Die Gartenlaube (1869)/Heft 43

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 43.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Jedem das Seine.
Von Ad. von Auer.
(Fortsetzung.)


Der Ball hatte an einem Dienstag stattgefunden. Die Woche verging, Clemens ließ sich nicht bei der Tante sehen.

„Das ist doch fast eine zu große Gleichgültigkeit gegen Verwandte,“ brummte diese. „Gott im Himmel, wenn ein Neffe in mein Haus kommt, werde ich doch nicht gleich glauben, daß er mein Geld will, und nun gar ein Sohn Brücken’s. Hm, für den Hasso plünderte er mich gern, aber doch nicht für sich und seine Pflanzen.“

Am Sonntagmorgen, als Hasso wie gewöhnlich vom Lande hereinkam, hörte er schon aus dem Flur draußen die Stimmen der Schwestern in hellem Jubelton in einander klingen.

„Was ist passirt, Dore?“ fragte er diese, aber sie lachte ihn nur an und zeigte auf die Thür.

Er riß diese hastig auf und Rose trat ihm entgegen. Mit ausgestreckter Hand ging sie auf ihn zu. Sie hatte aber nicht Zeit, ein Wort des Willkommens zu sagen oder zu empfangen, Tante Rosine fuhr in höchster Aufregung dazwischen.

„Sie hält Wort, sie giebt ihr erstes Concert hier bei uns, für mich!“ rief sie ganz entzückt. „Rose, das vergesse ich Dir nicht! Und wie hübsch Du geworden bist, Kind! Du wirst Liddy und Elly ausstechen – und zum Theater geht sie auch nicht, das ist brav. Das freut mich, daß Du auf mich gehört hast,“ so schwatzte sie bunt durcheinander.

„Rose auf’s Theater gehen!“ sagte Hasso. „Als ich in Berlin war, hoffte Madame Durando immer es durchzusetzen, ich wußte wohl, daß Du es nicht thun würdest, Rose.“

„Nein, nein, das konnte ich dem lieben alten Großvater nicht zu Gefallen thun, das nicht!“ versicherte sie.

„Nicht von den Todten reden!“ rief Rosine dazwischen. „Sie holen die Lebenden nach und ich bin die Aelteste, will aber erst recht noch nicht sterben.“

„Wer möchte es, wer vermöchte es, wenn man so glücklich ist,“ sagte Hasso, Rosens Hand noch in der seinen und das schöne Mädchen mit Entzücken betrachtend. „Du bist doch verändert, Rose,“ sagte er dann gedankenvoll. „Vor drei Jahren hattest Du Dein Kindergesicht noch, jetzt ist etwas Fremdes hinein gekommen, was ist es?“

Eine leichte Blässe löste die frühere Farbe ihrer Wangen ab.

„Vielleicht nur Müdigkeit, Abspannung,“ entgegnete sie, „ich bin in den letzten Monaten sehr angestrengt worden. Ich habe mich deshalb schon jetzt frei gemacht und denke noch für einige Zeit irgendwo auf’s Land zu gehen, mich bei irgend einer Pfarrers- oder Amtmannsfamilie einzumiethen, um mich gründlich zu erholen, ehe ich mein Engagement antrete.“

„Komm nach Lichtenfeld heraus, ich spreche mit Bütows,“ rief Hasso lebhaft aus. „Es sind liebe Leute und wir haben schon frische Gebirgsluft in Lichtenfeld.“

„Unsinn!“ erklärte die Tante. „Wenn sie Landluft braucht, die Luft ist frisch genug hier, und wozu habe ich Gülzenow? Ihr wolltet ja das alte Eulennest immer ’mal sehen, Kinder. Gut, wenn die Bälle zu Ende sind, fahren wir hinaus und Du kommst mit.“

Dieser Vorschlag war ein so unerhörter Gunstbeweis, daß Dore, die im Zimmer war, vor sich hinbrummte: „Na, nu geht die Welt unter!“ Bei den Betheiligten aber erregte dieser überraschende Plan großen Jubel. Selbst Ursula fand ein paar beredte Worte, ihre Freude auszudrücken: Rosens Augen strahlten. Hasso fing den Blick auf, obgleich er wohl nicht ihm galt.

„Also nach Gülzenow, Du hast es versprochen, Tante!“ rief Elly, und Liddy meinte sogar: „Können wir nicht gleich hin? wir haben genug getanzt, wir wollen gleich hin.“

„Affen Ihr! Ich weiß nicht, was Ihr Euch von Gülzenow denkt, warum Ihr so dorthin verlangt. Es ist doch ein verwünschtes Nest und das einzige Gute wird sein, daß kein Wagen in unsere musikalischen Freuden hineinrasseln kann. Ich werde wenigstens nicht dulden, daß ein Gespann über den Hof fährt, während gesungen wird, und wenn ich mir wer weiß wie viel Fuder Heu dadurch vor dem Regen retten könnte,“ behauptete die Tante.

Hasso lachte hell auf.

„Das sollte Herr Bütow hören,“ rief er lustig scherzend, „er machte drei Kreuze vor der Landwirthin.“

„Mag er!“ sagte sie abweisend. „Güter, die nichts bringen, und Menschen, die nicht spielen oder singen, können mir gestohlen werden.“

„Ich glaube, Gülzenow wird Dir halb und halb gestohlen,“ meinte Hasso ernsthaft. „Alle Welt sagt, es sei ein schönes Gut.“

„Ich liebe nicht, daß mit aller Welt über mein Eigenthum gesprochen wird. Wenn ich mich bestehlen lassen will, wen geht’s was an?“ sagte die Tante rauh und warf einen mißtrauischen Blick auf Hasso, den er aber nicht bemerkte.

„Warum berührtest Du den wunden Punkt?“ sagte Ursula nachher leise zu ihm, „dachtest Du nicht an ihr Mißtrauen?“

„Ach, das ganze Mißtrauen ist ja Unsinn,“ wies Hasso die Warnung zurück. „Soll ich deshalb schweigen wenn sie betrogen [676] wird? Laß uns nur erst hin nach Gülzenow, dann werde ich mich schon umsehen und mehr sagen, wenn es nöthig ist.“

Der kleine Mißton, den der Tante letztere Aeußerung hervorrief, verhallte bald. Was schadet ein Wölkchen am Horizont, wenn der Himmel sonst klar ist. Der erste fröhliche Windhauch setzt sich hinein und läßt es in tausend leichte Flöckchen zerstieben, von denen keins dem Sonnenschein zu trotzen und sich wider ihn als finstre Macht zu behaupten vermag. Der Abend kam. Die Lampen wurden angezündet, die Tante setzte sich in ihren Lehnstuhl und Rose begann zu singen.

Ja, das war doch noch ein anderer Gesang, als er bisher in diesen Räumen erklungen und das Herz der zuhörenden Musikliebhaberin erfreut und erhoben hatte. Ein stolzer Schwan zog singend durch das weite All und die Waldvöglein verstummten und lachten über die kleinen Stimmchen, mit denen sie sich in den Jubelchor der Schöpfung zu machen gewagt und doch sich gedrängt fühlten, es wieder zu thun, dem vor ihren wachen Sinnen sich entfaltenden Zauber ihre ungekünstelte Huldigung darzubringen. Ja, das war eine herrliche Stimme, weich und seelenvoll, glockenrein und von einer seltenen Kraft und Fülle, die doch immer in den Grenzen schönen Gleichmaßes gehalten wurde. Und nun dies Verständniß der Seele, die unbeschreibliche Einfachheit des Vortrages, die in ernsten Gesangstücken geradezu erhaben war, der Eindruck war überwältigend.

Der alten Dame standen die Augen voll Thränen. Mit andächtig gefalteten Händen hörten Elly und Liddy zu, Ursula von dem fernsten und dunkelsten Winkel des Zimmers aus. Hasso begleitete die Sängerin. Dann sangen Beide zweistimmige Lieder, dann ruhte Rose und die Schwestern lösten sie ab, dann wurden drei- und vierstimmige Sachen versucht, heitere und ernste, Mozart’s launige Terzetten, alte und neue Opern mußten ihre schönsten Schätze hergeben, es war ein herrlicher Abend.

Auf der Straße unten blieben die Vorübergehenden stehen, in dem Hause gegenüber öffnete man die Fenster, vor der Thür versammelten sich still ungebetene Zuhörer.

„Wer wohnt dort? Was ist da los?“ fragte Clemens, der Arm in Arm mit Lindemann vorüberging.

Bädeker II. blieb betroffen stehen. Er hatte Jenen halb und halb zu dem Abendspaziergang gezwungen, er wollte ihm durchaus das Flüßchen, das an seiner Heimathstadt vorüberfloß, in Mondscheinbeleuchtung zeigen, in der Residenz gab es natürlich solch klares Wasser nicht. Clemens war gutmüthig genug, dem alten Particulier den Gefallen zu thun.

„Mein Gott, wissen Sie nicht, daß dort Ihre Tante wohnt? haben Sie ihr noch keinen Besuch gemacht?“ fragte dieser erstaunt. „Nein, aber ich werde jetzt hinaufgehen,“ entgegnete Clemens. „Thun Sie das nicht, Sonntags wird Niemand angenommen. Die Dame liebt es nicht, daß man ihre Familienconcerte stört.“

„Dann werde ich’s gerade thun,“ rief Clemens, machte sich von Lindemann’s Arm los und war mit einem fröhlichen Gruß im Hause verschwunden.

Sein kräftig tönender Fußtritt auf der Treppe, der laute Klang der Hausglocke, die er mit noch kräftigerem Ruck anzog, schallten mißtönend durch Rosens herrlichen Gesang hindurch. Rosine wurde dunkelroth.

„Tausend Donnerwetter, wer untersteht sich –“ brach sie los. Indem wurde die Thür aufgerissen, Johann erschien in derselben.

„Ich kann nichts dafür, gnädige Frau, der junge Herr lassen sich nicht abweisen,“ rief er ängstlich hinein. „Wer?“ schrie die Tante.

„Ich, gnädigste Tante,“ entgegnete Clemens, mit der größten Unbefangenheit eintretend.

„Hören Sie, Sie sind mir ein merkwürdig dreister Patron,“ schalt Rosine. „Die Woche hat sechs Tage, an denen Sie sich herbemühen konnten. Was haben Sie am Sonntag mein Familienconcert zu stören!“

„Tante, gehöre ich denn nicht zur Familie?“ fragte Clemens in vorwurfsvollem Ton, durch den doch der Schalk hindurchklang. „War meine Mutter nicht eine Fuchs? bin ich nicht der Sohn Ihres alten Freundes?. Muß ich wirklich erst meinen Paß aufweisen, ehe ich anerkannt werde? Dann, passen Sie auf, hier ist er –“

Er schritt rasch auf das Clavier zu, grüßte die um dasselbe gruppirten Damen ehrerbietig, sagte zu Hasso. „Vetter Hasso, nicht? Kommen wir endlich einmal zusammen?“ setzte sich an das Instrument und nach einigen glänzend ausgeführten Passagen spielte er mit eben so sichrer Geläufigkeit als richtigem Verständniß eine Beethoven’sche Sonate, grade die Lieblingssonate der Tante.

Er war noch nicht zu Ende, als sie schon hinter seinem Stuhl stand, und der Schlußaccord war kaum verhallt, so hatte sie ihn schon beim Kopfe gefaßt und küßte ihn auf beide Wangen.

„Wahrhaftig, ein Fuchs, mein richtiger Neffe! Komm her, Goldjunge, unverschämter Windbeutel, Du bist anerkannt. Ja, Du gehörst zur Familie, zur musikalischen und schönen Linie zugleich, wie dort Deine beiden Cousinen, Elly und Liddy, die Bologneser Hündchen,“ setzte sie lachend hinzu. „Nun gebt Euch die Hände und nennt Euch Du.“

Erröthend und lachend folgten die Zwillinge der Anforderung. Hasso begrüßte den Vetter mit der größten Herzlichkeit, Ursula in ihrer freundlichen zurückhaltenden Weise. Wie aus tiefen Gedanken fuhr Rose aus ihrer gebückten Stellung empor, als Rosine ihr den Neffen vorstellte. Sie war ganz in ein Notenblatt vertieft gewesen und war wohl noch etwas zerstreut, denn sie erwiderte seine tiefe Verbeugung kaum, sondern maß ihn mit einem langen erstaunten Blick.



Einige Tage darauf kehrte Rose von einem Besuch heim, den sie einer ihrer ehemaligen Lehrerinnen abgestattet. Der Weg führte sie über den Markt, am Deutschen Hause vorbei. Clemens saß am Fenster. Er stand augenblicklich auf, verließ das Gasthaus und ging ihr nach.

Mit wenigen Schritten hatte er sie eingeholt, begrüßte sie und sagte, sich zu ihr gesellend und neben ihr herschlendernd.

„Ich verleugnete Sie neulich, erscheint Ihnen mein Benehmen treulos, zweideutig?“

„Wir wollen das Wort Treue nicht auf das lose Band einer oberflächlichen Bekanntschaft anwenden,“ sagte sie, „damit hat Treue nichts zu thun. Zweideutig allerdings war Ihr Benehmen. Sie mußten doch Gründe haben, mich zu verleugnen, triftige wohlüberdachte Gründe. Sie gaben nicht einmal der Ueberraschung, mich so unvermuthet wiederzusehen, Raum. Es liegt Nichtachtung in diesem Verfahren und die habe ich nicht verdient,“ sagte Rose, ihrem gekränkten Gefühl sanft Ausdruck gebend.

„Nichtachtung! Nein, Rose, es war nur Klugheit!“ entgegnete Clemens, „und was die Ueberraschung betrifft, so hatte ich im Vorübergehen Ihren Gesang gehört. So wenig ich mir aber ihre Anwesenheit hier erklären konnte, denn ich wußte nichts von Ihrer Freundschaft mit meinen Cousinen, so war ich doch nun vorbereitet Sie zu sehen und es war mir möglich mich zu beherrschen.“

„Aber wozu?“ fragte sie. „Warum denn dieser Schleier des Geheimnisses über unsere Bekanntschaft? Das ist unehrlich. Was haben wir zu verbergen?“

„Ich sehr viel!“ entgegnete er ausweichend, „ich ein Gefühl, dem ich nicht Raum geben darf, das ich eben so wenig aus meinem Herzen zu reißen, gegen dessen überwältigende Macht ich mich nur durch diese scheinbare Kälte zu wahren vermag. Ich habe Pläne, Absichten, muß sie haben, gegen die das Herz rebellirt, aber ich darf auf diese rebellische Stimme nicht hören. Sie müssen gut sein, Rose, müssen mir folgen, ich bin der Klügere, der Erfahrnere und es handelt sich um mein künftiges Geschick. Wenn ich es jetzt eingestehen soll, daß ich Sie kenne, seit langer Zeit kenne, wie soll ich es da verbergen, daß ich Sie liebe!“

Er hielt inne. Sie antwortete nicht. Sie schüttelte nur den Kopf, als wollte sie sagen: ich verstehe kein Wort von alledem, aber das Einzige, was sie davon verstand, sein letztes Geständniß, das schloß ihr die Lippen und durchschauerte sie mit einer Empfindung, die für einen Augenblick alles gerechte Mißtrauen überwog. Er bemerkte seinen Vortheil und fuhr vorwurfsvoll fort:

„Wie kalt Sie gesprochen haben! Oberflächliche Bekanntschaft, sagten Sie vorhin, oberflächliche Bekanntschaft, wir Beide, und doch that mir das Herz beim Abschied so weh, daß ich nicht wagte Sie anzusehen, und doch wurden Sie ohnmächtig, als ich ging.“

„Mademoiselle Dufour, die kleine Tänzerin, schnitt sich in die Hand, ihr Blut bespritzte mich, ich kann Blut nicht sehen,“ entgegnete sie ausweichend.

„Das ist nicht wahr, Rose,“ sagte er, durch die Sanftheit [677] des Tones die Rauhheit der Worte mildernd. „Ueberlassen Sie doch das Lügen uns Männern, die oft genug der eigne schlimme Sinn, die arge Welt dazu treibt. Frauenlippen sollte keine Lüge beflecken.“

„Das ist auch wahr,“ sagte Rose, „ich will auch nicht lügen. ich will es Ihnen überlassen. Mich bespritzte also Fräulein Dufour’s Blut nicht, aber ich war schwach an dem Morgen und es kränkte mich, daß Sie nach vielfachem freundlichen Verkehr so kalt von mir schieden. Es verletzte mich, daß Aimée Dufour, daß Linda und Emmy und Natalie in Streit ausbrachen, welche die Bevorzugte in ihrem Herzen sei, daß Jede sich auf Beweise zu berufen wußte. Sie sind kokett, Clemens. Das gestattet man höchstens Frauen, aber unter die edeln Frauen zählt man die Koketten nicht. Ich hatte Sie wirklich für meinen Freund gehalten, aber das Letzte, was nach Ihrem kalten Abschied von dem Glauben an Ihre Freundschaft oder Zuneigung übrig bliebe hat unser neuliches Wiedersehen vernichtet. Weshalb behandeln Sie mich wie eine Fremde?“

„Ich sprang wie ein Cortez an das Ufer eines neuen Landes und verbrannte meine Schiffe hinter mir,“ entgegnete er rasch „man geht rücksichtsloser vorwärts, wenn man nicht mehr zurück kann, und ich will und muß vorwärts, Rose!“

„Wohin?“ fragte sie staunend, „und was hindert die unbedeutende Blume am Wege Ihren Siegeslauf, daß Sie mit achtlosem Fußtritt an ihr vorüberstreifen? Ich verstehe Sie nicht, Clemens, ich muß eine deutliche Erklärung haben.“

Sie waren während dieses Gespräches langsam die Straße hinunter zum Thor hinausgeschritten. Statt die Richtung nach Tante Rosinens Haus einzuschlagen, wendete sich Clemens der Promenade zu, die um diese Zeit nicht sehr belebt zu sein pflegte. Rose folgte willenlos.

„Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, die volle Wahrheit,“ versicherte Clemens. „Sie werden an ihrer Bitterkeit erkennen, daß sie unverfälscht ist, wenn Sie mir auch vielleicht nicht glauben werden, daß ich die Bitterkeit nicht minder als Sie empfinde. Ich liebe Sie, Rose, ich habe Sie geliebt, so lange ich Sie kenne. Anfänglich ohne es zu wissen, dann mit vollem Bewußtsein, und daß Sie mein Gefühl erwiderten, erfüllte mich mit unbeschreiblicher Seligkeit. Das haben Sie gewußt, das müssen Sie noch jetzt glauben, auch wenn ich hinzufüge, daß ich Ihnen entsagen muß.“

Auf die Freude, die einen Augenblick in Rosens Antlitz aufgeleuchtet, fiel tiefer Schatten. Die Fragen weshalb? schwebte noch auf ihren Lippen, sie unterdrückte sie und Clemens fuhr fort .

„Sie wissen nicht, weshalb mein Vater mich hierher versetzen ließ: ich will es Ihnen sagen. Er wollte meinen Verkehr mit Madame Durando abgebrochen sehen,“ fuhr er mit niedergeschlagenen Augen und unsicherer Stimme, als werde ihm jedes Wort schwer, fort; „alte Leute haben ihre Vorurtheile. Madame Durando ist eine brave Frau, aber ihr leichter Ton, ihre Lebensstellung verdächtigen sie.“

„Ihre Lebensstellung, die auch die meinige ist – jetzt verstehe ich,“ sagte Rose und sah ihn mit ihren unschuldigen Augen klar und fest an.

„Nie würde mein Vater es zugeben, daß ich mir die Gattin aus jenen Kreisen wählte. Ich kann gegen meines Vaters Gebot nicht handeln. Zudem,“ setzte er aufsehend und ihrem ruhigen ernsten Blick begegnend, einigermaßen verlegen hinzu. „sind meine Verhältnisse der Art, daß sie es mir verwehren, um des Glückes selbst willen glücklich zu sein. Ich muß mein äußeres Loos im Auge haben –“

„Es ist genug, Sie brauchen sich nicht weiter zu entschuldigen,“ sagte Rose würdevoll, „Ihre Entschuldigungen sind beleidigender als Ihr Schweigen. Sie haben mich eine Zeit lang glauben gemacht, daß Sie mich liebten. Ich habe es geglaubt. Der Irrthum ist vorüber. Ihre fremde Begrüßung neulich, Ihr Verleugnen unserer Bekanntschaft hat ihn aufgeklärt, es bedarf der kalten Worte nicht, ein Verständniß zu erreichen. Es bleibt dabei, äußerlich und innerlich, daß wir uns neulich zum ersten Mal gesehen, und es wird mir nach diesem Gespräch nicht mehr schwer werden, Sie wie einen Fremden zu betrachten. Ich verstehe Ihre Wege nicht, Clemens, ich weiß nicht, was für Ziele Sie haben, aber die einen scheinen mir öde und die andern in einer Region, die der Herzenswärme unzugänglich ist. Passen Sie auf, daß Sie nicht darüber hinaus in den Abgrund tiefer Herzenseinsamkeit stürzen.“

Sie hatte mit einer Feierlichkeit gesprochen, die ihn verwirrte, sie sah so schön dabei aus, daß er, wie von einer dämonischen Macht erfaßt, kaum dem Verlangen widerstehen konnte, hier auf offener Straße vor ihr hinzustürzen oder sie besinnungslos in seine Arme zu ziehen. – Als sie mit kaltem Abschiedsgruß an ihm vorüberschreiten wollte, ergriff er sie heftig bei der Hand.

„Mädchen, fühlst Du nicht,“ sagte er gepreßt, „daß ich kalt bin, kalt sein muß, weil ein Vulcan in mir tobt, der uns Beide verderben könnte? O Ihr Mädchen, mit Eurer Unschuld macht Ihr es uns oft namenlos schwer, ehrlich zu bleiben! Rose, ich liebe Dich, aber ich kann, ich darf Dich aus tausend Gründen nicht heirathen. Du mußt mir glauben und mich bedauern, oder mir nicht glauben und mich hassen. Mein Vater, die Verhältnisse, Alles ist gegen unser Glück. Ich werde Alles thun, was Du verwirfst, was Dich irre macht, zweideutig handeln, mit falscher Zunge sprechen, Heiterkeit heucheln. Entlarve mich, wenn Du willst, aber glaube an meine Liebe. Bis an meines Lebens Ende werde ich Dich lieben, nur Dich, Du schöner, hoch am Himmel ziehender, unerreichbarer Stern!“

Seine Stimme brach im Schmelz der Wehmuth, sein Blick traf sie mit heißer Liebesgluth, seine Lippen öffneten sich halb, als habe er noch etwas, das Wichtigste, das Letzte zu sagen, aber seine Stimme starb in einem Seufzer dahin. Mit einem kräftigen Entschluß raffte er sich zusammen.

„Es ist spät geworden,“ sagte er leise, „soll ich Sie nach Hause bringen, Fräulein Rose?“

„Nein,“ sagte sie mit Festigkeit, ihre innere Erschütterung überwindend, „nein, ich kenne meinen Weg, ich finde ihn ohne Ihre Hülfe.“



Auf dem einsamen Heimwege hatte Rose hinlänglich Zeit, Fassung und Ruhe wenigstens äußerlich wieder zu erlangen. Sie war tief gekränkt, und wenn auch ihr schon bei dem Abschied erschütterter Glaube an ihn jetzt vollends dahin war, so bebte doch ein schmerzvoller Ton durch ihre Seele, der sie an die Schönheit des verklungenen Hohen Liedes reinster irdischer Empfindung mahnte. Clemens hatte mit ihr gespielt. Seine Leidenschaft war ein Rausch des Augenblicks, sein Herz das eines kalten Egoisten. Er ist ein Schauspieler! sagte sie sich, und doch war es schwer, sein vortreffliches Spiel nicht für Wirklichkeit zu halten, seine bebende Stimme, sein warmes Wort, seinen heißen Blick vollendeter Kunst zuzuschreiben und nicht hingerissen zu werden von dem, was in jeder Kunst Natur sein muß, um zu wirken.

Sie gestand es sich ein, daß sie sich trotz seines kalten Abschieds wider ihren Willen gefreut, ihn in L. wiederzusehen, daß sie auf ein Mißverständnis auf eine Lösung desselben gehofft, daß sie sich gefreut, ihn durch ihr unerwartetes Kommen zu überraschen. Das Alles war dahin und sie dazu verurtheilt, ihm kalt und fremd gegenüber zu stehen und täglich auf’s Neue die Kränkung zu empfinden daß er rücksichtslos über sie hinweg andern Lebenszielen zuschritt. Aber welchen? Was erstrebte er? Ihr Verdacht blieb an nichts Schlimmerem haften, als daß er gesonnen sei, eine reiche, glänzende Heirath zu schließen, die ihm den Weg zu einer bevorzugten Stellung im Leben bahnen sollte. Und schon der nächste Abend bestätigte ihre Vermuthung. Es war von Lebenszielen und Bestrebungen die Rede, ein Jeder sollte seine Wünsche, seine Reizungen in dieser Beziehung aufrichtig bekennen.

„Eine Ministertochter zur Frau und einen Gesandtschaftsposten, sagte Clemens gähnend.

Die Tante schlug ihm auf den Mund.

„Für’s Gähnen und für die Verleumdung Deiner Person. Wer wird aus Ehrgeiz heirathen! Aber Du sagst es, Du wirst es am wenigsten thun. Nun, Hasso, Du?“ fragte sie und machte eine wegwerfende Geberde, als er, seine kräftige Gestalt hoch aufrichtend, in frischem Ton sagte:

„Einen Urwald und eine Axt.“

„Eine Bibliothek auf dem Lande,“ bekannte Ursula zu allgemeinem Gelächter.

„Ich möchte nur für’s Haus singen dürfen,“ sagte Rose, und die Zwillingsschwestern versicherten, sie wünschten nichts Anderes, als „daß es immer so bleiben möge, wie es just sei.“


[678] Clemens war von nun an ein willkommener Gast im Hause seiner Tante. Wie er sich ihr den ersten Tag gezeigt, so blieb er. Nicht ein Fünkchen Aufmerksamkeit mehr erwies er ihr, als ihm gerade beliebte. Ihre Derbheiten erwiderte er mit Derbheit. Hundertmal des Tages nannte sie ihn „unverschämter Bengel“ und doch war sie ihm gut.

„Clemens,“ sagte sie eines Tages zu ihm, „ich glaube, Du kümmerst Dich wirklich nicht um meinen Reichthum?“

„I,“ sagte er lachend, „wenn ich nur Aussicht hätte, daß er mein werden könnte, wollte ich mich schon darum kümmern. So hilft’s mir nichts, wenn ich Dir noch so sehr um den Bart gehe. Ich muß das dem Hasso überlassen.“

„Findest Du, daß Hasso mir um den Bart geht?“ fragte sie eifrig.

„Nein, Tante, ich habe das nur so gesagt. Er mag ja ohne allen Eigennutz ein Musterknabe sein, und wenn nicht, mein Gott, wenn ihn der Gedanke an den künftigen reichen Standesherrn auf Gülzenow solide macht, da hätten wir ja einen moralischen Einfluß des Reichthums, der nicht zu verachten wäre. Wahrhaftig, wenn ich nicht Clemens wäre, möchte ich wohl Hasso sein.“

Die Tante rückte sich die Haube schief, der erste Grad innerer Unruhe, der erste Verräther geheimer zwiespältiger Gefühle.

„Ich dachte, Du machtest Dir aus Geld ganz und gar nichts,“ bemerkte sie einigermaßen ärgerlich.

„Aus Deinem, Tante. Aus meinem würde ich mir schon etwas machen. Es ist manchmal sehr wenig lustig, daß man solch 'armer Schlucker ist.“

Die Haube wurde wieder gerade gesetzt. Seine rücksichtslose Aufrichtigkeit bestach sie jedesmal.

„Bist Du in Verlegenheit, brauchst Du Geld? Ich will Dir geben, Clemens,“ sagte sie in aufwallender Großmuth.

Er machte eine abwehrende Bewegung.

„Junge, Du kannst’s dreist nehmen, ich weiß doch, daß Du uneigennützig bist,“ versicherte sie. Aber er blieb bei seiner Weigerung.

„Tante, es ist mir absolut unmöglich, ich bin in der Beziehung ein stolzer Kerl,“ sagte er mit einer Miene, die noch abweisender war als seine Worte.

Sie wagte kein ähnliches Anerbieten wieder und er gewann nur um so mehr Einfluß über sie.

Dore brummte über den neuen Liebling, der die ganze Hausordnung verkehren durfte, der seinen Kaffee gleich nach dem Essen verlangte, über das bürgerliche Abendbrod solange gespottet hatte, bis es, statt nur des Sonntags, alle Abende Thee gab, und der von diesem Thee die Farbe des Braunbiers begehrte. Sie brummte und schalt über Mancherlei und machte so ihre geheimnißvollen Bemerkungen, über die ihre Herrin sie auszankte und die vielleicht nur in Ursula’s Herzen ein leises Echo fanden.

Ursula’s geregeltem Wesen war Clemens’ keckes Sichgehenlassen wenig sympathisch, während es auf ihre Schwestern den Eindruck der Genialität machte und ihnen nur wie das Uebersprudeln männlicher Kraft erschien. Freilich erblickte Ursula nie das Gegenbild, wie Jene. Sie erfuhr es nicht, wie zart er sein konnte, wie fein, wie unbemerkt von Anderen, als dem Gegenstand der Huldigung selbst, er zu huldigen verstand. Sie wußte nichts von dem Zauber, den er da auszuüben wußte, wo er gefallen wollte, sie erfuhr den mächtigen Eindruck nicht, den es auf ein unerfahrenes Gemüth macht, wenn eine scheinbar kühle, egoistische, selbstbewußte Natur auf einmal, wenn auch nur wie von vorüberschießenden Blitzen erhellt, die reichsten Schätze des Herzens offenbart, um so reicher erscheinend, um so lockender und liebenswerther, als sie gleichsam wie ein tiefes Geheimniß bewahrt wurden, um nur dem Eingeweihten auf Augenblicke verrathen zu werden.

Der eigentliche Carneval war zwar vorüber, aber es gab doch noch so manchen Nachzügler winterlicher Freuden, an dem Clemens nun auch thätigen Antheil nahm. Obgleich er behauptete, seit zehn Jahren schon nicht mehr getanzt zu haben, eine Behauptung, der schon sein Alter widersprach, war er doch ein gewandter eleganter Tänzer, doppelt willkommen vielleicht als solcher, weil er sich rar machte, ein ziemlich geckenhaftes Kunststück, das aber, mit einiger Manier ausgeübt, doch selten des Eindruckes verfehlt.

Er tanzte nicht einmal immer mit Liddy und Elly, es hatte nicht den mindesten Anschein, als zeichne er sie oder eine der anderen jungen Damen aus, und doch hatte Keine die Empfindung, vernachlässigt zu sein, und Jede war seines Lobes voll.

Es war einmal nichts bedeutungslos, was er that.

„Ein prächtiger Tänzer!“ sagten die jungen Mädchen. Die alten Damen, gegen die er sehr artig war, schwärmten für ihn, seine Collegen hatte er alle für sich, denn er war ein guter Gesellschafter, auch in dem weiteren Sinne, in dem junge Leute, die unter „gut“ nicht immer „gewählt“ meinen, es verstehen. Alten Herren begegnete er ebenfalls mit Aufmerksamkeit, und so hatte er schnell eine Art Beliebtheit erlangt und Alle, der alte Lindemann an der Spitze, gratulirten der Frau von Fuchs zu dem liebenswürdigen Neffen.

Rose nahm nicht Theil an diesen Gesellschaften. Ihre angegriffene Gesundheit mußte zur Entschuldigung dienen, und in der That sah sie blaß aus und Tante Rosine sah ein, daß, wenn sie singen solle, sie unmöglich tanzen könne. Sie blieb mit Ursula zu Hause, zuweilen gelang es Hasso, sich loszumachen und dann auch auf ein Abendstündchen in die Stadt zu kommen. Das waren glückliche Stunden für Alle, auch für Rose.

Das Glück ist vielgestaltig und nicht nur, wenn es zum Himmel jauchzt, zeigt es der Seele seine durchleuchteten Schwingen. Auch die Freundschaft ist ein Glück und die unruhigen Wogen der Seele legen sich unter ihrem Einfluß, selbst wenn diese von den Wettern nichts weiß, die der Sturm in der Tiefe erregt.

Auch Ursula und Hasso ahnten nicht, daß Rose und Clemens einander in der Residenz gekannt. Stolz hieß Rose schweigen, als er sie bei jenem ersten Wiedersehen wie eine Fremde behandelte. Seit jener Unterredung mit Clemens schloß noch ein anderes Gefühl ihr die Lippen. Sie war irre an ihm, an sich selber; sie verstand nicht ihn, nicht sich. Noch verstand sie auch Hasso nicht und ihr befangenes Herz schlug für ihn zu sehr in der süßen Gewohnheit geschwisterlicher Gefühle, um an einen Wechsel auch nur denken zu können.

(Fortsetzung folgt.)


Aus dem Nachtleben der Flughörnchen.

Von Brehm.

Von jeher haben die Nachtthiere mich in besonderem Grade angezogen. An ihnen haften, in ihrem geheimnisvoll erscheinenden Treiben wurzeln liebliche Märchen und sinnlose Sagen: ihnen danken Elfen und Kobolde, Engel und Teufel Ursprung und Entstehen; mit ihnen beschäftigt sich noch heutigen Tages der von den Gegnern der Bildung herzlichst gehegte Aberglaube aller Völker und Länder. Ohne die Nachtthiere gäbe es keine Mär vom wilden Jäger und seinem höllischen Treiben; ohne sie würde das Wahngebilde vom Satan schwerlich entstanden sein; – ohne sie wär wohl sogar Herr Disselhoff in Berlin unfähig gewesen, seine „Geschichte des Teufels“ zu verfassen. So unterhaltend und belehrend es indeß auch scheinen mag, nachzuspüren welches das Urbild gedachter Wahngestalten sein könne, und wie es im Laufe von Jahrhunderten in hirnschwachen Köpfen verwandelt worden, so wenig vermag die Geschichte der Verirrungen des Menschengeistes auf die Dauer zu befriedigen; der Thierkundige wenigstens wendet sich gewiß bald wieder den Urbildern selbst zu.

Ein langgehegter Wunsch von mir ging dahin, Käfige für Nachtthiere hergestellt zu sehen, in denen man die Inwohner während der Zeit ihres Wachseins mit aller Behaglichkeit beobachten könne. Dieser Wunsch ist durch das „Berliner Aquarium“, welches eigentlich ein „Vivarium“ genannt werden sollte, in Erfüllung gegangen. Alle unsere Käfige, Becken und Behälter können des Nachts erleuchtet werden, und wenn auch die Lampen, ihrer Anzahl

[679] 

Flughörnchen bei der Nacht. Nach der Natur im Berliner Aquarium gezeichnet von Emil Schmidt.

[680] und Lichtstärke ungeachtet, die Sonne nicht zu ersetzen vermögen, verbreiten sie doch Helle genug, um Vollmondschein nachzutäuschen und den Beobachter in den Stand zu setzen, jeder Bewegung des betreffenden Thieres zu folgen, jede ersichtliche Lebensäußerung desselben wahrzunehmen. In derartig beleuchteten Käfigen erscheinen die Nachtthiere, nachdem sie einmal völlig munter geworden, ganz anders, als man es sich hat träumen lassen. Man lernt selbst in solchen, von denen man sich wenig versprach, theilnahmwerthe Geschöpfe kennen und entdeckt an anderen eine Lebhaftigkeit, Beweglichkeit, Anmuth und Behendigkeit, von welcher man keine Ahnung hatte. Alles Spukhafte, welches man ihnen insgesammt nachgeredet, verschwindet wie immer und überall vor dem Lichte, und das Natürliche tritt in seine ewigen Rechte. Zu einzelnen gewinnt man bald eine Zuneigung, welche fast parteilich machen kann.

Unter diese letzteren zähle ich, seitdem ich sie einigermaßen kennen gelernt, die Flug- oder Flatterhörnchen, die sich bekanntlich von ihren nächsten Verwandten, den Eichhörnchen und Schlafmäusen oder Bilchen, durch einen Fallschirm unterscheiden, welcher sich als eine Haut zwischen den vorderen und hinteren Beinen ausspannt und beiderseitig behaart ist. Bei einigen Arten erstreckt sich diese Hautwucherung auch über die Gegend zwischen Vorderarm und Hals und Hinterschenkel und Schwanz. Die Haare des letzteren sind entweder zweizackig geordnet oder wie bei dem Eichhörnchen buschig gestellt. Asien beherbergt die meisten, Amerika einige Arten; Europa und zwar der hohe Norden besitzt ebenfalls ein Mitglied der Sippe.

So weit unsere Beobachtungen reichen, sind alle Flughörnchen entschieden Nachtthiere, welche über Tage einzeln oder in Gesellschaften in ausgepolsterten Baumhöhlen ruhen und erst längere Zeit nach Sonnenuntergang ihren Geschäften nachgehen. Ueber ihr Treiben und Gebahren haben wir bis jetzt nur dürftige Nachrichten erhalten können. In Südasien hindert die während ihres Wachseins herrschende Dunkelheit die Beobachtung; im hohen Norden, wo die Mitternachtssonne jene mindestens erleichtern könnte, fehlen die Beobachter. Wir wissen, daß unsere Thierchen erstaunlich gewandt auf den Bäumen umherklettern und von oben nach unten Sprünge von dreißig Fuß Weite und darüber ausführen können, von allerlei Pflanzenstoffen sich ernähren und während des Sommers oder im Frühlinge der betreffenden Heimath zwei bis vier wenig entwickelte Junge zur Welt bringen, denen die Mutter ein warmes und weiches Nestchen bereitet und sorgliche Pflege angedeihen läßt, bis sie im Stande sind, für sich selbst zu sorgen. Die im Norden der Erde lebenden Arten halten einen unterbrochenen Winterschlaf während diejenigen, welche in milderen oder heißen Ländern zu Hause sind, jahraus, jahrein annähernd dieselbe Lebensweise führen. Hier und da ködert man sie mit ihrer Lieblingsnahrung, fängt sie und verwendet Fleisch und Fell, so zart und hinfällig auch letzteres ist, oder versucht, einen und den anderen Gefangenen zu zähmen, wenigstens in Gefangenschaft zu halten. Dies ist, kurz in Worte gefaßt, so ziemlich Alles, was wir wissen.

Unser nordeuropäisches Flughörnchen, die Ljutaga der Russen gelangt höchst selten lebend auf den Thiermarkt, während uns der Assapan der Nordamerikaner alljährlich in mehreren Stücken gesandt wird, sich leicht halten läßt und ausdauert. Seine Leibeslänge beträgt etwa fünf, die Schwanzlänge vier Zoll; die Rückenfärbung spielt von Gelbbraun in Aschgrau, die Bauchfärbung von Weiß in Gelb; die Flug- oder richtiger Fallschirmhaut ist vor dem weißlichen Saume schwarz gebandet.

Dem Beobachter, welcher noch wenige kleine Nager in Gefangenschaft gehalten, oder Dem, welcher sich mit flüchtiger Besichtigung begnügen zu dürfen glaubt, scheinen die Flughörnchen wenig zu versprechen. In dem mit Heu oder Wolle ausgepolsterten Versandkistchen, welches sie vom Händler bringt, liegen sie, so verborgen als möglich, dicht nebeneinander zusammengeknäuelt im tiefsten Schlafe und gestatten, ohne sich zur Wehre zu setzen, dummgutmüthig jede Maßnahme. Von der albernen Wuth eines Siebenschläfers, welcher mit heftigem Schnauben und Schnarchen jede Behelligung zurückweist, bemerkt man bei ihnen Nichts; sie lassen Alles über sich ergehen: sich in die Hand nehmen, drehen, wenden, besichtigen, auf eine bestimmte Stelle setzen, wieder wegnehmen etc., ohne von ihrem scharfen Nagergebiß Gebrauch zu machen. Auch die ersten Spätabende, welche man der Beobachtung widmet, befriedigen nicht. Die Flughörnchen kommen zwar gegen neun Uhr Abends zum Vorschein, um zu fressen und zu saufen, bekunden jedoch eine Unsicherheit und Aengstlichkeit in ihrem Wesen, welche wenig für sie einnimmt. „Hübsche, aber langweilige Thierchen“ lautet der Ausspruch des Unbefriedigten; „Kletterthiere mit wenig Instinct“ läßt sich die billige Weisheit Anderer vernehmen.

Aber man beobachte nur weiter und man wird bald zu anderen Anschauungen gelangen. Das zum Klettern „bestimmte“ Thier zeigt seine Kunstfertigkeit aus dem sehr einfachen Grunde noch nicht in voller Ausdehnung, weil ihm der gerühmte „Instinct“ über die Neuheit der Lage durchaus nicht hinweghilft, weil die Reise es ängstlich gemacht, es sich im Käfige noch nicht eingerichtet hat, ihm Alles noch fremd erscheint. Sein Gedanken- und Ideenkreis beschränkt sich auf das Gebiet der bisher erworbenen Erfahrungen und muß sich den neuen Verhältnissen erst anpassen – ganz ebenso, wie es bei dem mit Vernunft begnadeten Menschen unter entsprechenden Umständen der Fall. Unser Thierchen bedarf also einer geraumen Zeit, um alles ihm Neue zu prüfen und geistig zu verarbeiten, mit einem Worte, um sich einzugewöhnen. Zum Ruhme muß man ihm nachsagen, daß es sich schneller in die veränderten Umstände findet als viele Menschen in die neuzeitlichen Verhältnisse: schon einige Tage nach Besitznahme der neuen Wohnung sind die Flughörnchen mit ihr und der Umgebung vollständig vertraut und kennen Alles, was zu kennen nöthig. Und nunmehr endlich zeigen sie sich als Das, was sie sind.

An dem oberen Rande des Schlafkastens wird ein rundes Köpfchen sichtbar, und große, stark gewölbte Augen überschauen sorgsam prüfend das Innere des Käfigs. Dem Köpfchen folgt der übrige Leib; das Thierchen sitzt frei auf der schmalen Kante seiner Lagerstätte. Seine Stellung ist derjenigen, welche das Eichhörnchen gewöhnlich einnimmt, sehr ähnlich; der Vorderleib wird jedoch etwas mehr gesenkt, der Schwanz nicht so dicht an den Rücken gelegt als von jenem; die Hautfalte hat sich zusammengezogen und bildet eine anmuthig geschwungene Linie, welche um so schärfer hervortritt, als das sichtbar gewordene Weiß durch das schwarze Band dahinter recht zur Geltung kommt. Die kleinen Ohren haben sich gänzlich entfaltet und spielen, wie die Augen und die schnurrenbesetzte Nase, bei der noch immer fortgesetzten Prüfung. So viel wird allgemach festgestellt, daß an Gefahr jetzt nicht zu denken; unten aber steht einladend der gefüllte Freßnapf. Das bisher einem starren Bildniß ähnelnde Thierchen setzt sich endlich in Bewegung. Wie ein Schatten gleitet es zur Tiefe hernieder, gleichviel ob an senkrechter oder schief geneigter Fläche, immer mit dem Kopfe voran, ohne daß man ein Geräusch vernimmt, ohne daß man die einzelnen Bewegungen der durch die Fallschirmhaut größtenteils verdeckten Gliedmaßen unterscheiden kann: an der geflochtenen Decke des Käfigs, die Oberseite nach unten, rückt es weiter, als ginge es auf ebener Oberfläche; über dünne Zweige seiltänzert es mit derselben Gleichmäßigkeit und Sicherheit weg. Unten angekommen, läuft es mäuseartig behend über den Boden hin, macht am Futternapfe Halt, beriecht die Nahrungsstoffe, wittert sofort die den Nüssen, Eicheln, Weizenkörnern und Möhrenstückchen beigegebenen Fleischbröcklein, nimmt eines davon zwischen die Hände und verzehrt es, in artigster Eichhornstellung sitzend, huscht sodann weiter, spiegelt sich in dem Trinkwasser, nähert das niedliche Mäulchen vorsichtig der Oberfläche und tränkt sich, mehr schlürfend als leckend, zur Genüge, kehrt wiederum zum Futternapfe zurück, holt sich eine Nuß heraus, springt, mit ihr im Maule, die volle Breite der Fallhaut entfaltend, auf eine Sitzstange und klebt unmittelbar darauf, ohne auch nur eine Anstrengung zur Herstellung des Gleichgewichtes zu machen, als sei es ein zum Aste gehöriger Knorren.

Inzwischen ist eines nach dem anderen aus dem Schlafkasten hervorgehuscht, jedes hat sich ohne längeres Besinnen dem oder den unten Beschäftigten zugesellt, dieses hat sich zuerst zum Futter, jenes zuerst zum Trinknapfe gewendet und jedes ein Bröckchen, ein Nüßchen sich zugeeignet. In allen denkbaren Stellungen, welche ein Nager annehmen kann, hockt und sitzt, klebt und hängt, läuft und klettert es hier oder da in Winkeln und Ecken, auf Sitzstangen und Wänden des Käfigs.

Der erste Durst ist mit dem ersten Trunke, der erste Hunger etwas später, obschon bald genug gestillt; nunmehr geht es an das Putzen. Jedwedes Köpfchen wird mit Speichel gewaschen, mit den Nägeln der Vorderfüße gekämmt, mit den Handflächen geglättet; [681] dann kommt die Bauchseite, hierauf der Rücken und endlich der Schwanz daran. Dabei dreht und wendet, streckt und beugt sich das Thierchen, als ob seine Haut ein Sack wäre, in welchem der Leib lose steckt, wäscht, so weit es mit der Zunge reichen kann, kämmt die erreichten Stellen mit den Zähnen durch und zerrt mit beiden Händen andere Theile des Balges herbei, um überall fertig zu werden. Endlich ist auch dieses wichtige Geschäft beendet worden, und es regt sich die Lust zu freier, ja, ausgelassener Bewegung.

Eine kurze Weile noch sitzt unser Flughörnchen, wie überlegend, still auf der Stelle, welche es während der Ordnung seines Kleides inne gehabt. Dann folgt ein Sprung mit voll ausgebreiteter Fallhaut, quer durch die Weite des ganzen Käfigs. Nur einen Augenblick, nein kürzere Zeit noch, klebt es an der Wand, denn schon hat es sich rückwärts geworfen, rennt eine Sitzstange entlang, ist im Nu zum Ausgangspunkte zurückgekehrt und ebenso rasch irgendwo anders. Und nunmehr beginnt ein spielendes Durcheilen des Käfigs, welches keine Feder wahrheitsgetreu beschreiben kann. Auf und nieder, kopfoberst, kopfunterst, hin und her, oben an der Decke weg, unten längs des Bodens fort, an der einen Wand herab, an der anderen hinauf, durch das Schlafkästchen, an dem Futternapfe vorüber zum Trinkgeschirr, aus diesem Winkel in jenen, über die Sitzstange dahin, oben, unten, seitlich, laufend, kletternd, springend, hängend, klebend, rennend, gleitend, sitzend: – so und noch hundertfach verschieden bewegt sich das Thier, als ob es „tausend Gelenke zugleich regen“ könne, als ob es keine zu überwindende Schwere gäbe, als ob es aufjubeln wolle oder müsse vor lauter Freude über der Lust der Bewegung. Bis auf Fußweite trete ich langsam an den Käfig heran; scharf blicke, auf das Genaueste achte ich jeder Bewegung, wiederhole das forschende Folgen zehn, zwanzig Male, versuche, die Wahrnehmung meiner Sinne zu berichtigen und – gestehe beschämt, daß ich dem Flughörnchen nicht folgen, daß ich seine Bewegungen nicht verstehen, weil nicht von einander unterscheiden kann. So klettert kein anderer Säuger, so kein anderes Thier überhaupt: der Geko mit seinen Klebefingern, welche wie Schröpfköpfe wirken und deshalb eine giftige Feuchtigkeit ausspritzen sollen, der Geko, welcher neuerdings noch von gelehrten Herren verleumdet worden, weil er sich in einer ihnen unbegreiflichen Weise bewegt, ist, so geschickt er auch jede senkrechte Fläche begeht, ein Stümper, die Spechtmeise ein Lehrling, das Eichhörnchen ein Anfänger in der Kunst diesem Meister gegenüber. Und dabei beweist mir dieser Künstler ohne Gleichen, daß er eben nur spielt, denn er beendet das tolle Jagen jederzeit, nach Ermessen und Belieben, so überraschend, daß ich immer noch mit dem Auge umherschweife, während er bereits regungslos auf einem bleistiftdünnen Zweige sitzt, als sei er nie in Bewegung gewesen. Und wieder ein Sprung, und wiederum das ganze Flughörnchen, das wahre Urbild eines geträumten, raumverachtenden Wesens. Und nun noch ein solcher Springer, und endlich noch ein dritter – –

„Wenn sie nur alle sieben herauskommen wollten, Herr Doctor,“ sagt der mit mir beobachtende Futtermeister, „das müßte hübsch anzusehen sein!“

„Nein, alter Seydel, da würde man gar nichts weiter sehen als umherschwirrende Schatten – die wahrhaftigen Gespenster. Aber vergleichen wollen wir: bringen Sie ein Erdeichhörnchen in den Käfig!“

Der kaum größere, wegen seiner Gewandtheit berühmte Ordnungsverwandte wird zu den Flughörnchen gesetzt, von diesen erst angestaunt, dann berochen, endlich geneckt und läuft und springt und klettert, so gut er es vermag. Es sieht aus, als krieche er neben den Flughörnchen seines Weges dahin: seine Sprünge erscheinen schwerfällig, seine Bewegungen langsam im Vergleiche zu denen seiner Genossen. Weg mit ihm!

„Ich glaube,“ läßt sich der Futtermeister wieder vernehmen, „der Siebenschläfer thut’s ihnen gleich. Einer, welchen ich jung aufgezogen hatte –“

„Versuchen wir es meinetwegen auch mit dem Siebenschläfer!“

Es wird, unter Beobachtung aller durch die Wuth und Beißlust des unliebenswürdigen Nagers gebotenen Vorsichtsmaßregeln, ein Siebenschläfer zu den Flughörnchen gebracht. Auch er klettert, läuft und springt, gleichsam zur Probe; ein Tölpel den Künstlern gegenüber. Weg mit ihm!

„Ja, denen thut’s doch kein Anderer gleich,“ sagt Seydel, von dem alle Thiere als Personen angesehen, behandelt und angesprochen werden.

Einmal beim Anstellen derartiger Versuche, ließ ich noch andere Thiere zu den Flughörnchen setzen, um zu erfahren, wie sie sich diesen gegenüber betragen möchten. Das Erdeichhörnchen hatten sie offenbar mit großer Theilnahme betrachtet, längere Zeit beobachtet, berochen und schließlich wohl als ungefährliches Geschöpf erkannt, wenigstens bekümmerten sie sich anscheinend bald gar nicht mehr um dasselbe; der Siebenschläfer dagegen wurde vom Anfange an als verdächtig beargwöhnt und gemieden, bezüglich geflohen, wenn er sich einem der rechtmäßigen Käfigbewohner zu nähern suchte. Diese waren von dem Erdeichhörnchen ebenfalls ohne Furcht und gleichgültig, von dem Siebenschläfer aber, wie bei ihm üblich, mit übler Laune behandelt worden. Jetzt kam eine Springmaus an die Reihe. Sie schien durch den Käfig weit mehr gefesselt zu werden als durch die Flughörnchen, welche gar nicht beachtet wurden, während diese ihrerseits dem seltenen Gaste vom ersten Augenblicke des Bekanntwerdens an ihre vollste Aufmerksamkeit zuwandten. Eines nach dem anderen gleitet zum Boden nieder und nähert sich dem Fremdlinge, um ihn kennen zu lernen. Der lange Schwanz desselben erregt die allerhöchste Theilnahme, sein Träger aber keineswegs auch Beifall. Denn ehe es sich die wegen der kleinen Kletterer unbesorgte Springmaus versieht, hat sich einer von jenen des langen Schweifes bemächtigt und bearbeitet ihn mit Händen und Zähnen. Aergerlich schnellt die Springmaus in die Höhe und schüttelt mit gewaltigem Rucke den neckischen Plagegeist ab; doch schon hängt wieder ein anderer an derselben Stelle, und es bleibt Nichts übrig, als das friedliebende Thier zu seines Gleichen zurückzuversetzen.

„Wissen Sie wohl, Seydel, daß ich diesen kleinen Flattergeistern entschiedene Raubthiergelüste zutraue? Setzen Sie schließlich noch den Grünling zu ihnen in den Käfig!“

Der Grünling hat viele Tage mit Schlangen das Gefängniß getheilt, ohne gefressen worden zu sein, ist also gewitzigt und achtet mit ängstlicher Sorge auf jede Bewegung der Flughörnchen. Diese ihrerseits gerathen beim Erscheinen des Vogels förmlich in Aufregung: sie sehen eine Beute in ihm, und eines beginn sofort die Jagd. Der Grünling ist auf seiner Hut und entgeht, als ein im Gebauer eingewohnter, mit Gefahren vertrauter Vogel, glücklich dem ersten, dem zweiten Angriffe. Alle Achtsamkeit und Gewandtheit ist jedoch vergebens. Schon mit dem dritten Schwunge hat ihn der Nager gepackt, und nur unser Einschreiten rettet ihm das Leben, welches fortan Gefahren nicht weiter ausgesetzt werden soll.

Die unangenehme Täuschung ist bald überwunden, und wiederum beginnt das alte Treiben, das jeder Beschreibung spottende Laufen, Rennen, Klettern, Schwingen.

„Ja, wer Das nicht mit eigenen Augen gesehen hat,“ sagt Seydel, „der glaubt es nicht.“

Und darin hat der Mann Recht.




Aus meinem Leben.
Vom Capellmeister Dorn in Berlin.
Nr. 1.0 Ein Concertabend am Hofe des Herzogs von Cumberland.

„Wollen Sie mit der Catalani reisen?“ fragte mich Concertmeister Möser im April 1827; „Madame hat mir aufgetragen, für einen Accompagnateur zu sorgen, der sie begleiten soll auf ihrer Tour nach Dänemark, Schweden und Norwegen.“ Angelica Catalani, Marquise de Valabrégue (geb. 1780 oder 1784, denn hierüber sind die Angaben verschieden) hatte bereits die Linie passirt, als sie zu jener Zeit nach Berlin kam, um sich wieder öffentlich hören zu lassen. Man wußte nicht, ob ihr zweimaliges Directorat der italienischen Oper in Paris oder das zweifelhafte Marquisat des Herrn Gemahls die Schuld trug, daß, bei allem

[682] Geiz, den man ihr vorwarf, die von 1801 bis 1814 in Lissabon und London gesammelten Schätze nicht mehr ausreichen wollten, und daß sie es für nöthig befand, noch im Jahre 1827 ihren europäischen Ruf auf’s Spiel zu setzen. Indeß wurde die Kühnheit durch guten Erfolg gekrönt. Sie sang viermal im k. Opernhause, den 6., 12., 22. April und am Bußtage den 8. Mai – außerdem einmal in der Garnisonkirche – im Ganzen sechszehn Arien, darunter zwei aus Händel’s Messias und zwei von Mozart (die Sextusarie „parto“ und auffallender Weise Figaro’s Baßarie „non piú andrai“), die übrigen Nummern von meist unbekannten wälschen Componisten, und als Zugabe einmal das „Rule, Britannia!“ Sie gehörte durch und durch der alten italienischen Schule an, ohne jedoch alles das vollendet machen zu können, was diese ausgeführt haben will; so zum Beispiel war ihre Kehlfertigkeit nicht bis zu dem Grade gebildet, um Mozart’s Coloraturen brillant hervortreten zu lassen; aber die wunderbar sympathische und noch immer – obgleich minder als ehedem – kräftige Stimme übte einen hinreißenden unwiderstehlichen Zauber aus, der zum Theil auch begründet war in dem Stylvollen ihres Gesanges. In solcher Weise hatte man seit Jahren nicht mehr singen hören; es war eine ausgesprochene und abgeschlossene Individualität mit einer absonderlichen und grandiosen Methode, die hier dem Publicum anfänglich vielleicht befremdend, dann aber immer gewinnender gegenüber trat. Das englische Volkslied „Rule, Britannia!“ schlug selbst ohne alle politische Veranlassung in einer Weise durch, wie man es in Deutschland nicht für möglich halten sollte; in London hatte die Catalani es bekanntlich immer zur Ermuthigung vortragen müssen, wenn die Nachrichten von neuen Napoleonischen Siegen auf dem Continent eine zaghafte Stimmung unter den Insulanern Platz greifen ließen.

Am Concertabend des 22. April, als sie das Lied im königlichen Opernhause singen sollte, begab sich ein komisches Intermezzo, dessen Hauptacteur heute noch Mitglied des Berliner Hoftheaters ist. Das Publicum war durch die öffentlichen Blätter schon mehrmals auf das God save the king der Catalani hingewiesen worden, und so wurden Wünsche laut, die auch zum Ohr des Intendanten Grafen Brühl drangen. Dieser fühlte sehr richtig, daß ein reglementmäßig vorgeschriebenes „Heil Dir im Siegerkranz“, wenn auch ohne deutschen Text, doch im Hoftheater, mit Ausnahme an den bezüglichen Festtagen, und namentlich bei dem allen Demonstrationen abgeneigten Sinn des alten Königs, leicht Anstoß erregen könnte. Es wurde aber verabredet, daß die Catalani eine italienische Arie mit begleitendem Männerchor als vorletzte Nummer des Programms, und hinterher das auf dem Zettel angekündigte Finale „Rule, Britannia!“ vortragen sollte. Die Herren vom Chor erhielten in der Probe die Ordre, ruhig während des englischen Volksliedes stehen zu bleiben, damit für den Fall, daß gleich darauf die preußische Nationalhymne vom Publicum verlangt würde, die Wiederholung des zweiten Theils mit vollem Chorus gesungen werden könnte. Zu größerer Sicherheit probirte man Vormittags dies Arrangement, und Abends ertönte a tempo regolato aus Parquet und Logen der Ruf: „Heil Dir im Siegerkranz.“ Nun gab es schon damals in Berlin, wie jetzt noch, unter den Theatersängern sogenannte Bratenbarden, und einer derselben hatte für den Vormittag Urlaub zu einer Festivität nach Charlottenburg bekommen, aber des Abends sollte er zur italienischen Arie wieder zurück sein. Er kam auch, jedoch etwas angeheitert und zu spät; denn die Arie war vorüber, und „Rule, Britannia!“ war vorüber, und eben sollte das Ritornell zur quasi improvisirten Schlußnummer beginnen. Da erblickt der auf der Bühne inspicirende Director Leidel den mit einer riesenmäßigen Baßstimme begabten, zwischen den Coulissen rathlos umherwankenden Spätling, und um dessen kräftige Unterstützung nicht entbehren zu müssen, ruft er ihm zu: „Hierher, mein Junge, Heil Dir im Siegerkranz!“ Gesagt, gethan; während das Orchester unter Möser’s Leitung die ersten sechs Tacte als Ritornell spielt, hat sich der weiter nicht instruirte junge Mann zu seinen Collegen herangedrängt, und in dem Augenblick, da Angelica den Mund öffnen will, schnappt er ihr den Bissen fort, und mit seinem bärenhaften Organ intonirt er plötzlich aus dem Fond der Bühne ganz solo: „Heil Dir im …“; weiter kam er nicht, denn schon merkte er den Fauxpas und verflüchtigte sich eben so rasch, als er sich versammelt hatte. Es dauerte eine Weile, bis die erschrockene Catalani, im weißen Atlaskleide und eine schwankende Reiherfeder auf dem Haupte, sich wieder so weit erholte, um mit gewohntem königlichem Anstand ihr God save the king vortragen zu können.

Zu ihr nun wurde ich vom Concertmeister Möser geführt und als derjenige vorgestellt, welchen er für fähig und willig befunden, die skandinavische Kunstreise anzutreten. Nachdem ich mich auf Verlangen sofort an den Flügel gesetzt und aus vergilbten Partituren zwei alte italienische Arien (von Cordella und Cianchettini) accompagnirt hatte, schien die Primadonna mit ihrem künftigen Correpetitor und Capellmeister zufrieden, denn ich wurde gleich für einen der nächsten Abende zum Concert im Sommerpalais des Herzogs von Cumberland, des spätern Königs Ernst August von Hannover, beordert, wozu sie mir vertrauensvoll jede Probe erließ, da sie selber noch nicht wußte, was die königliche Hoheit commandiren würde. Schon am Morgen des folgenden Tages erhielt ich vom Kammerjunker des Herzogs, dem späteren Hofmarschall von Linsingen, eine officielle Einladung, um acht Uhr in Schönhausen zu erscheinen. Berlin selbst kannte ich sehr genau, aber die Umgegend war mir damals sogar bis auf die Namen eine terra incognita. Mit vielem Behagen schlürfte ich auf dieser Tour zum Hoflager im Vorgefühl künftiger Reiseabenteuer die laue Maienabendluft ein und ergötzte mich daran, zum ersten Mal die Potsdamer Chaussee in nähern Augenschein zu nehmen, welche ich bis dahin immer nur bei Gelegenheit der Schulgarten- und Kemperhof-Concerte dicht vor dem Thore betreten hatte. (Auch der Kemper Hof, wie so viele andre Höfe, existirt nicht mehr; vor etwa zehn Jahren mußte er mit seinen schönen alten Bäumen der Victoriastraße weichen, und wo sonst die Orchestertribüne stand, erhebt sich jetzt ein hohes palastähnliches Gebäude, und in ihm als Ersatz für all die verscheuchten, ehemals dort heimischen Singvöglein hat Pauline Lucca ihr Nest aufgeschlagen.)

Endlich hält meine offne Mieths-Equipage vor einer großen Mauer; ich frage den Kutscher, wo denn das Schloß liege – aber er bestreitet, daß in Schöneberg ein Schloß existire, hier gebe es nur den botanischen Garten, sonst nichts. „Und das Schloß des Herzogs von Cumberland?“ „Ja, du lieber Himmel, das ist gar nicht in Schöneberg, das ist in Schönhausen.“ In der Geschwindigkeit hatte ich Süden und Norden verwechselt! Die Pferde wurden getränkt, und nun ging’s in möglichster Eile durch die ganze Stadt zurück, zum entgegengesetzten Ende wieder heraus und nach dem eine Meile von Berlin hinter Pankow gelegenen Schönhausen, wo ich denn möglichst bestaubt vor dem königlichen Palais abstieg.

Die Gesellschaft saß im Garten um einen großen runden Tisch versammelt; die Catalani lebhaft sich unterhaltend zwischen dem Herzog und dessen Gemahlin, einer Schwester der Königin Louise von Preußen. Als ich von einem Kammerdiener durch das Schloß geführt in’s Freie hinaustrat, bemerkte mich die Catalani zuerst und theilte mein Vorhandensein einer der jüngern Damen mit, welche sehr verbindlich mir entgegenkam und mich ohne weitere Vorstellung an den kleinen Theetisch brachte, auf welchem die Maschine brodelte. Dieses junge hübsche Fräulein, eine Prinzessin von Solms-Braunfels und Tochter der Herzogin aus deren erster Ehe, bediente mich auch selber und sprach über die projectirte Reise nach Kopenhagen etc., wofür ich ihr meine so eben überstandene Irrfahrt nach Schöneberg erzählte; dann aber ging sie zu dem großen Tisch zurück, und ich blieb nun mutterseelenallein, ohne mich in nächster Nähe des Hofes selbstständig bewegen zu können.

Diese erbarmungswürdige Existenz weckte das Mitleid eines schönen achtjährigen Knaben, der bis dahin abwechselnd auf dem Schooß der Catalani gesessen oder sich auf den Knieen seines Vaters, des alten Herzogs, geschaukelt hatte. Er kam auf mich zu und sagte: „Folgen Sie mir, ich werde Ihnen den Park zeigen.“ Mein kleiner Führer nahm mich bei der Hand, und that, wie er verheißen. Aber der Park war, und ist noch heutigen Tages, sehr unbedeutend; es gab nicht viel zu sehen … und so fing denn das Kind an von seinen Reisen zu erzählen, das heißt der junge Prinz beschrieb mir die Costüme aller Postillone in den kleinen deutschen Staaten, welche er kürzlich mit seinem Papa besucht hatte. Dabei aber ließ er jene interessanten Menschen in dreifacher Erscheinung – in Stalljacke, gewöhnlichem Dienstanzug und Paradeuniform – vor meine Phantasie treten; und das ging nun durch die anhaltiner Länder: Dessau, Cöthen, Bernburg, durch Reuß: Greiz, Schleiz und Lobenstein, durch Coburg, Gotha, Hildburghausen und durch Altenburg immer tiefer hinein in’s heilige römische Reich, vom Stiefel mit Sporn bis zum Hut mit Federbusch. [683] Mir schwindelte vor diesem echt königlichen Gedächtniß, welches zwar mitunter um einen Knopf oder um eine Schnalle und farbige Litze irrte, aber sich dann auch sofort verbesserte.

„Doch Sie hören ja gar nicht mehr zu,“ sagte plötzlich Mentor zum Telemach, „und ich erzähle das Alles nur um Sie zu unterhalten.“

„Bitte um Verzeihung, königliche Hoheit, ich war ganz Ohr!“ und mit wahrer Wollust stürzte sich der Knabe wieder in die postalische Tiefe.

Endlich schlug die Stunde der Erlösung, ein herzoglicher Lakai beorderte uns nach dem Schlosse zurück. Die Gesellschaft, welche sich unterdeß um einige ältere Herren vergrößert hatte, war bereits im oberen Saale versammelt. Die Catalani stellte mich dem martialischen Cumberland vor, und nun ging’s direct an das Pianoforte, ich in der Mitte – an meiner rechten Seite saß der hohe Wirth und genirte mich beim Blattumwenden um so mehr, da er sich, trotz seiner Einäugigkeit, darauf capricirte in die Noten zu sehen – an meiner Linken saß die Sängerin – und zwischen ihr und mir stand der kleine Herzogssohn, abwechselnd der Catalani in den Mund oder mir auf die Finger blickend. Er schaute mit den klaren Augen so lustig drein, daß wohl Niemand auf die Idee gekommen wäre, wie ein unerbittliches Geschick diese beiden hellen Sterne so bald in ewige Nacht tauchen sollte! Meine Position war in solcher nächsten Umgebung nicht eben beneidenswerth und sie wurde es noch weniger, als nach einigen Messiasnummern der alte Herr den Einfall kriegte, Duette aus der „Semiramis“ zu verlangen, weil er es für ganz selbstverständlich hielt, ein junger Musiker, der Clavier spiele, müsse auch Stimme haben und singen können. Zufällig traf diese Voraussetzung bei mir ein, und ich mochte mich als Assure wie als Arsace wohl leidlich genug aus der Affaire gezogen haben – wenigstens kargte die Catalani nicht mit mezza voce zugerufenem Bravo. – Nach jedem der vorgetragenen Musikstücke wurde eine Pause gemacht, während welcher sich der Herzog, ohne den Platz zu verlassen, in englischer Sprache, von der ich nicht ein Wort verstand, mit der Sängerin hinter meinem Rücken unterhielt, so daß wir alle drei eine volle Stunde lang nicht vom Clavier aufgestanden sind; unterdessen tippte der kleine Cumberland langsam prüfend auf den Contratasten umher, und da ich nichts zu thun hatte, begleitete ich seine zufälligen Bässe mit improvisirter Harmonie, die seine volle Aufmerksamkeit erregte; auch hat sich später bei dem jungen Mann wirklich musikalisches Talent entwickelt. – Die Catalani schloß mit den Rode’schen Variationen.

Als das Concertino beendet war, trat die Frau Herzogin auf mich zu, sagte mir allerlei Schönes und zeigte sich als eine so enragirte Freundin kirchlicher Musik, daß ich gleich und nicht vergeblich um die Erlaubniß bat, ihr eine geistliche Cantate (der Erlösete opus 6) dediciren zu dürfen. Zuletzt folgte stehenden Fußes ein ziemlich einfaches Souper, bei welchem ich die Bekanntschaft des auf Urlaub in Berlin anwesenden, am dänischen Hofe accreditirten preußischen Gesandten (ich glaube von Rheden) machte, der sehr ungenirt den Souverain in Kopenhagen nicht einen hohen, sondern einen rohen Herrn nannte, auch der schwedische Gesandte, Herr von Brendel, eine in musikalischen Kreisen allgemein beliebte Persönlichkeit, war unter den Gästen und sprach sehr ausführlich über die künstlerischen Verhältnisse in Stockholm. Leider sollte ich mich von denselben nicht durch eigene Anschauung überzeugen können, denn schon zwei Tage später überraschte mich Möser mit der Nachricht, daß die Catalani, in Folge schlimmer Botschaften aus Italien, ihre nordische Expedition abgegeben, und Hals über Kopf in dolce patria zurückgekehrt sei. Ich habe sie nicht wiedergesehen. Sie starb 1849 in Paris an der Cholera, und zwei Jahre später bestieg, Der im Mai 1827 auf ihrem Schooß gesessen, den Königsthron von Hannover.

Und wo sah ich ihn wieder? Am 7. Januar 1861 wurde Friedrich Wilhelm der Vierte in Potsdam zu Grabe getragen. Die zunächst der Leiche Folgenden waren der jetzt regierende König von Preußen und von ihm geführt sein blinder Vetter, Georg der Fünfte von Hannover. Vor ihnen Beiden im Sarge lag der Mann, welcher 1848 die deutsche Kaiserkrone zurückgewiesen hatte.




Aus vollem Menschenherzen.

Wissenschaftliche Novellette von A. Bernstein.
(Schluß.)


„Demokritos erklärte dem armen Pygmalion nun, daß er blos mit den Beinen in der Philosophenhöhle stecken müsse, weil ihnen am geistlosesten Theil des Leibes das Lachen nicht gegeben ist. Sein Oberkörper, der das Lachen übt, gehöre dem Sonnenlicht und der Welt an, die von außen her den Menschen den Geist einflößen.

‚Die Thoren da unten‘ – fuhr er fort, – ‚meinen, daß die Götter oder die Natur den Menschen eine Portion Geist mitgegeben auf die Welt, die er nach und nach in Gedanken ausgiebt. Wäre dem so, so müßten die Kinder mit der höchsten Portion des Geistes auf die Welt kommen, während wir ja sehen, daß sie da noch dümmer als die Kälber sind. Wann aber merkst Du die erste Spur des Geistes an ihnen? wenn sie das Weinen, ihr erstes Lebenszeichen, überwunden und anfangen Dich anzulächeln. Wenn sie klüger werden und die Mutter anlachen, so ist das ein Zeichen, daß vom Geist ihnen mehr und mehr zugekommen ist. Das Thier kann heulen und jammern und ist geistlos durch sein ganzes Leben. Der lachende Mensch ist der Träger des Geistes.‘

‚Und nun, armer Junge,‘ fuhr der lachende Philosoph fort, ‚merke auf, und Du wirst begreifen, woher das kommt und was Deinem Weibe fehlt, um Geist zu haben.‘

‚Wie kein anderes lebendes Wesen wird der Mensch in Schmerzen geboren. Wie keines sonst tritt er weinend in die Welt. Diese Schmerzen sind die Erwecker seines Lebens. Ihn schmerzt das Athmen. Ihn schmerzt das Tageslicht. Ihn schmerzt die Kälte der Luft. Aber im Schmerz empfängt der Neugeborene die Eindrücke der Welt außer ihm und wird die Welt und die Dinge um ihn nach und nach gewahr. Dieses Gewahrwerden und Erkennen nennen wir Geist, der sich nach jedem neuen auf den Menschen eindringenden Schmerz immer wechselnd und wachsend kund giebt, und der im Schwinden des Schmerzes sich äußert als Geist, im Lachen.‘

‚Und nun,‘ fuhr der Philosoph lachend fort, ‚nachdem Du selber Deinen Schmerz von da unten überwunden hast und ein lachender und geistbegabterer Mensch geworden bist, nun setze Dich näher her zu mir und höre, was Deiner Frau fehlt.‘

Pygmalion gehorchte; und da er wieder eine traurige Miene annahm, stieß ihn Demokritos mit den Ellenbogen an die Seite und lachte so herzhaft, daß der Geist und das Lachen auch seinem Schüler wiederkehrte.

‚Deine Frau, mein guter Junge, ist eine geborene von Stein. Sie ist nicht in Schmerzen zur Welt gekommen, das Licht der Sonne hat sie nicht geblendet, das Athmen der Luft hat ihr nicht weh gethan, die Kälte war sie als Marmorblock gewohnt. Sie war kein Wickelkind, dem jedes Band weh thut, Du hast ihr Zähne gemacht ohne Schmerzen. Sie ist nie aus der Wiege gefallen. Sie hat sich niemals den Kopf am Stuhl, am Tisch gestoßen. Sie hat niemals die Gefahren des Gehenlernens zu überstehen gehabt. Sie hat keinen Keuchhusten, keine Masern, keinen Scharlach bekommen. Sie hat nie über Schularbeiten geweint. Sie hat nie im halberwachsenen Zustand, gleich anderen Mädchen, in schmerzlicher Liebeseinbildung geschwärmt. Sie hat nie als Jungfrau die große Sorge empfunden, wo sie einen Mann herbekommen soll. Du hast sie Dir als Stein, der keine Empfindung von der Außenwelt hat, fix und fertig gemeißelt. Auf Dein Bitten hat sie Zeus belebt und da hast Du sie auf dem Fleck geheirathet. Lieber Junge, das war ein dummer Streich! Wie sollte da wohl der Geist in sie hineingekommen sein?!‘

Da Pygmalion in richtiger Würdigung des Gesagten den Kopf traurig sinken ließ, stieß ihn der Philosoph wieder mit dem

[684] Ellenbogen in die Seite und lachte und lachte so lange, bis auch Pygmalion ein Gleiches that.

‚Und nun, mein Junge,‘ sagte Demokritos, ‚soll Dir geholfen werden! Du mußt mit einem Male gut machen, was Du an Deinem guten Weibe verfehlt. Frisch auf, thu, was ich Dir sage, Du wirst Dein Wunder sehen, wie vollkommen dies helfen wird. Renne schnell heim, spring in’s Zimmer hinein und sage: Guten Morgen, liebes Weib! und gieb ihr eine derbe Ohrfeige.‘“

„O Himmel,“ schrieen die Zuhörerinnen, die bisher dem Vortrage mit Spannung gefolgt. „O Himmel!“ – „Entsetzlich!“ - „Schändlich!“ – „Schmachvoll!“ – „Barbarisch!“ - „Wie roh!“ - „Wie sündhaft!“ - „Welche Blasphemie!“ - rief’s durcheinander, während die Zuhörer des Lachens sich nicht erwehren konnten. Fräulein Laura sprang auf, bereit, dem Entsetzlichen zu entfliehen, was sie nicht mehr anhören mochte. Aber Dr. Schwarzkopf erhob sich gleichfalls und rief ein so gebieterisches „Ruhe!“, daß für den Moment eine Stille entstand, jedoch eine so gespannte Stille, daß man dem sofortigen Ausbruch eines ernsten Sturmes entgegensehen mußte.

Der Sturm folgte nicht. Der Vortragende machte eine Armbewegung in so milder Schönheitslinie, um deren Effect ihn jeder Kanzelredner, der seine Carrière nicht verfehlt, hätte beneiden können; und auch den andern Arm wie zur zarten Bitte harmonisch bewegend, sprach er mit heiterer Sanftmuth: „Wohlgefällig ist jeglichem Ohr die Stimme Ihrer christlichen Entrüstung gegen die heidnische Barbarei! Wohl wußte ich, welch' ein hohes Gelöbniß Sie in meine Hand abgelegt, als Sie mir philosophische Ruhe versprachen. Aber dem höheren Bewußtsein der Civilisation, die sich ihrer vollen Glaubens-Errungenschaft bewußt ist, ziemt diese Ruhe gegenüber dem heidnischen Wesen; zumal das Ende meiner Erzählung Ihnen ein ganz anderes Ergebniß zeigen wird, als Sie es wohl erwarten möchten.“

Es ist schwer zu entscheiden, ob die Civilisation des Christenthums, oder das Gelöbniß der philosophischen Ruhe, oder die Verheißung eines ganz unerwarteten Ergebnisses die Geister der Zuhörerinnen beschwichtigte. Die Damen, noch voll von Entrüstung, schwiegen wirklich; selbst Fräulein Laura, die am mißtrauischsten schien, unterdrückte den Ausruf, daß sie nur noch etwas Barbarisches werde hören müssen. Sie begnügte sich, ihren Unglauben mit einer lebhaften Bewegung ihrer Finger kund zu geben, die Dr. Schwarzkopf schon öfter für das einzige Perpetuum-Mobile erklärte, welches ihm wohlgefalle.

„Lassen Sie mich,“ begann der Vortragende wieder im Lehrstuhl wie demüthig gebeugt dasitzend – „Lassen Sie mich flüchtigen Wortes hinwegeilen über die That des barbarischen Heidenthums. Pygmalion kam. Er fand sein edles Weib in ihrer Lieblingsstellung, in derselben nämlich, welche er selber ihr gegeben, als er sie aus dem Stein zum Kunstwerk ausgebildet. Jetzt war ihm gerade diese Stellung die entsetzlichste geworden. Das ganze Unglück übermannte ihn mit einem Male. Er stürzte auf sie zu und – es geschah das Entsetzliche.“

„Was aber folgte?“ fügte der Vortragende schnell hinzu und machte jetzt erst eine Pause, in der richtigen Gewißheit, daß sie nicht unterbrochen werden würde. – Sodann fuhr er fort: „Es entwickelte sich in wenig Augenblicken das Problem der Probleme. Mit unnennbarem Schmerz sprang Frau Pygmalion drei Schritte zurück. Hier richtete sie sich in einer Stellung auf, die der Gatte sie nie gelehrt, und mit einer Stimme, wie er sie nie von ihr gehört, rief sie aus: ,Ha, Tyrann, mir versetzest Du Eins ins Angesicht! O, warum nicht lieber gleich drei Ohrfeigen mit Einem Male, Du Barbar! – Welche Idee hast Du von mir, wenn Du meinst, daß ich mir dergleichen gefallen lassen muß! Bin ich etwa noch eine empfindungslose Materie wie der Stein, in dem Du Deine thörichten Künstler-Ideen zur Erscheinung bringst? Elender, lebe ich nicht Eins in mir und für mich selbst! Ich denke, daß Du wissen solltest, wer ich bin und was ich bin! Oder bin ich nicht ich? Ha! welche Verzweiflung packt mich über solch ein Sein, das ich nicht fassen kann!‘ – Und sie schlug sich selber verzweifelnd die Hände in’s Antlitz und neigte sich und beugte sich in schmerzlichem Weinen.

Und der unglückliche Gatte!?

Er hatte kaum die That begangen, als ein Zittern seine Seele faßte, da vernahm sein erstauntes Ohr, wie sie von Eins, von Drei, von Idee, von Materie, von Identität in sich, von Denken, daß sie sei, sogar von ich bin ich und vom Sein sprach, und er stürzte vor ihr nieder und umklammerte ihre Kniee und rief vor Begeisterung weinend aus: ‚O herrliches Weib! himmlisches Wesen, Du bist der Inbegriff alles Geistes, wie Du der Inbegriff alles Schönen stets gewesen! O, blicke herab auf Deinen armen Gatten, der in Schmerz vergeht bei Deinem großen Schmerze und wiederum in Lust aufjauchzet, wenn er die Weisheit Deiner Urgedanken hört! O, daß ich Dich so verkennen konnte, wo ich den Inbegriff aller philosophischen Systeme in Dir, Du Himmlischste der Himmlischen, habe! Ach, sei gütig und laß mich die Hände Dir vom holden Antlitz nehmen, an dem ich zum elendesten Verbrecher wurde.‘ Er ergriff ihre Arme und zog sie sanft nieder. Er blickte weinend auf zu ihr und sie weinend, nach und nach in milderen Thränen, zu ihm nieder, bis sie sich beugte in Schmerz und Wehmuth über ihn und endlich schluchzend ihn gar zum ersten Male anlächelte. Als er nun auch dieses sah, da richtete er in einer Andacht – so weit sie ein Heide haben kann – den Blick nach oben und rief jubelnd aus: ‚O Zeus, Du hast mir das geistreichste Weib gegeben! Nun bin ich ganz, ganz, ganz glücklich!‘ –

„Und er war glücklich!“ fügte der Vortragende nach einer Pause hinzu, „auf wie lange? - die Tradition schweigt darüber.“

Da sich Dr. Schwarzkopf verneigte und zum Zeichen, daß er fertig sei, langsam vom Sessel erhob, brach der langverhaltene Sturm mit einem Male los. Die Herren lachten, selbst der stille Psychologe lächelte und der alte Professor ging auf den Redner zu und sagte ihm lachend, daß er es doch gar zu arg mit der Philosophie treibe. Die Damen aber versicherten einstimmig, daß sie nie etwas Anderes von ihm erwartet hätten und nur das interessante Phänomen, ihm in den Irrgängen seiner „verfehlten Carrière“ zu folgen, habe ihnen Geduld, oder richtiger schweigendes Mitleid, auferlegt. „O,“ rief Fräulein Laura, „der Herr Doctor hat uns ein Problem der Probleme gelöst. Wir wissen“ – und sie streckte ihre kleinen Hände wie abwehrend gegen den Redner aus – „daß dies in der weiblichen Nachsicht liegt, die nicht ermüdet, immer auf’s Neue nach einem Zuge edleren Gefühls dort zu lauschen, wo uns die Erfahrung lehrt, daß wir nur Blasphemie zu erwarten haben!“

„O, nicht doch,“ rief Fräulein Anna dazwischen, „weshalb sollten wir einen Lehrvortrag schmähen, der uns nur zeigen wollte, wie die stille Duldsamkeit der Frauen durch die Brutalität der Männer gemißbraucht wird?“

„Nein,“ fiel Fräulein Florentine ein, „nicht dieser Schlag in’s Antlitz des Weibes ist das Empörendste; der Schlag gegen alles Ideale, das die Gedankenwelt aus der innersten Natur des eingeborenen Menschengeistes aufzuerbauen suchte, ist es, der uns Entrüstung einflößt! Und daß die Herren hier lachen,“ sagte sie mit einem Blick auf den Physiker, „beweist uns, daß sie in der That ihren Platz neben Demokritos, dem Vater ihrer gepriesenen Atom-Theorie, verdienen, obwohl sie alle stolz darauf sind, Doctoren der Philosophie zu heißen.“

Entschuldigungen der Herren, Einreden, Vertheidigungen des so hart Angegriffenen und dazwischen die entfesselte Erregung der tief empörten Zuhörerinnen, die sich in erbitterte Bemerkungen gegen die ganze realistische Weltanschauung der jetzigen Männerwelt Luft machte, ließ die Wechselgespräche zu einem so tumultuarischen Grade steigern, daß Fräulein Amalie, die schweigsame Heldin des Tages, schon die Bitte an die Damen richtete, die Milde des hereinbrechenden Abends in einem Spaziergang durch den Garten zu genießen, wo man heiteren Geistes die schwere Debatte fortsetzen könne. Doch der alte Professor trat dazwischen und gab der Scene ein andere und günstigere Wendung.

„Unser junger Freund,“ sagte er auf den Psychologen zeigend, „gehört einer Wissenschaft an, die – Sie wissen es, meine Damen – der realistischen Richtung noch niemals gehuldigt. Er hat sich heute so schweigend verhalten, daß wir ein Anrecht haben auf ein Wort der Milde aus dem Schatz seiner Disciplin. Vereinigen Sie, meine Damen, Ihre Bitte mit der meinigen, und wir dürfen auf ein lehrreiches und beschwichtigendes Wort inmitten dieses wirren Principienstreites rechnen.“

Die Damen baten nicht, nein, angeleitet von Fräulein Laura’s kleinen Händen, klatschten sie jubelnd Beifall, einen Beifall, so stürmisch, wie ihn nur der Protest gegen alles Vorhergegangene [685] mit der Hoffnung auf eine triumphirende Genugthuung erzeugen konnte. Die Herren stimmten mit einem „Bravo“ ein, dem sich eine kleine Ironie beimischte. Als ein Blick aus Fräulein Amaliens Auge dieselbe Bitte ausdrückte, nahm der mit übermüthigem Beifall Begrüßte auf dem erledigten Lehrstuhl Platz, und sein sonst blasses Antlitz mit dem lebhaften Auge und der herrlichen Stirn, von einer flüchtigen Röthe geschmückt, neigte sich freundlich der Zuhörerschaft zu, die sich im Halbkreis um ihn ordnete.

Noch einmal, ehe der Redner begann, klatschte Fräulein Lauras kleines Perpetuum-Mobile lauten Beifall, nachdem sie mit zu merklicher Absicht ihren Stuhl weit von dem des Dr. Schwarzkopf rückte. Die anderen Freundinnen widerstanden dem Zuge des Beifalls nicht und verliehen so der Scene eine höhere Weihe, in welcher der Vortragende mit weicher, aber klangvoller Stimme wie folgt begann:

„Mein Wort soll in der That nur dem Worte gelten. So oft ich im Faust die Scene las, wo der Dichter seinen Helden noch einmal von dem gefährlichen Pact zu dem Grundtext seines heiligen Originals zurückkehren läßt, wandelt mich stets der Gedanke an, daß die von ihm unbemerkte Anwesenheit des Verächters des Menschengeschlechts bereits den Sinn des unglücklichen Faust von der rechten Bahn abgelenkt habe. ‚Im Anfang war das Wort.‘ Das will ihm nicht das Rechte scheinen. Er kann das Wort so hoch unmöglich schätzen. Er meint, es sollte lauten: ‚Im Anfang war die Kraft.‘ Aber auch bei der Kraft mag er nicht stehen bleiben. Ihm hilft der Geist, auf einmal sieht er Rath! Er schreibt getrost: ‚Im Anfang war die That.‘ Das Wort, die Kraft, die That, das dünkt dem im Fallstrick bereits gefesselten Forscher die rechte Steigerung. Ich glaube, mit Unrecht. – Aber wie der große Dichter selber im Wendepunkt zweier Jahrhunderte stand, so charakterisirt auch diese irrthümlich aufgefaßte Steigerung die Wendepunkte unseres forschenden Geistes seit seiner Zeit. Auch in der Wissenschaft war im Anfang das Wort der Kernpunkt des Forschens. Nicht nur das Wort des Glaubens, sondern auch das Wort der Geistesregung, die wir Philosophie nennen. Da trat in gewaltigem Zuge siegreich die physikalische Weltanschauung auf, welche das Geheimniß der Kraft enthüllte und in staunenden Experimenten vor unseren Augen entfaltete. Aber auch hierbei bleiben wir nicht stehen. Die Wissenschaft wurde von der hypothetischen Kraft auf die Thatsache des Stoffes hingetrieben. Wir finden uns jetzt stärker als je auf die reale Ermittelung der thatsächlichen Erscheinungen hingewiesen. Die Devise unserer Forschung ist nunmehr: die That. Gleichwohl dünkt mich, daß darin die rechte Steigerung nicht liege.

Es wäre vermessene Blindheit, wollten wir die That mißachten. Die Beobachtung der thatsächlichen Erscheinungen hat uns in der Astronomie und in der Geologie ein gewaltiges Weltbild aufgerollt von einer ungeahnten Weite und Ferne in Raum und Zeit. Das Studium der unsichtbaren Kräfte der schaffenden Natur erschloß uns das Licht in der sonst unerkannten geheimnißvollsten Werkstatt des Werdens. Wer vor diesen Eroberungen seinen Sinn verschließt, dem bleibt der Sinn verschlossen. – Aber ist es der Menschengeist allein, der die Thatsachen zu sammeln, die Kräfte zu erforschen sucht, so kann ich dem Worte, dieser höchsten Eigenschaft der menschlichen Begabung, eine untergeordnete Stellung doch nicht anweisen. Die That spricht zu unserem Verstande, der sie zu combiniren, die Kraft zu unserer Vernunft, die ihre geheimen Räthsel zu enthüllen sucht; aber das Wort richtet sich an unsere Seele, die allein in der großen Natur eines Verständnisses und einer vernünftigen Auffassung des Weltbildes außer uns fähig ist. Versetzen wir uns in eine Natur, der noch die Menschenseele fehlt, so fehlt auch der Mittelpunkt, der die Thatsachen einigt, und der Brennpunkt, der der Kräfte Spiel zum Verständniß bringt. Fehlt die Menschenseele, die der einzige Sitz einer Erkenntniß ist, so fehlt dem Weltbilde der Einklang des Verständnisses und die Harmonie der Gesetze erforschenden Vernunft.

Ist aber das Wort die Brücke von Geist zu Geist, von Seele zu Seele, welche zur Erkenntniß und zum Verständniß des einen Menschen zu dem andern führt, so möchte ich des Dichters ‚Wort vom Wort‘ doch als das richtige nicht betrachten. Ich möchte statt des seinen sagen: ‚Ich kann das Wort zu hoch nie schätzen.‘ Wenn dies stets mir so erschien, so hat mich die Stunde unseres heutigen Beisammenseins hierin ganz besonders bestärkt. Welch’ spannende Macht des Wortes haben wir so eben im scherzenden Spiel der Rede wahrgenommen! - Wie wußte der Mann der That“ - der Redner blickte auf den Zoologen - „durch sein leichtes Wort die Geister zu fesseln, um die Thatsachen, die er erforscht, in scheinbaren Einklang mit Glaubensworten zu setzen! – Welch’ anderer Leitung als der des Wortes bediente sich der Mann“ – er blickte auf den Physiker – „der die Kräfte der Natur zu seinem Studium macht, um eine neue Telegraphie, die vieler materieller Leitungen bedarf, vor Ihrer Seele entstehen zu lassen! Und gar im Vortrage des letzten Redners, der all’ unser Empfinden zu einer Höhe so zu spannen und zu erregen wußte, daß er im kühnen Griff in die Saiten unserer Seele wie auf einem Instrumente spielte, war es das Wort und nur das Wort, das über uns seine Urthat, seine Urkraft erwiesen. Darum erfaßt mich nicht Kleinmuth, wenn ich mit meiner Wissenschaft und ihrer bescheidenen Stellung vor den gewaltigen Fortschritten stehe, welche der beobachtende Geist im Gebiete der That errungen, darum fühle ich mich nicht entmuthigt, wenn ich die Eroberungen des Geistes betrachte, der die Kräfte der Natur aus ihrer geheimnißvollen Hülle an’s Licht unserer Erenntniß zieht. Ich fühle nur, daß ich, nach That und Kraft der Menschenseele forschend, vor einem höheren Probleme stehe. Darum wenden wir uns wohl auch oft von dem unendlichen Gebiet der Thatsachen des Stoffes und von den scharfsinnigen Combinationen des Ineinanderwirkens der Kräfte in stiller Stunde dem Worte großer Dichter zu, die das höchste der Probleme, die Menschenseele in ihrem Wollen und Empfinden, vor uns enthüllen. Denn überwältigt uns die Fülle der Thatsachen in der Natur und spannt der Einklang ihrer Kräfte unseren Geist zu kühnen Combinationen, so empfängt die Seele ihre tiefere Harmonie doch immer noch im Problem der Probleme, im liebevollen Wort aus vollem Menschenherzen.“

Der Redner verbeugte sich leicht vor seiner Zuhörerschaft und erhob sich, begrüßt von einem Beifall der Damen, an dem der Protest gegen alle anderen Sprecher nur einen kleinen Antheil hatte. Und nicht bloß der alte Professor, der ihm in aufrichtigem Dank die Hand schüttelte, sondern auch die anderen Zuhörer, wenn auch weniger überzeugt, zollten dem redlichen Collegen, dessen Wahrheitsstreben sie achteten, ihren Beifall und suchten sich dadurch wieder in Harmonie mit den Zuhörerinnen zu setzen, die selbst der Dr. Schwarzkopf als Repräsentantinnen des Seelenlebens zu verehren versicherte.

So begab sich denn, als eben die Sonne unterging und die Milde des Abends zur Promenade im Garten einlud, die Gesellschaft aus dem Gartensaal hinaus. Nur Fräulein Amalie machte sich daselbst noch mit der eingetretenen alten Hausdienerin am Tisch zu schaffen, wo die Gesellschaft einen leichten Imbiß zum Abend einnehmen sollte. Der Professor schritt mit dem Psychologen in freundlichem Gespräch vor dem Gartensaal auf und nieder. Die Freundinnen eilten mit einiger Ostentation, um der Herrengesellschaft zu entgehen, in gemeinsamer Gruppe voran, denn Fräulein Laura mußte ihnen eine zu interessante Prophezeiung darlegen, die in den wenigen Worten bestand. „Ich verwette meinen Kopf darauf, daß sie sich noch heute verloben!“

„O,“ rief Fräulein Anna, wenn auch nicht überrascht, so doch lebhaft aus, „so hat er auch die Professur!“

„Sie entgeht ihm jedenfalls nicht,“ versetzte Fräulein Florentine, „und daß er dann um sie anhält, ist ein allbekanntes Geheimniß.“

Inzwischen nahten die Herren in gemeinsamer Gruppe, der man nicht gut mehr ausweichen konnte. Fräulein Laura drückte nur noch heimlich beiden Freundinnen mit dem Finger auf dem Munde das Gelöbniß des tiefsten Schweigens aus, das diese mit feierlichem Blick auch ihrerseits bestätigten. Als die Freunde nahe genug waren, bekamen sie nur das ungetheilte Lob des Psychologen zu hören, der allein der edlen und höheren Wissenschaft obliege.

Unter freiem Himmel, so schien es, sollte sich die Discussion erneuern, die im Saale keineswegs zum Abschluß gebracht war. Allein der Eifer der zum Zwiegespräch sich gestaltenden Debatte führte unerwartet zu einer Trennung in Paaren. Der Zoologe und Fräulein Anna, die stattlichsten Gestalten der heutigen Gäste, waren so vertieft im Streite, daß sie einen Seitenweg einschlugen, ohne zu merken, daß die Anderen ihnen nicht dahin folgten. Auch [686] dem Physiker begegnete es, daß Fräulein Florentine gar ernstliche Fragen an ihn wegen des Problems der Fern-Malerei zu richten hatte, und er belehrte sie gern in einem eigenen Cursus vor dem kleinen Teich, der den schönen Abendhimmel widerspiegelte. So mußte sich denn auch Fräulein Laura in das Schicksal fügen, allein und ohne thätige Nachhülfe der Freundinnen vor der Rosenhecke dem Dr. Schwarzkopf zu beweisen, daß er unverbesserlich sei, wenn heute die herrliche Rede des Psychologen nicht sein allem Edlen abgewendetes Gemüth gebessert habe. Auf des „Unverbesserlichen“ Geständniß, daß nur eine kleine verbessernde Hand im Stande sei, dies Wunderwerk zu vollbringen, streckte sie wieder beide Händchen abwehrend gegen ihn aus – ob zu seinem Heil? das wissen wir nicht anzugeben.

Inzwischen war auch Amalie aus dem Gartenhause getreten. Der Vater ging ihr entgegen, strich ihr mit liebevoller Hand über ihre glühende Wange und schritt gedankenvoll dem Weingang, seiner Lieblings-Promenade, zu. Der Psychologe blieb allein mit ihr.

„Ich wollte,“ sagte er leise, „mich bei Ihnen nur entschuldigen, wegen meines späten Erscheinens. Ich hatte einen wichtigen Gang, den ich nicht aufschieben konnte. – Ich mußte zu einer Audienz.“

„Ich ahnte es,“ fiel sie pochenden Herzens ein.

„Sie ahnten es?“ rief er lebhaft aus. „Sie ahnten es, o, so ahnten Sie wohl auch, daß sie einen erfreulichen Ausgang hatte?“

„Ich ahnte es,“ sagte sie bewegt und senkte den Blick zu Boden.

Es entstand eine Pause, in der Beide langsam dahin schritten. Wohin? Sie wußten’s nicht. Ihm, der dem Worte eben ein beredtes Lob gesprochen, fehlte es jetzt. Er fühlte lebhafter als bei seinem Vortrage, daß wohl auch dem Worte eine Kraft vorangehen müsse, wenn es eine That einleiten sollte.

Endlich, als sie aufblickte und ihm ihr ahnungsvolles, glühendes Antlitz halb zuwendete, da faßte es ihn, eine That und Kraft zugleich. „So ahnt,“ sprach er bebend, „so ahnt dieses Herz auch den heißesten meiner Wünsche?“ –

Er sah den Busen wogen, die Wangen einen Augenblick erbleichen und dann in flammender Röthe strahlen. Er fühlte das Herz, seines, ihres, pochen, und sah in ihrem Auge, das sie senkte, das Zeugniß tiefster Seelenregung aufsteigen, und – nicht mehr Herr des Wortes – hauchte er leise die Bitte hin: „O sprich!“

Was war’s, das in die Eine, Eine Silbe das Geheimniß zweier Herzen legte?

Es war ein Wort aus vollem Menschenherzen! – Seine zitternde Hand streckte sich Verzeihung flehend nach ihr aus. Die ihrige legte sich bebend in die seine – und in dem Einen Händedruck, der Alles, Alles sagte, war Wort und Kraft und That in zwei Seelen zu Eins geworden.




Der Abendtisch im Gartensaale vereinigte die Gesellschaft in heiterer Stimmung wieder. Es ordneten sich die Paare wie zufällig. Nur der Professor am oberen Ende des Tisches saß einsam und blickte wehmuthvoll in die Zeit zurück, wo er vor Jahren, an der Seite seiner Unvergessenen, ganz dasselbe erlebte, was er ahnend auch an seinem Kinde zu entdecken glaubte. In alter guter Sitte, die er auch nach dem Austritt aus dem Consistorium hoch hielt, sprach er vor dem Mahle mit milder Stimme:

„Es segne der Herr Alle, die in seiner Liebe wandeln! Er speise uns mit dem Brode seines Geistes! und lasse leuchten sein Licht in jedem Herzen, in dem da lebt und wirkt ein liebevolles Wort aus vollem Menschenherzen!“

Ein Händepaar drückte sich heimlich ein stilles „Amen“ zu.




Aus der Wandermappe der Gartenlaube.

Nr. 5.0 Guggisberg und seine Hochgebornen.

Noch immer giebt es romantische Thäler und lauschige Winkel in der Schweiz, die seitwärts vom Stromgebiet der Touristen liegen, die kaum der Fuß eines fremden Wanderers betreten – Erdflecken, die ihres stillen Glückes, ihres Alleinseins, ihrer ungestörten Häuslichkeit erfreuen.

Wohl wahr, an Großartigkeit landschaftlicher Schönheit können solche Thäler sich nicht allemal mit denen des Berner Oberlandes oder des Engadins messen. Dafür aber liegt über ihnen, wie über einem Urwalde, der Reiz der Jungfräulichkeit ausgebreitet und unter ihren Bewohnern finden wir noch jene unverfälschten Originale, jene ausgeprägten Charaktere und uralten Sitten, Sprachen und Trachten, die sich nur in abgeschlossenen, sich selbst überlassenen Gemeinwesen erhalten. Eine solche verborgene Insel ist das bernerische Bergdorf Guggisberg.

Das Dorf Guggisberg.
Nach der Natur aufgenommen von E. Rittmayer.

Nicht nur den Touristen, selbst den Schweizern ist das alte Cucansperc fast unbekannt, und aus eigener Anschauung kennen nur Wenige das „Schneewittchen über den Bergen“ – das hoch und in einem vergessenen Winkel gelegene, von Bergen und wilden Bergströmen wie eine Festung umschlossene Dorf, das höchste des ganzen bernerischen Amtes Schwarzenburg.

Das Dorf Schwarzenburg ist mit der Stadt Bern durch eine gute Poststraße verbunden, deren Endstation es bildet. Wer Guggisberg besuchen will, kann Schwarzenburg, das sich überdies einiger recht guter Gasthäuser rühmt, kaum umgehen, weshalb wir es auch zum Ausgangspunkt unserer Wanderung gewählt haben. Die Entfernung von Schwarzenburg bis Guggisberg beträgt kaum zwei Stunden; von Postverbindung ist aber keine Rede mehr, dafür ist die Straße zu holprig und „stritbar“ (steil). Wer also nicht zu Fuß wandern will, mag eines jener leichten federlosen Fuhrwerke besteigen, die unter dem Namen Bernerwägelchen in ganz Deutschland bekannt sind.

Da doch Niemand aus unserm Leserkreise diesen Artikel als Wegweiser auf seine Alpenreise mitnehmen wird, so unterlassen wir auch die Wegschilderung und begrüßen sofort im Angesicht des Guggershorns, und nachdem wir 3500 Fuß über Meer angelangt sind, unser Reiseziel und ein vielversprechendes Gasthaus dazu. Guggisberg, das scheinbar kleine Dörfchen mit der weißen Kirche, an das ehrwürdige Guggershorn angelehnt, rings von Hügelland mit üppigen Weiden umgeben (siehe Abbildung), gewährt sofort ein freundliches Bild. Bescheiden genug sieht es [687] freilich aus, da es fast nur aus der Kirche, dem Pfarr- und Wirthshaus und einigen Wohngebäuden besteht, so daß man über die Größe der Kirche erstaunt wäre, wenn man nicht wüßte, daß die Pfarrgemeinde Guggisberg aus zwanzig Dörfern und Weilern mit 5600 Seelen besteht, die rings zerstreut sind und die an Sonntagen ihre Einwohner nach jener Kirche ergießen. Es ist ein einziges, wirklich rührendes Schauspiel, an einem Sonntagmorgen im Sommer, wenn die Glocken zum Gottesdienste einladen, auf dem Friedhofe zu stehen und die Ankunft der Beter zu erwarten. Aus weiter Ferne, von Berg und Thal, kommt Jung und Alt herbeigeströmt in Feierkleidern, und jene alte, im Aussterben begriffene Frauentracht, die man an Wochentagen nicht mehr zu sehen bekommt, erscheint dann noch bei alten Matronen, während die Jugend sie schon längst abgelegt und die schmuckere und weniger excentrische Landestracht des Unterlandes angenommen hat.

Am Sonntagmorgen in Guggigsberg.
Nach der Natur aufgenommen von E. Rittmayer.

An einem solchen sonnigen Sonntagmorgen ist denn auch das schöne Bild Rittmayer’s entstanden, das wir den Lesern der Gartenlaube vorführen und das uns den Charakter und die Physiognomie von Guggisberg und seinen Bewohnern mit sprechender Treue wiedergiebt. Möge es der geneigte Leser in guter Erinnerung behalten, es sind Reliquien einer alten Zeit in der Tracht der Menschen und im Baustyl der Häuser, die es uns vorführt, und wer in zwanzig Jahren auf jenem Kirchhof steht, wird umsonst nach den ernsten Matronen aus dem vorigen Jahrhundert und den noch viel älteren Holzpalästen sich umsehen. Die Neuzeit nivellirt auch hier oben, beide werden zu Grabe gegangen sein!

Die charakteristische Männertracht besteht seit Jahrzehnten nicht mehr, sie war weder bequem noch malerisch. Kniehosen mit Schnallen, Schnallenschuhe, lange rothe Weste, langer Rock mit großen Schößen und ein breitrandiger aufgekrempter Filzhut. Die Träger dieser auffallenden Kleidung wurden, wenn sie das Weichbild ihrer Heimath verließen, nicht selten verhöhnt. Jetzt haben die Männer des Guggisberg an Schnitt und Stoff dieselbe Kleidung, wie sie die Landleute im Canton Bern allgemein tragen.

Die Frauen trugen ursprünglich einen kleinen flachen, mit Perlschnüren geschmückten Strohhut, unter dem die offen getragenen Zöpfe mit langherabwallenden Zopfbändern herunterhingen. Später wurde das dunkelfarbige seidene Kopftuch angenommen, das über dem Nacken geknüpft wird und dessen Schleifen herunter hängen. Es kam erst zu Anfang dieses Jahrhunderts auf, die alte Dame auf unserm Bilde trägt es auch noch und es findet auch bei jüngern Mädchen und Frauen wegen seiner Bequemlichkeit Gnade. [688] Die übrige Tracht: der kurze, nur bis zum Knie reichende, enge und faltenreiche Rock (Jeppe), die glänzende, fast einem Bergmannsschurze ähnliche, über den Leib gespannte und hinten mit einer Schnalle befestigte Schürze und die unförmliche Jacke (Tschöppli) mit den flügelförmigen Ansätzen, die weißen Strümpfe und weit ausgeschnittenen Schuhe, welche das Bild vervollständigen, zeigt die Illustration mit der Treue eiues Modenbildes. Irren wir nicht, so hat die Frauentracht in Sachsen-Altenburg viel Aehnliches mit dieser aussterbenden Guggisberger Frauentracht; nordische Reisende fanden sie dagegen gewissen Landestrachten in Norwegen ähnelnd.

Wiewohl Guggisberg einer jener abgelegenen Erdenwinkel ist, wo nach dem Schweizersprüchwort „Füchse und Hasen sich gute Nacht wünschen“, so bildet es doch den Mittelpunkt, von dem aus eine Reihe von Ausflügen und Bergbesteigungen sich ausführen lassen. Nach Westen führt die Straße in den Canton Freiburg nach einem malerischen Bergsee, Lac noir, an dem ein berühmtes Schwefelbad liegt; im Oberamt selbst liegt das nicht minder bekannte Bad Schwefelberg, nicht weit jenseits der Grenze der viel fashionablere Gurnigel. Die Aussicht, die wir von dem viertausenddreihundert Fuß hohen Gipfel des Guggershorns genießen, vergilt reichlich die darauf verwandte Mühe. Zunächst zu unsern Füßen breitet sich das Guggisberger Ländchen im Schmucke seiner reichen Wiesen und Weidegründe, seiner Wälder und Kornfelder aus. Darüber hinaus schweift der Blick über die schweizerische Hochebene hin, die Bergkette des Jura, das Rebland von Neuenburg, die Cantone Freiburg und Waadt und einen Theil des Bernerischen Tiefthales, die Seen von Murten, Biel und Neuenburg. Von der Süd- und Ostseite ist der Horizont von der Stockhornkette und ihren Ausläufern begrenzt, hinter welchen sich verstohlen einige Firnen erheben. Auf den nächstliegenden Bergen weiden zahllose Schafheerden, die von Hirten den Sommer hindurch gehütet werden, bis der Futtermangel sie im Herbst in die Thäler treibt.

Das Leben dieser Schäfer ist ein wildromantisches, fern von allem Umgang mit menschlichen Wesen verleben sie bei kärglicher Nahrung und ungenügender Kleidung den ganzen Sommer fast ausschließlich im Freien, nur bei rauhem Ungewitter Schutz unter elenden steinernen Hütten suchend. Ihr Dasein ist von Gefahren umgeben; oft müssen sie Tage lang einem verlorenen oder verstiegenen Lamm nachspüren, um es dann, wenn es sich gefunden, mit Lebensgefahr über Felsen und Trümmer zur Heerde zurückzutragen. Diese wettergebräunten Söhne der Berge sind bei alledem ein munteres, lebensfrohes Völklein und sehen ruhigen Blickes jeder Gefahr in die Augen. An schwindligen Abgründen, wo auch der geübte Bergsteiger nur behutsam auftritt, sieht man sie stehen, mit weit ausgeholtem Peitschenschwung das Echo der Berge wecken, einen im Thale unten vorüberziehenden Wanderer begrüßen oder mit melodischem Jodeln von Grat zu Grat dem Cameraden den Morgen- und Abendgruß zujauchzen. Die von ihnen bewachten Schafheerden sind nicht ihr Eigenthum, sondern das anvertraute Gut verschiedener Thalbewohner. Am ersten Donnerstag im Monate September werden diese Heerden alle in’s Thal getrieben und haben in dem sonst unbedeutenden, aber durch seine großartigen Schafmessen berühmten Weiler Ryffenmatt ihr Stelldichein. Dort empfangen die Hirten von den verschiedenen Eigenthümern ihren Jahreslohn, dort findet auch das „Scheiden“ der Schafe statt. Ein. wahres Volksfest gestaltet sich an diesem Tage in Ryffenmatt; viele Tausende von Schafen strömen herbei, Hunderte von Eigenthümern, Kauflustigen und Neugierigen aus dem „Land herauf“ drängen sich hinzu.

Jedes Haus wird dann zu einer vorübergehenden Schenke oder Herberge. Jede einzelne Heerde wird in ihre bestimmte Hürde getrieben, und kaum sind die vier- bis sechshundert Stücke eingeschlossen, so dringen auch die Eigenthümer hinein. Nun geht es an ein Suchen und Finden, Prüfen und Wiedererkennen, Betrachten, Anbinden und Herausführen, daß man kaum weiß, wohin sich seine Blicke wenden. In zwei bis drei Minuten ist die ganze Heerde gesichtet und getheilt, ohne daß dabei viel Worte gewechselt werden. Auch an tragischen Scenen fehlt es oft nicht; nicht alle Thiere finden sich vor, das eine und andere ist den Unbildem der Witterung oder den tückischen Abgründen zum Opfer gefallen, und manch’ ein Bübchen vergießt heiße Thränen, wenn ihm statt des Lieblings-„Lämmschi“, das er in Empfang nehmen wollte, nur dessen Todtenschein: ein paar abgeschnittene Ohren oder das hölzerne Täfelchen mit der Nummer, das es am Halse zu tragen pflegte, gereicht wird.

Das Aeußere eines Guggisberger Hauses zeigt das Figurenbild unseres Künstlers in charakteristischer Weise. Ein einziger Blick verräth uns, daß es zwar auch von Holz, aber in seiner Bauart von den Chalets des Berner Oberlandes und Siebenthales ganz verschieden ist. Groß, an Länge und Breite von gewaltigen Dimensionen, ist es nur ein Stockwerk hoch, während das eigentliche Chalet hierin bekanntlich sich von einem steinernen Hause nicht unterscheidet. Ueber dem ernsten, sehr schrägen, einen stumpfen Winkel bildenden Dache, das mit Schindeln bedeckt und mit großen Lattnägeln und centnerschweren Steinen beschwert ist, erhebt sich nur wenig der hölzerne Rauchfang mit seiner gleichfalls hölzernen Schnee-, Sturm- und Regenhaube, die von der Küche aus ab- und zugedeckt werden kann. Gegen Südwesten, woher fast alle Gewitter kommen, reicht das Dach fast auf die Erde hinunter. Die Fenster sind mit kleinen, runden oder vieleckigen und in Blei gefaßten Scheiben versehen. Von außen sind die Wohnräume der Menschen mit reichen, schön symmetrisch geschichteten Holzvorräthen umgeben, während vor dem Stalle der nicht minder sorgfältig ausgebaute Düngerhaufen der Maßstab für den Viehstand, mithin Reichthum des Besitzers ist. – Jedes echte alte Haus in Guggisberg trägt über den Fenstern einen Spruch als Wahrzeichen, der entweder religiösen Inhaltes ist, zum Beispiel:

Gott lasse dieses Haus in Seinem Schutze sein,
Er segne jedermann, der hier geht aus und ein.
Sein großer Allmachtsarm soll Feu’r und Wasser wehren,
Und gnädig wende ab, was immer kann zerstören.
Und wann das irdisch’ Haus an unsrer Hüllen bricht,
So schenk uns einen Bau von Dir selbst zugericht.

oder mehr eine Lebensregel der Klugheit enthält:

Siehe Du in den Spiegel bald,
Wie Du Dir selbst gefallst,
Ehe Du einem anderen Mann
Sein Gebrechen zeigist an.
 Brandelen Wagner.

Nicht jedem nächsten besten Neugierigen ist es verstattet, auch das Innere eines Guggisberger Hauses zu betreten. Wir aber sind eingeführt und von dem freundlichen Hausbesitzer und der rothwangigen jungen Frau dringend eingeladen. Treten wir also ein, aber ja recht demüthig, mit gebücktem Haupte, damit dasselbe nicht unsanft mit der obern Schwelle der Hausthür und an der Wohnstube nicht mit dem „Unterzug“, dem die Decke stützenden Querbalken, in Berührung komme. Hier fällt uns denn beim ersten Blicke eine Reinlichkeit und Zierlichkeit auf, wie sie das runzlige wettergebräunte Dach gar nicht erwarten ließ. Längs der krystallhellen Fenster, die täglich gewaschen oder mit einem in Kirschgeist getauchten Lappen abgerieben werden, laufen der Wand nach die hölzernen Bänke, welche die Stelle der Divans vertreten, blank gescheuert. In der Ecke steht ein mächtiger Tisch aus Hartholz, oft mit reich geschnitzten oder gedrechselten Beinen, und rings um denselben an den Wänden stecken in besonderen „Rygeln“ die runden Blechlöffel. Dort aber hinter der blendend weißen, von der Decke bis zum Fußboden reichenden Leinengardine steht das riesige, hochaufgethürmte Ehebett, welches mit seinem ungeheuern Gestelle, mit seiner Bettwäsche und dem Ueberfluß von Flaum ein kleines Vermögen repräsentirt und mit Recht der Stolz jeder Guggisberger Frau ist.

Während wir in der geräumigen Wohnstube uns umgesehen haben, hat ein dienender Geist uns im „Hinterstüble“ ein Frühstück bereitet. Das neben dem Wohnzimmer gelegene Hinterstüble ist das Allerheiligste des Hauses, wo nur der Eingeweihte Zutritt hat. Dort ist der einfache Schreibtisch des Hausvaters mit dem Rechnungsbuch und dem Geldfach, dort bringen die erwachsenen Töchter den Sonntag-Nachmittag zu, und die Dienstboten haben nur dann Zutritt, wenn es sich um eine Strafpredigt unter vier Augen oder um einen neuen Vertrag handelt; dort endlich werden auch angesehene Besuche empfangen und bewirthet. Ein reiner Tisch ist mit Landesproducten bedeckt: mit einer Flasche Kirschgeist, Brod, Honig, Käse, „Ziger“ und einer Flasche Wein. Laß Dich nicht zu sehr nöthigen, die vorgesetzte Speise ist nicht blos Schaubrod, und je größere Stücke Brod und Käse Du „wegsprengst“, [689] um so größere Ehre widerfährt Deinem Gastfreunde. Erwarte aber keine Teller und Messer oder daß man Dir vorschneide und vorlege; der Gast führt ein Messer in der Tasche, er mag es herausnehmen. Auch ist für die zahlreiche Gesellschaft nur Ein Glas oder Gläschen vorhanden, das der Hausherr füllt und Dir „bringt“, d. h. er winkt Dir freundlich zu, verbeugt sich vielleicht gar leicht und leert es dann selbst. Dann erst wird es auf’s Neue gefüllt und Dir selbst dargebracht. Willst Du ein feiner Mann sein, so leere es in Einem Zuge; auf keinen Fall stelle es auf den Tisch ab, nachdem Du einen Schluck getrunken. Die Etikette verbietet das, Du mußt es dem Wirth oder dem nächsten Gast in die Hand geben; nur dem „Henker oder Schinder“ stellt man das Glas auf den Tisch hin, nachdem man „Bescheid gethan“. Selbst wenn Du als Fremder eine Wirthsstube betrittst, wird Dir’s mancher „bringen“ und Du läufst Gefahr, mehr „Bescheid thun“ zu müssen, als Dir lieb ist. Auf den Tanzböden „bringen’s“ die jungen Bursche den Mädchen, eine Dorfschöne erhält oft sechs bis acht Gläser auf einmal, die sie alle gleichzeitig in oder auf den Händen behalten muß, bis sie ein Glas nach dem andern dem Eigenthümer in die Hand zurückgebracht hat. Das letzte Glas muß sie nach der Etikette Demjenigen zurückerstatten, den sie auszeichnen will, und so hat sie oft Mühe, sich der vielen Trinkgefäße zu entledigen, weil jeder der Letzte sein möchte. – Die Weigerung, Bescheid zu thun, ist aber eine arge Beleidigung, ein Zeichen von Geringschätzung oder Verachtung.

Manches in diesen Sitten und Gebräuchen erinnert an das bayerische Hochland, mit welchem Guggisberg auch das Haberfeldtreiben gemein hat. Diese eigenthümliche Art von Vehmgericht wird hier „Trachselfahren“ genannt und wird unter denselben Verhältnissen abgehalten, wie das Habern. Hat ein junger Bursche ein Mädchen betrogen, wird irgendwo frecher Ehebruch getrieben, ist ein Wirth als Weinverfälscher, ein Hagestolz als Wucherer, Betrüger u. s. f. bekannt, so sammeln sich Nachts die gefürchteten Rächer. Kuhglocken, Ziegenschellen, alte garnirte Posaunen und Trompeten, Pfannendeckel, metallene Waschbecken dienen als Musikinstrumente; ein Mann mit geläufiger Zunge und kecker Stirne wird zum öffentlichen Ankläger gewählt; dann setzt sich der Zug in Bewegung mit einer Musik, die „Steine erweichen, Menschen rasend machen kann“. Das Dorf und die Umgebung wird durchstreift, auf öffentlichen Plätzen Halt gemacht und vom Sprecher das Sündenregister des Frevlers mit eindringlichen Worten verlesen. Zeugen werden verhört, die Umfrage an die Richter wird gehalten und das Urtheil gesprochen, das natürlich auf „Trachselfahren“ oder „Karren“ lautet.

Vor dem Hause des Opfers wird der Lärm, der bisher nur zur Sammlung diente, verdoppelt. Oft wird selbst eine Strohpuppe aufgestellt, auf einer Armensünderbank befestigt und nach allen Regeln des öffentlichen Gerichtsverfahrens zu irgend einer ungeheuren Strafe, Prügel, Pranger, Landesverweisung oder Verbrennung verurtheilt. In neuerer Zeit ist das Gericht aber ausgeartet, hat von seinem früheren Ernste verloren und ist bestechlich geworden. Schlaue Angeklagte ließen vor ihrem Hause, um die Execution zu verhindern, blitzableitende Korbflaschen mit Wein, Körbe voll Brod und Käse aufführen, was den zur Strafe erhobenen Arm der Volksjustiz lähmte. Natürlich duldet die weltliche Gerechtigkeit diese Eingriffe in ihre Befugnisse nicht, und die Thäter werden zur Rechenschaft gezogen und bestraft. Doch sind es kaum vier Jahre, daß eine übelbeleumdete Familie auf diese Weise gebrandmarkt wurde.

Fragen wir nun nach dem Charakter und der Organisation des Guggisberger Völkleins, das wir bereits in seinen verschiedenen Lebenslagen beobachtet haben, so sind die Männer von Guggisberg, wie alle Bergbewohner, schon als Hochgeborene, von großer Körperkraft. Sie gehören ohne Zweifel zu den kräftigsten Volksstämmen und von einzelnen besonders bevorzugten Athleten werden Thaten erzählt, die an Simson erinnern und geradezu unglaublich wären, wenn sie nicht von so glaubwürdigen noch lebenden Augenzeugen verbürgt wären. Dabei sind sie von großer Gutmüthigkeit, heiter, voll Mutterwitz, worin sie kaum den Appenzellern nachstehen, gegen Fremde erst zurückhaltend, wenn aber einmal gewonnen, zutraulich und gastfreundlich. Mit allen Bergvölkern haben sie einen tiefen religiösen Ernst gemeinsam, der bis zur Neigung zum Sectenwesen geht. Es kann daher auch nicht befremden, wenn die reformatorischen Bestrebungen, die im dreizehnten Jahrhundert als Vorläufer der eigentlichen Reformation von dem südlichen Frankreich ausgingen, in diesem Hochlande lebhaften Anklang fanden und daß es Feuer und Schwert brauchte, um die „Irrlehre“ mit Stumpf und Stiel auszurotten.

Haushälterischer, vorsorglicher Sinn und Genügsamkeit zeichnen den Guggisberger aus. Leider hat sich in einigen Ortschaften der Branntwein, das Trostmittel der Armen, mit seinem ganzen Gefolge eingeschlichen. Auffallend ist die Intelligenz und mannigfache Begabung dieser auf sich selbst angewiesenen Menschenclasse, die Autodidakten sind geradezu Legion und zeigen sich nicht nur in Handwerken (z. B. Uhrmacher, die nie eine Lehre gemacht und doch untadelhafte Uhren zusammensetzen und deren kleinste Theile eigenhändig anfertigen) oder in der Musik (Orgel- und Clavierspieler von bedeutenden Leistungen, die nur das angeborene Genie zum Lehrmeister hatten), sondern auch in so abstracten Wissenschaften, wie Mathematik und Astronomie. So erzählt Herr Jenzer in seinem Buche über Schwarzenburg von einem Müller, der zugleich Schreiner, Orgelspieler, Glasschleifer, Mathematiker und Astronom war, Sonnen- und Mondfinsternisse und Planetendurchgänge auf viele Jahre hinaus genau berechnete u. dgl.

Gerne würden wir noch einen Streifzug in die Geschichte von Guggisberg unternehmen und namentlich in die ehrwürdige Vergangenheit des nördlichen und tiefer gelegenen Landesteiles, wo Kelten, Römer, Burgunder und Alemannen bereits Jahrhunderte lang geschaltet hatten, als der Urwald von Cucansperc sich zu lichten begann. Aber das Alles würde uns zu weit auf die Seite führen. Vielleicht bleibt es einem zweiten Ausflug in’s Schwarzenburgische vorbehalten.




Blätter und Blüthen.

Eine Humboldt-Feier unter Palmen. Unter diesem Titel erhält die Gartenlaube eine ausführliche Schilderung des Festes, welches am 11. September dieses Jahres (man hatte äußerer Umstände halber schon diesen Tag wählen müssen) von den Mitgliedern der deutschen Colonie in Alexandrien mit Vertretern von fast allen Völkern Europa’s und einem guten Theil des Orients zu Ehren Humboldt’s begangen wurde. Es existiren gegenwärtig in Alexandrien fünf oder sechs deutsche Vereine und von dem jüngsten derselben, von dem Vereine „Schiller“, war die Idee zur Humboldt-Feier ausgegangen.

„Das Festlocal,“ schreibt man uns, „befand sich in einem großen Garten, dessen fruchtreiche Dattelpalmen einen riesigen Säulentempel bildeten, in welchem hohe feurigblühende Oleander, Granatbäume, Ghazia’s, Feigen, Oliven, Gummibäume bis in ihre höchsten Aeste hinauf zahllose buntfarbige Laternen schaukelten. Am Haupteingange des palmenüberragten, aus Steinen von Memphis und Theben erbauten Pavillons prangte in weithin leuchtender Flammenschrift der Name des Vereins ‚Schiller‘ und um ihn flatterten die riesigen Flaggen und Wimpeln des schwarzrotgoldenen Banners. Der lichtstrahlende Pavillon mit seinen hohen Portalen, mit seiner lianenumrankten, fahnengeschmückten Kuppel und mit den duftenden farbenreichen Blumenwänden glich einem Zauberpalast; von seinen dreißig Marmorsäulen aber prangten die Flaggen und Wappen der siebzehn hier vertretenen Mächte, der Halbmond des Ostens und das Sternenbanner der neuen Welt. Der Zudrang zum Feste war ein außerordentlicher; sämmtliche deutsche Vereine hatten ihre Betheiligung zugesagt und sämmtliche Consulate hatten die Einladung angenommen – je näher aber der Tag selbst gekommen war, desto mehr hatten sich die Bitten um Eintrittskarten auf Seiten der Angehörigen fremder Nationen gehäuft, wie der Islamiten aus der Türkei und Arabien und der langbärtigen Unterthanen des persischen Schahs.

Das Fest selbst begann um neun Uhr mit Ouverture und Chorgesang (‚Das ist der Tag des Herrn‘), woran sich die Festrede schloß, welche das Leben und Wirken Humboldt’s und seine Bedeutung für Fortschritt und Wissenschaft schilderte. Nach ihrem Schlusse wurde unter hundertstimmigen Hochs von drei Jungfrauen die lorbeer- und palmenumgebene Büste Humboldt’s enthüllt, Tempel, Saal und Garten erglänzten im bengalischen Licht und bunte Leuchtkugeln, sprühende Raketen verkündeten der Stadt Alexander’s, wie Deutsche auch in der Fremde noch das Andenken ihrer großen Männer zu feiern wissen. Nachdem der Beifallssturm sich gelegt hatte, folgte wieder Chorgesang (‚Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt‘), der Vortrag des schönen Gedichts von J. G. FischerDie neue Lehre‘ (der Gartenlaube entnommen), und unter endlosem Jubel das Absingen des ‚deutschen Liedes‘. Unter freiem, vom zauberhaften Mondlicht beleuchteten Himmel ward bald nach Mitternacht die Festtafel bereitet, an welcher sämmtliche Anwesende, die Damen [690] in europäischer Balltoilette, Theil nahmen; der Stadtgouverneur aber, durch Unwohlsein ferngehalten, war durch einen Pascha, sechs Beys und deren Gefolge repräsentirt. Zahlreiche Toaste und musikalische Vorträge würzten das Mahl, und ein sich anschließender Ball hielt die Gäste bis zum frühen Morgen in heiterer Stimmung beisammen.“




Das Hagestolzenrecht. Daß es in früheren Zeiten für diejenigen Männer, welche sich den Fesseln der Ehe entziehen zu müssen glaubten, ein besonderes „Recht“ gab, ist wohl nicht allen unserer Leser bekannt. So möge denn nachstehende Stelle aus dem „kurzen Tractat von unterschiedlichen Rechten in Deutschland von Justus Georgius Schottelius, fürstlich braunschweigischem Kammerhof- und Consistorialrath (Frankfurt und Leipzig 1671)“ hier als Curiosum mitgetheilt werden mit dem Bemerken, daß die darin enthaltenen Verfügungen zum Beispiel auch in Lübeck gegolten haben:

„Haben also die alten Deutschen solche Frauenfeinde und Brauthasser mit diesem sonderlichen Namen des Hagestolzen genannt, und hat der Name selbst allemal eine Beschimpfung und Auslachen verursacht, und sind die Hagestolzen zu Ehrenämtern wenig gezogen. Es ist aber derselbig eigentlich ein Hagestolz, welcher zu dem Alter und Vermögen gekommen, auch nicht durch Wahnsinn oder sonst eine erhebliche Ursache, geistlichen Stand etc. verhindert wird, daß er könne ehelich werden und ein Weib ernähren.

Derselbe, welcher leibeigen und ein Sclave ist, kann nicht ein Hagestolz sein, sondern freie Leute, die erben und vererben können.

Wie alt ein Hagestolz sein und von welchem Jahr und Tage an man eigentlich rechnen und die Hagestolzschaft anfangen müsse, darüber ist eine durchgehende Gewißheit nicht vorhanden, ein jeder Ort bedient sich des Herkommens und angenommener Gewohnheit, jedoch ist gemeiniglich als terminus a quo das fünfzigste Jahr des Alters und stehet bis dahin einem Unbeweibten die Bedenkzeit frei. In einer fast alten Landgerichtsnachricht befindet sich Folgendes: Gefrage, wie alt im Rechte ein Hagestolz sein solle? Antwort: Ein Hagestolz soll sein fünfzig Jahr, drei Monat, drei Tage; wie wohl in etlichen Aemtern dazu erfordert werden dreiundsechszig Jahre, sechs Wochen, zwei Tage.

Ob nun zwar durch öffentlichen Gesetz und Gerichtszwang nicht eben verboten, ein Hagestolz zu werden und sich alles Heirathens zu begeben, sondern solches jedwedem freigelassen, so wird dennoch ein solcher Hagestolz, je länger, je mehr verdächtig, gehässig und verachtet, und gar selten zu vornehmen Ambtsbedienungen befördert.

Sobald nun einer ein Hagestolz worden, verliert er sein Erblassungsrecht und muß sein Gut der Obrigkeit des Orts, wo er sein Domicilium hat, verlassen und vermag also nicht, durch ein Testament oder andern letzten Willen seine Güter weder an seine Blutsfreunde, noch an andere Leute zu verordnen und zu vermachen.

Es hat aber solche Confiscirung nicht statt in allen Gütern des Hagestolzen, sondern nur in seinen wohlgewonnenen Gütern und nicht in seinen Erb- oder Stammgütern. Und ist ein wohlgewonnenes Gut alles dasjenige, was ein Hagestolz in seinem Stande, Nahrung, Getrieb und Arbeit erworben, erspart und erübrigt, es mag bestehen worin es wolle, an Fahrniß oder unbeweglichen erhandelten und erkauften Gütern, an rückständigen, ausstehenden Schulden, vorhandenen Kleidern, Baarschaft, Hausgeräth etc.

Dasjenige auch, was ein Hagestolze vorhero und ehe seine Hagestolzenschaft angegangen, erworben, wird nicht separirt, sondern mitconfiscirt. Bei den alten Griechen haben die Hagestolzen bei den Ehrenschauspielen sich nicht einfinden dürfen, sie haben bei kalter Winterzeit öffentlich auf dem Markt in einem Kreis herumgehen und ein schimpfliches Hagestolzenlied selbst singen müssen. Bei den Atheniensern wurden die Hagestolzen von Weibspersonen um die Altare getrecket (gezogen) und mit Peitschen und Ruthen öffentlich gehauen. Bei den Corinthern sind die Hagestolzen, wenn sie gestorben, eines ehrlichen Begräbnisses nicht würdig geschätzt worden.“




Warnung für Auswanderer. Ich habe soeben einen Brief aus Hamburg erhalten, in welchem mir das Folgende angezeigt wird:

„Es hat sich in England eine Gesellschaft zur Ausbeutung der venezulanischen Goldminen gebildet und den Beschluß gefaßt, eine Anzahl Arbeiter nach Venezuela zu senden, um daselbst für Rechnung der Compagnie nach Gold zu graben. Die näheren Bedingungen sind mir noch unbekannt, aber das ist sicher, daß die englischen Actionäre ihre eigenen Landsleute zu schonen scheinen und sich deshalb nach dem großen Menschenmarkt Deutschland gewandt haben, wo sie auch bereits, wie ich zu meiner nicht geringen Verwunderung höre, eine große Anzahl deutscher Familien für ihren Platz gewonnen haben.

„Ich kenne Venezuela und besonders Guyana genau (wenn auch nicht die Minendistricte), indem ich eine lange Reihe von Jahren da zubrachte. Ich weiß, daß der Canton Upata, wo die Minenplätze Caratal und Tupuque belegen sind, sich im Ganzen eines guten Klimas erfreut, es ist mir aber auch bekannt, daß dasselbe dem nach Gold grabenden Weißen, der den größten Theil des Tages in den feuchten Löchern arbeitet, im hohen Grade nachtheilig, ja verderblich ist, aus welchem Grunde sich auch vorzugsweise die farbigen Eingeborenen mit dieser Arbeit befassen.

„Ich war in Ciudad Bolivar (Angostura), als die Minen entdeckt wurden, und auch später, bis 1859, als eine Menge von Menschen dahin wanderte, von denen die meisten durch Krankheit und Entbehrungen umkamen, während die am Leben bleibenden elend und krank zurückkehrten. Seitdem hat sich dieser Zustand etwas gebessert, aber das Klima bleibt natürlich dasselbe, und niemals hat es den Deutschen gelingen wollen, bei persönlicher Arbeit in den Minen ihre Gesundheit zu bewahren.“

So weit der Brief. – Der Zustand dort hat sich allerdings bedeutend gebessert, und der Goldreichthum der venezulanischen Minen ist bedeutend. Aber trotzdem möchte auch ich besonders alle Familien warnen, sich auf Contracte einzulassen, die den Mann zwingen, eine lange Zeit verbindlich zu bleiben, während er vielleicht in der ersten Zeit sogar erkrankt und dann mehr und mehr in Schulden geräth. – Der Tagelohn ist dort in den Minen zwei Pesos, etwas über zwei Thaler, den Tag, dagegen sind die Lebensmittel auch verhältnißmäßig theuer und das heiße Klima bei der schweren Arbeit für unsere Deutschen gefährlich.

Capitalisten haben in den venezulanischen Minen etwas zu hoffen, denn der Quarz ist so außerordentlich reich, daß er jede Arbeit bezahlt, aber der einzelne Goldwäscher übernimmt in einem heißen Klima, das er, vielleicht ohne Erfolg, mit seiner Gesundheit bezahlt, eine schwere Verantwortung, wenn er besonders seine Familie hinüber führt, ohne auch zugleich die Mittel zu haben, wenigstens anfangs für sie zu sorgen. Junge einzelne Leute, die einmal ihr Glück draußen versuchen wollen, können es schon eher wagen, aber dann müssen sie sich besonders vorsichtig mit dem Contracte stellen, wie ich es in meinem „Parcerie-Vertrag“ so deutlich als möglich dargelegt habe. Uebrigens wäre es dabei wohl gut, wenn sich die betreffenden Behörden näher nach diesen Contracten, die von der englischen Compagnie mit hiesigen Familien abgeschlossen sind, erkundigen und solche Contracte überwachen wollten.

Unsere Deutschen sind leider, überseeischen Versprechungen gegenüber, wie die Kinder – sie glauben Alles, was man ihnen sagt, und wenn ihnen Jemand einen oder gar zwei Thaler nur verspricht, so rechnen sie sich augenblicklich nach den hiesigen Kartoffelpreisen aus, wie prachtvoll und sorgenfrei sie davon leben können. Friedrich Gerstäcker.     




Kaiser Maximilian von Mexico, dessen unseliges Gedächtniß durch die spanischen Ereignisse jüngst wieder erweckt worden, ist der Titelheld eines von J. G. Fischer vor kurzem in der Frankh’schen Verlagshandlung in Stuttgart erschienenen Trauerspiels. Den Lesern der Gartenlaube wohlbekannt, ist der schwäbische Sänger ein würdiger Nachfolger Uhland’s, doch immer noch nicht hinreichend gewürdigt, fehlt er doch auch in der neuesten Auflage des Brockhaus’schen Conversations-Lexikons, das weniger Bedeutendem willig einen Platz vergönnt. Keuscher Wohllaut der Form, mit sittlichem Ernst in das Erfaßte sich vertiefende Anschauung, männliche Gedankenschwere, alle diese nicht eben häufigen Vorzüge des Lyrikers zeichnen auch den Dramatiker aus, dessen Saul und Friedrich der Zweite nicht trotzdem, sondern vielleicht deshalb auf der heutigen Bühne Bahn sich zu brechen nicht vermocht.

Seiner neuesten Dichtung bleiben die Bretter gänzlich verschlossen, wie er selbst sich bescheidet, weil sie nun einmal die wirkliche gegenwärtige Welt nicht bedeuten dürfen, sobald höhere Personen und Interessen im Spiel sind. Nur der neugeborene Scandal hat freien Zutritt; habe ich doch in diesem Sommer ein Billet zu „Ebergenyi und Chorinsky“ buchstäblich mir erkämpfen müssen. Allen Vorlesern aber sei Fischer’s Trauerspiel auf das Wärmste empfohlen, im Bürgerverein zu Stuttgart hat es eine bedeutende Wirkung erzielt. In diesem Stück Geschichte giebt uns der Dichter einen Ausspruch des Weltgerichtes, mahnend und erschütternd zugleich, kein romantischer Nebel hat ihm den klaren Blick umflort, nicht sclavisches Zittern seinen unerbittlichen Griffel zum Wanken gebracht. Hören wir selbst, wie er seine Auffassung des tragischen Conflicts im Vorwort darlegt: „Maximilian und seine Freunde mit ihren monarchischen Voraussetzungen erscheinen ebenso sehr im Recht als im Irrthum, und die Mißbilligung der Verstöße ist durch das Ende des unglücklichen Kaisers mit seinen josephinischen Ideen in sehr begründetes Mitleid verwandelt. Juarez aber und sein Anhang? Wer möchte das Recht der nationalen Selbstbestimmung nicht als ein ewig unbestreitbares ahnen, auch dann, wenn es noch so lang in mißlingenden Griffen sich versucht!“ Wer sich etwa an die „josephinischen Ideen“ stoßen möchte, erwäge, daß es dem Dichter gestattet ist, die Höhe des Helden mit der Tiefe des Sturzes in Verhältniß zu bringen. Der eigentliche Held freilich ist Juarez und zugleich der siegreiche, in ihm triumphirt die Gerechtigkeit, was auf der Bühne nicht immer und noch seltener in der Geschichte der Fall. Aus dem reichen Sprachschatz der Dichtung nur noch das Wort des Juarez:

 „Der Völker Interessen,
Ihr Eigensinn und ihre Consequenzen
Sind auch ein Papstthum, das nicht anders kann.“

Möchten doch endlich die Völker zum Non possumus! sich ermannen!

A. Traeger.     


Inhalt: Jedem das Seine. Von Ad. von Auer. (Fortsetzung.) - Aus dem Nachtleben der Flughörnchen. Von Brehm. Mit Abbildung. - Aus meinem Leben. Vom Capellmeister Dorn in Berlin. Ein Concertabend am Hofe des Herzogs von Cumberland. – Aus vollem Menschenherzen. Wissenschaftliche Novellette von A. Bernstein. (Schluß.) - Aus der Wandermappe der Gartenlaube. Nr. 5. Guggisberg und seine Hochgebornen. Mit Abbildungen. – Blätter und Blüthen: Eine Humboldt-Feier unter Palmen. – Das Hagestolzenrecht. – Warnung für Auswanderer. Von Friedrich Gerstäcker. - Kaiser Maximilian von Mexico. Von Albert Traeger.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.