Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1869)/Heft 44

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[691]

No. 44.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Jedem das Seine.
Von Ad. von Auer.
(Fortsetzung.)


Frühlingsanfänge draußen, die dem abziehenden Winter stark Concurrenz machten; Frühlingsanfänge gar in jungen Herzen! Wie kam es doch, daß den beiden jungen Mädchen, Elly und Liddy, das Leben noch viel schöner erschien denn je und daß es ihnen doch viel ernster vorkam? Wie kam es, daß ihre stillen Züge lebhafter, ausdrucksvoller wurden, ihre Gedankenwelt reicher, wenn auch noch mehr in Träumen sich verlierend, als schon reif zu klarem bestimmtem Verständniß und Wort?

Sie saßen bei einander und tauschten Eindrücke, Betrachtungen, wie das Leben sie der Jugend bietet, mit einander aus. Schweigend hörte Ursula zu. Dem jungen Mädchen war die Veränderung der Schwestern nicht entgangen. Sie hatte einen beobachtenden Geist, was himmelweit von einem spionirenden, einem combinirenden ist. Durch logisches Denken verband sie Ursache und Wirkung mit einander und da, wo ein Anderer nur eine Mischung bunter Farben gesehen haben würde, sonderten sich diese für sie zum klaren Bilde. Sie bemerkte die Veränderung der Schwestern und zagte, sie sah auch noch andere Blüthen keimen im Eden der Jugend, dem Sonnenschein hoffnungsvoll entgegen lachend und doch diese Sonne im Nebel, in Wolken, trotz allen Bemühens, den weiten Horizont zu erhellen. Woher diese Ohnmacht, woher Wolken und Nebel? Unbestimmte Furcht erfüllte Ursula’s Seele, und das scheinbar heitere Geschwätz der Schwestern verscheuchte sie nicht. Kindergeschwätz, Vogelgezwitscher! Aus übervoller Brust strömt zuletzt doch der Ton, der zum Liede wird, wenn es auch nichts weiter besingt als die Seligkeit des Daseins.

„Wie freue ich mich auf Gülzenow!“ sagte Elly.

„Und den Frühling auf dem Lande,“ setzte Liddy hinzu.

„Glaubst Du, daß er noch schöner sein kann als der Winter es war?“ fragte Elly.

„Gewiß, im Frühling wächst Alles. Waren die letzten Bälle nicht auch noch viel heiterer als die ersten?“ lautete die Entgegnung.

„Ja, ich habe nicht geglaubt, daß man so glücklich sein könnte, während man sich doch nur amüsirt,“ sagte Liddy sinnend.

„Das Vergnügen ist nur ein Strahl aus der Sonne des Glückes,“ fuhr Elly fort; „glaubst Du, daß ein unglücklicher Mensch das Vergnügen kennt?“

„Wenn Vergnügen ein Sonnenstrahl ist, den kann Jeder erhaschen, die Sonne scheint für Alle,“ begann wieder Liddy. „Aber das ist doch nur ein Bild. Die Sache selbst muß einen Grund haben. Sieh einmal, unsere Ursula ist glücklich, aber über unser Vergnügen lächelt sie und versteht es nicht.“

„Die Sonne wirft ja doch viele Strahlen, dem Einem blickt dieser, dem Andern jener in’s Herz,“ mischte sich jetzt Ursula in das Gespräch.

„Also ist das Bild doch richtig,“ triumphirte Elly, „die Sonne bedeutet das Glück im Ganzen, hoch oben am Himmel steht’s und wirft Strahlen über die Erde; jeder bringt uns ein anderes dem Himmel verwandtes irdisches Gut. Ursula, Du bist für uns auch ein Sonnenstrahl.“

„Und auch die Tante, Rose, Hasso,“ fuhr Liddy fort.

Elly lachte leise. „O,“ sagte sie, „der Sonnenstrahl, der die Tante bedeutet, ist manchmal etwas sehr heiß, heißer als hell.“

„Still, still, wir dürfen so etwas nicht denken, nicht sagen,“ wies Liddy die Schwester zurecht, wie man wohl sich selber zurechtweist, wenn Gedanken gegen Gefühle streiten, und Elly war fast gehorsamer, als man es in solchen Fällen oft gegen sich selbst zu sein vermag, sie bat Liddy mit einem reuigen Blick ihre voreilige Bemerkung ab und sagte:

„Gewiß ist die Tante einer unserer Sonnenstrahlen, auch Dora.“

„Und Clemens!“ setzte Liddy schnell hinzu.

Nun fingen sie an, die Vorzüge des Vetters aufzuzählen, seine Heiterkeit, sein musikalisches Talent, seinen schönen Anstand, sein wohllautendes Organ, seine Klugheit, seine Freundschaft, seine Wahrheitsliebe und sein gutes Herz.

„Er hat Dich sehr lieb!“ sagte Elly, „hast Du das nicht gemerkt?“

„Ich habe nicht darauf Acht gegeben,“ entgegnete Jene, „ich freute mich, daß er Dir so gut war.“

Sie sahen einander an, fest, tief, als gäbe Jede der Andern ein Räthsel auf, das nicht mit Worten, nur mit Blicken zu lösen sei. Den in einander schwimmenden Augen folgten die Hände, die sie fest in einander verschlangen.

„Was ist Dir? Du zitterst und Deine Hand glüht,“ sagte Elly.

„Die Deine auch und Du hast Thränen in den Augen!“ fuhr Liddy fort.

Sie sanken einander in die Armen ein leises Schluchzen erstickte jedes weitere Wort. Es war auch weiter nichts zu sagen. Das Räthsel war gelöst. Sie liebten Clemens, liebten ihn alle Beide. Wann hätten sie je etwas nicht gemeinsam empfunden!

„Ihr armen, armen Kinder!“ sagte Ursula, aber zwei glückselige Gesichter lachten ihr durch Thränen entgegen.

[692] „Arme Ursula, arm wir? Ja, wenn die Empfindung uns trennte! Aber wir lieben ihn ja gemeinsam, wir wollen ja nichts weiter, als eins sein auch in diesem Gefühl, wie wir es in allen andern Dingen sind,“ so sprachen die Schwestern in lieblicher Verwirrung durch einander.

Vogelgesang! Das Lied der Lerche, die von der Seligkeit des Frühlingsmorgens singt!

Es war etwas Fremdes über die Schwestern gekommen. Die Unbefangenheit war dahin, die sonst ihren Verkehr mit Clemens bezeichnet hatte. Sie errötheten, wenn sein Schritt auf der Treppe erschallte, und wurden blaß, wenn er eintrat. Sie mieden seine Blicke, sie flüchteten zu einander, wenn er da war, als müßte die Eine die Andere vor ihm beschützen. Die jungen Herzen waren aus dem Schlummer der Kindheit erwacht. Die Träume desselben waren Leben geworden, und das Leben ist Unruhe.




Der letzte Ball der Saison fiel schon tief in den April hinein. Am Tage darauf sollte die Reise nach Gülzenow angetreten werden. Hasso hatte Urlaub, Clemens wollte nachkommen, da er überhäufter Arbeiten beim Gericht wegen sich im Augenblick nicht losmachen konnte. Rose dachte im Stillen: wenn er kommt, bin ich weg, weit weg. Hat er mich wirklich noch lieb, wie es manchmal ein halbes Wort, ein rascher Blick sagen will, hat er mich noch lieb, wie kann er sich, mir, diese Pein auferlegen, wie kann er sich so verstellen, so heiter, so unbefangen sein! Oder ist das Kraft, Selbstbeherrschung, nicht Verstellung? Sie blieb sich selber die Antwort schuldig.

Eine halbe Stunde vor Anfang des Balles kam Clemens zu Lindemann. „Alter Freund,“ sagte er, nachdem er eine Weile ruhig den Auslassungen des Andern über die Vorzüge Liddy’s zugehört, „alter Freund, borgen Sie mir dreitausend Thaler!“

Er sagte das in einem Tone, als bäte er um eine Cigarre.

„Sie sind reich, ich habe Schulden, die ich jetzt gern los sein möchte. In einem halben Jahre oder Jahre, wenn ich verheirathet bin, zahle ich sie wieder.“

„Wenn Sie verheiratet sind? Ei, der Tausend, sind Sie denn verlobt?“

„Noch nicht, aber ich darf nur ein Wort sagen und ich bin’s.“ „Darf man fragen, mit wem? Da Ihre Heirath doch eine Garantie für mein Geld sein soll.“

„Ich werde eine meiner Cousinen heiraten. Es sind artige Kinder, die Tante ist eben so reich als wankelmütig in ihrer Gunst, wenn man sie nicht zu behandeln weiß. Ich weiß sie aber zu behandeln, verstehe es, Vortheil für mich daraus zu ziehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die Mädchen ihre Erbinnen, ist die Eine meine Frau, werde ich die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit machen. Sie sind Geschäftsmann gewesen, Lindemann, deshalb spreche ich zu Ihnen nüchtern über die Sache, was mein Herz dabei empfindet, werde ich vor dem Altar meiner Gottheit selbst niederlegen.“

Die Wärme, mit der er die letzten Worte sagte, übte nicht die beabsichtigte Wirkung. Lindemann schüttelte bedenklich den Kopf.

„Das gefällt mir nicht. Sie wollen die Nichte heirathen und witzeln über die Tante an öffentlicher Table d’hôte, verspotten ihre Eigentümlichkeiten und geben sie dem Gelächter preis.“

„Sie ist eine verdrehte alte Schraube, ich heirate sie nicht, und – wer wird’s ihr wiedererzähle? Scherz muß sein!“ sagte Clemens leichtsinnig.

„Hören Sie, das würde Ihr Vetter Hasso nicht thun,“ versicherte Lindemann.

„Loben Sie ihn nur,“ lachte Clemens, „ich gebe Ihnen ja alle Gelegenheit, es wie gewöhnlich auf meine Kosten zu thun. Hasso würde Sie nicht anpumpen“

„Möchte er’s. Ihm gäbe ich’s auf sein bloßes Wort.“

„Mir nicht? Sie sind aber grob und ein rechter alter Philister!“ scherzte Clemens, der wohl wußte, was er sich erlauben durfte. „Das schadet aber nichts. Sie sperren sich erst ein Bischen und thun mir nachher doch den Willen. Sie sind mir ja doch nun einmal gut trotz Hasso und Ihrer spießbürgerliche Moral und können meine heitre Laune nicht entbehren.“

„Ich habe sie bis jetzt umsonst gehabt,“ meinte Lindemann.

Clemens lachte. „Sie werden sie gar nicht mehr haben, wenn Sie mich zwingen meiner Liebe zu entsagen und kopfhängerisch über meine Schulden zu brüten. Sie verlieren meine Gesellschaft sicher, Ihr Geld würden Sie nicht verlieren. Besinnen Sie sich nicht lange, machen Sie mein Fahrzeug flott, daß es in den Hafen der Liebe einlaufen kann.“

Er klopfte ihm zutraulich auf die Schulter. „Wir sehen uns auch den Fluß beim nächsten Mondschein an, ich bin Ihnen die Bewunderung noch schuldig geblieben,“ setzte er lachend hinzu.

„Mir gefällt dabei nicht, daß Sie die alte Dame dem Gespött preisgeben und daß Sie so leichtfertig sprechen können, wenn Sie an eine Verbindung für Ihr Leben denken,“ sagte Lindemann. „Ich habe zwar keine Erfahrung in der Sache, aber ich denke, das muß anders sein. Ich glaube, wenn ich Ihnen das Geld gebe, hören wir auf Freunde zu sein.“

„Unsinn!“ rief Clemens achselzuckend aus. „Was Sie für enge Begriffe, für kleinliche Besorgnisse, für spießbürgerliche Ansichten haben!“

„Ja, wir hier in dem kleinen L. halten mehr an der Moral, als Ihr in der Residenz es thun mögt.“

„Ach was, der Champagner schmeckt Euch hier gerade so gut wie uns dort, und wenn Ihr weniger sündigt oder vielleicht auch nur mit weniger Raffinement, so fehlt’s mehr an der Gelegenheit als am Willen. Haben Sie Ihre Jugend vergessen oder gehe Sie etwa fort, wenn wir am lustigsten sind? Ich will ja übrigens selber jetzt Philister werden, helfen Sie mir dazu. Ich scheue mich nicht, der Tante zu bekennen, daß ich nichts habe, aber ich möcht’s ihr nicht eingestehen, daß ich etwas derangirt bin. Drum möchte ich gern einen anständigen Kerl zum Gläubiger. Dann kann ich sie über mich beruhige, ohne gerade zu lügen. Ich habe dazu wenig Talent. Das Schleichen und Heucheln verstehe ich nicht und bin lieber besser als mein Ruf, als schlechter.“

„Hm, Ihr Ruf ist eben nicht schlecht und ein guter Kerl sind Sie auch. Wenn Sie nur ein L… er Kind wären!“

„So Einer wie der und der und der!“

Clemens nannte in einem Athem ein halbes Dutzend einheimischer Namen, deren Träger den beste Roués der Hauptstadt wenig nachgeben mochten, Lindemann hielt sich die Ohren zu.

„Donnerwetter, die Zunge ist am rechten Fleck, ob das Herz, weiß ich nicht ganz, aber warten Sie,“ er nahm seine Taschenkalender heraus und blätterte in demselben, „warten Sie, wann haben wir Mondschein? Zweites Viertel, wissen Sie, ist hübscher als Vollmond. Nächste Woche, gut. Verloben Sie sich erst, dann will ich Ihnen das Flüßchen zeigen, es glänzt wie Silber im Mondschein“ –

„Schön, ich will für Silber schwärmen, auch für Gold, geben Sie mir Gelegenheit dazu.“ lachte Clemens. „Ich bin ganz in der Stimmung.“

„Wir müssen auf Mondschein und die Verlobung warten, nachher mehr davon,“ begütigte ihn der vorsichtige Mann.




Clemens schien auf dem Ball übler Laune zu sein. Er tanzte nicht, schützte einen schlimmen Fuß vor und saß in einer Ecke des Spielzimmers, bis der Cotillon begann. Da begab er sich in den Tanzsaal und setzte sich neben die Tante. Sie wollte ihn mit einer Strafrede begrüßen, er schnitt dieselbe ab.

„Schilt mich so viel Du willst, ich werde Dir vielleicht gleich noch mehr Veranlassung dazu geben,“ sagte er in leisem, nur ihr verständlichem Ton. „Die Wahrheit muß aber heraus, ich kann’s nicht länger aushalten. Ich liebe die beiden Mädchen da, Tante!“ Er wars einen melancholischen Blick aus Elly und Liddy. „Ihr fahrt morgen nach Gülzenow, ich werde sehen, daß ich hier fortkomme, bis Ihr wiederkehrt. Da habe ich Dir das Räthsel meiner heutigen schlimmen Laune gelöst. Ich bin ärgerlich auf mich, daß ich nicht früher ging. Da waren mir nur die Flügel angesengt, jetzt stehe ich ganz und gar in hellen lichten Flammen!“

„Für alle Beide, Narr, für alle Beide?“ rief die Tante erstaunt.

„Wundert Dich das? Ist ein Unterschied zwischen Beiden? Ich liebe Elly, ich liebe Liddy.“

„Und möchtest sie Beide heirathen, Du Türke!“ unterbrach ihn Frau von Fuchs.

„O nein, Eine von ihnen könnte mich zum seligsten Geschöpf unter der Sonne machen, aber – aber – –“

„Aber?“ wiederholte die Tante.

„Ich bin arm!“ sagte er niedergeschlagen. „Man macht in meinem Fach sehr langsam Carriere. Bis ich eine Frau ernähren [693] kann, ist die Jugend dahin. Bah, ich kann Hagestolz werden und studire schon jetzt an Freund Lindemann, wie der Philister sich geriren muß.“ Er lachte bitter.

„Du mußt ein reiches Mädchen heirathen,“ sagte die Tante lauernd.

„Die ich liebe, ist aber arm,“ entgegnete er.

„Du bist auch wohl zu stolz, Deine äußere Lage Deiner Frau verdanken zu wollen.“

„Wenn man liebt, wo bleibt da der Stolz!“ sagte er innig. „Liebe löscht jeden Funken von Eigennutz aus, nur der kalte Egoist berechnet. Ich würde nie ein Mädchen heirathen, weil es reich ist, aber hindern sollte mich der Reichthum nicht. Was hat er zu bedeuten? Er ist Mittel zum Zweck, er ebnet den Weg zum Ziel, das Ziel selbst schwebt so hoch darüber, wie der Himmel über der Erde.“

„Hast Du nie daran gedacht, daß ich die Mädchen reich machen kann?“ fragte die Tante.

„Daran gedacht wohl, aber immer wieder den Gedanken weit fortgeschoben,“ gestand Clemens in seiner unwiderstehlich treuherzigen Weise, die so wie die tiefste Wahrheit klang. „Hasso ist ja doch der Erbe von Gülzenow und es wäre wider alle Familienpietät und Tradition gehandelt, ihm das Gut zu geben ohne die Mittel, es zu erhalten. Sollte es in fremde Hände kommen? Hasso muß, und mit Recht, auf Berücksichtigung rechnen. Tante, das ist nur so meine und der Welt Meinung,“ setzte er begütigend hinzu, als die Tante nach dem Haubenband griff. „Hasso hat nie ein Wort darüber gesagt.“

„Zu mir wenigstens nicht; was er mit Ursula spricht, weiß ich nicht; doch lassen wir das jetzt,“ erwiderte sie. „Du närrischer Mensch! Weißt also wirklich nicht, welche Du am meisten liebst? Ei, wenn nun Liddy reich wäre und Elly arm?“

„Dann Elly!“ rief Clemens. „O, ich fühl’s, dann nur sie!“

Die Tante sah ihn wohlgefällig an.

„Nein, es soll aber Liddy sein. Elly hat den Leberfleck, an der Andern ist kein Fehler. Hörst Du? Liddy! Du hast gesagt, Du weißt nicht, welche Du liebst. Es kommt mir zwar curios vor, aber die Mädchen sind einander so gleich, es läßt sich denken. Also Liddy.

„Tante!“ stammelte Clemens.

„Ich werde Dein Fürsprecher sein, und daß Du sie heirathen kannst, dafür werde ich sorgen. Ich glaube, Du bist uneigennützig, ich weiß es. O, wenn man einmal betrogen ist, lernt man wohl seine Leute kennen. Du hast Dir wahrhaftig nie Mühe gegeben, mir zu gefallen, deshalb bist Du mir schnell lieb geworden.“

„O Tante!“ war wieder nur Alles, was Clemens hervorstammeln konnte.

„Es ist gar nicht die Rede davon, daß ich den beiden kleinen Dingern mein Geld hinterlassen wollte,“ fuhr sie immer in derselben polternden Weise, wenn auch in Rücksicht auf den Ort, an dem sie sich befanden, mit gedämpfter Stimme fort. „Gar nicht die Rede davon. Ich wollte sie nicht zu Erbinnen machen, es kommt nicht viel Glück dabei heraus. Jetzt, jetzt freilich könnte ich’s ohne Gefahr thun.“

„Tante, halte das, wie Du willst. Gott erhalte Dich uns noch lange. Du bist die Schöpferin meines Glückes“ – Rührung erstickte seine Stimme.

Er erhob sich schnell, trat in den geschlossenen Kreis des Cotillons und forderte Liddy zu einer Extratour auf. Er flog mit ihr durch den Saal. Sein starker Arm umschloß ihre zarte Taille, seine Hand hielt die ihre krampfhaft fest. Als er sie auf ihren Platz geleitet, einen langen innigen Blick auf sie warf und wortlos den Saal verließ, fragte sie sich ängstlich: „Mein Gott, was war ihm? Weshalb sah er mich so an? Warum tanzte er nicht auch mit Elly?“



Die jungen Mädchen waren am nächsten Morgen sehr früh auf, obgleich die Reise erst um neun Uhr angetreten werden sollte. Sie warteten mit dem Frühstück auf die Tante. Ursula und Rose saßen schon am Kaffeetisch und neckten die Schwestern, daß sie so wenig vom Ball zu erzählen wußten.

„Das ist die Reisefreude, sie sind schon in Gülzenow,“ scherzte Rose, aber Ursula schüttelte bedenklich den Kopf, als wollte sie sagen: „das ist es nicht, leider, leider ist es das nicht.“

Die Schwestern hatten Rose’s Neckerei nicht gehört, ahnten nichts von Ursula’s Bedenken, sie standen mit verschlungenen Armen am Fenster und blickten in den grünwerdenden Kastanienbaum vor dem Hause, in dem die Spatzen ihre Freude über den vegangenen Winter auszwitscherten. Da trat die Tante eifrig ein. Ihr Geheimnis hatte sie die ganze Nacht geplagt und gedrückt. Sie hatte vor Herzklopfen nicht schlafen können, hatte die ganze Nacht in Gedanken Verlobung und Hochzeit gefeiert, ihr Testament entworfen, geändert und wieder entworfen. Sie war unruhig und liebte Gemüthsaufregung doch gar nicht. Sie trat mit dem Entschluß ein, Liddy ihr Glück mitzutheilen, sie noch vor der Abreise mit Clemens zu verloben, und rieb sich still vergnügt die Hände in dem Gedanken, daß er ihnen dann schnell genug nach Gülzenow folgen würde. Tausend verschiedenartige Pläne durchkreuzten ihren Kopf. In dieser Stimmung trat sie in’s Frühstückszimmer.

„Liddy, mein Kind, komm her,“ sagte sie zu dieser, nachdem der allgemeine Morgengruß ausgetauscht war, „ich habe Dir was Gutes mitzutheilen. Es schadet wohl nichts, wenn’s die Anderen hören, auch Dorn mag drin bleiben, es wird es ja bald die ganze Stadt wissen. Wir werden bald eine kleine Braut im Hause haben und das wirst Du sein, Clemens bittet um Deine Hand. So, nun ist’s ’raus, Gottlob! Laß Dich küssen und Dir Glück wünschen.“

Liddy war leichenblaß geworden. Auf Rosens Lippen schwebte ein Ausruf tödtlichen Schreckes. Ursula war fast nicht minder erschrocken, nur in Elly’s Augen leuchtete ein heller Freudenstrahl.

„Nun?“ wiederholte die Tante und sah Liddy erwartungsvoll an.

„Nein, ich werde ihn nicht heirathen,“ entgegnete diese mit jetzt hocherglühenden Wangen, „ich werde gar nicht heirathen, ich will mich nicht von Elly trennen.“

„Dummes Ding, was hindert Dich mit ihr zusammen zu bleiben? Clemens geht nicht mit Dir aus der Welt. Du wirst sie täglich sehen, und wenn ich todt bin, kann sie in Deinem Hause leben.“

„O nein, nein, das würde sie nicht wollen – nicht können,“ entgegnete Liddy ganz leise.

„Warum nicht, Liddy?“ sagte Elly und umschlang die Schwester herzlich. „Ich werde sehr glücklich sein, wenn Du es bist, ich könnte mir nichts Schöneres denken, als Zeugin Deines Glückes zu sein. Weise Clemens nicht ab. Mache ihn nicht unglücklich. Das verdient er nicht, und Du hast ihn ja auch lieb!“

„Elly hat Recht. Sie ist viel vernünftiger als Du, wozu die Ziererei!“ brauste die Tante auf.

„Ich kann nicht sagen, warum ich ihn nicht heirathen will,“ sagte Liddy, preßte die gefalteten Hände an ihre Brust und sah hülfeflehend die Tante an. „Ach, wenn er doch um Elly geworben hätte, wie glücklich würde ich sein! Er hat Elly so lieb, wie fiel es ihm nur ein, meine Hand zu wollen?“

„Es ist ihm nicht eingefallen, ich habe es so bestimmt,“ platzte die Tante heraus. „Er ist gerade ein solcher Affe wie Ihr, er liebt Euch Beide und weiß nicht, welche am meisten. Da habe ich Liddy bestimmt, und er war’s zufrieden, und dabei bleibt es.“

„Er weiß nicht, welche er liebt? Das weiß er nicht? Tante, dann liebt er Keine von uns, Keine,“ sagte Liddy mit größter Bestimmtheit, und Elly setzte hinzu:

„Ein Bruder kann seine Schwestern gleich lieben, Clemens liebt uns nur wie ein Bruder.“

Eine schwere Last fiel von Rosens Herzen.

„Ihr drolligen Dinger nehmt das viel zu wichtig,“ meinte die Tante, halb und halb geärgert durch den unerwarteten Widerstand. „Diese feinen Nuancen sind alle Unsinn. Man liebt oder man liebt nicht, einen andern Unterschied giebt es nicht.“

„Aber, Tante!“ sagte Liddy.

„Grünschnabel!“ fuhr die Tante sie an.

„Wenn man nicht weiß, wen man liebt, liebt man nicht,“ erklärte Elly.

„Was Ihr klug seid, auf einmal!“ höhnte die Tante.

Rose hörte dem Gespräch mit größter Spannung zu. Wenn die Tante Liddy das Jawort entpreßte, was sollte sie thun?

Warnen? Ihre ganze Seele sträubte sich dagegen und doch – „Wir haben unsern Beschluß gefaßt, Keine von uns heirathet Clemens,“ sagte Liddy.

„Nein, Keine von uns,“ setzte Elly hinzu.

„Wir heirathen überhaupt nicht,“ versetzten sie Beide.

[694] „Ihr seid verrückt!“ schrie die Tante sie an. „Alberne Zierliesen seid Ihr, weiter nichts! Aergern wollt Ihr mich. Geht zum Henker!“

„Tante, versteh’ sie doch,“ bat Ursula, „denke doch daran, wie eins sie sind. Es will Keine ein Glück, das die Andere nicht theilen kann. Laß sie doch ihrem sichern Kinderinstinct folgen. Ich muß Dir sagen, daß auch ich Clemens nicht verstehe. Es ist unmöglich, daß er nicht weiß, welche er vorzieht. Weshalb aber Eine von ihnen heirathen, wenn er Keine liebt? Es ist Keine eines Ministers Tochter, und den Gesandtschaftsposten könntest auch Du ihm nicht verschaffen.“

„Gerade daß er seine ehrgeizigen Pläne aufgegeben hat, ist mir ein Beweis seiner Liebe,“ ereiferte sich die Tante, „Sein Gesandtschaftsposten ist im Monde, das weiß er recht gut, wo aber Hasso’s Urwald liegt, weiß ich auch, da soll mir Keiner ein X für ein U machen, und die Bibliothek wird wohl nicht weit davon sein!“

Ursula wendete sich tief verletzt ab. Der Tante schien zu heiß zu werden. Sie lief an’s Fenster und öffnete es.

„Die verfluchten Spatzen!“ schimpfte sie und schlug es wieder zu.

Ursula stand bei den Schwestern und liebkosete sie.

„Das hängt zusammen wie die Kletten,“ murmelte Rosine, „wenn’s gegen mich geht, steht Keiner auf meiner Seite.“ Sie trat hart auf die Schwestern zu. „Nicht einen Groschen von meinem Vermögen bekommt Ihr, wenn nicht Eine von Euch den Clemens heiratet. Ihr wollt es nicht, nun gerade sollt Ihr es thun!“

Liddy und Elly starrten sie erschrocken an.

„Tante, damit wirst Du sie nicht umstimmen“ sagte Ursula ernst, und ihr verletztes Gefühl sprach sich in Ton und Miene aus. „Das ist keine Lockung für sie. Herzen lassen sich nicht kaufen. Reichthum hat sehr wenig Werth, wenn er gegen das Glück in die Wagschale geworfen wird.“

„Du philosophirst sehr uneigennützig,“ höhnte die Tante, und sich brüsk abwendend, setzte sie, zwischen den Zähnen murmelnd, hinzu. „philosophiren, intriguiren, speculiren, das reimt sich Alles vortrefflich.“

Die Schwestern hatten es nicht gehört. Indem rollte der omnibusähnliche Wagen vor die Thür, in welchem die Tante, allen Eisenbahnen zum Trotz, die Reise zurücklegen wollte. Auch Hasso kam und Clemens, Letzterer ahnungslos, daß und in welcher Weise seine Sache geführt worden war. Die kleine Gesellschaft stiebte auseinander. Im letzten Moment hatte noch Jeder mit Reisevorbereitungen zu thun, und die allgemeine Geschäftigkeit deckte am besten die allgemeine Verstörung. Nur mit wenigen Worten konnte Rosine ihrem Schützling von der Hoffnungslosigkeit seiner Aussichten berichten. Er erschrak sichtlich. Er biß die Zähne zusammen aber er war zart genug, der Tante keinen Vorwurf zu machen, ja, er that, als nähme er es auf die leichte Achsel.

„Ich verzage nicht,“ sagte er, „sie lieben mich.“

„Beide, das ist es eben, darum will Dich Keine. Warum hast Du denn Beide erobert, wozu.“ fuhr Rosine ihn etwas barsch an.

„Ist das meine Schuld, sind sie zu trennen? Sollte ich zwiespältiges Empfinden unter sie bringen, dann hätte ich sie noch sicherer verloren,“ vertheidigte sich Clemens.

„Und nun, was hast Du nun? Sie sind entschlossen, Dir zu entsagen.“

„Ein in Schreck gefaßter Entschluß, den die Liebe besiegen wird. Laß mir und ihnen Zeit, Tante, und schüchtere sie nicht ein. Ich gebe Liddy nicht auf.“

„Also Liddy?“ fragte Rosine.

„Ja, Liddy. Und Elly wird meine beste Bundesgenossin sein,“ versicherte Clemens.

„Nun, Glück zu, und wenn’s Dir fehlschlägt, mein Junge – es soll mehr ihr als Dein Schade sein.“

Er drückte der Tante mit einem warmen Blick die Hand, der Diener meldete, daß Alles eingepackt sei, Hasso und Ursula kamen gleichfalls die Tante zu holen. Rose, Liddy und Elly waren schon hinuntergegangen.

Man konnte nicht unbefangener erscheinen, als Clemens beim Abschiede, man konnte nicht unbefangener sein, als Hasso, der von den Vorfällen des Morgens nichts ahnte. Es war ein Glück für Alle. Die betrübten Herzen der Zwillinge fingen an in neuer Lebenszuversicht zu schlagen, Ursula vergaß das Grübeln über dem Schauen, und auch Rosen war zu Muth wie einem dem Käfig entronnenen Vogel, der, erst zaghaft die Schwingen prüfend, sich plötzlich seiner Kraft bewußt wird, sie nun fröhlich regt in hoffendem Vorgefühl wiedererlangter Freiheit und sein bestes, schon halb vergessenes Lied wieder anstimmt.

Zur Mittagszeit des zweiten Reisetages kamen sie in Gülzenow an. Ein herrlicher Frühlingstag, so einer, der jubelnd in’s Herz lacht, und an dem man es sich gar nicht vorstellen kann, wie die Erde ohne den grünen Frühlingsschleier ausgesehen hat, dessen leichtes Gewebe überall von Funken goldenen Sonnenlichts durchblitzt wird. Selbst das graue Schloß sah jugendlich aus und der steife alte Garten machte den Eindruck, als lache eine Matrone aus Kinderaugen. Der Verwalter, der von der Ankunft der Reisenden benachrichtigt worden war, hatte sein Möglichstes gethan, die Räume wohnlich herzustellen, dennoch fehlte es überall an dem gewohnten Comfort. Manches Stück der Einrichtung war mit Tante Rosine in die Stadt gewandert und nicht wieder ersetzt worden. Wozu auch? Seit dem Tode des vorigen Besitzers war das Schloß unbewohnt, und die hohen öden Räume machten einen fast unheimlichen Eindruck.

Die Tante schauerte zusammen, als sie über die Schwelle schritt. „Solch leerstehendes Haus ist wie ein Grab,“ sagte sie.

„Oder wie ein altes Buch,“ entgegnete Ursula, „hier und da fehlt ein Blatt, ist eine Seite zerrissen, aber etwas steht auf jeder.“

„Lies nur, Du wirst nicht viel Gutes herauslesen,“ meinte die Tante. Sie ging raschen Schrittes durch die Zimmerreihen, an jedes einzelne fast knüpfte sich eine Erinnerung.

„Hier stand meiner Mutter Sarg, in diesem Gemach ist mein Vater gestorben. Ich war fern, zum ersten Male seit Jahren abwesend, da gerade mußte er sterben. Hier auf dem Balcon sah ich meinen verstorbenen Mann zum ersten Male. Er war nicht hübsch, und Keiner außer mir fand ihn liebenswürdig. Ich war auch nicht hübsch und wurde auch nicht liebenswürdig gefunden. Ich war mir bewußt, daß ich deshalb doch liebeberechtigt und liebebedürftig war, warum sollte er’s nicht auch sein? Wir paßten zusammen. Sie sagten Alle: ,Du wirst ihn doch nicht heirathen?‘ Ich that es nun gerade. Wir paßten doch nicht zusammen. Ich hatte ihn lieb und er heirathete mich um’s Geld. Um’s Geld!“ wiederholte sie und trat energisch mit dem Fuße auf, während sie einen herausfordernden Blick aus die Geschwister schleuderte.

Sie hatte noch nie über ihre Vergangenheit gesprochen. Die Art, wie sie es that, schloß eigentlich jede Erwiderung aus, dennoch sagte Hasso: „Du hättest nicht mit uns herreisen sollen, wenn’s Dir so weh thut hier zu sein.“

„Auf einer Stelle, auf der andern nicht,“ entgegnete sie. „Es gehen auch andere Geister hier um. Ich sehe dort unten im Garten ein wildes Kind durch die Gänge toben, das Kind bin ich. Ihr Stadtkinder, Ihr wißt gar nicht, was Vergnügen ist. Ihr verzierten zimperlichen Affen mit Euren Strohdächern von Hüten auf dem Kopf, die keinen frischen Luftzug an die Wange lassen, keinen Sonnenstrahl in’s Antlitz. Da, Sommersprossen wie Sand am Meer und die Hände braun gebrannt, die unbedeckt nach der Freude greifen und der strengen Gouvernante ein Schnippchen schlagen! Spazieren gehen mit ihr? Gerade nicht. Lange Kleider tragen wie eine Dame, tanzen lernen, französische Conversation machen, englische Bücher lesen! Wozu das Alles! Kinder, ich wuchs so frei auf wie die Rebe am wilden Wein, ich war ein glückliches Kind und ich war lange ein Kind, und als ich die Erwachsene spielen sollte, that ich’s gerade nicht. Ich riß mir noch die Kleider in Fetzen am Brombeergesträuch und trat mir die Schuhe schief mit achtzehn Jahren. Clemens’ Vater, mein bester Jugendcamerad, pflegte zu sagen: ‚Du bist eine wilde Range, Rosine, bist ein obstinates Geschöpf und zum Heirathen nicht zu brauchen, aber gut muß man Dir doch sein.‘ Nun, ich war ihm auch gut, bin’s ihm heute noch. Wir haben manchmal Anschlag, Ball und Reisen zusammen gespielt.“

Fortsetzung folgt.

[695]

Alexandrine Tinne auf der Reise.
Nach der Natur aufgenommen von W. Gentz.

[696]

Das Bild der Gemordeten.

Nachdem wir in Nr. 38 der Gartenlaube einen gedrängten Lebensabriß des letzten Opfers der Afrikaforschung, der kühnen Pionierin Alexandrine Tinne, von zuverlässigster Hand mitgetheilt, sind wir durch die freundliche Bereitwilligkeit des Herrn W. Gentz, der sich der persönlichen Bekanntschaft der nun Gemordeten erfreute, auch in den Stand gesetzt, unsern Lesern ein ebenso sprechend ähnliches als charakteristisches Bild dieser schönen seltsamen Erscheinung darzubieten. Auch die Nachrichten über Fräulein Tinne sind seitdem reichlicher geflossen, so daß wir jetzt unserem ersten Artikel noch das Folgende nachtragen müssen.

Die Morgenlandliebe und Reiselust unserer „Contessa Hollandese“ scheint ein mütterliches Erbe gewesen zu sein, oder sie scheint Beides mit der Mutter getheilt zu haben; denn von Frau Tinne wird erzählt, daß sie nach dem Tode ihres Gatten (um 1856) die Selbstständigkeit, welche ein großartiges Vermögen ihr bot, benutzt habe, um mit Tochter und Schwester, einer Baronin von Capellen, den Orient zu besuchen und sich auf einem reizenden Landsitz bei Kairo niederzulassen. Dort habe dann der Anblick der Pyramiden den Forschertrieb nach den Geheimnissen der noch verschlossenen afrikanischen Welt in der energischen Seele der Tochter geweckt, und sie war sicherlich von da an die Führerin auf den gewagten Zügen, erst nach Chartum und von da später zum Gazellenfluß, welche den beiden älteren Damen das Leben kosteten.

In ihrem Schmerz über so rasch aufeinander folgende schwerste Verluste – denn auch ihr Leibarzt Dr. Steudner, die beiden europäischen Kammermädchen des Fräuleins, ihr Dolmetscher Contarini und ihr deutscher Gärtner Schubert waren dieser Reise erlegen – zog sich Alexandrine Tinne in jene Einsamkeit zurück, in welcher Gentz sie traf und in ihrem Abschließen von allen europäischen Verbindungen, Sitten und Erinnerungen schon bis zum Aeußersten fortgeschritten fand.

Wir wissen bereits, daß ihr Gefolge fast ausnahmslos aus Negern bestand, und zwar aus solchen, welche, wie Freiherr von Maltzan berichtet, von Kindheit auf in Aegypten, Tripolis, Algerien und anderen halbcivilisirten Ländern gelebt und die der kriegerischen Eigenschaften, welche sie ursprüglich besessen haben mochten, durch ein in weichlichem Müßiggang zugebrachtes Leben verlustig gegangen waren. – Diese in Gefahr nutzlose Hausgarde und Dienerschaar führte ein wahres Schlaraffenleben; der orientalische Hang verleitete Fräulein Tinne sogar, Wünsche zu befriedigen, welche ihrem Frauensinn hätten widerstreben müssen: sie gestattete ihren bevorzugten Dienern auch die Vielweiberei, ja sie wählte ihrem Intendanten selbst vier junge, hübsche, weiße Algiererinnen für seinen Harem aus. Da sie dann auch anderen ihrer Diener ähnliche Vergünstigungen nicht versagen konnte, so war es kein Wunder, daß sie in Kurzem eine Colonie von Frauen und Kindern um sich entstehen sah, die ihre späteren großen Reisezüge wie kleine Völkerwanderungen erscheinen ließ.

Diese Kinder und schöne Hunde bildeten einen Lieblingszeitvertreib im orientalisch-abgeschlossenen Hausleben der Dame. Durch letztere knüpfte sich sogar ein zwar sehr lockeres, aber doch höchst abenteuerliches Band mit einem jungen deutschen Menschenleben. Aus dem Gymnasium unserer sächsischen Weinstadt Meißen entfloh, als die Nachricht von Gerhard Rohlfs’ Reiseunternehmung durch die Zeitungen lief, ein Zögling, Namens Krause, und gelangte mit wirklich bewundernswerther Ausdauer und Odysseuslist bis nach Afrika und zu dem berühmten Reisenden. Dieser konnte dem Armen seinen Herzenswunsch nicht erfüllen, empfahl ihn aber Fräulein Tinne, die ihn freilich auch nicht besser zu verwenden wußte, als zur Beaufsichtigung ihrer arabischen Windhunde. Einen Monat vor dem Antritt ihrer letzten Reise entließ sie ihn jedoch aus seiner hohen Anstellung, weil einer der Hunde crepirt war und sie angeblich durch den Anblick des Hüters nicht an diesen Todesfall erinnert werden wollte. So verdankte einem Hundetod der junge Mensch sein Leben.

Die Arabisirung der Dame ging mit ihrer steigenden Abneigung gegen alle Europäer und alles Europäische überhaupt gleichen Schritt. Dieselbe mag wohl, wie v. Maltzan vermuthet, durch die Erfahrungen ihres früheren Lebens, namentlich eine ohne ihre Schuld abgebrochene Verlobung und die Zudringlichkeit vieler junger und alter Freier hervorgerufen worden sein. Zu beklagen ist es aber, daß diese Abneigung so weit ging, daß sie es auch verschmähte, in tüchtigen, muth- und charaktervollen Männern von naturwissenschaftlicher Bildung ebenbürtige Reisebegleiter an sich zu ziehen; nicht nur die Resultate ihrer Unternehmungen blieben dadurch an Werth weit hinter dem ungeheuren Aufwand zurück, den ihre Mittel ihr erlaubten, sondern auch die Gefahren ihrer Reisen mußten bei ihrem von keinem Mann gefestigten und gezügelten Negergefolge sich mehr als verdoppeln.

War sie trotz alledem, wohin sie mit ihrem schwarzen glänzenden Hofstaat kam, ein angestaunter und hochgeehrter Gast, so verursachte ihr doch einmal ihre Kleidung und zwar in Tunis, dem „Paris der Berberei“, einen harten Anstoß. Als sie dort die consularische Protection ansprechen wollte und, in arabischer Kleidung, sich bei dem holländischen Consulatsverweser melden ließ, wurde sie abgewiesen, weil der Consul Araberinnen niemals empfange. Nach einer zweiten Anmeldung wurde sie zwar vorgelassen, aber folgendermaßen angeredet: „Mein Fräulein, als die holländische Regierung Sie an mich empfahl, glaubte ich eine anständige Dame erwarten zu können, und nun, was muß ich sehen? Eine Beduine!“ Da der Consul darauf beharrte, sich zu ihrem Führer durch Tunis nur dann hergeben zu wollen, wenn sie in europäischer Tracht erscheine, so verließ sie sofort die Stadt.

Das schreckliche Ende des schönen kühnen Frauenbildes haben wir erzählt; alle späteren Nachrichten bestätigen es so. Nach Briefen aus Tripolis vom 30. September sind die türkischen Behörden der Mörder habhaft geworden und haben auch eine junge Negerin, Jasmina, sowie einen Theil des gestohlenen Gutes zurückerhalten. Ichenuchen, der Stammeshäuptling der Tuareggs, dessen Schutz sie sich anvertraut hatte, behauptet, er stehe mit der Escorte, welche die unglückliche Dame verrieth, in keinerlei Verbindung; er hat die Behörden bei der Verfolgung der Thäter unterstützt.




Zwei Affen-Menschen.
Von Dr. Louis Büchner.

Es wird in diesem Augenblicke in Darmstadt öffentlich ein lebendes Kind gezeigt, welches den Typus oder die allgemeine Bildung der neuerdings von Karl Vogt als „Affenmenschen“ bezeichneten menschlichen Mikrocephalen oder Kleinköpfe in einem außerordentlich hohen Grade an sich trägt. Daß die Verkümmerung oder mangelhafte Entwicklung des wichtigsten aller Organe, welche der Mensch besitzt, des Gehirns, den tiefgehendsten Einfluß auf dessen ganzes körperliches und geistiges Wesen ausüben könne und müsse, ist ein Satz, den uns wahrscheinlich die meisten Menschen, ob gelehrt oder ungelehrt, ohne langes Besinnen zugeben werden. Ist doch das Gehirn nicht blos ein für das Leben selbst so wichtiges Organ, daß Kinder, welche ohne dasselbe oder mit einem sogenannten Rudiment desselben zur Welt kommen (sogenannte Acephalen oder Kopflose), ihr Leben nach der Geburt gar nicht fortzusetzen im Stande sind – sondern ist es auch weiter gerade dasjenige Organ, welches durch seine verhältnißmäßig starke Entwicklung und hohe Ausbildung das eigentliche Uebergewicht des Menschen über das Thier (neben seinen übrigen Vorzügen) bedingt, oder welches den Menschen erst zu dem macht, was er in Wirklichkeit ist – zum gebornen Herrscher der Schöpfung! Es ist daher nicht sehr zu verwundern, daß man jene traurigen Geschöpfe, welchen das eigentliche Attribut oder

[697] Erforderniß des Menschenthums mehr oder weniger fehlt, mit dem Namen der „Affenmenschen“ belegt hat, und zwar dieses um so mehr als sie nicht blos in der Bildung und Entwicklung ihres Schädels und dessen knöcherner Zuthaten, sondern auch in ihrem ganzen Wesen, in ihrem Benehmen, ihren Manieren etc. so Manches an sich haben, das an unsern nächsten Verwandten im Thierreich, an den Affen, erinnert.

Freilich darf man deshalb nicht, wie Herr Albrecht Schumann in Dresden (siehe dessen „Die Affenmenschen Karl Vogt’s“, Leipzig, 1868), glauben, daß diese Geschöpfe nun auch wirkliche Affen seien oder sein müßten; es sind, wie Herr Schumann ganz richtig bemerkt, kranke, mißbildete oder in ihrer natürlichen Entwicklung gehemmte Menschen, welche jedoch dadurch, daß sie auf einer solchen niedrigen Stufe menschlicher Entwicklung stehen bleiben, Charaktere entwickeln, welche in vielfacher Hinsicht an die thierische Abstammung des Menschengeschlechts, an unsere frühesten Ur- oder Eltern-Väter erinnern. Vogt hat diese merkwürdige Erscheinung aus dem sogenannten Atavismus (Ahnenbildung) oder aus der bekannten Erfahrung zu erklären gesucht, daß beinahe alle lebenden Wesen die merkwürdige Neigung zeigen, bisweilen in einzelnen der von ihnen erzeugten Nachkommen solche Kennzeichen oder Eigenthümlichkeiten zu entwickeln, welche ihren frühesten Eltern oder Urahnen, die vielleicht schon seit vielen Jahrtausenden in sogenanntem fossilem Zustande in den Tiefen der Erde begraben liegen, eigen waren. Es ist gewissermaßen ein Verrath, den die Natur an sich selbst begeht, oder auch ein Sichselbstvergessen in Erinnerung an vergangene Zeiten. Oder – um es mehr wissenschaftlich auszudrücken – die Lebensbewegung, welche einer bestimmten Form seit Jahrtausenden innewohnt und sie drängt, sich stets wieder in ihren Nachkommen in gleicher Weise zu wiederholen, ist so stark, daß selbst in solchen Fällen, wo jene Form durch den Einfluß der Zeit und geänderter Umstände längst eine andere geworden ist, sie sich mitunter in den entferntesten Nachkommen kraft ihrer ursprünglichen Zähigkeit geltend macht und gelegentlich einen sogenannten Rückschlag in die ursprüngliche Form oder Lebensbewegung bewirkt. In geringerem Grade sind wir im Stande, die Erscheinungen des Atavismus oder Rückschlags beinahe alltäglich bei uns und in unseren eigenen Familien zu beobachten. Denn wie häufig kommt es vor, daß einzelne Kinder einer Familie ohne irgend nachweisbare direkte Ursache körperliche oder geistige Eigenthümlichkeiten oder noch häufiger Krankheitsanlagen entwickeln, welche in der Familie selbst nicht heimisch sind, welche aber bei genauerer Nachforschung sich als solche herausstellen, die bei den Groß- oder Urgroßeltern oder aber bei einem älteren und entfernteren Seitenzweig der Familie vorhanden waren.[1]

Von den Gesetzen dieses Atavismus oder Rückschlags ausgehend hat nun Vogt die Theorie aufgestellt, daß die menschlichen Mikrocephalen oder Kleinköpfe eine Art von Rückschlag nach dem Typus oder nach der Bildung jenes gemeinsamen und vorweltlichen, aber längst ausgestorbenen affenähnlichen Stammvaters darstellten, von welchem aller Wahrscheinlichkeit nach der heutige Affen- sowie der Menschentypus als zwei auseinandergehende Zweige desselben ursprünglichen Stammes in grauer Vorzeit sich entwickelt haben müssen. Dieser Theorie hat Karl Vogt auch in einem populären Aufsatz, der in Nr. 13 dieser Zeitschrift vom Jahre 1868 enthalten ist, Ausdruck gegeben und als Beispiel dafür eine Beschreibung und Abbildung des in einem Alexianerstift am Rhein befindlichen erwachsenen Mikrocephalen Emil N. gegeben. –

Ich will nun an dieser Stelle nicht untersuchen, ob jene Vogt’sche Theorie, welche Manches für, aber auch Manches gegen sich hat, richtig ist oder nicht, sondern überlasse es dem schon erwähnten Herrn Schumann, mit seinen geistreichen X-Y-Untersuchungen gegen Herrn Vogt und gegen die Materialisten überhaupt zu Felde zu ziehen und den Beweis zu führen, daß eigentlich Alles in der Welt Nichts ist und daß wir kein philosophisches Recht haben zu existiren, weder Herr Vogt, noch die Mikrocephaten, noch er selbst, noch ich, noch die Gartenlaube, noch Herr Keil, der sie gegründet und zum verbreitetsten literarischen Organ der Welt erhoben hat, noch die vielen Leser derselben etc. etc., sowie daß wir in Allem, was wir erkennen, eigentlich nur Täuschungen oder Vorspiegelungen unserer Sinne vor uns haben. Aber sollte auch die Vogt’sche Theorie unrichtig sein, so würde doch dadurch das Interesse an jenen beiden Kindern, welche ich hier beschreiben will, nicht im Mindesten beeinträchtigt werden, da sie auch ohne jede atavistische Bedeutung in ihrer thierischen Vernachlässigung und Hülflosigkeit einen wahrhaft niederschmetternden Beweis gegen alle nichtmaterialistischen oder – ich sage vorsichtiger – gegen alle nichtphysiologischen Betrachtungsweisen des menschlichen Seelenlebens bilden.

Wer einmal jene traurigen Geschöpfe gesehen und beobachtet hat, kann, auch wenn er sonst gar keine physiologischen Kenntnisse besitzen sollte, unmöglich mehr an die Versicherungen der sogenannten Spiritualisten unter den Philosophen glauben, daß der Geist oder die Seele des Menschen etwas für sich Bestehendes, vom Körper mehr oder weniger unabhängiges oder gar demselben Entgegengesetztes sein solle. Zwar bedarf die Wissenschaft selbst solcher gewissermaßen roher oder handgreiflicher Hülfen oder Beweise nicht, da ihr zahllose anderweitige Erfahrungen und Beweismittel zu Gebote stehen, welche die Wahrheit längst bei ihr so festgestellt haben, daß sie in derartigen Vorkommnissen nur gelegentliche und erneute oder gar nicht anders zu erwartende Bestätigungen ihrer längst aufgestellten Sätze erblickt. Dagegen für den Laien ist die Unmittelbarkeit eines solchen Beweismittels um so werthvoller, weil bei ihm keine noch so treffliche theoretische Begründung oder Auseinandersetzung jenen unverlöschlichen Eindruck zu erzeugen vermag, den der eigene Augenschein oder auch nur die Erzählung eines solchen hervorzurufen pflegt; darum diese Mittheilung.

Helene Becker von Offenbach (eine Stunde von Frankfurt am Main) ist ein Kind im Alter von nunmehr sechseinhalb Jahren und von dreieinhalb Fuß Größe. Ihr Kopf oder Köpfchen, dessen eigentlicher Schädeltheil ungefähr die Größe einer starken Mannesfaust hat, besitzt (über den Haaren gemessen) einen Umfang von dreizehneinhalb Zoll (rheinisch), während eine quer über den Kopf herüber von einem Ohr zum andern gezogene Schnur eine Länge von sechseinhalb Zoll, und eine desgleichen der Länge nach von der Nasenwurzel zum Rande der Hinterhauptsschuppe über den Scheitel hinweg angelegte eine Länge von achtdreiviertel Zoll zeigt. Zum Vergleiche damit führe ich an, daß mein jüngstes, geistesgesundes Söhnchen Wilhelm, welches nur drei Jahre alt ist, einen Kopfumfang von zwanzigeinviertel Zoll hat und daß das Quermaß bei ihm eine Länge von zwölfeinhalb, das Längenmaß aber eine solche von vierzehn Zoll besitzt – also beinahe das doppelte in allen Verhältnissen. Am stärksten überwiegt das Quermaß; und dem entspricht auch die flache, von den Seiten zusammengedrückte, etwas dachförmige Gestalt des Schädels des Idiotenkindes. Von einer Stirne ist so gut wie gar nichts vorhanden, sie ist so flach, schmal und zurückfliehend, daß man ihrer unter den Haaren kaum gewahr wird. Dagegen ist der obere Augenhöhlenrand in thierischer Art und Weise etwas hervortretend, und sogleich unter demselben schließt sich die lange, gebogene und spitz zulaufende Nase an, in einer Linie mit der Stirnoberfläche verlaufend. Dieses, sowie das fehlende oder sehr zurücktretende Kinn und die schiefstehenden Zähne, giebt dem ganzen Gesicht einen eigenthümlichen, vogelartigen Ausdruck und erinnert sehr lebhaft an die vor Jahren in Europa gezeigten und auch in der Gartenlaube abgebildeten Aztekenkinder. Der ganze Typus pflegt daher auch als Aztekentypus bezeichnet zu werden. Uebrigens ist das Gehirn selbst wahrscheinlich noch kleiner, als es sich nach den obigen Maßen voraussehen läßt, da man allen Grund hat anzunehmen, daß die knöchernen Schädelwände ansehnlich verdickt sind.

Diesem enormen Gehirnmangel entsprechend steht das armselige Geschöpf nicht auf der Stufe des Thieres, sondern noch weit unter dem Thiere, welches Letztere trotz seiner verhaltnißmäßig ebenfalls geringen Gehirnentwickelung doch diejenigen Bedürfnisse und Fähigkeiten, welche ihm vermöge seiner ganzen Organisation und seiner besonderen Stellung in der Gesammtnatur zukommen, oft bis zu einem erstaunlichen Grade zu entwickeln und zu befriedigen lernt. Dem gegenüber ist das mikrocephale Menschenkind nicht im Stande, auch nur für das kleinste seiner Bedürfnisse zu sorgen, und ein vollständig unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Es kann nicht gehen, nicht stehen, nicht sprechen, nichts erfassen, nichts festhalten; und seine fortwährenden unruhigen und affenartigen Bewegungen, sein stetes Hin- und Herschleudern des Kopfes und Körpers beruhen nur auf einer krankhaften Steigerung der sogenannten Reflex- oder unwillkürlichen Muskelthätigkeit, [698] welche sich überall da in übermäßig gesteigerter Weise geltend macht, wo der beherrschende und beruhigende Einfluß des Gehirns aufgehoben oder beeinträchtigt ist. In ähnlicher Weise ist die Reflexthätigkeit in den Muskeln eines decapitirten oder enthirnten Frosches derart gesteigert, daß schon eine mäßige Erschütterung des Tisches, auf dem er liegt, ihn zu Zuckungen veranlaßt.

Die stete Unruhe und Ungeberdigkeit der Helene Becker und ihre Empfindlichkeit gegen jedes Anfassen sind so bedeutend, daß es mir sehr schwierig wurde, die Maße ihres Kopfes zu nehmen, und diese Unruhe drückt sich auch in dem auffallenden Mangel an Schlaf aus. Das Kind schläft fast gar nicht, wenigstens nie in dauernder Weise, und das geringste Geräusch weckt es wieder auf. Dieses, sowie der Umstand, daß es Alles unter sich gehen läßt, und daß es künstlich ebenso gefüttert werden muß, wie ein einjähriges Kind, macht die Pflege für ihre Elteru zu einer sehr schwierigen. Trotz dieser Pflege jedoch ernährt sich der Körper schlecht, die Eigenwärme ist gering, Arme und Beine sind mager, fühlen sich kalt an und haben ein blaurothes Ansehen. Die beiden Handwurzelgelenke zeigen überdem sogenannte rhachitische Auftreibung, die Fußgelenke dagegen nicht.

Die geistige Thätigkeit der Helene Becker kann fast gleich Null angesehen werden. Die Sinne sind zwar thätig, mit Ausnahme des einen erkrankten Auges, aber sie wecken keine Vorstellungen. Der Blick ist stier, geist- und ausdruckslos und kann Nichts fixiren. Nur der Anblick glänzender Gegenstände und das Hören von Musik, für welche letztere die Helene Becker sehr empfindlich ist, wecken ihre Aufmerksamkeit. Sie lacht nicht, schreit aber und stößt statt der Sprachlaute unarticulirte, thierische Töne hervor.

Da die Helene Becker in größeren Städten öffentlich gezeigt wird (wobei nur zu bedauern ist, daß durch marktschreierische Ankündigungen bei vielen Menschen der Glaube erweckt wird, es handle sich um ordinären Schwindel), so werden die meisten Leser der Gartenlaube Gelegenheit haben, sich durch Augenschein von ihrem Zustande zu überzeugen. Anders verhält es sich mit einem zweiten Kinde ähnlicher Art, welches vor drei Jahren in einer hiesigen Familie geboren wurde, und welches ich Gelegenheit hatte, vom Tage seiner Geburt an bis heute fortdauernd zu beobachten. Zwar ist Sophie L… nicht in so eminentem Grade mikrocephal oder kleinköpfig, wie Helene Becker. Der Umfang ihres Kopfes beträgt sechszehn drei Viertel Zoll, das Längsmaß zehn und einen halben Zoll, das Quermaß zehn Zoll – und sie nimmt daher bezüglich ihrer Kopfgröße beinahe die Mitte zwischen der Helene Becker und meinem Söhnchen Wilhelm, dessen Kopfmaße ich vorhin anführte, ein. Auch ist ihre Stirn bei Weitem nicht so klein und zurückfliehend. Dagegen ist ihr Hinterhaupt sehr abgeflacht, und der Schädel ist, wie bei der Helene Becker, von der Mitte nach beiden Seiten abfallend oder in geringem Grade dachförmig. Als das Kind zur Welt kam, war die Kleinheit seines Kopfes wenig auffallend, und man konnte noch nicht vollständig ahnen, was sein späteres Schicksal sein werde. Auffallend war uns, daß die sogenannten Fontanellen oder die offenen Stellen in der knöchernen Schädelkapsel, welche bei gesunden Neugeborenen nie fehlen, geschlossen waren. (Auch die Helene Becker kam mit geschlossenen Fontanellen zur Welt.) Je älter jedoch das Kind wurde, und je mehr sein Wachsthum zunahm, um so deutlicher erschien das Mißverhältniß seines Kopfes zur Größe seines Körpers, indem letzterer zunahm, der Kopf aber nicht. Es besteht ein beinahe absoluter Stillstand im Wachsthum der Schädelkapsel. Ein Hütchen, das die Eltern dem Kinde vor nun anderthalb Jahren kauften, paßt heute noch vollständig; und sogar ein solches, welches dasselbe als vierteljähriges Kind trug, kann ihm zur Noth heute noch aufgesetzt werden. Dieses Fehlen des Wachsthums der Schädelkapsel besteht auch bei der Helene Becker. Wenigstens behaupten die Eltern, daß der Kopf derselben seit der Geburt gar nicht gewachsen sei. Ganz richtig mag dieses indessen nicht sein. Wenigstens betrug eine Messung des Kopfumfanges, welche Professor Schaafhausen vor nun beinahe drei Jahren bei der Helene Becker vornahm, einen Zoll weniger, als die meinige.

Nach Aussage der Eltern der Sophie L… soll sich das Kind bis zum vierten Monat entwickelt haben, von da aber in seiner Entwickelung stehen geblieben sein. Eine sehr gute Entwickelung zeigt das Zahnsystem der Sophie L…, namentlich bezüglich der Eckzähne, welche stark und über die übrige Zahnreihe etwas emporstehend sind, dagegen ist von sogenannter Schiefzähnigkeit nichts zu bemerken.

Einen sehr bedeutenden Unterschied in der Gesichtsbildung der Sophie L… im Vergleich mit der Helene Becker macht neben der mehr vortretenden Stirn und der nicht so sehr hervorstehenden Nase das ziemlich gut entwickelte Kinn, welches ja bekanntlich von Linné neben dem aufrechten Gang als das eigentliche Charakteristicum der Menschlichkeit oder als Hauptunterscheidungs-Merkmal zwischen Mensch und Thier bezeichnet worden ist. Daher macht auch die allgemeine Form des Gesichtes der Sophie L… nicht jenen überaus thierähnlichen oder vogelartigen Eindruck, wie bei der Helene Becker, trotz der sonstigen großen Aehnlichkeit der beiden Physiognomieen. Namentlich hat das Auge der Sophie L… fast ganz denselben leeren, geistlosen Ausdruck, wenn es auch freundlicher erscheint. Auch verzieht sie das Gesicht zum Lächeln, wenn sie angenehm erregt wird, was durch Zurufen, Vorhalten glänzender Gegenstände oder Musik geschehen kann. Dagegen steht sie in beinahe allen anderen Beziehungen fast ganz auf der Stufe des Becker’schen Kindes, wobei allerdings auch der Unterschied des Alters in Rechnung zu bringen ist. Sie kann nicht stehen, nicht gehen, nicht allein essen oder trinken, Nichts mit den Händen ergreifen oder festhalten, nicht sprechen, ihre Bedürfnisse nicht anhalten etc. Sie kann nur schreien und unnatürliche Laute ausstoßen, ist wenig empfindlich gegen Schmerz, aber sehr zum Zorn geneigt, und von einer großen Sucht zum Beißen beseelt. Ihre Beine und Arme sind schwach, mager, schlecht ausgebildet, aber ohne Spur von Rhachitis, fühlen sich immer kalt an und zeigen eine blaurothe Färbung. Ihr Schlaf ist schlecht und kurz und muß meist durch Opium erzwungen werden; sie wacht sehr leicht auf. Die Sinne sind gut; sie hört und sieht deutlich; aber von einer durch dieselben erweckten geistigen Thätigkeit ist beinahe Nichts zu bemerken.

Das Kind macht sehr viel häusliche Pflege nöthig und wird wohl in einer Anstalt untergebracht werden. Es hat ein anderthalb bis zwei Jahre altes Schwesterchen, welches ganz gesund und körperlich, wie geistig durchans gut entwickelt ist.

Offenbar gehören beide Kinder, die Sophie L…, wie die Helene Becker, ganz in eine und dieselbe Kategorie der Mikrocephalie oder Kleinköpfigkeit, und unterscheiden sich nur dem Grade nach. An Kindern wie die Sophie L… oder mit noch geringer entwickeltem Kleinkopf wird es wohl in keiner Stadt oder Gegend fehlen, während die Helene Becker gewiß zu den sehr seltenen Exemplaren ihrer Gattung zählt.

Es kann nicht Sache der Gartenlaube sein, über die Entstehungsweise dieser traurigen Abnormität des Menschengeschlechtes sich weiter zu verbreiten; Professor Virchow spricht sich entgegen einer Aeußerung des Prof. Schaafhausen von Bonn dahin aus (19. Juni 1867), daß, obgleich er nicht zweifle, daß Synostosen oder Verwachsungen der Schädelnähte vorhanden seien, ihm doch eine ursprüngliche Mangelhaftigkeit in der Gehirnentwicklung vorzuliegen scheine. Damit nähert sich Virchow’s Gutachten der Vogt’schen Theorie; denn die Annahme einer ursprünglichen Mangelhaftigkeit in der Gehörentwickelung oder die Annahme einer sogenannten Bildungshemmung ist nothwendig, wenn man die Kinder als Beispiele für die im Eingang des Aufsatzes beschriebene atavistische oder „Ahnenbildung“ gelten lassen will. Mag sich indessen dieses verhalten, wie es wolle, so glaube ich jedenfalls annehmen zu dürfen, daß die Leser der Gartenlaube vorstehenden Bericht nicht ohne einiges Interesse und ohne einige Belehrung über die merkwürdigen und in ihrem inneren Wesen bis jetzt noch so räthselhaften Zusammenhänge zwischen dem menschlichen Denk- und Seelenvermögen und seinem nothwendigen materiellen Organ, dem Gehirn, gelesen haben werden!



[699]

Im Grabe der Verschütteten.

„– – – – Es freue sich,
Wer da athmet im rosigen Licht.“

– so rief ich mit Schiller aus von Herzensgrund

„und athmete lang und athmete tief
Und begrüßte das himmlische Licht,“

gestern als ich aus dem Schooße der Erde wieder emporstieg zum Lichte des Tages. Freilich war’s nicht besonders rosig und auch nicht gerade sehr himmlisch, dies Licht, und die Luft nicht gar rein und erquicklich, im Gegentheil Licht und Luft und Alles ringsum war äußerst trüb und qualmig, rauch- und ruß- und dampferfüllt und sah recht schwarz und schmutzig aus – wie es im Maschinenhause eines Kohlenwerkes eben zu sein und auszusehen pflegt. Denn hier, und zwar in jener unheimlichen Kaue des Burgker Segengottesschachtes traurigen Andenkens war es, wo ich, nach stundenlanger Wanderung durch nachtfinstere Strecken und Schächte und nach den eigentlichen Unglücks- und Todtenstätten, wieder zu Tage fuhr, auf dem nämlichen Gestelle und von dem nämlichen Hebewerke emporgezogen aus der grausigen Tiefe von mehr als siebenzehnhundert Fuß, die ich vor zwei Monaten die schauerlich verstümmelten Opfer der schlagenden Wetter hatte zu Tage fördern sehen.

Am liebsten hätte ich die unterirdische Reise unmittelbar nach der Katastrophe selbst gemacht, auf den frischen Spuren der Verheerung, allein auf meine desfällige Anfrage an der betreffenden Stelle war ich beschieden worden, vor der Hand von meinem Vorhaben abzustehen; das Unternehmen sei augenblicklich noch mit zu vielen Gefahren verknüpft. Ich mußte mich also in Geduld fassen, bis mir ein höherer Beamter der Werke, ein wissenschaftlich gebildeter und liebenswürdiger junger Mann, schrieb:

„Kommen Sie jetzt. Es wird mir zum Vergnügen gereichen, in der Tiefe Ihr Cicerone zu sein.“

Zum vierten Male schlug ich denn gestern den Weg zum Burgker Huthause ein.

Nicht ohne eine tiefe innere Bewegung schritt ich, an dem im Erdgeschoß gelegenen großen Betsaale vorüber, die Treppe zum oberen Stockwerte hinauf, wo in einem der daselbst untergebrachten Bureaux schon alle Einleitungen zu meiner Expedition in’s Erdinnere getroffen waren. Zunächst hatte ich Einsicht zu nehmen von einem zu meiner Instruction ausgebreiteten speciellen Grundrisse der beiden verbundenen Werke „Neue Hoffnung“ und „Segen Gottes“, um nicht nur ein Bild zu gewinnen von Lage und Umfang der unter den Fluren verschiedener Dorfschaften sich stundenweit erstreckenden Gruben, sowie von den bereits abgebauten und den noch im Bau befindlichen Kohlenflözen – soweit sich ein Laie in dem complicirten Plane zurecht finden kann – sondern und namentlich auch, um mich über Richtung und Ausdehnung des Weges zu orientiren, den wir durch die finstere Tiefe verfolgen wollten. Dann begann die – Einkleidungsscene. Die Castellanin des Gebäudes, ein freundliches altes Mütterchen. brachte das unerläßliche Bergmannshabit herbei, und wie sie, mich dünkte mit einem still sorglichen Blicke, mich ansah, während sie Stück für Stück des Costümes ausbreitete, die weite schwarze Baumwollhose, die Blouse mit dem kurzen Kragen und den vielen Knöpfen, den niedrigen krämpenlosen Filzhut und das bekannte namenlose Leder, Alles mit mancherlei Zeichen häufigen Gebrauchs, – da, ich scheue mich nicht es zu bekennen, fing mir das Herz doch gar bänglich zu klopfen an. Eine Fahrt in den Tiefbau des Kohlenschachtes bleibt für den Bergmann jedesmal gewissermaßen ein „Rechnungsabschluß mit dem Himmel“, um wie viel unheimlicher und schreckensvoller muß einem Laien eine solche Einfahrt erscheinen!

Aber – das A war einmal gesagt, das B mußte somit folgen, wollte ich mich und meinen Muth in den Augen meines bergmännischen Freundes nicht total discreditiren. So rasch und tapfer, wie es gehen wollte, legte ich denn das schwarze Habit an, trat unter der Aegide meines Cicerone mit thunlichst festem Schritte in’s Freie hinaus und suchte, wenn uns, wie das mehrfach geschah, zur Schicht fahrende oder von der Schicht kommende Bergleute begegneten, die meist den ihnen unbekannten neuen Cameraden neugierig musterten, meine – Befangenheit hinter einem möglichst herzhaften „Glückauf!“ zu verstecken.

„Wir fahren zur Tagesstrecke ein,“ hob mein Mentor an. „Sie bekommen dadurch den besten Begriff von Ausdehnung und Beschaffenheit der beiden Werke. Unter ‚Strecken‘,“ setzte er belehrend hinzu, „verstehen wir bekanntlich jeden auf eine größere Länge ausgehauenen Raum von annähernd regelmäßigem rechtwinkligem Querschnitt. Dienen diese Strecken, welche je nach ihrer Richtung, die sie im Flötze einnehmen, flache, streichende oder diagonale sein können, einem bestimmten Zwecke, zum Beispiel der Wetter- oder Luftführung, der Fahrung, der Kohlenförderung etc., so heißen sie Wetter-, Fahr-, Förderstrecke etc. Die Tagesstrecke endlich ist der an der Bodenoberfläche, vom Tage aus allmählich in die Tiefe hinabführende Weg, welchen der Bergmann zurücklegen muß, um zu seinem Arbeitsplatze zu gelangen.“

Die Mündung dieser Tagesstrecke des Neuen-Hoffnungs-Schachtes befindet sich in der nächsten Nachbarschaft des Dorfes Burgk, unweit jener Schenke, wo ich meinen letzten Bericht von der Unglücksstätte niederschrieb. Ueber dem Eingange in das geheimnißvolle Herz der Erde ist ein Häuschen erbaut, in welchem die nöthigen Beleuchtungsapparate und Werkzeuge aufbewahrt werden. Wir versahen uns hier mit unsern „Blenden“, den kleinen Grubenlaternen, und befestigten dieselben an einen um den Hals geschnallten Lederriemen; mein Begleiter nahm außerdem noch zwei von den in großer Anzahl auf einem Tische umherstehenden drahtgeschützten Sicherheitslampen in die Hand, bewaffnete sich mit einem Stecken und stieß die Pforte auf, durch welche man hinabsteigt in die Unterwelt.

„Haben Sie keine Angst,“ sagte mein Begleiter lächelnd, als er meine bedenkliche Miene sah, „die Sache sieht gefährlicher aus, als sie ist. Die Sicherheitslampen aber, die Ihnen Scrupel zu erregen scheinen, die habe ich lediglich zu Ihrer Beruhigung mitgenommen; wir brauchten sie kaum, denn von bösen Wettern hat sich jetzt keine Spur mehr gezeigt. Aber wollen Sie nicht lieber auch einen Stock mitnehmen? Er wird Ihnen die Fahrt sehr erleichtern“.

Ich wandte mich sofort, einen handfesten Stab zu holen, welchen ich oben bei den Lampen hatte liegen sehen. Mit einer gewissen Hast hielt mich mein Führer zurück.

„Bitte, nicht umkehren!“ sagte er. „Wir Bergleute sind abergläubisch, und Umkehren bedeutet Unglück. Ich werde den Mann oben rufen, daß er Ihnen den Stecken bringt.“

Die Stütze kam, und nun that ich den ersten Schritt in die Tiefe hinab, ziemlich unsicher und zaghaft, das leugne ich nicht. Der Weg war indeß wirklich minder unbequem, als ich mir es vorgestellt hatte. Ueber Hunderte und Aberhunderte von hölzernen Stufen – wie vielen kann ich nicht angeben, denn leider habe ich in meiner Aufregung sie zu zählen vergessen, aber sie erschienen mir endlos – fuhren wir hinab. Noch konnte ich, mich umwendend, den kleinen Schimmer von Tageslicht bemerken, der durch die offen gelassene Eingangsthür hereinfiel, und so lange dünkte es mich, als habe ich noch Fühlung mit der hellen, freudigen Außenwelt da droben, als sei ich noch nicht rettungslos in den Eingeweiden der Erde begraben. Doch, wie ich mich kurz darauf von Neuem umschaute – ach, da war der tröstliche Schein verschwunden und ringsum Nacht, nichts als Nacht, in welcher blos die schwachen Oelflämmchen unserer Blenden und die beiden Sicherheitslampen meines Gefährten unmittelbar um uns herum einen matten Lichtkreis beschrieben, gerade so groß, daß ich erkennen konnte, wie eng, wie drückend, sargartig eng das Gewölbe war, das sich über unseren sich neigenden Köpfen aufmauerte. Gott im Himmel! es war, als zersprengte es mir die Brust! Ich konnte kaum athmen, und meine Füße schlotterten, als sie sich die von durchsickerndem Wasser gefährlich schlüpfrigen Stufen hinabtasteten. Ab und zu, stets aber nur auf kurze Distanzen, erweiterte sich wohl einmal das Gewölbe, nach der Höhe wie nach der Breite.

„Das ist neueres Mauerwerk,“ erklärte mein Begleiter. „Der Hoffnungsschacht ist schon in den zwanziger Jahren angelegt und allmählich immer weiter hinab abgeteuft worden; damals begnügte man sich noch mit sehr engen, schmalen Gängen. Wenn Sie nachher in das Segengotteswerk kommen, unsere Puppe, das [700] ziemlich jungen Datums ist und bei welchem alle für derartige Bauten inzwischen ersonnene Verbesserungen angewandt worden sind, da werden Sie ganz andere Gewölbe finden. Dort soll es Ihnen etwas freier um die Brust werden,“ schloß er und lächelte von Neuem.

Mittlerweile wuchs die Hitze von Schritt zu Schritt. Der Schweiß floß mir schon vom Gesicht und gab, verbunden mit dem Kohlenstaube und dem mich gelegentlich betröpfelnden Sickerwasser, wie ich nachmals bemerkte, mir ein vollständig feuerrüpelhaftes Ansehen. Meine rechte Hand, welche sich ängstlich an dem neben den Stufen hinlaufenden Geländer anklammerte, von dem begreiflicher Weise nicht jeden Morgen der Ruß abgekehrt wird, glich schon lange der eines in der Wolle gefärbten Congonegers. Plötzlich hörte ich hinter mir ein dumpf durch die Strecke dröhnendes Gepolter. Rasch wandte ich mich um und sah hinter uns zwei feurige Punkte glühen, die, so däuchte mir, mit rasender Geschwindigkeit und unter immer lauterem Gepolter auf uns zugesaust kamen.

„Das sind Anschläger,“ nahm mein Genosse wiederum das Wort, „die zur Schicht fahren. Wie Sie wissen, bezeichnen wir mit dem Ausdruck ‚Anschläger‛ diejenige Kategorie unserer Arbeiter, welche unten am Füllorte des Schachtes mittels eines Hebels die Signale zum Heraufziehen der gefüllten Hunde oder anderer zu Tage zu fördernder Transporte zu geben hat. Gleichzeitig notirt der Anschläger auf an den Füllorten angebrachten großen Tafeln die Quantität der von den Häuern losgebrochenen und von den Förderleuten in die Wagen gefüllten Kohle. Seine Arbeit ist minder anstrengend, als die der übrigen Grubenleute; deshalb währt seine Schicht, das heißt sein Tagewerk, auch nicht blos acht, sondern zwölf Stunden. Diese da, die uns nun bald überholt haben werden, fahren zur zweiten Schicht, welche um vier Uhr Nachmittags beginnt und folglich andern Morgens um vier Uhr endet.“

„Glückauf! Glückauf!“ erschallte es jetzt um uns. Die beiden Anschläger hatten uns erreicht, und ehe ich die Leute beim Lichte unserer Blenden nur etwas hatte in’s Auge fassen können, waren sie an uns vorüber gestürmt, und bald schimmerten ihre Grubenlampen als ein paar verglimmende Pünktchen schon tief unter uns. Die Gewohnheit ist die größte Lehrmeisterin.

„Die fänden den Weg auch ohne ihre Blenden,“ meinte der mich geleitende Einfahrer, „und ich selbst könnte es auch! Diese Strecken, diese Gänge und Gewölbe, welche Ihnen jedenfalls wie ein Labyrinth erscheinen, sind eben unser eigentlicher Heimathsboden, unser tagtäglicher und nachtnächtlicher Tummelplatz.“

Puff! Puff! krachte es mit einem Male und wie Donner grollte es durch die Strecke.

„Beruhigen Sie sich,“ lachte mein Begleiter; „der Schall ist sehr harmlosen Ursprungs, es war nur der Wiederhall einer Wetterthür, welche die Anschläger geöffnet und etwas unsanft wieder zugestoßen haben. Wir werden bald selbst bis dahin ‚gefahren‛ sein.“

Bekanntlich ist der Bergmann ein gar vornehmer Herr; zu Fuß geht er nie, er „fährt“ stets.

Alles in der Welt hat sein Ende, so auch die Stufen im Hoffnungsschachte. Aber wir waren damit um nichts gebessert, im Gegentheile. An ihre Stelle traten nun gewöhnliche Planken, über die zur Stütze der Füße in regelmäßigen Zwischenräumen kleine Querbretter genagelt waren. Die „Fahrt“ wurde daher immer beschwerlicher, um so mehr, als die Feuchtigkeit des Terrains zunahm und schließlich der hölzerne Steig schwankte, als sei er über einen Sumpf gelegt, dessen Quell ich unten in einiger Entfernung schon gurgeln hörte. Ohne meinen Stab wäre ich mehr als einmal zu Falle gekommen, bis ich, nach der Unterweisung meines vorausfahrenden Demonstrators, gelernt hatte, den Ballen des Fußes fest wider die Querbrettchen zu stemmen und derart das Ausgleiten zu verhindern. Ueberdies war die Temperatur fast bis zum Unerträglichen gestiegen; ich hatte im wörtlichsten Sinne keinen trocknen Faden mehr am Leibe, da ich das Grubenhabit zum Theil über meinen eignen Kleidern trug, und die Kehle brannte mir vor Durst. Für einen Schluck Bier hätte ich wer weiß was gegeben.

„Wir nähern uns jetzt dem heißesten Punkte,“ sagte mein Führer; „das Klima steht dort mindestens auf zwanzig Grad Réaumur – im ewigen Schatten, der hier unten herrscht. Doch besehen Sie sich die Strecke, die sich hier links abzweigt. Es ist die ungefähr dreihundert und zwanzig Lachter (der Lachter hat sieben Fuß) lange Wetterstrecke des obern Hoffnungsschachtes; da drinnen, etwa in der Mitte, ist die Stelle, wo jene unglücklichsten der Opfer noch mehrere Stunden nach der Explosion gelebt haben, und da an den das Holzwerk des Ganges tragenden senkrechten Pfosten, den sogenannten Stempeln, wie Sie dergleichen auf unserer Tour schon mehrfach bemerkt, standen die herzerschütternden Abschiedsworte geschrieben, welche ihren schmerzlichen Widerhall durch die ganze Welt gefunden haben; da drinnen haben wir jene Brieftasche des Untersteigers Bähr gefunden, die Sie damals selbst sahen, – – es ist der letzte Zufluchtsort gewesen, bis wohin meine armen Cameraden auf ihrem Rückzuge nach dem Ausgange haben vordringen können. Dann ist ihnen im Dunste der giftigen Schwaden die Kraft geschwunden, sich vielleicht noch zu retten, und schließlich sind sie bewußt- und schmerzlos eingeschlafen. Wenn aber öffentliche Blätter berichtet haben, auch Tags darauf seien auf dieser Strecke noch Menschen am Leben gewesen, wie das andere ähnliche letzte Scheidegrüße dargethan, und diese Leidensbeweise habe die Verwaltung unserer Grubenwerke absichtlich verheimlicht und vertuscht, so widerspricht dies der Wahrheit schnurstracks. Bei Allem, was mir heilig und lieb, kann ich Ihnen betheuern, außer jenen Aufzeichnungen und Inschriften, die wahrhaftig uns Allen bis in’s innerste Herz hineingeschnitten haben, ist auch nicht die allergeringste Spur entdeckt worden, daß irgend einer der von der Katastrophe Betroffenen die ersten Nachmittagsstunden des Montags überlebt habe.“

Sechsundachtzig Lachter weiter unten standen wir vor der ersten Wetterthür – Wetterthüren heißen die aus Holzpfosten gezimmerten und luftdicht ummauerten Thüren, welche die Wetterwege reguliren und das Einströmen der bösen und brandigen Gase in die Strecken ausschließen sollen – es war dieselbe, deren Zuschlagen ich vorhin gehört hatte.

„Hinter ihr,“ fuhr mein freundlicher Mentor fort, „auf der Strecke, in die wir nun sogleich einfahren werden, sind wir, noch in den Morgenstunden des unseligen zweiten August, auf den ersten Todten gestoßen, den Steiger Schenk. Hier, gerade da, wo wir jetzt halten, entdeckten wir seine Blende; sie brannte noch, mithin war die Luft noch nicht durchaus irrespirabel, der Mann selbst lag draußen jenseits der Thür umgesunken. Auch ich halte es für möglich, daß er sich noch hätte retten können, wenn ihm das fürchterliche Ereigniß nicht die Geistesgegenwart geraubt und die Ueberzeugung, daß seine Gefährten einem unvermeidlichen Tode verfallen seien, nicht das Bewußtsein umflort und die Willenskraft gelähmt hätten. Aber, was man damals erzählt und geschrieben hat, daß Schenk unmittelbar an der zu Tage führenden Ausgangsthür der Strecke aufgefunden worden sei, – nun, Sie sehen jetzt selbst, wie sehr das auf Irrthum beruht.“

Ich zog die Uhr unter der schwarzen Blouse hervor. Punkt drei hatten wir unsere Fahrt angetreten, jetzt war es fast dreiviertel vier Uhr. Freilich macht der Bergmann die nämliche Tour in dem vierten Theile der Zeit, welche ich, der ungeübte und zaghafte Laie, dazu gebraucht hatte, allein jedenfalls war der Weg zu Tage noch weit genug. Hätte Schenk sich jedoch nur noch die sechsundachtzig Lachter, bis jenseit der obenerwähnten nach links einbiegenden Wetterstrecke in die Höhe zu arbeiten vermocht, so wäre er schon in Sicherheit gewesen.

„Die Herren Zeitungsreferenten,“ bemerkte der Beamte weiter, „verzeihen Sie, daß ich’s sage, sind bei solchen Angaben, die sich doch auf ihnen meist ziemlich ungeläufige Verhältnisse beziehen, manchmal ein klein wenig vorschnell. Kein einziger ist ja jemals hier unten an Ort und Stelle gewesen, um von den betreffenden Entfernungen und Momenten Kenntniß zu nehmen; Sie sind der Erste, welcher das Verlangen nach einem Gange durch unsere allerdings nicht anheimelnde Unterwelt geäußert hat, und ich glaube, überhaupt der erste Nichtbergmann, der sich so weit hinabwagt in ihre schwarze Tiefe.“

Und immer noch abwärts ging es und abwärts. Stärker und stärker rauschte das Wasser, dessen unterirdischem Laufe wir uns nahten, schlüpfriger und schlüpfriger ward unsere Fahrt. Endlich gelangten wir an eine Strecke, die mir merklich breiter erschien als die bisher durchwanderten. Auf ihrem Boden zog sich ein doppeltes Geleise von Eisenbahnschienen hin, ein monotones Gerassel schlug mir an’s Ohr, und links, ganz im Hintergrunde, sah ich ein paar Grubenlichter flimmern. Wir hatten die sogenannte [701] Zwölflachterstrecke, die tiefste Hauptförderstrecke des Hoffnungsschachtes, erreicht, den Weg, welchen die mit Kohlen gefüllten Wagen oder Hunde durchlaufen, um von den „Orten“, das heißt den Stellen, wo der Häuer die Kohlen losbricht, nach dem zweiten oder untersten Füllorte des erwähnter Schachtes geschoben zu werden. Nach diesem Füllorte fördert die „über Tage“, oben in der Kaue, stehende Dampfmaschine die leeren Wagen hinab, um dafür die gefüllten Hunde in die Höhe zu ziehen. Das eine dieser beiden Geleise dient den anfahrenden kohlenbelasteten, das andere den rückkehrenden leeren Hunden als Bahn.

„Jetzt aufgepaßt!“ rief mir mein Gesellschafter zu, als das Rasseln dicht vor uns ertönte und die Grubenlichter uns vor den Augen flackerten, und zog mich auf den zwischen den beiden Schienensträngen liegenden schmalen freien Raum hinüber.

„Glückauf! Glückauf!“ grüßte er, und zwei beladene Hunde rumpelten, einer hinter dem andern, links an uns vorüber, während zu gleicher Zeit auf dem Gleise zur Rechten ein paar leere Wagen zurückbugsirt wurden. Es ist ein buchstäblich im triefenden Schweiße des Angesichts geerntetes Brod, dies Schieben der vollen Kohlenkarren, welches den Förderleuten obliegt. Die aus dicken Bohlen zusammengefügten, mit Eisen schwer beschlagenen Hunde wiegen jeder seine sieben Centner, und ihre Last beträgt durchschnittlich drei Tonnen oder zwölf Centner; der Fördermann muß deshalb alle seine Sehnen anspannen, muß sich mit der ganzen Wucht seiner Arme gegen die Rückwand des Wagens stemmen und die Füße so fest wie er vermag auf den Boden aufsetzen, um das Vehikel auf den Schienen weiter zu schieben. Dazu herrschte, trotz des frischen Wetterzuges, in dieser Förderstrecke noch immer die Temperatur eines russischen Bades, so daß die Arbeiter ihr Werk splitternackt verrichten. Nur der Kopf ist mit dem dicken Bergmannsfilze bedeckt, an welchen das Grubenlicht befestigt wird, und das bekannte Leder mit dem verpönten Namen um einen andern Körpertheil geschnallt.

Unablässig hatten wir fortan dergleichen Transporten auszuweichen. „Auf’s linke, auf’s rechte Geleis!“ commandirte mein Beschützer fortwährend, je nachdem wir bald vor einem vollen, bald vor einem leeren Wagen zur Seite flüchten mußten. Ich hatte, so zu sagen, auf dem „Qui vive?“ zu stehen, um nicht überfahren zu werden. Sie machen einen ganz eigenthümlich unheimlichen, dämonischen Eindruck, diese Begegnungen, die etwas Gespensterhaftes haben, man wähnt sich in die Schattenwelt des Tartarus versetzt, um Ewigkeiten geschieden vom wonnesamen Dasein im Lichte der Sonne.

Nach etwa zehn Minuten „Fahrens“, wobei ich mir an den die Decke der Strecke stützenden Stempeln unterschiedliche Male beinahe den Kopf eingerannt hätte oder wenigstens mein Grubenhut in Bedrängniß gerathen war, und unser erster Rastpunkt, nach fünfviertelstündiger anstrengender Fahrt, jener untere Füllort des Neuen-Hoffnungsschachtes, nahm uns auf.

„Sie sehen hier zwei Aufzüge oder Förderschachte, einen dicht neben dem anderen,“ begann mein Geleiter seine weiteren Belehrungen. „Der Hoffnungsschacht besitzt nämlich zwei kleinere Dampfmaschinen von je sechszehn Pferdekräften etwa, während auf Segen-Gottes eine einzige gewaltige Maschine von hundertundzwanzig Pferden arbeitet. So können hier immer zu gleicher Zeit zwei gefüllte Hunde auf- und zwei leere niedergefördert werden. Der Förderschacht hier zur rechten Hand war allerdings, einer Reparatur halber, an unserem Unglückstage mit Brettern zugeschlagen oder ‚verbühnt‛, wie wir das nennen, keineswegs jedoch der ganze Schacht, wie das von der Presse uns zur Last gelegt worden ist. Die Luftcirculation, die Ausförderung der bösen Wetter, die in der Regel durch den Hoffnungsschacht geschieht, war mithin keineswegs abgeschnitten, da ja die linke Schachtabtheilung vollkommen frei und offen lag. Ohnedem waren in den Seitenwänden der Verbühnung regelmäßige Lücken gelassen, damit die Ventilation im Zuge blieb.“

„Es fällt mir nicht ein, zu behaupten,“ fuhr er fort, „daß alle unsere Einrichtungen mustergültig gewesen wären, ich gebe vielmehr zu, daß wir, wie das ja immer und überall so zu gehen pflegt, durch langes Glück zu sicher geworden waren und vielleicht eine und die andere Unzuträglichkeit geduldet hatten, die mit Schuld tragen können, daß das Unglück so entsetzliche Dimensionen angenommen hat, allein daß manche der Anklagen wenigstens, welche Presse und Publicum wider uns erhoben haben, vor der genaueren Prüfung nicht Stich halten, davon, denke ich, haben Sie sich jetzt durch den Augenschein überzeugt.“

„Und noch Eines,“ erläuterte der Einfahrer ferner. „Auch die Gartenlaube hat von dem Wagniß des jungen Paul erzählt, der in edler Regung seines Herzens zwar, aber unbesonnen und allen Warnungen zum Trotz, den Hoffnungsschacht, dort, wo Sie unter dem Hebewerk die steile Leiter emporsteigen sehen, ganz kurz nach der Katastrophe befahren wollte. Etwa acht Lachter – sechsundfünfzig Fuß – unter der Erdoberfläche ward er bewußtlos aufgefunden und hat dann, jedenfalls noch in Nachwirkung seiner Angst und Betäubung, von Rufen gesprochen, die er aus jener Wetterstrecke heraus, deren Mündung wir oben passirt und in welcher wirklich bis zum Nachmittage noch einige wenige Unglückliche gelebt haben, vernommen zu haben glaubte. Nun, Sie kennen jetzt die Entfernungen. Von der Stelle, wo Paul lag, bis zu der gedachten Wetterstrecke, welche die Wetter nach dem ersten oberen Füllorte des Hoffnungswerkes führt, sind es gerade vierhundertneunundfünfzig Lachter; die Strecke selbst ist, wie ich Ihnen bereits gesagt und wie Sie aus dem Grundriß ersehen, dreihundertundzwanzig Lachter lang, Paul müßte folglich jenes Hülfsgeschrei aus einer Entfernung von fast siebenhundertachtzig Lachtern oder fünftausendvierhundertundneunzig Fuß, eine halbe Stunde weit, und das nicht etwa in freiem Raum, wo der Schallleitung nichts im denn Weg tritt, sondern durch eine Menge von Zwischenwänden, durch Krümmungen und Windungen hindurch gehört haben. Halten Sie das für möglich? Uebrigens ist trotz der Unglaublichkeit der Aussage der Schacht sofort, und zwar in allen Theilen befahren und durchforscht, jedoch Niemand entdeckt worden, der gerufen haben konnte.“

Dagegen fand man hier an dem Füllorte, den wir soeben betrachteten, die Leichen von elf Förderleuten und zwei Anschlägern in einer Gruppe dicht neben einander liegen – es waren jene dreizehn Todte, die ich vor zwei Monaten zuerst, im Schuppen des Hoffnungsschachtes, gesehen. Der Todesengel hatte sie mit schneller, sanfter Hand berührt; zwar geschwärzt von Rauch und Qualm, aufgedunsen durch die Gase, waren doch sämmtliche der dreizehn unverstümmelt und einige sahen aus, als schlummerten sie süß. Der eine der beiden Anschläger hatte noch die rechte Hand am Hebel, als wolle er das Signal zum Auffördern geben. Er hätte sich retten können, wenn er anschlug oder im Fahrschachte daneben zu Tage stieg – doch er wollte warten, „vielleicht möchten noch mehrere seiner Cameraden kommen und sich auch mit hinaufziehen lassen wollen.“ Dies sind die Worte des wackeren Mannes gewesen; die beiden Zimmerlinge, welche noch Zeit fanden, sich durch den gedachten Schacht in Sicherheit zu bringen, haben sie uns überliefert.


(Schluß folgt.)




Auf dem Kirchhof zu Meisenheim.
Von J. Leyser.


Es sind erst wenige Jahre verflossen, seit die „Gartenlaube“ schrieb: „Friederikens Grab in Meisenheim wird vergebens gesucht, kein Stein, kein Kreuz bezeichnet es.“ Sterbend hatte die Geliebte des glücklichsten Dichters deutscher Nation sich jeden Schmuck für ihren stillen Hügel verbeten, nur ein schlichtes Holzkreuz sollte die Hand der Liebe auf denselben pflanzen. Aber während die deutsche Jugend nach Sesenheim wanderte, um die Stätten zu schauen, wo jene liebliche Idylle sich entfaltet, die, von dem süßesten Lichte magisch umspielt, aus „Wahrheit und Dichtung“ mit so ergreifenden Tönen zu uns redet: da war das schwarze Kreuz neben der Kirche zu Meisenheim allmählich zusammengebrochen, es war still und einsam geworden an dem [702] eingesunkenen Grabhügel, unter dem sie schlummerte, die zu den schönsten Frauenbildern gehört in Goethe’s Leben, der der Dichter vielleicht die traulichsten Züge zu seinem „Gretchen“ abgelauscht.

Doch auch von ihrem Grabe sollte der Bann genommen werden. Jenes Wort der „Gartenlaube“ hatte gezündet. Zwei wackere deutsche Männer, der rheinische Dichter Hugo Oelbermann und Friedrich Geßler von Lahr, wanderten bald nachher zur verlassenen Grabstätte und beschlossen dort, einen Aufruf ergehen zu lassen zur Herstellung eines einfachen Denksteins. Ihr geflügeltes Wort ward rasch und weithin verkündet von den feurigen Zungen der Presse, bald wurden Gaben gespendet aus allen Gauen deutschen Landes, selbst aus Rußland und Siebenbürgen, und „nach mancherlei Kämpfen mit dem leidigen Philisterthum“ wurde endlich dem Lahrer Comité die Freude zu Theil, am 19. August 1866 in einfacher, aber ergreifender Feier den Friederiken-Denkstein, ein Meisterwerk Hornberger’s, enthüllt zu sehen.

Es war ein lachender Sommertag dieses Jahres, als ich mit Freund Geßler von Lahr hinaus nach Meisenheim pilgerte. Bald war das schöne Rieddorf Kürzell durchschritten, eine Stunde später betraten wir den Kirchhof zu Meisenheim. An die östliche Mauer des Kirchleins lehnt sich ein einfaches, doch edel gehaltenes Denkmal, aus Goldgrund heraus grüßt uns eine Marmorbüste: es sind Friederikens Züge, wie sie der Phantasie des Künstlers entstiegen, Züge, auf denen bereits das Morgenroth der Verklärung zu spielen scheint, und doch mit jener „ganzen Anmuth und Lieblichkeit“ geschmückt wie damals, als dem Musensohne von Straßburg „ein allerliebster Stern“ am ländlichen Himmel von Sesenheitn aufging. Die höchst sinnige Inschrift von Eckardt lantet.

     Friederike Brion
von Sesenheim gewidmet.
Ein Strahl der Dichtersonne fiel auf sie,
So reich, daß er Unsterblichkeit ihr lieh.

Neben Friederiken schlummert ihre Schwester Maria Salomea, Goethe’s „Olivia“ (starb 1807), an der Seite ihres Gatten, des Pfarrers Marx (starb 1819). Der gebeugte Greis, den wir auf unserm Bilde erblicken, es ist der Todtengräber Hockenjos, der einst Friederiken ihr letztes Haus geschaufelt und ihren einsamen Hügel mit Nelken bepflanzt hatte, er der Einzige unter den Dorfbewohnern, der noch sichere Kunde geben konnte von dem verlassenen, vergessenen Grabe. Drüben im Pfarrhaus das Kirchenbuch besagt: „Friederike Elisabeth Brion. Samstag den 3ten April Nachmittags 5 Uhr starb dahier des weiland Johann Jacob Brion, gewesenen evang. luther. Pfarrers in Sesenheim, und weiland Maria Magdalena einer gebornen Schöll, ehelich erzeugte ledige Tochter in einem Alter von ohngefähr 58 Jahren. Es wurde dieselbe heute den 5ten April 1813 Abends um 5 Uhr begraben.“

Friederike Brion’s Denkmal in Meisenheim.

Schon in den Sommermonaten des vorigen Jahres war ich nach Sesenheim gewandert, nach jener Stätte, wo im alten halbzerfallenen Pfarrhause jene guten Menschen gewohnt, in welchen Goethe so gern jenes reizende Familienbild verwirklicht sah, das Goldsmith in seinem „Landprediger von Wakefield“ gezeichnet hat. Ich hatte das Kirchlein betreten, in welchem der kecke Musensohn an Friederikens Seite eine etwas trockne Predigt nicht zu lang fand, die Jasminlaube, in welcher er das Märchen von der „schönen Melusine“ erzählte, die „Friederikens-Ruhe“, jenes traute Plätzchen auf einem kleinen schattenreichen Hügel, wo Goethe und Friederike den süßen Traum der jungen Liebe geträumt. Nun stand ich tief bewegt an ihrem Grabe, hier, wo die Sonne eines Menschenlebens untergegangen, dessen Hoffnungsblüthen so bald der Sturm des Lebens geknickt hat. Erst ein reicher, doch nur kurzer Liebesfrühling; aber bald scheidet der Geliebte, um glänzende Bahnen zu durchwandeln: Friederike, Du treues entsagendes Herz, das eines bessern Looses werth war, Deine Stirne haben die Dornen des Lebens wund gedrückt! Im stillen Pfarrhause zu Meisenheim, wo sie seit dem Anfange dieses Jahrhunderts lebte, fand sie in opferfreudiger Thätigkeit für Andre allmählich wieder den Frieden ihrer Seele und ein nützliches Leben. Der alte Hockenjos konnte nicht müde werden, mir zu erzählen von der „guten Tante“, wie Arme und Verlassene nie ungetröstet von ihr gegangen, wie sie an manchem Krankenbett, ein helfender Engel, gestanden.

Aus jener Zeit stammen auch drei Briefe Friederikes, da ich auf meinen Wanderungen durchs Elsaß zu erkunden vermochte, die aber zu ausschließlich uns fremde und gewöhnliche Verhältnisse berühren, als daß ihre Mittheilung hier besonderes Interesse erregen könnte. Diejenigen Briefe, welche Goethe und Friederike gewechselt, sind bekanntlich ausnahmslos verloren. Goethe selbst hat im Jahre 1786, vor seiner Abreise nach Italien, den größten Theil seiner Privatpapiere – „die alten Schalen“ – verbrannt, darunter ohne Zweifel auch die Briefe Friederikens. Von Goethe befanden sich aus Friederikens Nachlaß nicht wenige Briefe in den Händen ihrer Schwester Sophie; sie hat sie später in einem Augenblicke der Verstimmung gleichfalls den Flammen übergeben: „sie ärgerten sie“. Goethe nennt Friederikens Styl gut, natürlich, liebevoll; er rühmte ihre leichte, hübsche Hand, es waren Briefe eines jungen Mädchens, dessen Inneres zur reichsten Blüthe sich eben schien entfalten zu wollen. Die Schriftzüge der drei von mir aufgefundenen Briefe haben bei allem Schwunge eher etwas Hartes: gar manche dunkle Wolke war seitdem über Friederikens Haupt dahingezogen.

Länger schon fielen die Schatten zur Erde, als wir endlich schieden von dem Kirchhof zu Meisenheim und von Friederikens Grabe, auf dem eben junge Rosen erblühten, dem aber noch die schützende Umzäunung fehlte. Tief zogen mir durch’s Gemüth die schroffen Gegensätze, die so schneidend in Friederikens Leben gefallen waren, der Erde höchste Lust und ihr tiefstes Leid, und an unserem Geiste rauschte mir vorüber das Wort unsers großen Dichters:

„Alles geben die Götter, die Unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz;
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“ –




Regentage im Gebirge.

Der Herbst neigt sich seinem Ende zu und bald werden die letzten Nachzügler jenes Heeres, welches Sommer auf Sommer ein sich in die waldgrünen Thäler des baierischen Gebirges ergießt, aus diesem verschwunden sein, um am warmen Ofen, bei der brodelnden Tasse Thee und bei der duftenden Cigarre immer wieder die schönen Erinnerungen durchzukosten, welche die reiche Beute des Sommerausfluges bilden und über den Frost und die Langeweile des in die Zimmer bannenden Winters hinweghelfen müssen.

Ja, es ist schön im Gebirge! Wer diese reine, frische, Mark und Muth stärkende Luft je eingeathmet hat, wer je durch die thaufrischen Thäler und Schluchten gewandert ist oder die steilen, sonnenbeschienenen, waldgeschmückten Höhen erklommen und mit trunkener Seele auf alles unter ihm Seiende geblickt hat – vergißt es nimmermehr. Und wer dächte nicht immer wieder an jene herrlichen blauen Mondnächte zurück? Wie mit Silber übergossen stehen die Bergwände, aber über den schweigenden Thälern liegt

[703]

Regentage im Gebirge.
Originalzeichnung von L. Bechstein in München

[704] ein geheimnißvoller blauer Duft und die schwarzen Wälder blicken ernst auf die Dörfer und Gehöfte zu ihren Füßen, die sie wie ein schützender Kranz umgeben und in denen kein Laut, kein Ton die wunderbare Ruhe der Nacht stört. Nur der unermüdliche Brunnen rauscht, geschwätzig wie immer, und in seiner sprudelnden Fluth blitzt das Silberlicht des hoch im Blauen schwebenden Mondes.

Glücklich, wem nur solche Erinnerungen in der Seele haften, wer es nicht miterlebt hat, wenn der Himmel sich öffnet und seinen unerschöpflichen Wasserreichthum auf die Berge und in die Thäler und in die ungepflasterten Dorfstraßen gießt. Doch nein, auch das muß erlebt sein, man muß den Schrecken mitempfunden haben, der Einen überkommt, wenn plötzlich hoch oben auf einem wegen seiner Aussicht berühmten Bergrücken, zu dem man in der heitern Frühe des Morgens hinaufgeklettert ist und auf dem man sich nun der behaglichsten, wohlverdienten Ruhe hingeben will, der verhängnißvolle Ruf laut wird:

„Es tröpfelt!“

Ein entsetzter Mund hat die beiden Worte gerufen und im Nu springt die ganze Gesellschaft, welche anmuthig auf einem Wiesenfleck zwischen fichtengekrönten Felsenwänden gelagert war, in die Höhe und so viel Hände nur frei sind – man hatte sich eben daran gemacht, die aus dem stattlichen Rucksack des Führers geholte Kalbskeule zu zerschneiden und einer der Flaschen, welche weise Vorsicht auf die nur Quellwasser bietenden Höhen mitgenommen, den Hals zu brechen – so viele Hände strecken sich aus, die Wahrheit der eben gewordenen Ankündigung zu erproben.

Es tröpfelt wirklich. Eine trübe Fläche, deren eintöniges Grau nur durch einzelne tiefer ziehende, dunkler gefärbte Wolken unterbrochen ist, schiebt sich langsam am Himmel hin und dort hinter dem zackigen, kahlen, zerklüfteten Gebirgsstock zieht es schwarz und drohend herauf. Ein leichter kühler Wind bläst aus der Schlucht im Winkel und streicht über die Spitzen des Nadelholzes, die aus der Klamm unten heraufragen und fast die Füße unserer auf einer schmalen Terrasse befindlichen Vergnügungszügler berühren.

Diese sehen sich rathlos in die erschrockenen Gesichter, schon aber hat der Führer das einzig Räthliche begonnen und zusammengepackt, was er nur erraffen und in seinen weiten Rucksack schieben konnte. Er hatte den Regen angekündigt, man hatte ihm nicht geglaubt; jetzt prophezeit er, daß der Regen anhalten werde, und jetzt glaubt man ihm, das Schäkern und Lachen ist verstummt, das Tröpfeln, das die Gesellschaft aufgescheucht, ist schon zu einem leichten Regenschauer geworden. Im Nu greift man zu Plaids und Ueberziehern, die man kaum erst von sich geworfen, und Alles macht Miene, einer gescheuchten Gemsenheerde gleich, den Felsen entlang eilfertig den Pfad hinabzustürzen, den man eben erst mühsam heraufgeklonmmen.

Der Führer ruft ein gewichtiges Halt! Zwar hüllen sich die Berge mehr und mehr in den verhaßten grauen Schleier, der auch die ferne Ebene, auf die hier ein weiter Blick gegönnt war, dem Auge entzieht – aber ist das Hinabsteigen in das Bett der Klamm an und für sich schon nicht ohne Schwierigkeiten auszuführen, wie viel mehr jetzt, da die rings den Boden locker bedeckenden Steine, naß und schlüpfrig geworden, dem hastigen Fuß nicht mehr den gewünschten Halt bieten. Jeder Schritt muß mit Bedacht gethan werden, jede unzeitige Eilfertigkeit kann den Sturz in die Tiefe zur Folge haben. Dabei füllt das ahnungsvolle, unendliche Rauschen des niederströmenden Regens rings die Luft und schwere Zweige beugen sich widerspenstig da und dort über den schmalen Weg. Kein Geländer schützt vor dem Abgrund, der sich zur Rechten öffnet und in dessen Tiefe, dem Auge unsichtbar, der tobende Wildbach braust, auf der andern Seite aber steigt die Felsenmasse in die Höhe, und die Wenigen, welche mit einem Bergstocke versehen sind, wissen ihn hier in der ungewohnten Lage nicht zu gebrauchen.

Am bedauernswerthesten sind die Damen! Sie haben offenbar zum ersten Male ihren kleinen Fuß auf den Rücken des Gebirges gesetzt und ihn darum mit einer Stiefelette bekleidet, deren Glanzleder wohl für das schimmernde Trottoir Berlins, aber nicht für den regenerweichten, geröllreichen Boden einer altbaierischen Gebirgsklamm berechnet ist. Mit Mühe schürzen sie die regenschwere Last des faltenreichen, schon da und dort Spuren scharfkantiger Ecksteine oder spitziger Dornen zeigenden Gewandes empor, und doch sollen die schmalen Hände zugleich den für eine Regenfluth im Gebirge lächerlich kleinen Entoutcas tragen, der höchstens dem winzigsten aller Hüte, die je in eine schöne Mädchenstirn hereingeschoben waren, zum Schutze dienen kann.

Um die Aussicht kümmert sich längst kein Blick mehr, sie ist verschwunden; aber an den zerrissenen Felsenwänden rieselt es in breiten Rinnen immer mächtiger herunter, ein Quell um den andern erschließt seine unendlichen Wasser, der aus der Klamm aufgejagte kalte Wind schüttelt die niederhängenden Zweige – Alle athmen auf, da man nach stundenlangem Herabsteigen wenigstens in den Thalgrund gelangt ist und, den Wald verlassend, nun den kürzeren Weg über die Wiesen nehmen kann. Beim Heraustreten sieht man die Berge fast bis zu ihrem Fuß von grauen, langgestreckten Wolken verhangen – ein trauriger, für die nächsten Tage Unheil verkündender Anblick. Doch für jetzt drängt nur die Gegenwart und dort führt über den Wildbach ein Steg, durch dessen Benützung man bis zum nächsten Dorfe gewiß eine halbe Stunde Zeit gewinnt.

Umsonst! der vorher laut gepriesene Steg erweist sich als ein Balken, kaum einen Fuß breit, und unter ihm schäumen die Wasser des schon merklich geschwollenen Baches. Der feuchte, dunkle Balken glänzt in tausend Tropfen, aber gerade dieser unheimliche Glanz schreckt die zaghaften Gemüther der Damen, und seufzend entschließt man sich den Umweg zu machen, zu welchem ein ziemlich breiter, reichlich von Lachen und Morästen unterbrochener Fahrweg zwingt. Doch auch er führt zu dem ersehnten Dorfe, zu dem Wirthshause, dessen anmuthige Schilderung der Führer immer wieder unternommen hat, wenn der Muth zu sinken drohte.

Doch halt! Zwar der Wirth steht freundlich grinsend auf der gastfreundlichen Schwelle, aber neugierig auslugende Gesichter zeigen, daß schon längst andere Heerschaaren eingefallen sind und sicher vom Besten, was das einstöckige Haus zu bieten vermag, Beschlag genommen haben; es wird Mühe kosten, in der raucherfüllten Wirthsstube, in den schmalen Betten der Gastzimmer und auf dem Heu des Dachbodens ein Plätzchen zu finden.

Glauben Sie, daß der Regen anhalten wird? Dies ist die einzige Begrüßung, die man hier hört, und die Umschau auf die vielen Gesichter in der Runde bietet wenig erfreuliche Momente; denn ach, für den ersten Abend kann wohl ein Ländler oder Schuhplattlertanz, den man in der niedrigen Bauernstube zu sehen bekommt, entschädigen, aber dann? Morgen wird Alles, was nur an Sommerfrischlern in den einzelnen Häusern des Dorfes und in seiner Umgebung untergebracht ist, sich zum Wirthshause drängen, und Alle werden mit der verdrießlichsten Miene von der Welt nur davon zu erzählen wissen, wie die herrlichsten Ausflüge, die sie gerade für diesen Tag, gerade für diese Woche sich vorgenommen, nun zu Wasser geworden sind.

Klingelt es, wie das jetzt fast in jedem baierischen Wirthshause üblich geworden ist, um elf Uhr zur „Table d’hôte“, dann treten die Stammgäste mit sicherem Schritt, eingenetzte Touristen, die schüchtern die belegten Couverte und die umgelegten Stühle umkreisen, herein; „liebenswürdige“ Mädchen folgen nach unter den Fittigen der Gouvernante. Dazu endloses Kindergewimmel, endlose Grüße und Complimente.

Nach der Table d’hôte treten die individuellen Bedürfnisse in den Vordergrund. Der Zeitungstiger, der auch auf dem Lande nicht von Politik läßt, stürzt auf die neuen Blätter los und verschlingt schon am hellen Mittag die Augsburger Abendzeitung. Der Banquier geht heim und legt sich in seinen Amerikaner, um über die Papiere gleichen Namens nachzudenken; die Mädchen ziehen die Stickerei aus der Tasche und lassen sich über ihren Fleiß den Hof machen.

Wenn jedoch ein Regentag auf dem Lande correct verlaufen soll, dann muß am Nachmittag „tarokt“ werden. Da man hier nicht an die Etiquette gebunden ist, die uns in Städten peinigt, so ist die Partie oft bunt zusammengesetzt und zeigt ein pikantes Gemisch von Hochgeborenen, Wohlgebornen und Eingebornen. Selbst das schwache Geschlecht wird zur Betheiligung gezogen, wenn im wörtlichen Sinne Noth an den Mann geht. Es giebt ja auch Tarok-Amazonen.

Solch’ eine oberländische Spielpartie ist beinahe ein niederländisches Genrebild. An dem Tisch das schweigsame Drei- oder Viergespann; unter dem Tisch der langbeinige schnarchende Hundeköter, dazu das Fallen der Karten, das Rasseln der Sechser, die Seufzer der Verlierenden. Grauer Himmel liegt vor den Scheiben, blaue Tabakwölkchen füllen die Stube. Auf den Gesichtern aber [705] waltet jene seltsame Mischung von Eifer und Langeweile, wie sie eben nur schwermüthige Regentage zuwege bringen.

Andere wieder ziehen jenes seltsame, mit Schadenfreude gemischte Vergnügen vor, von der trockenen Altane aus zuzusehen, wie noch fortwährend nasse Mitmenschen ankommen, die einen in der duftenden Lederkutsche, die andern auf eigenen Füßen – Alle als die geschlagenen Truppen des Vergnügens. Solch’ eine Procession sieht aus, als ob sie für die sieben Werke der Barmherzigkeit hergerichtet wäre, aber die heutige Welt hat kein Erbarmen mehr.

Gewöhnlich wird es gegen Abend ein wenig heller, und dann benützt man die lichten Zwischenräume dieses wahnsinnigen Regens zur Schlußpromenade. Männlein und Weiblein spazieren hintereinander, als ob sie eben aus der Arche Noah entschlüpft wären; Fräulein schwingen sich mit Zartgefühl über die Pfützen; die Buben aber üben das Horazische ire in medias res, indem sie mitten in den Schmutz springen. Ganze Karawanen begegnen sich also in der Dämmerstunde und ihr gemeinsames Thema ist, daß es morgen hoffentlich besser wird. Auch der Wirth ist dieser Meinung, und hat sich deshalb einen zerbrochenen Barometer gekauft, der ein für alle Mal auf Schön Wetter zeigt. Daher sein Name: Trostbarometer.

Nun muß noch der Abend überstanden werden. Für diejenigen, welche zu Hause, das heißt in den Bauernhäusern bleiben, welche ihnen für die Sommerzeit ein an Comfort nicht eben reiches Gelaß geboten haben, beginnen um halb acht Uhr die Mysterien des Schlafrocks und der Pantoffeln, sie organisiren in der gemieteten Bauernwohnung ein rudimentäres Souper mit Familienleben. Die zinnernen Teller des Hausherrn fühlen sich nicht wenig geschmeichelt, daß sie zur Aushülfe gezogen werden, desgleichen die Trinkgefäße, welche auf Rosen und Vergißmeinnicht wandeln. Denn dieser fromme Spruch, in Blumensprache geschrieben, fehlt selten auf den Tassen einer ländlichen Hauseinrichtung. Schlag acht Uhr wird der jüngste Sprößling in einer Commodeschublade oder in dem großen Koffer zu Bett gebracht, dann kommt die Friedenspfeife des Papa und das mütterliche Strickzeug.

Ganz anders ist es bei denen, die „ausgehen“. Da sind in dem langen Wirthshaussaal die Tische dicht besetzt, Kopf an Kopf, Köpfchen an Köpfchen. Und namentlich die Mienen der letzteren haben sich nun doch schon ein wenig aufgeheitert, denn heute hat man in der Wirthsstube eine Clavierruine entdeckt, wie sie im bairischen Gebirge schon ziemlich häufig zu finden ist, und was bedarf es mehr? „U. A. W. G.“ – „und Abends wird getanzt“! Man kennt sich, man braucht sich, man liebt sich sogar stellenweise, also ist diese Idee formell zulässig und materiell begründet. Schnell werden die Tische bei Seite gerückt, und da Niemand anfangen will, weil die Einen zu alt und die Anderen zu jung sind, so fängt Alles auf einmal an. Mit Schrecken gewahren die Schlummernden der untern Etage diese sociale Revolution. Sie hören schreien. „Parisienne, Polkamazur’, Vis-à-vis, Cotillon!“ und dies letzte Wort ist ihr Todesstoß. Die Honoratioren aber, welche an ihrem unantastbaren conservativen Ecktisch sitzen, schauen mit Staunen auf den gottlosen Jubel der Stadtkinder.

Und so kann nun die Mitternacht herankommen, bis die Mütter schläfrig und die Töchter vernünftig werden. Der Vater mag treiben, so viel er will: nur mit Widerstreben eilt man von dannen, da man schon unter der Thür zurückprallt vor dem wüsten Lärm der Regennacht. Auf den engen Dorfwegen, zwischen den perfiden Spitzzäunen wird nach Hause geklettert; die kleine Handlaterne verlischt auf halbem Wege und der Galant, der die Damen begleitet, benutzt mit Vergnügen den Nothstand, um den Arm der Dulcinea zu erhaschen. Endlich knarrt die Hausthür und die feuchten Schatten sind hinter derselben verschwunden.

Alles ist zur Ruhe gegangen.

„Horch nur, wie es gießt,“ sagt die Mutter zum Vater und dieser schüttelt den Kopf und spricht:

„’S ist doch infam hier auf dem Lande.“

„Horch nur, wie es gießt,“ sagt die ältere Schwester zur Kleinen, aber diese schüttelt den Kopf und spricht:

„’S ist doch famos hier auf dem Lande.“

Und sie hat Recht: es ist herrlich auf dem Lande, es ist herrlich in den Bergen und trotz Regen und Regenwetter werden wir die Fahrt zu ihnen wiederum wagen, sobald die Lüfte auf’s Neue warm und Wald und Wiese auf’s Neue grün geworden sind; die Sonne aber wird siegreich auf Wald und Wiesen, auf Bergen und Höhen liegen und wir werden unendlich froh und glücklich sein.




Blätter und Blüthen.

Französische Banknoten. Das Papiergeld des Landes und der Banken gegen Fälscher zu schützen, ist das allgemeine Streben sämmtlicher Staaten. Unter den verschiedenen Systemen, welche man zu diesem Zwecke gewählt hat, ist das französische wohl das künstlichste. Man giebt die Banknoten in Gruppen oder sogenannten Alphabeten aus, von denen jedes fünfundzwanzigtausend Stück enthält, so daß auf jeden der fünfundzwanzig Buchstaben tausend Stück kommen, und numerirt die Alphabete der Reihenfolge nach. Jede Note hat nicht blos gewisse Bezeichnungen, welche sie von allen anderen unterscheiden, sondern trägt auch eine Zahl, welche angiebt, wie viel Noten desselben Werths bereits ausgegeben sind. Nehmen wir eine Tausend-Franken-Note zum Beispiel. Sie enthält das vollständige Datum ihrer Ausgabe: 25. Mai 1869; in zwei Ecken bezeichnet die Zahl 32 das zweiunddreißigste Alphabet, während ein T auf den bestimmten Buchstaben jenes Alphabets hinweist. In den beiden anderen Ecken steht die Zahl 369 und sagt, daß diese Note die dreihundertneunundsechszigste im Buchstaben T ist, und die Zahl 0,793,369 giebt an, daß am 25. Mai 1869, dem Datum dieser Note, 793,369 Banknoten, jede zu tausend Franken, gedruckt und ausgegeben waren. Unser Beispiel wird gezeigt haben, daß nicht zwei Banknoten einander vollständig ähnlich sein können, und schon dieser Umstand ist ein mächtiger Schutz gegen Fälschung.

Alles, was mit der Anfertigung der Noten in Verbindung steht, wird mit außerordentlicher Vorsicht behandelt. Das Papier wird in der Nähe von Coulommiers in einer Papiermühle gemacht, die keine andere Arbeit vornehmen darf. Ein Aufsichtsbeamter, den die Bank besoldet, verläßt die Fabrik nie. Das Papier wird mit der Hand und in ganz kleinen Stücken von der Größe der Banknoten gemacht. Jede Note trägt ein Wasserzeichen, welches nach einem gewissen Systeme wechselt. Alle Papierstücke werden hinsichtlich ihrer Stärke, Größe und Reinheit genau geprüft und so sorgfältig gesichtet, daß von je hundert sechszig verworfen und zur Stampfe geschickt werden. Die tadellosen Blätter werden von dem Aufsichtsbeamten in eiserne Kasten gepackt, verschlossen, versiegelt und der Bank von Paris zugeschickt, wo man sie einer zweiten Prüfung unterwirft. Haben sie auch diese bestanden, so legt man sie in einen größern Kasten von starkem Eisen mit zwei Schlössern. Zu jedem Schloß hat ein höherer Beamter, der Generalsecretair und der Controleur, einen Schlüssel, und ohne das Zusammenwirken dieser beiden Herren können die kostbaren Papierstückchen nicht aus dem Kasten genommen werden.

Mit noch größerer Sorgfalt als das Papier werden die Platten behandelt. An der Stahlplatte, die bei der Herstellung der heutigen Tausend-Franken-Noten benutzt wird, hat Herr Barre drei Jahre gearbeitet. Von dieser Platte nimmt man Elektrotypen, von denen jede fünfzigtausend Abdrücke liefert, ehe sie sich abnutzt. Bei Banknoten von geringerm Werth nimmt man die Photographie zur Hülfe. Man entwirft eine Zeichnung in großem Maßstabe, nimmt von ihr eine verkleinerte Photographie, gravirt nach derselben eine Platte und macht nun elektrotypische Abgüsse. Das Hinzuziehen der Photographie soll das Verfahren schneller, sicherer und wohlfeiler machen. Die Platte für die heutigen Hundert-Franken-Noten ist so fein gearbeitet, daß ihre Herstellung fünf Jahre gekostet haben soll.

Wenn neue Noten gedruckt werden sollen, so übergiebt man dem Factor der Druckerei eine entsprechende Anzahl der sorgfältig vorbereiteten und aufbewahrten Papierstücke. Diese Druckerei befindet sich in einem der neuen Gebäude der Bank von Frankreich und steht unter der strengsten Aufsicht. Die Arbeiter sind lauter ausgesuchte Leute, geschickt, fleißig und verschwiegen. Die Papierstückchen, die Druckerfarbe und die Abgüsse von den Platten werden bis zu dem Augenblick, in dem man sie braucht, unter sicherem Verschluß gehalten. Der Druck erfolgt auf Dampfpressen. Die Druckerfarbe ist blau und nur wenige Beamte kennen ihre Bestandtheile. So lange gearbeitet wird, macht ein Aufseher die Runde und beobachtet jede Presse, jeden Arbeiter und jede Handlung. Zum Druck der wechselnden Zahlen auf den einzelnen Noten dient eine besondere Presse, die so sinnreich eingerichtet ist, daß sie tausend Banknoten hintereinander druckt und die Lettern mit den Zahlen selbst wechselt. Man braucht sie kaum zu berühren, denn auch das Fortschieben der fertigen Banknote und das Unterlegen einer neuen besorgt sie allein. Nach jeder der vorkommenden Arbeiten wird die Banknote geprüft. Es wird so genau Buch geführt, daß stets ein Register zur Hand liegt, aus dem man ersieht, wie viele Banknoten seit der Gründung der Bank von Frankreich wegen Fehler im Papier, im Druck oder im Numeriren verworfen worden sind. Wenn der Factor seine fertigen Pakete abgegeben hat, so wird jede Banknote mit den Namensunterschriften des Generalsecretairs und des Controleurs gestempelt. Nun ist sie fertig und wird in einen eisernen Schrank gelegt, zu dem die beiden genannten Beamten die Schlüssel haben und in dem sie bis zum Tage der Ausgabe bleiben. Diese erfolgt erst, nachdem der Hauptcassirer an den Director berichtet hat, daß er neue Noten einer gewissen Classe braucht, worauf der Director dem Verwaltungsrath Mittheilung macht und der letztere den Generalsecretair und den Controleur ermächtigt, ihren eisernen Schrank aufzuschließen und die verlangten Noten abzuliefern. Eigentliches Geld sind [706] diese noch nicht und werden es erst dann, nachdem der Hauptcassirer jede mit seiner Unterschrift versehen und ihre Zahl in ein Buch eingetragen hat.

Das Leben einer französischen Banknote dauert durchschnittlich zwei bis drei Jahre und endet nicht früher, als bis sie sich in einem ganz traurigen Zustande befindet, beschmutzt, zerknittert und halb zerrissen ist. Manche sind halb verbrannt eingeliefert worden, eine hatte sich im Magen einer Ziege gefunden und eine war von einer Wäscherin in einer Westentasche verbrüht worden. Ist es dem Cassirer der Bank irgend möglich, die Banknoten noch zu entziffern und als echt zu erkennen, so giebt er eine neue dafür. Die Bank bewahrt als Merkwürdigkeiten kleine Papierfetzen auf, die auf Pappe aufgeklebt sind und einen hohen Begriff von dem scharfen Auge des Cassirers geben, der in diesen Ueberresten Bruchstücke ehemaliger Banknoten entdeckte. Sehr wenige gehen vollständig verloren. In den letzten siebenundzwanzig Jahren sind 24,000 Banknoten zu tausend Franken ausgegeben worden und von diesen hat die Bank im vorigen Januar 23,958 zurückerhalten, so daß blos 42 nicht eingereicht worden sind. Von 25,000 Noten zu fünfhundert Franken sind 24,935 zurückgekehrt. Die Bank hält sich verpflichtet, diese nicht eingereichten Banknoten jederzeit einzulösen.

Die alten Banknoten werden immer wieder in Umlauf gesetzt, nachdem man sie untersucht hat. Sind sie zu schlecht geworden, so cassirt man sie, indem man sie mit einem Stempel durchlöchert. Diese cassirten Banknoten gehen durch die Hände mehrerer Beamten und werden nach Classen zu Bündeln geordnet. In das Buch, welches den Geburtstag jeder Note angiebt, wird nun der Todestag eingetragen. Nachdem die ungültig gewordenen Noten drei Jahre in einer großen eisernen Kiste eingekerkert gewesen sind, werden sie verbrannt. Auf einem offenen Hofe zündet man ein mächtiges Feuer an und legt die Papiere in einen Drahtkäfig, der über dem Feuer hängt und in Drehung gesetzt wird. Durch die Maschen wirbeln die Aschenstäubchen in die Luft und verschwinden im unendlichen Raum. Jeden Monat einmal, wenn etwa 150,000 cassirte Banknoten sich angesammelt haben, wird ein großer Brand veranstaltet. Im vorigen Jahre wurden 2,711,000 Banknoten im Werthe von 904,750,000 Franken ausgegeben und 1,927,192 Banknoten im Werthe von 768,854,900 Franken verbrannt.

Es klingt erschrecklich, daß zweihundert Millionen Thaler Banknoten in einem einzigen Jahre absichtlich verbrannt worden sind. Glücklicherweise kann die Bank ebenso schnell schaffen, als sie zerstört. Banknoten von dem hohen Betrage, der in England und auch bei uns ausnahmsweise vorkommt, sind in Frankreich nicht gebräuchlich. Die umlaufenden Noten lauten alle auf 1000, 500, 100 und 50 Franken. Im Jahre 1846 wurden hübsche roth gedruckte Noten von 5000 Franken in Umlauf gesetzt, fanden aber beim Publicum eine so schlechte Aufnahme, daß sie eingezogen und verbrannt wurden.

Bis zur Erfindung der Photographie druckte man die Banknoten schwarz. Man befürchtete aber, daß solche Noten leicht nachgemacht werden könnten, und ging deshalb zur blauen Farbe über. Um Fälschungen anderer Art auf die Spur zu kommen, hat die Bank einen erfahrenen Chemiker angestellt, der alle neuen Erfindungen, mit denen ein Mißbrauch getrieben werden könnte, studiren muß. Fälschungen kommen äußerst selten vor. Um so größer war der Schrecken der Bankbeamten, als im Jahre 1853 falsche Hundertfranken-Noten in großer Zahl und rasch hintereinander bei der Bank einliefen. Sie waren so vorzüglich gearbeitet, daß kein Bankier, Geldwechsler oder Kaufmann den Betrug entdeckt hat. Selbst die Sachverständigen der Bank konnten die falschen Noten nur an einer kleinen schwarzen Stelle in der Nähe der Figur des Mercur von den echten unterscheiden. Acht Jahre lang machten diese Banknoten regelmäßig ihre Aufwartung und alle Bemühungen der Behörden, ihre Quelle zu entdecken, blieben ohne Erfolg. Die Bank schwieg über die Fälschung, um das Vertrauen des Publicums zu den Hundertfrankennoten nicht zu erschüttern. Endlich entdeckte man den klugen Verbrecher in der Person eines Kupferstechers, dem es gelungen war, für beinahe 200,000 Franken falsche Banknoten in Umlauf zu setzen. Im Jahre 1862 nach Cayenne transportirt, suchte er in die holländischen Niederlassungen zu entfliehen, blieb aber schwach und erschöpft im zähen Schlamme eines Flusses stecken und wurde von Krabben lebendig gefressen.

Die Bank von Frankreich leistet alle ihre Zahlungen in Banknoten, doch kann Jeder diese Papiere an einer anstoßenden Casse sofort in baares Geld umsetzen. Im vorigen Jahre wurden dort 722,000,000 Franken in Geld ausgezahlt. Eine Million Franken in größern Banknoten wiegt blos 1644 Gramm und findet in einem Paket von der Größe eines starken Octavbandes Platz. Welchen Raum diese Noten trotzdem einnehmen, wenn sie in großer Menge beisammen sind, beweist eine Anekdote von einem Gerber in Dijon, welcher öffentlich behauptet hatte, daß die französischen Staatsausgaben, die etwa 2,000,000,000 Franken betragen, in Banknoten bis zur Spitze des Thurms der St. Benigna-Kirche reichen würden. Der Gerher wurde wegen staatsgefährlicher Aeußerungen vor die Polizei geladen, aber er bewies, daß er noch zu wenig gesagt habe, da zwei Millionen von Tausend-Franken-Noten eine Säule von zweihundert Meter Höhe bilden würden.

Zu den Gewölben der Bank von Frankreich steigt man auf einer steinernen Treppe hinunter, die so eng ist, daß zwei Personen nicht nebeneinander gehen können. Um zu dem Schatze der Bank zu gelangen, muß man vier eiserne Thüren aufschließen, von denen jede mit drei Schlössern versehen ist, zu denen zwei Beamte die Schlüssel haben. In den Gewölben stehen bleierne Kisten, welche mit Säcken zu zehntausend Franken in Silber und mit kleinern Beuteln zu zehntausend Franken in Gold gefüllt sind. Silber- und Goldbarren, als Pfänder für Vorschüsse von Bankiers und Geldwechslern deponirt, sind symmetrisch zu Massen geordnet. In diesem Jahre lagen einmal für siebenhundertsechsundzwanzig Millionen Franken gemünztes und ungemünztes Gold und Silber im Gewölbe der Bank.




Bekenntnisse eines Dichters. Glaßbrenner’s berühmtes Epos „Neuer Reineke Fuchs“ feiert im nächsten Jahre sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum. Ueber seinen ersten Erfolg avant la lettre (der zweite fand bei Th. Mundt in Berlin, der dritte bei Heinrich Laube in Leipzig 1845 statt) erzählt Hoffmann von Fallersleben, S. 241 im 4. Bande seines Werkes „Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen.“ (Hannover.) Folgendes:

„Den 22. Mai 1845 gab Runge (der berühmte Chemiker in Oranienburg) eine große Gesellschaft, die er ‚ein großes Zauberfest‘ nannte. Es waren zweiundzwanzig Personen eingeladen, außer den Herren auch Frauen und Fräulein. Auch Glaßbrenner mit Frau, der erst Mittags mit der Strelitzer Post angekommen war, nahm Theil. Runge sorgte auch heute dafür, daß sich keine Langeweile blicken ließ, er wurde aber in seinem Streben, die Gesellschaft geistig anzuregen und zu beleben, heute überflügelt durch seinen Strelitzer Gast. Glaßbrenner las uns einige Abschnitte aus seinem neuesten Werke: ‚Neuer Reineke Fuchs‘. Der Erfolg konnte nicht glänzender sein, unser Genuß war ein großer, ein überraschender, wir waren Alle erfreut und gerührt. Als ich mit ihm allein war und noch ganz erfüllt von der schönen Wirkung seines Gedichts, reichte ich ihm die Hand: ‚Lieber Glaßbrenner, ich bin so freudig überrascht, ich weiß nicht, wie ich Ihnen meinen Dank besser kundgeben soll, als dadurch, daß ich Ihnen mein Du anbiete.‘ Ich sprach mich dann den folgenden Tag noch in einem Briefe an ihn abermals sehr theilnehmend über seinen Reineke aus.

Schon den 25. Mai antwortete er mir aus Berlin, wohin er sich von Oranienburg aus begeben hatte:

‚Dank, herzlichsten Dank, mein lieber Bruder. Ich bin tief gerührt über Deine schriftliche Anerkennung meines Gedichts, bei welcher Dich Dein Freiheitsgefühl zu so großen Worten hingerissen. Wie kann ein so kindlich reines Herz in einem so langen, bärtigen Körper wohnen! Wohl seit fünf Jahren klettre ich an Dir, Felsen, hinauf, und nun erst habe ich die Rose Deiner Seele gefunden, die für die Guten duftet, deren Dornen die Bösen treffen. Ach, Hoffmann, Du weißt gar nicht, was Du mit Deinem Lobe an mir gethan hast! Aus Deinen Thränen, die bei meinem Gedichte flossen, wird mein Ruhm emporblühen: ein kleines anmuthiges Blümchen. Schau’ mein ganzes literarisches Leben an und glaube, daß ich das ernst meine. Als mir das Gefühl der Freiheit in den Kopf stieg und dann wieder in’s Herz zurückkam, und mir fast die Brust zersprengte: da konnte ich mit meinem kleinen Talente und mit meinem noch kleineren Wissen den unendlichen Drang nicht bewältigen; ich schwamm und schwamm ohne festes Ziel, ohne innere Sicherheit, wohin die Wogen der Zeit mich trieben. Denke an das Meer in meinem Reineke Fuchs: ich hatte der Urkraft gegenüber den Gedanken, den bewältigenden, nicht gefunden; mein Witz unterdrückte die Poesie und diese blieb immer ungesehen zwischen den Zeilen liegen. Noch heute bin ich der Masse nichts mehr als ein Lustigmacher, als ein Hofnarr, der der Tyrannei unter der Maske des Scherzes bittere Wahrheiten zuruft. Das wäre nun schon, gut verstanden, Etwas, aber ich will die Tyrannei nicht belustigen, ich will nicht ihr Narr sein! Deine Lieder kamen, die so leicht scheinen, weil sie so leicht in Kopf und Herz gehen, und so schwer sind: da wurde es licht in mir, da fand ich den Gedanken für mein Talent, und:

auf dem geschnitzelten Splitter
zieht der kecke, tollkühne Ritter

auf und über das Meer dem Lande der Freiheit zu. Ich dichte ein Bändchen Lieder; sie finden Theilnahme bei den Besseren, aber das Volk wirft sie bei Seite, will das Gute darin gar nicht sehen, weil es den Lustigmacher nicht verlieren will. Was ist das? frage ich mich und fand bald die Antwort: Lieder sind immer nur noch einzelne Gedanken in Form gebracht; das Volk will ein Werk haben, ehe es an Dich glaubt. Nun schreibe ich in Neustrelitz, fern von der Welt des Heute, den ‚Fuchs‘. Ich packe das Werk ein, weiß aber nicht, ob es ein Werk ist; in banger Hoffnung (wahrhaftig wahr) reise ich und rutsche nach Preußen, das in der Welt liegt. Auf dem Markte in Oranienburg sehe ich Dich und augenblicks wird es mir klar, daß hier das immer mit bedeutenderen Menschen poetische Schicksal mitspielt. Aut – aut! ruft es mir in’s Ohr; faßt Dein Gedicht Diesen, so bist Du durch; wo nicht, so bleibst Du Lustigmacher!

Denke Dir nun, was in meiner Seele in der Zauberküche unseres Runge vorging.‘ …“




Ein kämpfendes Bild. Diese Bezeichnung verdient Kaulbach’s „Zeitalter der Reformation“, jene Perle der Wandmalerei im Neuen Museum in Berlin, welche die größten Geister einer aufwärtsstrebenden Zeit in einem Tempelraum vereinigt. Dieses Gemälde ist offenbar ein mächtiger Mitkämpfer gegen alles Dunkelmännertreiben, und von diesem Standpunkt betrachteten wir es, als wir unseren Lesern den großen Stahlstich empfahlen, durch welchen die Verlagshandlung von Alexander Duncker in Berlin die berühmte Composition des kühnen Meisters aus dem Museum in die Familienräume der Kunstfreunde überzuführen suchte. Jetzt, wo das ultramontane Mittelalter mit Sturm in unsere Gegenwart hereinzubrechen droht, geht auch A. Duncker einen Schritt weiter, indem er in einem trefflichen Kupferstich eine Thalerausgabe von Kaulbach’s kämpfendem Bild in die Welt schickt, damit diese auf die Wand geschriebene Weltgeschichte in immer weiterem Kreise vor die Augen des Volks trete. Möge die Wirkung dem ausgezeichneten Mittel entsprechen!



Inhalt: Jedem das Seine. Von Ad. von Auer. (Fortsetzung.) – Das Bild der Gemordeten. Mit Abbildung. – Zwei Affen-Menschen. Von Dr. Louis Büchner. – Im Grabe der Verschütteten. – Auf dem Kirchhof zu Meisenheim. Von J. Leyser. Mit Abbildung. – Regentage im Gebirge. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Französische Banknoten. – Bekenntnisse eines Dichters. – Ein kämpfendes Bild.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Das Nähere hierüber, sowie über die Gesetze der Vererbung und Erblichkeit überhaupt bittet der Verfasser in seinem Buche „Aus Natur und Wissenschaft“ (zweite Auflage, Leipzig, 1869) und zwar auf Seite 359 in dem Aufsatze „Physiologische Erbschaften“ nachsehen zu wollen.