie wohl klug gemacht sein? Ich glaube nicht.
Den leitenden Männern der Action war es längst klar, daß außer den veröffentlichten Beschlüssen, so reich ausgestattet auch dieser despotische Apparat war, noch geheime existirten, welche man darum zu publiciren nicht wagte, weil sie, das ganze schändliche System und sein Treiben enthüllend, ein wahrer Faustschlag in das Antlitz einer gebildeten Nation gewesen wären, daher die Ränke im Dunkeln arbeiten mußten.
Der unvergeßliche Carl von Rotteck scheint frühe positive Kenntniß von jenen geheim gehaltenen Beschlüssen gehabt zu haben, als er, wenn ich nicht irre, 1837 seine denkwürdige Motion „über die Gefahren des Vaterlandes“ begründete, über welche die [553] zweite badische Kammer zur Tagesordnung überging, obwohl der alte Mann, mit aufgehobenen Händen und Thränen in den Augen, ausrief. „Im Namen des Vaterlandes beschwöre ich Sie, schlagen Sie meine Motion nicht todt!“ Sie wurde todt gemacht.
Aus gewissen Andeutungen glaube ich annehmen zu dürfen, daß der auch von seinen Gegnern hochgeachtete Mann von einem Minister selbst Mittheilungen erhielt, einem Minister, zu dem er auf dem Standpunkte „Freund der Person, Feind der Sache“ stand, der, ein Bureaukrat vom reinsten Wasser, Monarchist aus tiefinnerster Ueberzeugung, aber ein weitsehender ehrlicher Mann, von der Unmöglichkeit der Durchführung des Metternich’schen Systems gegenüber der modernen Civilisation und geistigen Entwickelung des deutschen Volkes überzeugt war und außerdem der ewigen Bevormundung, der obligaten Rüffel und imperativen Dictate, welchen die kleineren Staaten unterworfen waren, ebenso müde gewesen ist, als sie für seinen Stolz kränkend waren.
Man gestatte mir hier eine kleine, den edlen von Rotteck charakterisirende Begebenheit einzuflechen. Rotteck war von der Stadt Freiburg zum Abgeordneten gewählt; die Zeit der düstersten Reaction brach herein, Pfaffen, Staatskrippenfresser, Adel und die ganze Heulmeierbande brachten eine Petition zu Stande, in welcher auf Ausschließung Rotteck’s aus der Volkskammer gedrungen wurde. Jeder, welcher nicht eine Sclavenseele im Leibe trug, war empört. Rotteck, schon seines Lehramts beraubt und vielfach anderweit verfolgt, sollte nun auch mit Eselstritten regalirt werden, er, der Alles dem Vaterlande, dem Volke, der Freiheit willig zum Opfer brachte. Auf einem Spaziergange konnte der Schreiber dieser Zeilen nicht umhin, die ferene Ruhe, die klare Heiterkeit und aufmerksame Liebenswürdigkeit des alten Mannes gegen die Gesellschaft, besonders die Damen, zu bewundern, des Mannes, dem kurz zuvor jene infame Kränkung in den schändlichsten Ausdrücken zugefügt war, und Schreiber dieser Zeilen, dessen ganzes Inneres vor Wuth über jene Niedertracht kochte, drückte diese Verwunderung gegen Rotteck aus, der solch’ unverdienten Schimpf und Schmach so gelassen und heiter trage. Da blieb der kleine Mann stehen, sah dem Schreiber, damals ein Mensch von einigen zwanzig Jahren, fest und freundlich in’s Auge und sagte, ihm die Hände auf die Schultern legend. „Junger Freund, sowie ich Sie ansehe und beobachtet habe, werden Sie dereinst im öffentlichen Leben vortreten. Wenn Sie dort irgend etwas unternehmen und verfechten, so thun Sie es nur allein aus reiner voller Ueberzeugung ohne Rücksicht auf Volksgunst oder Ungunst, dann werden Sie auch in düstern Lebenslagen so heiter und gelassen bleiben können, wie der alte Rotteck.“
Goldene, unvergeßliche, wahre und wahrhaftige Worte! Unablässig war man von Seiten der für bürgerliche Freiheit kämpfenden Männer bemüht, den Schleier zu lüften und in den Besitz jener geheimen Verschwörungsbeschlüsse der Talleyrand-Metternich’schen Legitimität zu gelangen. Es gelang endlich im Jahre 1843, zwei Jahre nachdem durch geheimen Bundesbeschlnß vom 29. Juli 1841 deren Gültigkeit und verbindliche Kraft auf weitere sechs Jahre verlängert worden war. Sie wirken heute noch fort und sind der permanente Polarstern aller Reaction. An einem heiteren Frühlingstage fand sich verabredetermaßen auf dem Landgut des alten Adam von Itzstein zu Hallgarten am Rhein, dicht beim Metternich’schen Johannisberge, eine Versammlung gleichgesinnter Männer ein, aus verschiedenen Theilen Deutschlands, worunter viele ständische Abgeordnete; Männer aus Preußen, Sachsen, den Thüringischen Staaten, Hessen, Nassau, Würtemberg und Baden. Es war die in gewissen Zeiträumen wiederkehrende gleichzeitige Eröffnung der Ständeversammlungen Sachsens, Würtembergs und Badens bevorstehend.
Schon früher hatten solche Zusammenkünfte stattgefunden, um durch gemeinschaftliche Berathung und Beschlußfassung, durch gemeinschaftliche Maßregeln und Schritte Einheit und damit Kraft in den Widerstand gegen die Reaction und Unterdrückung der bürgerlichen Freiheit zu bringen. Die meisten der gamals in Hallgarten Versammelten sind eingegangen zur ewigen Freiheit. Thomas Moore’s herrliches Gedicht. „Oft, in the stilly night“ will uns nicht aus dem Sinn, wenn wir auf die vergangene Zeit blicken.
Einige Namen der dort Versammelten mögen hier stehen: Robert Blum, von Watzdorf, v. Dieskau aus Sachsen, die Brüder Alfred und Ottmar Behr aus Köthen, die Gebrüder Leisler und Hergenhahn aus Wiesbaden, Römer und Andere aus Würtemberg, Gratz, Dupré und Andere aus Hessen, Itzstein, Welcker, Sander, Mathy, Bassermann, Farnow, Rindeschwender und Andere aus Baden. Es war eine zahlreiche Versammlung ernstgewillter Männer. Itzstein’s wie immer freundlichem und liebenswürdigem Benehmen war ein gewisser feierlicher Ernst beigemischt. Nachdem er sich im Geheimen mit sechs bis acht der Anwesenden berathen, wurden sämmtliche Gäste nach dem größten Salon des Hauses, nach dem Billardzimmer geführt; man nahm Platz, und Itzstein, ein Manuscript hoch in der Hand haltend, erklärte: endlich in den Besitz des Documentes der Verschwörung gegen das deutsche Volk gelangt zu sein. Feierliche Stille folgte seiner energischen, ausdrucksvollen kurzen Anrede. Der Ausdruck der Gesichter der Anwesenden, verbunden mit der feierlichen Stille, hatte etwas Großartiges, Imposantes. Drüben glitzerten im Sonnenschein die Fenster des Johannisberger Schlosses. Spannung, Erwartung, gewaltsam niedergehaltene Erregung, Hohn, Haß, Wuth, was eines Jeden Brust gerade erfüllte, malte sich auf den Gesichtern der schweigenden Versammlung. Die Vehme saß zu Gericht über die Verräter.
Itzstein händigte das Manuscript einem der Anwesenden, wenn ich mich recht erinnere, Robert Blum, zur Vorlesung ein. Langsam, feierlich, sonor und betont wurde das Actenstück verlesen, mit der größten Spannung hingen die Blicke der Anwesenden an den Lippen des Vorlesenden. Dann und wann wurde ein kurz ausgestoßener Ausruf des Einen oder des Anderen laut. „Pfui!“ „infam!“ „jetzt wird’s klar!“ – Wir hatten mit einem Mal den officiellen Schlüssel zum Gebahren der Minister in allen constitutionellen Lebensfragen, vom Urlaubsrecht der Staatsdiener, dem Steuerbewilligungsrecht der Stände, der Nichtbeeidigung des Militärs auf die Verfassung, der Preßknebelung und dem Censurunwesen, der Vernichtung der Lehrfreiheit, kurz, der ganze Volksknebelungs- und Verknechtungsapparat lag vor uns. Mir war es, als schritten die Schatten des ermordeten Pfarrers Weidig mit von Farrenschwanzhieben blutrüstigem Körper und zerschnittener Kehle und anderer todter Märtyrer, gleich den Eumeniden des Aeschylos, durch die Versammlung.
Daß die vollständige Enthüllung dieser Verschwörung gegen die Völker wie ein Sturm über das Land brausen und auch den Ungläubigsten und Blindesten, welche uns stets der Uebertreibung beschuldigten, die Augen öffnen müsse, daß der Einfluß der Veröffentlichung dieser geheimen Conferenzbeschlüsse auf die öffentliche Stimmung und Meinung ein unberechenbarer sein müsse, darüber war man sich allseitig klar.
Metternich sollte bald erfahren, daß ein System, welches auf Slovaken, Hannaken, Böhmaken, Grenzer und dergleichen Cultur berechnet war, nicht intelligenten Volkstämmen aufgezwängt werden könne. An der Echtheit des Documentes konnte kein Mensch zweifeln, welcher den parlamentarischen Kämpfen zwischen Regierungen und Ständen gefolgt war. Was vorher höchste Wahrscheinlichkeit war, lag als apodiktische Wahrheit vor uns. Aber um allen und jeden Zweifel gründlich zu heben, eröffnete Itzstein den Anwesenden, daß der Sohn eines deutschen Ministers diese Copie von der in dem Geheimarchiv seines Vater niedergelegten officiellen Ausfertigung Wort für Wort und genau genomnen und Itzstein und Blum eingehändigt habe.
An der Echtheit war sohin kein Zweifel, und in einer späteren geheimen Sitzung einer erwählten Commission der badischen Ständekammer, in welcher es ziemlich aufgeregt und stürmisch zuging, gab der badische Finanzminister von Boekh in seiner bekannten barschen und manchmal hochfahrenden Weise die Echtheit mit den Worten zu: „Sie sind nicht nur echt, sondern sie sind auch gut!“, eine Aeußerung, die eben nicht wie Oel auf die Wogen wirkte. Manchen der Anwesenden berührte es nachmals fast komisch, daß Welcker in seinem Buche „Wichtige Urkunden für den Rechtszustand deutscher Nation“ aus Gründen der äußeren und inneren Wahrscheinlichkeit mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt auf fast sechs Großactavseiten die Echtheit zu beweisen suchte, als ob er nie in Hallgarten dabei gesessen und nicht gewußt hätte, daß sofort auf sicherem Wege eine Copie derselben an den Herausgeber der „Deutschen Schnellpost“ in New-York, Herrn Eichthal, gesendet worden war. Natürlich that jenes Welcker nur, um die Spürnasen deutscher Polizei von der Fährte abzulenken.
Die Versammelten beschlossen sofort den Druck und die Verbreitung [554] des merkwürdigen Actenstücks. Viel war daran gelegen, daß keine Regierung des In- und Auslandes erfahre, wie, wo und von wem die Veröffentlichung ausgegangen sei. Alle freuten sich darauf, den gesammten polizeistaatlichen Apparat in nervöse Bewegung zu setzen und vergeblich sich abzappeln zu lassen. Vater Winter, der Heidelberger Bürgermeister und Buchhändler, die derbe ehrliche gute alte Haut, wies den Versammelten sofort nach, daß eigene, von den gebräuchlichen abweichende Typen müßten gegossen und nach vollendetem Druck sofort zerstört werden. Denn benütze man Typen, wie sie in den Schriftgießereien üblich und geliefert werden, so könne man leicht aus dem Druck die Typen, die Schriftgießerei und Druckerei und Drucker ermitteln. Er bemerkte ferner, daß Satz und Druck von Männern aus unserer Mitte müßte bewerkstelligt werden, und schlug dazu den leider zu früh verstorbenen Philologen und Philosophen A. Deeg vor, welcher denn auch seines Auftrages sich meisterhaft entledigte.
Aus dem Papier, aus dessen Format, Wasserzeichen und dergleichen könne man auf die Siebe und den Apparat zur Papierfabrikation schließen und die Papiermühle ermitteln, daher das zum Druck nöthige Papier aus besonders für diesen Zweck construirten Sieben und Geräthen hergestellt werden müsse. Winter setzte mit vielem Humor auseinander, wie die Spürhunde sich mit Cirkel, Maßstab, Vergrößerungsgläsern etc. vergebens abmühen würden.
So wurden Papier, Typen, Druck an verschiedenen Orten in verschiedenen Ländern, in Frankreich, Deutschland, der Schweiz und, als Viertem im Bunde, Nordamerika hergestellt, und die „Einbringung“ über die Grenze war für uns ein Leichtes; das hatte man seit Langem prakticirt. Und als jene drei Ständeversammlungen eröffnet wurden, da lagen, wie aus den Wolken geschneit, auf jedem Ministertische, auf jedem Sitze der Abgeordneten Exemplare der geheimen Wiener Conferenzbeschlüsse von 1834.
Die monarchische Polizei arbeitete im Schweiße ihres Angesichts, um hinter die Geschichte zu kommen – vergebens. Frustra – sed non gratis. (Zwar vergeblich – doch nicht umsonst.) Das Volk mußte deren lächerliche Arbeit bezahlen. Die Wirkung der Veröffentlichung jener geheimen Verschwörungsbeschlüsse war ungeheuer und nachhaltig, der Eindruck auf die Regierungsbänke niederschlagend. Von dort an wurde die Reaction bedenklicher, die Action schritt „im Zeug“ vorwärts.
Aus der Wandermappe der Gartenlaube.
Sollte es den Hohen dieser Erde, die zumeist doch den Glanz und die ungeheuren Vorrechte ihrer eximirten Stellungen mit einer unendlichen Einsamkeit, mit einem schauerlichen Alleinstehen theuer genug bezahlen müssen, zu verdenken sein, wenn sie hin und wieder ihre hohen leeren Säle verlassen, wenn sie entfliehen dem Prunk der Ehrenbezeigungen, die für sie doch längst den ersten berauschenden Zauber der Macht verloren haben müssen, um in der Natur, im Flüstern des Waldes, im Rauschen der Wellen, in seliger Bergeinsamkeit verwandte Stimmen zu suchen, die sie im Leben nur schwer, oft gar nicht finden?
Auch der Jüngste aller jetzt regierenden deutschen Fürsten, König Ludwig der Zweite von Baiern, hat der ernsten und trüben Stunden wohl schon so manche hinter sich, die gerade ihn, eine durchaus ideal angelegte Natur, veranlassen mögen, in den herrlichen Gegenden seines oberbaierischen Gebirges oft Trost und Entschädigung für so Manches zu suchen, was ihm seine Hauptstadt trotz all ihrer Schätze nicht bieten kann. Dieser so tief ausgesprochene Zug zur Natur im Charakter des jungen Herrschers, der ihn veranlaßt oft bis weit in den Winter hinein auf seinem einsamen Bergschloß Hohenschwangau zu verweilen und mit dem erwachenden Frühling wieder hinauszuziehen an die schönen Ufer des Starnberger Sees, um dort auf seinem Schlosse Berg die heißen Sommermonate zuzubringen, hat müßigen Zungen, unzufriedenen Hoflieferanten, denen der einfache Junggesellenhof des Königs zu wenig braucht, Anlaß genug zu viel überflüssigem Gerede gegeben.
Auch in München giebt es Leute die Menge, die es nicht ertragen können, daß der jetzt regierende Herrscher nicht im Soldatenspiel, nicht in kolossalen Bauten, oder in rauschenden Hoffesten seine Befriedigung findet, sondern glücklich ist, wenn er auf schäumendem Roß auf die höchsten Bergkuppen hinaufreitet, oder auf seinem Dampfer die blauen Wellen des Starnberger Sees durchkreuzt und mit verständnißinnigem Naturgenuß ein nach den ernstesten und höchsten Zielen strebendes Studium verbinden kann, und wenn er, den man menschenscheu nennt, lieber mit seinen Büchern verkehrt, als mit den seltsamen Exemplaren des Menschengeschlechts, die sich notwendigerweise, wie die Mücken zum Licht, so an den strahlenden Glanz des Hofes drängen.
Hohenschwangau ist das Eden des jungen Königs, und eines, um welches er sich beneiden lassen kann. Die Eisenbahn führt uns in die nächste Nähe der Burg auf dem Augsburg-Lindauer Strange, und zwar sind für den Eilreisenden Kaufbeuren, Kempten und Immenstadt die nächsten Haltepunkte. Das Ziel von da ist stets das gewerbsame Städtchen Füssen mit seiner malerischen Lage, seiner schönen Burg mit der prächtigen Aussicht dem Lechfall und dem seltsamen Wunder des Mangentritts, denn St. Magnus sprang hier über die Schlucht, so erzählt die Sage; den Fußtritt des Heiligen kann man heutzutage noch sehen. Wir gehen hier über die Lechbrücke und jenseits ein Stück den rasch fließenden grünen Strom abwärts, biegen dann rechts um die Ausläufer des Calvarienberges und um einen trotzigen Felskopf, den wir bald näher kennen lernen, denn auf demselben hoch über uns haben wir das Ziel unserer Wanderung vor uns. Unten aber winkt uns ein Haus, dessen Name allein schon verlockend und anmuthig klingt, das vielbelebte Wirthshaus „zur Alpenrose“, wo schon so mancher müde Wanderer gastliche Aufnahme und gute Herberge gefunden. Auch wir werden an dieser gastlichen Alpenrose nicht vorübergehen, sondern zuvor uns erfrischen, ehe wir einen der vielen Waldwege einschlagen, die auf allen Seiten den Berg hinauflaufen.
Der schattige Parkweg, welcher uns unter dem grünen Dom des herrlich sich wölbenden Laubdachs langsam bergan führt, ist die richtige Einleitung für das, was wir oben zu erwarten haben. Wem nicht hier schon unter den prächtigen Bäumen, durch die sich fort und fort neue entzückende Blicke auf wechselnde Aussichten bieten, das Herz aufgeht, wer hier nicht schon höher athmet, der, fürchte ich, wird auch oben nicht viel Genuß haben und wenig von dem Zauber empfinden, der gerade Hohenschwangau so mächtig umschwebt. Das ist jener Zauber, der uns so gern träumen läßt von den Zeiten, in denen hier zwar derselbe Wald rauschte, dort unten derselbe See in seiner Felsenkammer fluthete, aber andere Menschen durch diese Wälder schritten und dort oben in jenen Mauern wohnten; Menschen wie wir, aber mit anderen Zielen, Hoffnungen und Wünschen ausgestattet, in anderer Weise denkend und handelnd.
Die Veste, die wir jetzt Hohenschwangau nennen, führte einst den Namen Schwanstein; Hohenschwangau nannte man früher zwei Burgen, deren Ruinen heut zu Tage noch auf dem Berge Neudeck zu sehen sind. Daß hier Alles "schwant“ (Schwanstein, Hohenschwangau, Schwansee), weiß uns die Sage auf liebliche Weise zu erklären. Die allbekannte Sage, die den Stoff zum Wagner’schen „Lohengrin“ gegeben, lebt hier noch im Volksmunde. Dieselbe lautet folgendermaßen. "In grauer Vorzeit war eine fürstliche Jungfrau von hohem Gemüth und reinen Sitten Herrin auf der Burg. Als das edle Fräulein eines Tages auf der Zinne stand und weit in’s Land hineinschaute, kam ein schneeweißer Schwan auf dem See daher geschwommen, der zog einen goldenen Nachen, in dem ein schöner Jüngling schlief. Als derselbe erwachte und an das Land gestiegen war, grüßte er die Prinzessin mit so freundlichen Worten, daß das Fräulein Vertrauen gewann und ihn bat, ihr Ritter zu sein. Sie hatte nämlich einen bösen Oheim, der klagte die Verlassene vor dem Kaiser eines unehrbaren Wandels an und behauptete, ihr Bestiz sei an ihn verfallen. Der Kaiser befahl, daß ein Gottesgericht zwischen [555] Beiden entscheiden solle. Da erschien der Schwanenritter auf dem Richtplatz, bot sich der bedrängten Fürstin zum Verteidiger an und erschlug im Zweikampf den habgierigen Oheim. Zum Dank wählte ihn das Fräulein zu ihrem Herrn und Gemahl. Eines erbat sich aber der Ritter von der lieblichen Braut, just wie im Lohengrin.
‚Nie sollst Du mich befragen,
Noch Wissens Sorge tragen,
Woher ich kam der Fahrt,
Noch wie mein Nam’ und Art.‘
Und nun geht es auch weiter wie im Lohengrin. Die junge Frau kann die unselige Neugierde nicht zähmen und der Ritter verläßt, als die verhängnißvolle Frage gethan worden, stumm das Schloß. Unten am See harrt schon der Schwan mit dem goldenen Nachen, und Schwan und Ritter sah man niemals wieder.“ Von der Zeit, wo der echte Sagenheld auf den blauen Fluthen des Sees herangeschwommen, bis zu jener, wo ein junger hochpoetisch gesinnter König die alte Sage neu in Scene setzen ließ und der Sprosse eines unserer ältesten Fürstengeschlechter, das heutzutage noch in der alten Bischofsstadt an der Donau residirt, als moderner Lohengrin unter den Klängen der Regimentsmusik, auch vom Schwan gezogen, den blauen See durchzog – welch’ ein Wechsel der Zeiten, welche gewaltigen Bilder von Blüthe und Tod, von Entstehen und Vergehen! Wem hier nicht das Wort des alten jüdischen Königs. „Es ist aber Alles, Alles eitel“ in’s Gedächtniß kommt, der muß sehr sorglos und sehr leichtsinnig durchs Leben gehen.
Hier saßen die Welfen, als die Macht des stolzen Geschlechts bereits gefestigt war. Im Jahre 1191 kam der ganze Lechrain, also auch dieser abgelegene Bergwinkel mit seinen vielen Burgen, durch Kauf an die Herzoge von Schwaben aus dem Hause der Hohenstaufen, deren letzter Sprosse, der edle Conradin, hier von seiner Mutter Abschied nahm, um als eines der erlauchtesten Opfer des alten Sehnsuchtsdranges der Deutschen nach Italien, auf dem Schaffot Karl’s von Anjou in Neapel sein junges Leben zu lassen. Unter den Hohenstaufen blühte aber auch auf Schwanstein Sang, Dichtkunst und edler Frauendienst, und Wiltibold von Schwangau heißt ihr Tannhäuser, dessen Minnelieder sich theilweise noch bis zu unsern Tagen erhalten haben.
Nach dem Tode des letzten Staufen fiel der Lechrain mit Schwangau nach testamentarischer Verfügung des edlen Conradin an seine beiden Ohme, die Herzoge Ludwig und Heinrich von Baiern. Das vierzehnte bis sechszehnte Jahrhundert brachte auch über Schwangau manchen Besitzwechsel, wir wissen aber, daß bis 1536 die Schwangauer auf der Burg saßen. Ueber die Zeit von 1536 bis 1567 breitet das als „Roman und Geschichte“ bezeichnete große, den Namen „Hohenschwangau“ tragende Werk Karl Gutzkow’s sich aus. ob wir auch Martin Luther zu den berühmten Gästen der Burg zu zählen haben, läßt er unentschieden; dagegen soll ein Gemälde daselbst diesen Besuch des flüchtigen Mönchs darstellen.
Nach dem Aussterben der Schwangauer zogen weniger glänzende Tage für Hohenschwangau vorüber; bis endlich die Ausfälle der Tiroler im Jahre 1809 die ehemals so stolze Veste ganz zur Ruine machten. So weit war es mit dem glänzenden Fürstensitz gekommen, daß ein Bauer die Reste derselben um zweihundert Gulden auf den Abbruch kaufte. Um diesen zu verhindern, übernahm der Fürst von Oettingen-Wallerstein die Ruine um zweihundertundfünfzig Gulden, von ihm kaufte sie der bekannte Topograph Sommer und von diesem endlich im Jahre 1832 der damalige Kronprinz Maximilian von Baiern.
Nun blühte für Hohenschwangau ein neues frisches Leben herauf, es wurde gemauert und gezimmert, daß die stillen Waldthäler laut wurden, und mit überraschender Schnelligkeit erhob sich aus dem Schutt und Gräuel der Zerstörung das herrliche Schloß mit seinen zackigen Mauern, den schönen, kühnen Erkern und den schlanken Thürmen. Dann kamen von allen Seiten die frohen Künstler, und die Maler malten die Geschichte längst vergangener Tage an die Wände, die Bildhauer meißelten in Stein die Gestalten der großen Männer, die hier gewaltet, und beide vereinigten sich mit den mannigfachen Kunstgewerben, um dieses Eden zu vollenden. Auf dem von ihm geschaffenen herrlichen Fürstensitz verlebte König Max als Kronprinz, fern von allen Wirren einer Politik, die er nicht billigen konnte, im Schooße seiner Familie heitere, sonnige Tage, auf Hohenschwangau wuchs König Ludwig der Zweite, der jetzige Regent Baierns, heran, und dies seltene Beispiel eines wahrhaft reinen, den höchsten Idealen zugewandten Strebens, das uns Kindern einer nüchternen Zeit bei einem jungen Fürsten, dem alle Lebensgenüsse zu Gebote stehen, oft so unbegreiflich erscheinen will, wird uns schon verständlicher, wenn wir Hohenschwangau gesehen haben und bedenken, daß eine Jugend, die unter solcher Umgebung herangewachsen, nothwendiger Weise so mächtige Eindrücke mit in’s reifere Alter hinüber nehmen mußte. Und wie die verwittwete Königin Marie hier als an dem Schauplatze ihres reinsten Glücks stets am liebsten weilt, ebenso zieht es den jetzigen König fort und fort wieder zu den Stätten hin, wo er nach reiner einfacher Menschenweise hatte Kind sein und Jüngling werden dürfen.
Es war die schönste Sommerzeit, als ich zuletzt die Burg besuchte. Hat man die beiden wappengeschmückten Thore hinter sich, so weht uns auf dem seltsam-heimlichen Burghof der köstliche Duft der Lindenblüten entgegen. Auf Hohenschwangau durfte freilich der heilige Baum der Sage und Poesie nicht fehlen. Unter dem dichten Schatten seines grünen Laubdachs sprudelt ein frischer Quell, darüber thront ein frommes Madonnenbild. In der dunklen Laube stehen Bank und Tisch von Stein, einladend zum kühlen Morgentrunk im schattigen Grün, drüben wieder locken andere Bänke zur herrlichen Aussicht. Auf der Terrasse wirft der aus unzähligen Abbildungen bekannte herrliche Löwenbrunnen, getreu nach seinem berühmten Vorbild in der Alhambra modellirt, das klare Wasser an vierzig Fuß hoch empor, wetteifernd mit dem nicht minder schönen Schwanenbrunnen, dessen gußeiserner Schwan aus senkrecht emporgehobenem Schnabel fort und fort das kühle Element spendet.
Südliche Gewächse blühen und duften an der steinernen Treppe zum Haupteingang, in der Vorhalle grüßen uns die Worte:
„Willkommen, Wandrer, holde Frau’n!
Die Sorge gebt dahin!
Laßt Eure Seele sich vertrau’n
Der Dichtung heitrem Sinn.“
Wir durchschreiten hierauf eine Halle, in welche durch die bemalten Fenster nur spärliches Licht fällt, bewundern die schönen Rüstungen und Waffen, freuen uns des naiven Verses über der Thür zum Weinkeller, der da beginnt.
"Ich grüß’ dich, du edle Leibsalben,
Du arzneist mich allenthalben“ etc.
und bedauern nur, daß selbstverständlich der Gebrauch der Apotheke, in welcher diese „edle Leibsalben“ verabreicht wird, den das Schloß besuchenden Fremden nicht frei steht. Im ersten Stock beginnt dann die lange Reihe der Gemächer, an deren Wänden die bekannten Meister Ruben, Neher, L. Quaglio, Lindenschmitt, A. Adam-Gliek in eigenen und namentlich in den herrlichen Entwürfen Schwind’s die glorreiche Vorzeit Hohenschwangau’s in Sage und Geschichten mit freudigem Pinsel verherrlichten. Wollten wir auf alle die einzelnen Gemälde, die da im Schwanritter-, Schyren-, Orient-, Helden-, Hohenstaufen-, Welfen-Saal, im Bertha-, Damen-, Tasso- und Antheris-Zimmer prangen, näher eingehen, so gäbe das ein Buch. Leider wurden uns die besten Bilder im Tassozimmer, welche nach Schwind's Entwürfen die unsterbliche Liebesgeschichte Rinaldo’s und Armidens verherrlichen, nicht gezeigt, weil sie zu schön, das ist zu verführerisch sein sollen; ebenso wenig konnten wir wegen Anwesenheit des Königs Einlaß in das berühmte Schlafgemach erhalten, von dem so viel gefabelt wird, das aber factisch an seiner Decken nicht nur den schönsten Sternenhimmel, sondern auch einen prachtvollen Mond enthalten soll, der durch einen sinnreichen Mechanismus alle seine Functionen, das Leuchten und das Auf- und Untergehen, gerade wie in der Natur, verrichtet.
Auch den berühmten Felsenbädern stattete ich meinen Besuch ab, von welchen das eine mit seiner wunderbaren Rosa-Beleuchtung und dem unvergleichlichen Blick durch das in die Wölbung des Felsens gebrochene Fenster auf die schwindelnd hoch sich aufbauende Burg mich geradezu in die Zeit der Feenmärchen zurückversetzte. Dem durch die rosige Dämmerung seltsam erregten Auge thut nachher die wundervolle Aussicht über See und Berg und grünen Wald doppelt wohl und wir verlassen jetzt, obwohl nur zögernden Schrittes, das schöne Schloß, um uns auch die Wunder anzusehen, die rundherum die Natur in verschwenderischer Fülle bietet.
[556][557] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [558] Unsere Schritte lenken sich zuerst zur "Jugend“, welchen poetischen Namen eine Waldblöße trägt, von der aus ganz Hohenschwangau mit einem Blick übersehen werden kann. Das ist die unvergleichlich schöne Aussicht, die der geschickte Griffel unseres wackern Künstlers auf das Papier gebannt hat. Die so äußerst glückliche Lage des Schlosses zeigt sich uns hier recht deutlich. Rechts vom Beschauer dehnt sich der Schwansee, links der Alpsee, im Hintergrunde thürmen sich die Berge, die schon größtenteils Tirol angehören. Neben dem Mittelbilde zeigt sich uns rechts die malerische Pöllatschlucht mit dem Pöllatfall und der kühn darüberhin geworfenen Marienbrücke, die hinauf zu den Gemsenständen des Tegelberges führt, links sehen wir eine reizende Idylle, das Landhaus und einen Lieblingsaufenthalt der verwittweten Königin in der Blekenau, auch Plökenau genannt. Ueber diesem Bilde zeigt sich der Kirchthurm von Pinzwang oder Binswang, dessen Kirche zum Schmuck dieser Thäler gehört, im Hintergrunde der hochragende Säuling, der König dieses Gebirges. Unter dem Landhaus der Königin ist Weißensee, das großartig gelegene Kirchdorf, hinter seiner gleichnamigen Wasserfläche abgebildet, daneben im Mittelbilde Füssen, dann folgt der einsame Allatsee, von welchem aus man in einem Stündchen nach dem tirolischen Städtchen Vils gelangt, das wir im obersten Bilde vor uns haben, während uns das obere Mittelbild noch den Plansee zeigt, der zu den reizendsten Seen des ganzen Gebirgs gehört.
Daß es noch außerdem, namentlich nach Tirol hinein, der schönsten Punkte in Menge giebt, bedarf wohl kaum einer Erwähnung, alle diejenigen, welche die Partie über Reutte und den Plansee in’s Graswangthal, oder in’s Loisachthal nach Garmisch, oder endlich über den berühmten Fernpaß in’s Innthal gemacht haben, werden die entzückende Schönheit dieser großartigen Natur nie vergessen. Weit davon entfernt den Strom genußsüchtigen oberflächlichen Reisepöbels in diese stillen Thäler hineinziehen zu wollen, möchten wir doch den Freund echter Naturgenüsse darauf aufmerksam machen, daß er diese nicht leicht irgendwo so findet wie hier, und wer mit dem Sinn für Naturschönheit den für Kunst und eingehendes Verständniß für Sage und Geschichte mitbringt, der wird sich keinen schönern und belohnendern Aufenthalt zur Sommerfrische aussuchen als Hohenschwangau.
Eine Prinzenehe.
Ende der Siebenziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zählte Richmond Hick unter den Bewohnern seiner Landhäuser auch die junge und schöne Mrs. Maria Fitzherbert. Die Dame war mit fünfundzwanzig Jahren das zweite Mal Wittwe geworden ihre erste Ehe mit Edward Weld Esquire von Helworth Castle hatte der Tod schon nach wenigen Monaten gelöst. Mrs. Fitzherbert besaß eine Rente von zweitausend Pfund Sterling und bewegte sich in der Londoner guten Gesellschaft, doch in der eingezogenen Weise, wie es einer Wittwe geziemt. Der Prinz von Wales, der Sohn Georg’s des Dritten, sah sie und empfing von ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit solchen Eindruck, daß er sich bald in auffälliger Weise um sie bemühte. Manche Zeitgenossen wollten einige Worte eines damals vielgesungenen Liedes darauf beziehen.
„Meine Kronen wären mir feil,
Würde die Schöne von Richmond Hill mir zu Theil!“
Mrs. Fitzherbert, eben so klug als ehrbar und schön, zeigte sich durchaus nicht geschmeichelt durch die Aufmerksamkeit des Prinzen und setzte seiner Bewerbung große Sprödigkeit entgegen, bis er endlich auf ein seltsames Mittel verfiel, ihr Herz zu rühren.
Eines Tages erschienen bei Mrs. Fitzherbert der Wundarzt Keit, Lord Onslow, Lord Southampton und Mr. Edward Bowerie, welche Alle zur Umgebung und Gesellschaft des Prinzen von Wales gehörten; die Herren trugen die größte Bestürzung zur Schau und theilten der Dame mit, der Prinz schwebe in Folge eines Selbstmordversuchs in Lebensgefahr und nur ihre Gegenwart könne ihn retten. Mrs. Fitzherbert, welche eine Falle vermuthete, erklärte jedoch trotz aller Bitten und Vorstellungen, daß nichts sie vermögen werde, Carlton House, die Residenz des Prinzen, zu betreten. Schließlich machte die Verzweiflung der Abgesandten sie aber wankend, und sie glaubte an die Wahrheit des Vorfalls; doch um ihren Ruf zu schützen, ließ sie sich zu dem verlangten Besuch nur unter der Bedingung herbei, daß eine Herzogin sie begleite. Man forderte die Herzogin von Devonshire hierzu auf, welche sich auch nicht weigerte, und von ihrem Palast Devonshire-House aus begab Mrs. Fitzherbert sich zum Prinzen.
Sie fand ihn bleich, mit Blut bedeckt auf seinem Bette liegen. Dieser Anblick rührte und übermannte sie dermaßen, daß sie fast die Besinnung verlor. Der Prinz schwor, daß nur ihr Versprechen, sein Weib zu werden, und die Erlaubniß, ihr einen Ring als Zeichen des Verlöbnisses an den Finger zu stecken, ihn bewegen werde am Leben zu bleiben. Sie ließ es geschehen und die Herzogin gab dazu einen ihrer Ringe her. Nach Devonshire-House zurückgekehrt, wurde eine Schrift mit der Erzählung des Hergangs aufgesetzt und von den Augenzeugen unterzeichnet. Des andern Tags bei ruhigerer Betrachtung fühlte Mrs. Fitzherbert Zweifel und Unruhe und sie sandte einen Protest an Lord Southampton, in dem sie erklärte, daß sie nur unter dem Druck der Ereignisse gehandelt habe. Gleich darauf verließ sie England und zog sich nach Aachen und dann nach Holland zurück. Der Generalstatthalter Prinz von Oranien und seine Familie erwiesen ihr große Höflichkeit und Freundlichkeit; da nun damals die Verbindung einer Prinzessin von Oranien mit dem Prinzen von Wales der Gegenstand von Verhandlungen zwischen der englischen und holländischen Regierung war, so wurde Mrs. Fitzherbert durch ihre Beziehungen zu der Prinzessin in nicht geringe Verlegenheit gebracht. Doch hat sie jederzeit versichert, es sei damals ihr aufrichtiger Wunsch gewesen, ihr Verlöbniß zu lösen. Auch das nächste Jahr hindurch versuchte sie ihre Verbindung mit dem Prinzen hinauszuschieben. Bis nach Frankreich und in die Schweiz, wohin sie von Holland aus gegangen, folgten ihr Couriere mit Briefen und Anträgen des Prinzen. Die französische Regierung schöpfte aus der großen Anzahl derselben Verdacht und ließ zu drei verschiedenen Zeiten Boten anhalten und in’s Gefängniß werfen. Einer dieser Briefe enthielt siebenunddreißig von der Hand des Prinzen geschriebene Seiten; unter Anderem gab er darin an, daß sein Vater mit der gewünschten Verbindung einverstanden sei.
Endlich gab Mrs. Fitzherbert nach und ihre Einwilligung, des Prinzen Gattin zu werden, unter gewissen Bedingungen, welche ihr Gewissen beruhigten, da nach dem Wortlaut des Gesetzes diese Ehe nicht anerkannt werden konnte. Sie kehrte nach England zurück, und unmittelbar darauf wurde sie mit dem Prinzen im Empfangszimmer ihres Hauses durch einen protestantischen Geistlichen getraut. Die Trauzeugen waren: der Oheim der Braut, Starry Errington, ihr Bruder Jack Smythe und der Geistliche, welcher sie eingesegnet hatte. Das Document, welches die Zeugen unterzeichneten, war durchaus von der Hand des Prinzen geschrieben und mit seiner und Mrs. Fitzherbert’s Unterschrift versehen.
Der Charakter des Prinzen war nicht geeignet, eine Frau glücklich zu machen. The first gentleman of Europe nannte man ihn später – doch ausgenommen große persönliche Liebenswürdigkeit, besaß er keine Eigenschaft, die ihn jener Vezeichnung würdig gemacht hätte. Seine Ausschweifungen und seine Verschwendung brachten ihn fortwährend in Geldverlegenheit, und die ihm ausgeworfene Apanage erwies sich für seine Bedürfnisse als weitaus ungenügend. Der König weigerte sich seinem Sohne zu Hülfe zu kommen und so ließ dieser endlich durch seine Freunde im Parlament die Erhöhung seines Einkommens beantragen; bei dieser Gelegenheit kam auch die Verbindung des Prinzen mit Mrs. Fitzherbert zur Sprache. Mancherlei der Wahrheit sehr nahe kommende Gerüchte waren in Umlauf und man richtete an Fox, den Freund und Vertrautem des Prinzen, die Frage, wie es sich damit verhalte. Da nun nach einem Gesetze die Ehe mit einer Katholikin – dies war Mrs. Fitzherbert – von der Thronfolge ausschließt, widersprach Fox jedem solchen Gerüchte aus das Bestimmteste. [559] Das Parlamentsglied Mr. Rolle fragte noch, ob Fox ermächtigt sei, diese Erklärung abzugeben, was dieser ebenso bestimmt bejahte. Mrs. Fitzherbert, empört über diese ihr angethane Schmach, wollte den Prinzen augenblicklich verlassen, und nur das eifrigste Zureden und die wiederholten Versicherungen desselben, Fox habe ohne seinen Auftrag gehandelt, vermochten sie davon abzuhalten. In ihrer Gegenwart forderte der Prinz Mr. Gray zu einer Berichtigung von Fox’s Worten im Parlament auf; dieser lehnte ab, weil er nicht geneigt war, Fox zu widersprechen und so übernahm es Sheridan, doch leistete er keine Ehrenerklärung, sondern forderte seine Collegen nur auf, aus Rücksicht für die dabei betheiligte liebenswürdige und ehrenwerthe Dame die Sache nicht weiter zu verfolgen. Eine Entschädigung und Genugthuung wurde jedoch der Dame von Seiten der Londoner Gesellschaft zu Theil, indem den Tag, nachdem Fox seine anzügliche Rede gehalten, Mrs. Fitzherbert so viele Besuche der angesehensten und vornehmsten Personen erhielt, daß, wie sie sich selbst ausdrückte, der Thürklopfer ihres Hauses nicht eine Minute ruhig blieb und sie ihr Empfangzimmer keinen Augenblick verlassen konnte.
Die erste Trennung Mrs. Fitzherbert’s von dem Prinzen erfolgte plötzlich und unerwartet; sie erhielt die erste Anzeige hiervon durch ein Billet, welches ihr übergeben wurde, als sie eben mit dem Bruder des Prinzen von Wales, dem Herzog von Clarence, sich zu Tische setzen wollte. Von dieser Zeit an sah sie den Prinzen nicht mehr, welcher bald darauf sich mit der Prinzessin von Braunschweig vermählte. Nach der Meinung Mrs. Fitzherbert’s waren die Schulden des Prinzen, welche das Parlament im Falle seiner standesgemäßen Vermählung zu tilgen versprochen hatte, sowie der Einfluß einer Geliebten, Lady Jersey, welche einen hohen Posten im Hofstaat einzunehmen wünschte, seine Hauptbeweggründe zu diesem Schritte.
Wie unglücklich diese Ehe ausfiel, ist bekannt. Der Prinz entfernte sich schon nach Jahresfrist von seiner Gemahlin, gegen die er eine außerordentliche Abneigung hegte, und suchte erst vorsichtig und dann mit der früheren Leidenschaft und Heftigkeit sich Mrs. Fitzherbert zu nähern und wieder mit ihr in Verbindung zu treten. Ihre Freunde, unter welche sie alle königlichen Prinzen zählen konnte, waren ihr treu geblieben, und auch von König und Königin hatte sie fortwährend Gunstbezeigungen erhalten, jetzt bemühten sich sogar Mitglieder der königlichen Familie, ihre Versöhnung mit dem Prinzen herbeizuführen. Möglich, daß man hierdurch hohen Ortes einer schlimmeren Alternative vorzubeugen wünschte. Mrs. Fitzherbert, von allen Seiten gedrängt und in Zweifel, was eigentlich ihre Pflicht sei, unterbreitete diesen Gewissensfall dem Papste. Die Antwort war ein Breve aus Rom, worin sie angewiesen wurde, sich wieder mit dem Prinzen zu vereinigen. Sie gehorchte; doch verlangte sie, daß diese Vereinigung öffentlich geschehe und nicht in der Stille, wie der Prinz wünschte, und an dem Tage, wo er wieder zum ersten Male ihr Haus betrat, lud sie eine große Gesellschaft zu einem feierlichen Frühstück, obgleich, wie sie Mr. Longdale sagte, sie kaum wußte, wie diese Prüfung zu überstehen.
Die folgenden acht Jahre waren, wie Mrs. Fitzherbert sagte, die glücklichsten ihrer Verbindung, obgleich das Paar sich oft in solcher Geldverlegenheit befand, daß, als einst eine Uebersiedlung von Brighton nach London beschlossen wurde, der Prinz und Mrs. Fitzherbert gemeinschaftlich nicht mehr fünf Pfund Sterling aufbrachten. Bei dieser Gelegenheit wollte ein alter Hausdiener ihnen mit Gewalt sechszig Pfund Sterling, welche er sich in ihren Diensten erspart hatte, aufdringen und ließ sich mit seinem Anerbieten kaum abweisen Die zweite und dauernde Trennung Mrs. Fitzherbert’s von dem Prinzen erwuchs aus der Liebschaft desselben mit Lady Hertford. Mrs. Fitzherbert war mit der Lady befreundet gewesen und sah sich genöthigt, ihre Verwendung in Anspruch zu nehmen, damit ihr nicht die Vormundschaft über ihre Adoptivtochter Mrs. Seymour entzogen werde. Die vielen Kränkungen und Demüthigungen, welchen sie sich damals ausgesetzt sah und die sie sich gefallen lassen mußte, aus Furcht, das Kind könne ihr sonst genommen werden, zerstörten fast ihre Gesundheit. Es kam vor, daß der Prinz, der die Vormittage fast immer in Mrs. Fitzherbert’s Hause in Brighton zubrachte, nachdem er auf das Freundlichste von ihr geschieden, sie, wenn er ihrer Nachmittags im Pavillon ansichtig wurde, nicht zu kennen schien – nur um Lady Hertford keinen Anlaß zur Unzufriedenheit zu geben.
Ein Diner zu Ehren Ludwig's des Achtzehnten, von dem Prinzen veranstaltet, gab schließlich Veranlassung zu vollständiger Lösung der Verbindung. Bis dahin war, aus Rücksicht für Mrs. Fitzherbert, bei solchen Gelegenheiten keinerlei Etiquette in Bezug auf die Reihenfolge der Plätze bei Tische beobachtet worden; diesmal meldete man ihr, daß die Gäste nach ihrem Range sitzen sollten. „Wo wird denn mein Platz sein?“ fragte sie den Prinzen, und er antwortete. „Sie wissen, Madame, daß Sie keinen Platz haben.“ „Ganz richtig,“ erwiderte Mrs. Fitzherbert, „keinen, als welchen Sie, Sir, für gut befunden, mir anzuweisen.“ Sie entfernte sich und ließ der königlichen Familie kund thun, daß von nun an ihre Verbindung mit dem Prinzen von Wales unwiderruflich ein Ende haben müste. Da jede Vermittlung, welche der Herzog von York versuchte, ohne Erfolg blieb, gab die Königin Charlotte und die Prinzen endlich widerstrebend ihre Einwilligung, und von diesem Tage an öffnete Mrs. Fitzherbert nie mehr ihr Haus dem Prinzregenten
Am Abend des Tages ihrer Trennung war Mrs. Fitzherbert gezwungen, einer Gesellschaft in Devonshire-House beizuwohnen, und die Herzogin forderte sie auf, den Herzog, welcher an der Gicht krank, auf seinem Zimmer zu besuchen. Als sie am Arme der Herzogin die Zimmer durchschritt, erblickte sie in einem den Prinzregenten tête-â-tête in eifrigem Gespräch mit Lady Hertford. Die Erinnerungen, welche bei diesem Anblick auf die arme Frau einstürmten (die Herzogin von Devonshire-House war Zeugin ihrer Verlobung mit dem Prinzen gewesen), brachten sie einer Ohnmacht nahe, sie überwand jedoch diese Anwandlung von Schwäche, trank ein Glas Wasser und schritt ruhig weiter.
Während der letztem Krankheit Georg’s des Vierten schrieb Mrs. Fitzherbert an ihn und bot ihm ihre Dienste und ihre Pflege an, er soll sehr gerührt gewesen sein bei Empfang des Schreibens, aber er war nicht mehr an Stande es zu beantworten. Nach seinem Tode zeigte der Herzog von Wellington der Dame an, daß der König wiederholt befohlen hatte, ein gewisses Bild an einem Bande seiner Leiche um den Hals zu hängen und in die Gruft mitzugeben – und aus dem Umstand, daß Mrs. Fitzherbert’s Bild nicht unter der Verlassenschaft zu finden, schließe er, daß es dieses gewesen. Der Bischof von Chichester bestätigte diese Erzählung, da er das Portrait auf der Brust des Königs im Sarge gesehen hatte. Es scheint also, als habe einige Zuneigung für Mrs. Fitzherbert bis zuletzt bei ihrem Gemahl bestanden; vielleicht hatte er auch Reue über sein gewissenloses Verfahren gegen sie gefühlt.
Nach Georg’s des Vierten Tode begab sich Mrs. Fitzherbert in ihr Haus nach Brighton. König Wilhelm der Vierte, sein Nachfolger, als Herzog von Clarence ihr befreundet, ließ sie wiederholt auffordern, ihn zu besuchen, und sandte endlich die Anfrage, warum sie seiner Aufforderung nicht nachkomme. Sie erwiderte, die schwierige Stellung, in der sie sich befinde, ließe sie wünschen, Seine Majestät möchte ihr früher die Ehre erweisen, sie in ihrem Hause aufzusuchen, damit sie die Befehle und den Rath des Königs einholen könne. Wilhelm der Vierte kam auch bald, und Mrs. Fitzherbert legte ihm ihre Documente vor: den Trauschein, einen Brief des Prinzen von Wales an sie, in den zärtlichsten Ausdrücken abgefaßt, und worin er sie wiederholt seine rechtmäßige Gattin nennt, und mehrere andere wichtige Papiere. Bei der Durchsicht derselben traten dem König die Thränen in die Augen und er fragte Mrs. Fitzherbert, was er thun könne, um sie für das erlittene Unrecht zu entschädigen und ihr seine Bewunderung und Anerkennung der Geduld und Langmuth, die sie zeither bewiesen, kund zu thun. Er war bereit sie zur Herzogin zu ernennen. Dankend weigerte sie sich dessen. „Ich habe bis nun immer den Namen Fitzherbert geführt und ich glaube in Ehren, ich will ihn auch jetzt nicht gegen einen anderen vertauschen“ –
Lange vorher schon hätte sie das Herzogskrönlein erhalten können. Fox hatte es ihr angetragen, um sie, die seit dem Vorfall im Parlament nie mehr ein Wort mit ihm sprach, zu versöhnen war aber damit abgewiesen worden. –
Wilhelm der Vierte forderte nun Mrs. Fitzherbert auf, Trauer für seinen Bruder anzulegen, und bestand darauf, daß sie ihre Dienerschaft in die königliche Livree kleide. Auch bat er, sie möge den nächsten Sonntag mit ihm und seiner Familie speisen; als sie angefahren kam, eilte er die Treppen hinunter, sie zu [560] empfangen, hob sie aus dem Wagen und stellte sie der königlichen Familie als eine Angehörige vor. Er änderte auch sein Benehmen nie und bewies ihr bei jeder Gelegenheit die gleiche Aufmerksamkeit und Achtung. Die freundliche, entgegenkommende Aufnahme, welche Mrs. Fitzherbert von Seiten der Familie Louis Philippe’s, während ihres Aufenthalts zu Paris im Jahre 1833, zu Theil wurde, schrieb sie ebenfalls König Wilhelm dem Vierten zu.
Oft und eingehend besprach der gutmüthige König auch mit ihr die Angelegenheit, welche ihr am meisten am Herzen lag: ihre Rechtfertigung vor der Nachwelt, und gab seine Einwilligung zu Erhaltung und Aufbewahrung derjenigen Papiere, welche sie zur einstigen Herstellung ihrer Ehre am besten geeignet hielt. Mit seiner Beistimmung wurde zwischen Mrs. Fitzherbert und den Testamentsexecutoren Georg’s des Vierten eine Vereinbarung geschlossen und in Folge dessen ihre Correspondenz mit dem verstorbenen König verbrannt, jedoch mit Ausnahme derjenigen Briefe, welche sie aufbewahren wollte. Der Herzog von Wellington und Lord Albemarle verbrannten die Papiere in Gegenwart Mrs. Fitzherbert’s und nach reiflicher Ueberlegung verfiel den Flammen auch der Eingangs erwähnte siebenunddreißig Seiten lange Liebesbrief – dieses Muster und Beispiel der Unzuverlässigkeit von Liebesschwüren.
Mrs. Fitzherbert lebte bis zum Jahre 1837 meist in Brighton, wo sie auch starb. Ihre Adoptivtochter Mrs. Lionel Dawson Damer (Miß Seymour) ließ ihr ein Monument setzen, auf welchem die Figur der Verstorbenen, mit drei Trauringen an dem vierten Finger der linken Hand, angebracht ist, als Zeichen, daß sie dreimal vermählt gewesen.
Mrs. Fitzherbert’s Papiere waren von ihr in dem Bankhause Coutts deponirt worden, und sie hatte in ihrem Testament verfügt, daß dieselben zu geeigneter Zeit veröffentlicht werden sollten. Im Jahre 1841 kam die Sache zwischen den beiden Testamentsexecutoren Lord Stourton und Lord Albemarle zur Sprache, aber der Herzog von Wellington, dessen Siegel auch auf dem Briefpaket befindlich waren, widersetzte sich der Lösung derselben, und seinen Gründen gaben die beiden Lords nach. Nach Lord Stourton’s Tode blieb Lord Albemarle allein die Verfügung über diese Papiere; auch er starb, ohne daß sie veröffentlicht wurden, und nun bemühte sich Mr. Charles Longdale, Lord Stourton’s Bruder, von den Erben Lord Albemarle’s die Erlaubniß zur Veröffentlichung der bei Coutts hinterlegten Schriften zu erhalten. Es gelang ihm nicht, aber was er dann, gestützt auf die Aufzeichnungen und Erzählungen seines Bruders, die Erinnerungen von Zeitgenossen und das, was er aus dem eigenen Munde der Dame gehört, zusammenstellte und dem Publicum mittheilte, enthält alles Interessante daraus, und sollten die Siegel des Archivs einst gelöst werden, so wird der Inhalt des Pakets doch nichts Neues mehr bieten.
Von der Unglücksstätte im Plauenschen Grunde. Heute (den 16. August), wo wir diese Notiz zur Druckerei schicken, sind zwei Wochen seit dem großen Unglückstage von Burgk verflossen: die Summe des Gräßlichen und Jammervollen, das in diese kurze Zeit für die Hinterbliebenen und die für die Bergung der Leichen thätigen Freunde der Umgekommenen sich zusammendrängt, wäre Leids genug für Tausende auf viele Jahre gewesen. Denn nicht einmal der einzige Trost, den man bisher auszusprechen gewagt, der Trost, daß all’ die Verunglückten wenigstens ein rasches, bewußt- und schmerzloses Ende gehabt, ist Allen geblieben; eine Anzahl der armen Bergleute hat noch stundenlang alle Schrecknisse der Todesangst erfahren und elend ersticken müssen. Man weiß dies, so schrieb uns unser Berichterstatter schon am 10. August, erst seit heute durch untrügliche Anzeichen. Denken Sie, diesen Vormittag hat man die Leiche eines von drei Brüdern Bähr, die alle drei als Steiger verunglückt sind, gefunden; im Grubenkittel des todten Steigers stak sein Schichtenbuch, in welchem er die verschiedenen Arbeiter und die von diesen geförderte Arbeit zu verzeichnen hatte, und darin stand wörtlich wie folgt – ich habe das Buch selbst gesehen und für die Leser der „Gartenlaube“ das Nachstehende Buchstabe für Buchstabe copirt:
„Dies ist der letzte Ort, wo wir unsere Zuflucht genommen haben; ich habe meine Hoffnung aufgegeben, weil die Wetterführung auf Segen Gottes (Schacht) und Neue Hoffnungsschacht vernichtet (hat) sind. Der liebe Gott mag die Meinigen und meine lieben Freunde, die mit mir sterben müssen, sowie ihre Familien in Schutz nehmen.
So stand es mit Bleistift geschrieben, in fester, klarer, deutlicher Hand, und die oben eingeklammerten Worte waren sorgfältig ausgestrichen, – ein Beweis, in wie hohem Grade der Verunglückte noch seines Bewußtseins mächtig war. „Der letzte Orte,“ sagt er, wo sie Zuflucht genommen hatten, – wie also mußten die armen Leute, denen jeder Winkel des Schachtes bekannt und vertraut war, die genau wußten, an welchen Stellen böse Wetter einzufallen und wohin sie ihre Richtung zu nehmen pflegen, nach einem rettenden Plätzchen gesucht haben, ehe sie die letzte Hoffnung im Stiche ließ! Das Buch lag in der Revierstube des Segen-Gottesschacht, und darum herum standen Beamte und Bergleute, sämmtlich Männer, denen die Gewohnheit der Gefahr und die ebenfalls fast schon zur Gewohnheit gewordenen Schreckensepisoden der letzten acht Tage die Nerven gehärtet haben – vor diesem Schichtenbuche und seinem letzten schmerzensschweren Blatte standen sie laut schluchzend!
„Das Buch da,“ sagte einer der anwesenden Steiger, ein verwitterter Mann mit grauem Haar, „ist entsetzlicher, als Alles, was wir jetzt Gräßliches erlebt haben! O Ihr meine armen, armen Freunde!“ und er legte bitterlich weinend den Kopf in seine Hände und ließ ihn matt auf den Tisch hinab sinken.
Aber das war des Leids noch nicht genug. Ich lehnte eben am Gitterwerk der Kaue, als eine Abtheilung Bergleute, die ihre vierstündige Leichenförderarbeit für heute überstanden hatten, dem Gestell entstiegen. Ihnen voran ging ein Steiger von kräftiger Gestalt, aber mit einem unsäglich gramvollen Gesicht. Er winkte die Umstehenden zu sich heran und trat dann mit uns in einen Winkel des Gebäudes.
„Ach, was wir jetzt Fürchterliches erfahren haben!“ begann er mit noch unsicherer Stimme. „Wir sind unten in ‚Neuer Hoffnung‘ auf einen dichten Klumpen von sechs Leichen gestoßen – Sie werden sie alsbald herauffördern sehen – und an den drei ‚Stempeln‘ (bergmännisch anstatt Säulen) des Zimmerwerkes stand Folgendes mit Kreide angeschrieben; ich habe mir es genau in mein Taschenbuch notirt,“ fuhr er fort, indem er dies aus der Brusttasche seiner schwarzen Blouse herauszog.
An der ersten Säule:
- „Janetz starb,
- Richter empfahl
- die Seinen Gott.“
An der zweiten Säule:
- „Lebewohl, liebe
- Gemahlin, lebet wohl,
- lieben Kinder, Gott
- mag Euch helfen.
An der dritten Säule:
- „Lebt wohl, liebe Frau
- und Kinder; ich habe mir
- das nicht gedacht.
„Bald fünfundvierzig Jahre bin ich nun angefahren, aber so Fürchterliches habe ich nie erfahren! Und ich versichere Sie, wir alle elf Bergleute, die wir diese Inschriften entdeckt, wir haben laut geheult, wie die Kinder, und es hat lange gedauert, ehe wir wieder schaffen konnten.“
Endlich fand man auch noch den Bergmann Christian Schmidt, der sich mittelst einer Stecknadel ein kleines Papier an den Brusttheil seines Bergkittels gesteckt hatte, auf welchem mit fester Hand geschrieben war:
- „Meine lieben Angehörigen! Indem ich vor Augen sehe, daß wir sterben müssen, erinnere ich mich noch an Euch. Lebt Alle wohl und ein frohes Wiedersehen. Das Andere muß ich Euch überlassen. Zwischen 9 bis 10 Uhr.“
Und auf der anderen Seite des Zettels stand:
- „Liebe Frau! Versorge die Marie gut. In einem Buch in der Kammer liegt ein Thaler Geld. Lebt wohl, liebe Mutter und Geschwister. Auf Wiedersehen!“
Auf einer Schiefertafel stand geschrieben:
- „Leb wohl, meine liebe Frau, lebt wohl, meine lieben Kinder, ich reich Euch meine Hände, lebt wohl, meine Eltern, verlaßt meine Frau nicht, lebt wohl, alle meine Bekannten, verlaßt meine Frau und Kinder nicht, lebt wohl. Lebt wohl, meine beiden Geschwister, seht wohl auf meine Frau und Kinder, lebt wohl, meine letzte Stunde leb wohl.
Den Hut ab vor solchen Märtyrern der Arbeit!
gingen ferner ein: Vom runden Tisch bei Dreher Brasserie in Havre durch Julius Prätorius 27 Thlr. 2½ Ngr. (100 Frcs.); zweite Sammlung der Deutschen in Havre durch Julius Prätorius 54 Thlr. 5 Ngr. (200 Frcs.); von einer kleinen Gesellschaft zu Bensheim durch A. Hölzinger 9 Thlr. 4 Ngr. 2 Pf.; der Kegel-Club zu Klein-O. 1 Thlr. 7½ Ngr.; gesammlt beim fünften Niedererzgeb. Gauturnfest in Oberlungwitz 16 Thlr.; T. N. in D. 2 Thlr.; gesammlt auf dem Neheimer Jägerfest am 9. August durch das Königspaar 44 Thlr. 3 Ngr.; W. L. in Pest 2 Thlr. 22½ Ngr. (5 Fl. österr. Währ.); Josef Heller in Pest 2 Thlr. 22½ Ngr. (5 Fl. österr. Währ.); Frau H. 5 Thlr.; Prof. R. 5. Thlr.; Frau A. 2 Thlr.; Fr. Gerstäcker empfangene Entschädigung wegen Nachdrucks 10 Thlr.; Frau K. 10 Thlr.; Gretchen 3 Thlr.; Ertrag einer Collecte bei der Versammlung des deutsch-väterländischen Vereins des großh. badischen Amtsbezirks Radolfzell in Singen am Hohentwiel 28 Thlr. 17 Ngr. (50fl. rhn.) (Summa sämmtlicher Eingänge: 486 Thlr. 26 Ngr. 5 Pf.)
- ↑ Friedrich Hecker, der alte gefeierte Volkstribun vom Sturmjahr Achtundvierzig und einer der Helden der geretteten Union Nordamerika’s
spricht im Vorstehenden wieder einmal direct zum deutschen Volke. Wir finden in ihm völlig noch den alten Kämpfer und freuen uns, daß seine
Worte in voller Wucht und Schärfe gerade dem Gegenstand gegenüber, welchen sie treffen, mit dem echten Manneszorn urehrlich und urkräftig heraustreten.
Warum diese schon so lange angekündigte Mittheilung aus so lieber Hand uns so spät zukommt, darüber giebt uns Hecker in einem Briefe
Aufschluß, aus welchem wir die folgende Stelle seinen vielen Freunden und Verehrern nicht vorenthalten dürfen: „Sie haben keine Idee davon, daß
und wie schwer es mir in dieser Zeit wird zu schreiben. Nicht weil ich nicht Lust habe oder der Thermometer auf 102 Grad Fahrenheit steht, sondern
weil die Ernte eingebracht werden muß, Arbeitshände rar, theuer und unverschämt sind, und ich daher trotz meiner achtundfünfzig Jahre im Felde
mitarbeiten muß wie ein tüchtiger Tagelöhner. Um zweier meiner Söhne willen kann ich mein Land nicht verkaufen und mich zur Ruhe setzen , will
auch, was ich geschaffen, nicht in fremden Händen sehen, und wenn man, wie ich, stets das Haus voll Besucher hat, und Strolch und Gentleman
offene Tafel beansprucht, so muß man die Ohren steif halten, um nicht, wie so viele Flüchtlinge, ein alter Lump zu werden.“
Die Redaction.