Die Gartenlaube (1870)/Heft 18
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No. 18. | 1870. |
Monate sind vorüber. Das Dampfschiff hält in Flüelen am Vierwaldstätter See. Auf einem Wagen, dessen italienische Herkunft unverkennbar war, stiegen Herr Merz und seine Tochter, beide sahen gebräunt und frisch aus. Viel Gepäck wurde auf das Dampfschiff gebracht, und der italienische Kutscher dankte dem Herrn und der Dame mit großer Redseligkeit. Noch als das Schiff abgestoßen war, rief er ihnen mit südländisch heftigem Geberdenspiel Lebewohl nach.
Auf dem Dampfschiffe, das über den Vierwaldstätter See fuhr, war eine bunte Gesellschaft und alle Sprachen der gebildeten Welt tönten durcheinander; aber eine gemeinsame Empfindung beherrschte doch die Gemüther Aller: die Schönheit des Ausblicks über den See, nach den hellen Wohnorten an den Ufern und den hochragenden Bergen. Diesen Eindruck übersetzte sich Jeder in seine eigene Weise und die Gespräche erhielten jene seltsame Art, die sich in den Unterredungen der Menschen bildet, wenn Musik sie umtönt. Wie man da innerlich unbewußt hinhorcht auf das melodische Klingen, so sprach man hier von Allerlei, aber die begleitende Empfindung vom Ausblick in die großartige Naturumgebung durchzog alle Wechselrede und ließ sie oft plötzlich verstummen.
Unweit des Steuermanns saß Louise allein und schaute hinaus in die Landschaft. Sie kümmerte sich nichts darum, daß mancher Blick sich nach ihr richtete, ja, sie vermochte es zu überhören, daß man über sie räthselte. Die Einen hielten sie für eine dem Leben sich wieder zuwendende Wittwe, die Anderen für die an den begleitenden alten Herrn verheirathete junge Frau.
Der Vater hatte einen ehemaligen Parteigenossen aus dem Abgeordnetenhause getroffen, der Mann hatte Louise geneckt, daß sie seinen Erwartungen nicht entsprochen, denn er habe sie längst verheirathet geglaubt. Jetzt stand der Vater auf der andern Seite des Schiffes bei dem Manne, und die Beiden unterhielten sich natürlich zunächst über die allgemeinen Verhältnisse; sie waren beide nicht mehr in der unmittelbaren Bethätigung, aber ihre Theilnahme war doch lebendig. Der Parteigenosse erzählte, daß seine Tochter, die sich damals in jener ersten lebhaften Wintersitzung verlobte, ihm bereits drei Enkel geschenkt habe und er werde in den nächsten Tagen in Luzern seine jüngst verheirathete Tochter treffen, die mit ihrem Manne von der Hochzeitsreise aus Italien zurückkehre. Der Mann hatte fünf Töchter, sie waren an Beamte und Officiere und die jüngste an einen Fabrikanten verheirathet. Er erging sich, ganz im Gegensatze zu vielen Anderen, im Lobe der heutigen jungen Männerwelt; sie sei nicht mehr so romantisch, wie wir Alten gewesen, aber sie sei bedachtsamer und energischer. Mit behutsamen aber dennoch unausweichlichen Fragen erkundigte er sich, woher es käme, daß Louise noch ledig sei.
Herr Merz konnte nicht umhin zu erzählen, daß dies, abgesehen von dem Kummer um den Verlust seiner Frau, die einzige Beschwerniß seines Lebens sei; er suche sich darein zu finden, für sein Kind auf das Glück eigner Häuslichkeit zu verzichten.
Der Parteigenosse hatte einen Bruder seines jüngsten Schwiegersohnes, einen Officier, auf dem Dampfschiffe gefunden, er rief ihn nun herbei und stellte ihn Herrn Merz und Louisen vor.
Man machte die Rundreise auf dem See und Louise empfand ein Bangen, daß man nun heute Abend und vielleicht noch länger mit einer zufälligen Begegnung verbringen müsse, der man danklos die so sehr ersehnte Einsamkeit opfert. Als man in eine Bucht des Sees einfuhr, sah man ein helles Haus mit einem neuangelegten Garten, das einladend erschien. Louise hörte, daß hier ein Landungsplatz sei, sie bat den Vater, daß man hier aussteige. Der Ort erschien so heiter, so lockend, – es galt kein Besinnen, – die Glocke läutete, – Louise nahm rasch ihr Handgepäck, sie bestimmte auch den Vater, daß er das seine erfasse, – das Landungsbrett wurde angelegt – Louise und ihr Vater stiegen aus, das Gepäck wurde nachgebracht.
Vom Ufer aus rief der Vater und winkte Louise dem Parteigenossen und seinem jungen Freunde Lebewohl zu, die ihnen verwundert nachschauten, dann aber sich rasch umdrehten.
„Ich danke Dir, Vater,“ rief Louise aufathmend, „ich weiß nicht woher, aber ich meine, ich habe diesen Ort einmal geträumt, – ganz so wie er ist: so glänzte der See, – so sprang der Springbrunnen, – so wie mit einem Schuppenpanzer bekleidet war das Haus und so klang die Glocke, wie jetzt da drüben aus dem Dorfe. Ach, Vater, es ist doch herrlich, wie viel schöne, ruhige Plätze es auf der Welt giebt!“
Die Wirthin war herbeigekommen und hieß die Fremden in französischer Sprache willkommen. Sie deutete nach dem Hause und sagte, daß die beiden Balconzimmer an der Ecke mit der schönsten Aussicht eben heute frei geworden seien. Caspar, das Factotum des Hauses, der mit Stolz die hohe Mütze trug, auf deren Rundung der Name der Pension gestickt war, nickte der Wirthin zu, sein Blick sagte: „das sind vornehme Leute, ein Mann [274] auf dem Schiffe, der drei Orden im Knopfloch trug, hat ihnen noch nachgewinkt.“ Auch der Hund des Hauses schien es für Pflicht zu halten, die Fremden zu begrüßen; er sah Louisen augenzwinkernd an und setzte sich vor ihr nieder. Die Wirthin winkte ihm, da wegzugehen, aber Louise sagte, sie sei eine Freundin der Thiere. Sie lockte den Hund, der munter an ihr empor sprang und dann wieder zu seiner Herrin lief, als wollte er sagen: Siehst Du? Die Fremden haben mich schnell gern; sie wissen bald, daß ich ein guter Kerl bin!
Louise ging am Arme ihres Vaters nach dem Hause. Vor demselben spielten zwei Kinder auf einem Brette. Der Knabe in einer rothen Blouse mit kurzen Beinkleidern und nackten Waden, in feinen, bis an die Knöchel reichenden Strümpfen und naturellfarbenen, gelben Schuhen stand am oberen Ende des Brettes und stemmte einen Stock in den Sand, als ruderte er einen Kahn; ein kleines Mädchen, in die künstlerisch geordnete hierländische Tracht gekleidet, saß am anderen Ende des Brettes auf einem Schemel und bat den Schiffer, er möge erlauben, daß sie einmal aus dem See trinke. Der Knabe gestattete es mit huldreicher Handbewegung, das Mädchen beugte sich tief hinab auf den Sand und that, als ob es Wasser trinke.
Louise hielt ihren Vater an und sagte leise: „O! Wie herrlich!“ Sie grüßte die Kinder in französischer Sprache, sie antworteten in der gleichen, der Knabe in einer Art herablassender Höflichkeit, das Mädchen sehr zierlich.
Vater und Tochter gingen nach ihren Zimmern, sie fanden sie genehm. Louise überließ dem Vater alle Verhandlungen, er fragte, wer die Nachbarn seien, und erhielt zur Antwort, daß davon keinerlei Unruhe zu gefährden; denn es seien Maler, die den ganzen Tag draußen in den Bergen sich umhertrieben. Louise stand auf dem Balcon, sie preßte beide Hände auf die Brust. Jetzt breitete sie die Arme aus, als müßte sie fliegen. Als der Vater zu ihr kam, rief sie: „O Vater, ich meine, es strömt lauter Glückseligkeit auf mich herab. Ich habe gar nicht gewußt, daß es noch so viel Ruhe, solch eine thauige Luft zum Athmen in der Welt giebt.“
„Ja,“ ergänzte der Vater, „Du kannst hier viel Annehmlichkeiten finden, – es wohnen fünf französische Maler mit Frauen und Kindern hier im Hause.“
Wenn man tagelang nur vom bewegten Wagen, vom Dampfschiffe aus in die schnell vorbeifliegende Naturumgebung geschaut hat, dann ist ein ruhiger Ausblick vom festen Wohnsitze wie neue Labung. So saßen nun Vater und Tochter wohlig beisammen auf dem Balcon und schauten hinaus über den See und nach den Bergen. Kein Laut war vernehmbar als das Plätschern des Springbrunnens im Garten und dazwischen manchmal ein helles Jauchzen der Kinder, die sich am Uferweg entlang zu haschen suchten. Das Abendroth brach herein, Himmel und Erde erglühten in immer wechselnden Farbentönen und der See spiegelte sie wieder. Die Nacht kam, die Glocke im Dorfe läutete, die Kinder eilten nach dem Hause; der Knabe mit der rothen Blouse ließ es sich nicht entgehen, die Klingel im Gasthause zu läuten, die die gesammten Einwohner zur gemeinsamen Abendmahlzeit rief.
Als Vater und Tochter in den Saal traten, wendeten sich kurz die Blicke Aller nach ihnen, aber schnell setzte sich das Gespräch wieder fort, das ausschließlich in französischer Sprache geführt wurde. Vater und Tochter saßen, der allgemeinen Regel gemäß, am unteren Ende des Tisches. Der Präsident schien ein alter Soldat zu sein, er hatte einen weißen Schnurrbart und schneeweißes, kurzgehaltenes Haar. Er wendete sich rechts und links zu zwei Frauen, die neben ihm saßen; sein Blick schien zufrieden mit der Betrachtung der neu Angekommenen, denn er nickte den Nachbarinnen zu.
Die Fremden fühlten, daß sie in eine in sich abgeschlossene Gesellschaft eingetreten waren und ruhig abwarten mußten, welche Beziehung sich ihnen ergab. Louisen gegenüber saß ein junger Mann, der mit Niemand sprach. War er ein Ausgeschlossener oder hielt er sich selbst zurück? Es ließ sich nicht entscheiden. Noch ehe vollständig abgespeist war, verließ der junge Mann, ohne Jemand zu grüßen, wie unwillig den Saal. Als man aufstand, begrüßte Louise die beiden Kinder, die ihr bei der Ankunft einen so freundlichen Anblick dargeboten hatten.
In leichter Weise und guter Form näherte sich die Mutter der Kinder Louisen und fragte bald, ob Louise wohl auch Familie zu Hause zurückgelassen habe, da sie sich so sehr an den Kindern erfreue. Louisens Antlitz durchschoß eine Röthe, da sie verneinte. Die Gesellschaft ging nun in den Lese- und Musiksaal, auch Louise begab sich dahin. Einige Männer aber wanderten nach der Veranda und steckten sich Cigarren an; auch Herr Merz ging ihnen nach. Er fand indeß keinerlei Ansprache, er ging allein in den Garten, am Ufer entlang, bis sich der Präsident zu ihm gesellte, der sich bald als Officier aus der französischen Schweiz kund gab. Er war der älteste Stammgast des Hauses und lobte die glückliche Art, wie man hier lebe; man sei nur immer im Zwiespalt, ob man den braven Besitzern zu lieb den behaglichen Ort Anderen empfehlen solle, während doch zu fürchten sei, daß man durch Ueberfülle die hier herrschende Behaglichkeit zerstreue.
Louise, die sich nicht lange im Unterhaltungssaale aufhielt, kam zu ihrem Vater, der seine Tochter dem Oberst vorstellte. Louise fragte, was mit dem Manne vorginge, der so verdrossen ihr gegenüber gesessen habe. Der Oberst erklärte, daß dies ein deutscher Arzt sei; er begleite einen bis zur Schwermuth gesteigerten Nervenkranken, der beständig auf seinem Zimmer bleibe. Der junge Mann sei natürlich von der Gesellschaft seines Patienten, der ihn keinen Augenblick von sich lassen wolle, etwas angegriffen; übrigens beruhe seine Verdrossenheit vornehmlich darauf, daß er nicht französisch spreche und sich nun in der Gesellschaft wie ausgestoßen vorkommen müsse.
Die Wirthin hatte Louisen gesagt, daß nach elf Uhr der Vollmond über den Bergen herabsteige; sie solle den wunderbaren Anblick nicht versäumen. Louise wollte den Mond-Aufgang abwarten, aber sie und der Vater waren so müde, daß sie sich zur Ruhe begaben und bald einschliefen.
Plötzlich aber wurde Louise geweckt, der Vollmond strahlte so hell, daß sie die Augen aufschlug. Sie stieg aus dem Bette, sie stand am Fenster und schaute hinaus in die wundersame, wie traumhaft erleuchtete Landschaft und in den See, darin der Mond in breitem, glitzerndem Strahle sich wiederspiegelte.
Da kam vom oberen See herab ein Kahn geschwommen, glitt in der silbernen Strömung dahin; in dem Kahn saß ein Mann, der jodelte hell in die mondbeglänzte Nacht hinein. Der Kahn kam immer näher, das Jodeln wurde immer deutlicher, immer lebendiger und gewaltiger; die Fenster im Hause öffneten sich, Männer- und Frauenstimmen riefen: „Monsieur Edgar!“ Ein Jauchzen, das wie eine Rakete emporstieg, antwortete vom See herauf, und immer lustiger und übermüthiger jodelte der Mann, der im Kahne saß. Der Wirth und die Wirthin, der Allversorger Caspar eilten nach dem Ufer, riefen einander an: „Herr Edgar kommt!“ und der Hund bellte.
Der Kahn landete. Ein hochgewachsener Mann, mit einem spitzen Hut auf dem Kopfe, den er jetzt lüftete, begrüßte die Wirthsleute und die am Fenster Rufenden und stieg aus. Er erzählte laut, daß kein Dampfschiff mehr in der Nacht hierher ging, er aber habe nicht in der Nähe übernachten wollen und sich darum einen Kahn genommen und hierher gerudert.
Louise hörte noch, wie die Wirthin sagte, sein Eckzimmer sei nicht mehr frei, eine junge Frau und ein alter Herr hätten es erst heut’ genommen, sie würden aber wohl nicht lange dableiben.
Der Fremde ging in’s Haus, das Gepäck war ihm nachgebracht worden. Wieder war Alles still, der Mond schien über die Berge, über den See; Alles war so in sich ruhig, aber Louise fühlte ihr Herz klopfen. Was ist denn das? Ja, wir erleben noch wundersame Begegnisse, wie sie uns in Märchen und Sagen berichtet werden. Ist das nicht ein solches Ereigniß, wie da ein Mann über den mondbeglänzten See daher geschwommen kommt und freudiges Willkommen begrüßt ihn? Wie wird aber dies Alles am Tage aussehen, – mitten in der Prosa unserer Welt mit festen Pensionspreisen?
Der Springbrunnen vor dem Hause plätscherte und quallte und es klang, als ob er auch den Ruf: „Monsieur Edgar! Monsieur Edgar!“ gelernt hätte. So klang es immerfort, bis Louise einschlief.
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Am Morgen wurde Louise erst von der Hausglocke geweckt, die zum gemeinsamen Frühstück rief. Der Vater stand vor ihr und sagte, er habe schon einen weiten Weg in der Umgebung gemacht und bereits, wie Louise gewünscht hatte, ein Telegramm nach Luzern aufgegeben, damit man ihm Briefe und Zeitungen hierher sende. Louise wußte nicht mehr, was sie gewünscht hatte, sie saß aufrecht und besann sich, ob sie in der vergangenen Nacht geträumt oder ein Wirkliches erlebt habe. Sie bat den Vater, im anderen Zimmer zu warten, bis sie sich angekleidet habe, aber sofort fragte sie durch die angelegte Thür, ob der Vater nichts von einem Monsieur Edgar gehört habe, der heut Nacht angekommen sei.
„Ja freilich,“ erwiderte der Vater, „und Alles im Hause strahlt vor Freude, die Wirthsleute, die Gäste, die Kellnerinnen, und vor Allem Caspar, er hat dem Kuhhirten gesagt: Jetzt wird’s erst recht lustig! Monsieur Edgar ist da! – Und ich hörte ihn mit dem Wirthe davon reden, daß man ihm heute wieder die Brücke bauen müsse.“
Louise wollte dem Vater sagen, daß sie die Ankunft des Mannes mit angesehen, sie wollte ihn fragen, ob er den Freudenbringer auch schon gesehen, aber sie hielt sich zurück. Bald ging sie mit dem Vater in den Saal, wo an kleinen Tischen das Frühstück eingenommen wurde. Um einen runden Tisch saßen Männer und Frauen, sie hatten Alle Blick und Wort an einen Einzigen gerichtet, der den Knaben mit der rothen Blouse und das kleine Mädchen, das heut ein weißes Kleid trug, auf seinem Schooße hatte.
Es war ein hochgewachsener Mann, bräunlichen Antlitzes, mit dichtem, schwerem Haupthaar und kurz gehaltenem schwarzem Vollbart. Seine Stimme war wohltönend und der Ausdruck seiner Miene freundlich; jetzt setzte er eine auf dem Tische vor ihm liegende Brille auf und fragte leise die Mutter der beiden Kinder etwas.
Offenbar hatte er nach Louisen und deren Vater gefragt, denn die Antwort wurde ihm ebenfalls leise gegeben und Aller Blicke richteten sich nach dem Vater und der Tochter, die indeß bald allein im Saale waren, denn die Gesellschaft ging nach dem Garten, wo der Neuangekommene – es war Monsieur Edgar – die beiden Kinder hüben und drüben an der Hand führte.
„Wunderlicher Widerspruch!“ sagte der Vater zu Louisen, „die Franzosen, die weit weniger Gefühl für Freiheit als für Gleichheit haben, sind eitle Ordensgecken; sie tragen auf Reisen ihre rothen Bändchen und sogar hier in der schweizerischen Republik, wo es keine Ordensbänder giebt.“ –
„Es mag Eitelkeit darin liegen,“ entgegnete Louise, „aber es giebt ihnen doch auch eine Verpflichtung, sich als nicht gewöhnliche Menschen zu zeigen, und ein ungewöhnlicher Mensch scheint er.“
„Wer?“
„Der Herr Edgar. Als ich ihn in der vergangenen Nacht sah, hätte ich freilich nicht geglaubt, daß er am Tage einen Orden trägt im Angesicht dieser Gebirge, wo Alles das so kleinlich erscheint.“ Sie erzählte dem Vater das Erlebniß der vergangenen Nacht und es lag ein schmerzlicher Ton darin, wie sie hinzufügte, daß im Lichte des Alltags kein ungewöhnliches Ereigniß bestehen bleibe.
Die Wirthin, die herzugetreten war, sagte unaufgefordert den beiden Fremden, daß Monsieur Edgar der Beliebteste von Allen sei. Er sei von Rom aus schon mehrere Sommer hier gewesen und das letzte Mal fünf Monate; er habe ein prächtiges Bild hier aus der Gegend gemalt.
Der Vater fragte, ob die Frau und die beiden Kinder ihm gehörten; die Wirthin verneinte und setzte hinzu, so lustig sei kein verheiratheter Mann und er mache sich auch nichts aus den Frauenzimmern, aber die Kinder habe er gern, er sei ein wahrer Kindernarr.
Louise fragte, ob man nicht die Punkte sehen könne, welche die hier angesiedelten Künstler jetzt malten. Die Wirthin zuckte die Achseln, die Maler hielten es wie die Vögel, die auf Umwegen zu ihrem Nest fliegen, um es nicht zu verrathen; sie sorgten ängstlich dafür, daß man sie in ihrer Arbeit nicht störe, wenn aber Jemand die versteckten Orte finde, wo sie arbeiteten, dann könnten sie es nicht hindern.
Die Männer waren alle fortgegangen, auch der Wirth und Caspar waren nicht zu sehen. Die Mutter der beiden Kinder saß mit anderen Frauen an der Schattenseite des Hauses mit einer Handarbeit beschäftigt. Louise hätte sich gern ihnen zugesellt, aber da sie nicht aufgefordert wurde, ging sie vorüber. Es war still im Hause und im Garten; nur die beiden Kinder spielten am Ufer mit dem Hunde, der, seiner Pflicht bewußt, sich zur Unterhaltung der Gäste herzugeben schien.
Jetzt kam der Nervenkranke mit seinem Begleiter des Wegs daher, Louise und der Vater grüßten, aber der Kranke machte eine abwehrende Bewegung, und so wandelten sie ohne weitere Anknüpfung vorüber.
Louise ging nach ihrer Stube, sie wollte ihren Malkasten mitnehmen und sich einen guten Punkt suchen, aber eine eigene Scheu hielt sie zurück. Wie sollte sie in der Umgebung von Künstlern von Fach sich mit ihren dilettantischen Versuchen hervorwagen?
Sie ging mit ihrem Vater nach dem Dorfe, sie bestiegen eine kleine Anhöhe, die als besonderer Aussichtspunkt gerühmt war. Der Vater hatte das Glück, hier einen Mann zu finden, der seine Sommerfrische im Dorfe hielt und einen Pack der neuesten Zeitungen vor sich liegen hatte. Es ergab sich leichte Anknüpfung und der Mann erbot sich, dem Fremden täglich die ihm zukommenden Zeitungen zu überlassen. Er war ein ehemals hoch angesehenes Mitglied des schweizerischen Bundesrathes, und bald war Herr Merz mit ihm im eifrigsten politischen Gespräch, so daß er und seine Tochter eingeladen wurden, in das kleine Bauernhaus zu kommen, das der alte Herr sich behaglich eingerichtet hatte und, nachdem alle seine Kinder verheirathet waren, nun mit seiner Frau allein bewohnte. Es war ein erquicklicher Einblick in ein stilles, abgeschlossenes Leben.
Als man am Mittag das Haus verließ, sagte Herr Merz: „Man vergißt ganz, mit wie Wenigem man glücklich sein kann.“
„Lieber Vater, das ist nicht wenig, was die Leute haben; sie haben unbeschränkte Ruhe und ein sorgloses Auskommen, das ist nicht wenig.“
„Ja, ja,“ ergänzte der Vater, „wenn Deine Mutter noch lebte und wenn Du Dich verheirathet hättest, ich glaube, die Mutter und ich, wir hätten uns auch ein solches Häuschen an diesem so schönen Fleck Erde gewählt, aber wenn – wenn – das soll man eigentlich nicht sagen.“
Als die Beiden in den Gasthof zurückkamen, wollte sich die Gesellschaft eben zu Tisch setzen; lärmendes Durcheinanderreden wurde laut, weil Monsieur Edgar keine Ausnahme gestatten und nicht von der alten Ordnung abgehen wollte. Er widersprach dem allgemeinen Wunsche, sich oben an den Tisch in die Mitte seiner Freunde zu setzen; nur der Präsident gab ihm Recht, und so setzte er sich als der letzte der Gäste und saß Louise gerade gegenüber neben dem Arzte, der ihn immer grimmig ansah. Es wurde kein Wort hier am Tische gesprochen und nach aufgehobener Tafel waren die Künstler bald alle wieder verschwunden.
Am Mittag gesellte sich Louise zu den zurückgebliebenen Frauen, während der Vater mit dem Bundesrath eine in der Nähe liegende Seidenfabrik besuchte.
Als am Abend die Maler zurückkehrten, wurde Louise Allen vorgestellt und auch Herrn Edgar. Nach der Abendtafel versammelte man sich wieder im Musiksaale, die Mutter der beiden Kinder sang anmuthige französische Lieder; ihre Schwester, ein schlankes junges Mädchen mit blonden Locken, ließ sich erbitten und spielte die Geige, sie selbst übernahm die Clavierbegleitung. Der Anblick des Mädchens mit der Geige und ihren schönen Bewegungen war anmuthig. Das Auge Edgar’s haftete unverrückt auf ihr. Louise saß neben ihrem Vater und sagte leise: „Findest Du nicht auch, daß die Geigenspielerin Marien ähnlich sieht?“
Der Vater nickte. Nun setzte sich Herr Edgar auf den leeren Platz neben Louise und forderte sie auf, auch zu singen oder Clavier zu spielen. Sie betheuerte, daß sie kein musikalisches Talent habe, und im Tone ihrer Worte lag eine Wahrhaftigkeit, daß Herr Edgar sagte, er glaube ihr vollkommen, er sei überzeugt, daß sie nicht aus Ziererei eine unwahre Bescheidenheit kundgebe.
Louise dankte, aber es traf sie doch seltsam, daß der Mann, der noch so wenig mit ihr gesprochen, so auf den Grund ihrer Seele sah. Sie wollte fragen, woher er diese gute Meinung von ihr habe; aber sie unterdrückte es, vielleicht auch – suchte sie sich einzureden – ist dies eine neue Art französischer Höflichkeit.
Als nun Herr Edgar bemerkte, er hätte ihrer Sprechstimme [276] nach geglaubt, daß sie singen könne, erwiderte sie, früher habe sie allerdings etwas Singstimme gehabt, aber so gering, daß sie die weitere Uebung aufgegeben habe.
Herr Edgar fuhr in gewandter Redeweise fort zu erklären, wie doch die Musik allein die einigende Kunst sei. Menschen aus verschiedenen Nationen und Gesellschaftskreisen fänden im Reich der Töne, das über alle Nationalsprachen hinausrage und etwas Kosmisches habe, eine Einigung.
Scherzhaft setzte er hinzu: „Wenn die Werkleute beim babylonischen Thurmbau hätten singen können, es wäre wohl nie die Sprachverwirrung eingetreten.“
Die Art, wie er sprach, hatte etwas einfach Bewegendes und in Scherz und Ernst etwas so Bestimmtes und Sicheres, daß sich nicht nur gesellschaftliche Gewandtheit, sondern auch vielfältiges, einsames Denken daraus erkennen ließ. Louise, die sich daran gewöhnt hatte, von einzelnen Aussprüchen aus den Hintergrund der Seele, die Gesammtheit des Denkens und Empfindens aufzubauen, sah den Sprecher freudigen Blickes an; dieser aber erhob sich bald wieder, setzte sich zur Geigenspielerin und ging dann mit seinen Freunden in den Garten.
Louise folgte bald mit den Frauen. Scherz und Lachen herrschte in der linden Mondnacht am Ufer entlang, und die klatschenden Strandwellen tönten darein.
Louise fühlte sich in der Gesellschaft heimisch, und wieder, als sie mit dem Vater allein war, pries sie das Glück, daß sie hierher gekommen seien.
Am andern Morgen kam der Bundesrath mit seinem Kahne vor dem Hause angefahren, er schickte den Fährmann zu Herrn Merz, daß er mit ihm komme, um weit in den See hinauszufahren und dort zu fischen. Auch der Pfarrer des Dorfes, ein lustiger Camerad, der sich auf seine Angelkunst viel zu Gute that, war mit von der Gesellschaft.
Louise wagte, unter der Mantille verborgen, ihr kleines Skizzenbuch mitzunehmen, sie ging hinaus, die Uferstraße entlang, dann einen Berg hinan, sie fand einen guten Punkt mit weiter Aussicht, und als sie sich versichert hatte, daß Niemand sie sehe, begann sie zu zeichnen.
Am Mittag kam sie von der Arbeit gestärkt fröhlich zurück und es herrschte viel Heiterkeit, denn die drei Männer hatten einen großen Fischzug gethan und die Beute wurde am Mittag verspeist.
Der Himmel bewölkte sich, aber die Maler ließen sich nicht abhalten, zu ihrer Arbeit zu gehen. Caspar, der neben seinen anderen Berufsarten sich die eines untrüglichen Wetterpropheten angeeignet hatte, prophezeite ein schweres Gewitter zum Abend, und kaum saß man bei Tische, als es zu donnern und zu blitzen begann. Nur die Frauen gingen nach dem Musiksaal, aber sie wagten nicht, eine Saite tönen zu lassen, jetzt, wo es draußen so stürmte. Die Künstler waren hinausgegangen, um die Blitzesbeleuchtungen zu sehen; sie kamen erst zurück, als ein ergiebiger Regen hernieder rauschte.
Ein heller Morgen brach an, Baum und Gras glitzerte und die Linien der Berge setzten sich scharf ab von dem blauen wolkenlosen Himmel. Louise wagte es, ihren Malkasten herauszunehmen, ein Knabe trug ihr denselben nach, und den Bergstock in der Hand, stieg sie nicht weit von dem Gasthause einen Vorhügel hinan. An der Seite hörte man den Bach rauschen, der durch das Gewitter viel lebendiger war als bisher. Sie suchte das Bett des Baches höher oben, und je weiter sie schritt, um so muthiger wurde es ihr im Herzen; sie wendete sich oft um und schaute hinaus über den See und war voll Glückseligkeit. Jetzt stand sie auf einem vorspringenden Felsen, wo man den Bach drunten rauschen sah. Sie hielt an, stemmte den Stock in den moosbewachsenen Grund, legte die linke Hand an die Wange und jodelte lustig in die Welt hinaus.
Horch! Unten aus der Schlucht tönt eine Jodel-Antwort zurück. War das nicht die Stimme des Herrn Edgar, wie er in der Mondnacht auf dem See gejodelt hatte?
Abermals ließ Louise einen jauchzenden Ton in die Luft schallen, und abermals erhielt sie gleiche Antwort drunten aus der Schlucht. Dann aber rief eine Stimme: „Komm hierher zu mir, Du lustiger Bub’! Wo bist Du?“
Wie? Ist dies auch Herr Edgar? spricht er deutsch?
Louise ging vorwärts; sie stand am Felsenrande, wo es jäh hinabging, da rief Herr Edgar von unten, aber jetzt in französischer Sprache, sie möge einhalten, sie stehe auf einem gefährlichen Punkte, wo sie herabstürzen könne. Sie grub die Spitze des Stockes in einen Felsenspalt, beugte sich weiter vor, und jetzt sah sie über dem Bach drunten, wo eine leichte Bretterbrücke gebaut war, Herrn Edgar in einen Plaid gehüllt, mit großen Holzschuhen an den Füßen und vor ihm die Staffelei.
„Gehen Sie zurück,“ rief er in ängstlichem Tone, „links zwischen den beiden Tannen durch! Wollen Sie zu mir kommen? Ich will Sie holen! Haben Sie nur Geduld, bis ich mich etwas enthülst habe. Sind Sie denn ganz allein?“
„Nein, ich bin auch da,“ rief der kleine Führer; er war schnell bei Louise und geleitete sie nun hinab. Sie mußte rechts und links sich mit den Händen an Gesträuch und Bäumen halten, um nicht auszugleiten, und endlich stand sie an der Brücke. Aber noch konnte sie nicht hinüber, denn hier war ein Arm des Baches, durch den sie hätte waten müssen.
Herr Edgar bat um Entschuldigung, daß er nicht schnell entgegengekommen sei, aber sein Costüm habe ihn gehindert. Er zeigte auf eine Leiter, die am Ufer lag; der Knabe legte sie schnell über die Strömung des Baches nach dem Felsen, worauf die leichte Brücke ruhte; er bat Louise, rückwärts hinab zu steigen, – sie that es und stand jetzt auf der schwankenden Bretterbrücke.
„Gehen Sie nicht weiter, denn die Brücke trägt nicht zwei Menschen,“ rief Herr Edgar und fügte in scherzendem Tone hinzu: „Die Brücke, die ich mir über den wilden Strom des Lebens gebaut, trägt nur mich allein!“
Louise konnte kein Wort erwidern. Der Maler sagte, daß er sein Waldheiligthum eigentlich vor jedem Anderen verborgen halte, aber da sie es gefunden, solle sie es nun auch ruhig betrachten. In lustigem Tone fügte er hinzu, sie möge seinen Ueberrock annehmen, denn es sei hier sehr kühl, er möchte diesen Ort eigentlich die Rheumatismus-Grotte taufen, denn er habe viel anwenden müssen, um einen Rheumatismus los zu werden, den er sich im vergangenen Jahre hier geholt. Er vermummte sich auch schnell wieder, und nun fragte er: „Also Sie sind auch eine Deutsche, und Sie waren es, die so gejodelt hat? Wunderlich! Also auch Sie können jodeln und nicht singen. Ich hatte Sie für einen Knaben hier aus den Bergen gehalten.“
Er trat scharf auf die Bretterbrücke auf, sie schwankte; aber jetzt fügte er hinzu: „Ich glaube, die Brücke trägt Sie und mich. Kommen Sie herab!“
Auf dem gewundenen Sträßlein, das nach Pienzenau führt, wandern zwei schmucke Gesellen; sie tragen ihr Feiertagskleid, vom Hute nickt die Spielhahnfeder, offenbar ist irgendwo ein Fest.
Und in der That verhält es sich nicht anders. Pienzenau, wo einst die uralten bairischen Grafen hausten, hat freilich die Tage seiner Glanzzeit hinter sich; denn aus der Residenz der Herren ist nun ein schlichtes Bauerndörflein geworden und statt der ritterlichen Haudegen, die einander mit Schwert und Lanze prügelten, sehen wir nur noch die ganz alltägliche Tapferkeit, der ein Haselstecken und ein Maßkrug als Waffe genügt.
Der alte schneidige Menschenschlag aber, in dem etwas Ritterliches steckt, hat sich trotz alledem bis jetzt erhalten; die Männer sind noch frei wie dazumal und die Landschaft lacht uns noch so herrlich und jung entgegen, als ob sie seit fünfhundert Jahren nicht einen Tag älter geworden wäre. Heute ist in Pienzenau ein großes Kegelscheiben angesagt, und wer sich sehen lassen kann in der ganzen Nachbarschaft, kommt dorthin zusammen; auch die beiden Burschen gehen denselben Weg, sie nehmen’s nicht übel, wenn wir sie begleiten. Ein Kegelscheiben umschließt schon an und für sich gar manchen „Jux“, mit dem heutigen aber hat’s noch
[277][278] seine ganz specielle Bewandtniß; denn wenn die Buben fertig und die gewöhnlichen Preise ausgespielt sind, dann kommen erst die Dirndln zum Schub. Das heutige Scheiben ist ein „Menscherkegelscheiben“.
Wie die Beiden in das stattliche Wirtshaus eintreten, auf dessen weiße Mauern die Sonne blendet, schallt ihnen lauter Zuruf entgegen „Jesses der Seppel, Jesses der Hansei,“ heißt es von allen Seiten; der Eine hält ihm den Maßkrug entgegen, der Andere geht auf ihn zu und packt ihn zärtlichst an der Schulter, daß man meint, er wollte ihm vor Freundschaft den Arm „auskegeln“.
„Wo’s an G’spaß giebt oder a Lumperei, da sind doch die Zwei so gewiß zu finden, wie der Teufel in der Höll’,“ spricht ein alter Bauer beifällig nickend. Natürlich würde man in unseren Kreisen dies Compliment sehr unfein finden, die beiden Burschen aber fühlen sich dadurch nicht wenig geschmeichelt und verlieren sich plaudernd in die große Menge.
Das Kegelspiel ist ein uralter Brauch; es gehört zu den solidesten Begriffen des ländlichen Sport. Weil er nicht bergauf führt wie die Jagd, so ist er auch den Alten zugänglich; man verliert nicht gerade viel und hat doch die angenehme Aufregung, daß man ein wenig gewinnen kann. Darum findet sich denn auch in jedem kleinen Neste dieser Zeitvertreib; es gehört beinahe zur architektonischen Wahrheit eines Bergdorfs, daß hinter dem Wirthshause die Kegelbahn steht. Hohe Nußbäume überschatten sie; muntere Gestalten bilden am Sonntag die Staffage.
In Tirol wird nach den Kegeln geworfen, und wenn auch hier die Strecke kürzer gemessen ist, so ist doch die Kraftanstrengung eine weit größere. Auch der äußere Anblick der ganzen Scene stellt sich malerischer dar; die Gestalten entwickeln sich hübscher, das Gesammtbild ist weit offener und freier. Wenn man an Sonntagen durch’s Zillerthal geht, wird man nicht selten solchen Gruppen begegnen; im bairischen Gebirge muß der Fall als Ausnahme gelten.
Die Art, welche hier am meisten betrieben wird, ist das sogenannte „Parteln“, wobei die Spielenden, wie überall im lieben deutschen Reich, sich in zwei feindliche Parteien theilen, die durch das Loos gebildet werden.
Die lebensvolle Skizze, welche der Leser vor sich hat, stammt von Ludwig Bechstein, dem Sohne des bekannten Märchenerzählers. Schon manche heitere Scene aus dem Hochland verdanken wir seinem Stift, diese hier trägt ganz besonders den frischen Reiz, der aus der unmittelbaren Anschauung hervorgeht. Wenn wir genauer zusehen, dann finden wir gleich am Eckpfeiler den einen jener flotten Bursche, denen wir unterwegs begegnet sind. Nachlässig lehnt sein Fuß auf der geschützten Diele, mit Bedacht folgen seine Augen der Bewegung des schmucken Mädchens, die eben an die Reihe kommt. Er weiß wohl warum, denn das Mädel ist die Seinige und darum wär es gut, wenn sie den ersten Preis gewönne. „Schaug nur nit so lang,“ hat er ihr eben zugerufen, „Du triffst den König von selber, denn Du bist ja an König werth.“ Jetzt blickt er stumm, wie sie seinen Rath erfüllen wird, sie aber ist minder zuversichtlich als er und nestelt an dem Schürzenband herum. Ihr wär’ es lieber, „wenn er nit so nah’ dabeistünd’,“ denn das Zuschauen verreißt einem die ganze Kugel. Doch das ficht den Hansei wenig an; mit verschränkten Armen und gebieterischer Miene bleibt er stehen, als ob er in den Boden eingewachsen wäre.
Endlich schlägt die Kugel auf; „juchhei,“ schallt es von oben herunter, „juchhei – achte sind gefallen!“ Auch der König ist darunter und mit stolzer Genugthuung blickt das Midei auf ihren Bursche. „Gut Ding braucht Weil,“ sagt sie lachend; der kleine Schriftgelehrte aber, der mit der Schiefertafel dasitzt, verzeichnet den Triumph mit Wohlbehagen.
Unter der Thüre steht der Wirth und sorgt, daß Niemand verdürste. Er ist mit Maßkrügen förmlich gegürtet und hat Mühe sich zwischen den Pfosten durchzudrängen. Wenn das so fortgeht, ist er nächstens gefangen in seinem eigenen Hause; denn zum Fenster kann er schwerlich heraussteigen. Vergeblich haben seine Freunde und Zechgenossen ihn schon verhöhnt, daß er selber sein bester Gast sei; allein dann erwidert er lachend:
Und mit sellene (solchen) Sprüch’
Geht’s mir weiter damit;
Ihr redt’s bloß vom Saufen,
Vom Durscht redt’ Ihr nit!
Fassen wir nochmals die gewandte Skizze als ein einheitliches Culturbild zusammen, so müssen wir sagen, daß ihr das volle Gepräge der Echtheit und Naturwahrheit gebührt. Aber auch im Einzelnen ist jede Gruppe anziehend und jede einzelne Gestalt lebendig, individualisiirt; ein Prüfstein hierfür liegt darin, daß Derjenige, welcher viel im Gebirge verkehrt, unwillkürlich mancherlei Aehnlichkeit entdeckt, daß er in diesem und jenem Kopf Portraits zu erkennen glaubt. Ganz besonders echt ist das pfiffig-ruhige Gesicht und die Haltung des Alten, der mit seinem Töchterlein unter der Kegelbahn steht; nicht minder treten die eingebornen Eigenthümlichkeiten an jener Gestalt hervor, die eben den Maßkrug zum Gruße bietet. Ein Zug von leichtbetrunkener Liebenswürdigkeit thut der Wahrheit keinen Eintrag.
Daß sich bei einem so volksthümlichen Spiele, wie die Kegel sind, zuletzt eine förmliche Terminologie, d. h. eine Menge von speciellen Ausdrücken bildet, läßt sich erwarten. Man spricht von einem Sandhasen, wenn die Kugel vom Auflegebrett heruntergleitet und daneben durch den Sand schießt, von einem Jammerochsen, wenn die Kugel unterwegs sich anstößt und „verhungert“. Auch Fuchs und Stier kommen vor, andere Ausdrücke sind so unparlamentarisch, daß wir sie hier unterdrücken müssen. Bleibt der König allein von allen Kegeln stehen, so nennt man dies einen Kranz und vieles Lob wird dem zu Theil, der ihn erobert. Allerdings auch mancher Witz, denn just raunt wohl Einer seinem Mädchen in’s Ohr: „Scheiben thust schon an Kranz, aber haben thust keinen.“
Wenn das Spiel zu Ende ist, werden die Preise feierlich vertheilt; dann kommen die Musikanten und herzzerreißende Trompetenstöße geben dem Sieg die Ehre. Daß es nicht abgeht ohne einen kleinen Tanz, versteht sich von selber, denn an Lust dazu fehlt es auf keiner Seite. Die Musikanten spielen neue Weisen, der Wirth bringt ein neues Faß und die Dirndln freuen sich auf neue Lustbarkeit. Erst in tiefer Nacht, wenn die Sterne schon erbleichen, geht es heim auf der alten Straße, wo wir den beiden Bursche am Mittag begegnet sind.
Sie kürzen den langen Weg mit muthwilligen Sprüchen und wer ihnen etwa begegnen mag, der hört, wie ihre Weise durch die laue Nacht verhallt:
Stad, stad, stad (still),
Daß’s uns nit draht (umdreht),
Hat’s uns erst gestern draht,
Heut’ wär’s ja doch schon schad,
Wenn’s uns heut’ wieder draht.
Stad, stad, stad,
Daß’s uns nit draht.
Ein goldiger, blühender, duftender Frühlingstag ohne Vogelgesang – ein grüner, schattiger, sonniger Wald und kein Drossel- und Amsel- und Finkenschlag – Apfelblüthe und Fliederduft und Bienensummen und keine Grasmücke, keine Nachtigall, keine Vogelsymphonie – kannst Du es Dir nur denken, lieber Leser?
Wäre das nicht ein Tag ohne Sonne? eine Nacht ohne Mond- und Sternenlicht? ein Himmel ohne Wolken? eine Symphonie ohne Streichquartett? ein Jungfrauenherz ohne Liebe? Wäre das wirklich ein Frühling?
Nenne mir irgend zwei untrennbare Dinge und behaupte, sie gehörten inniger zusammen, als Maienblühen und Vogelgesang! –
Doch, lieber Leser – Du berufst Dich auf die Ueberschrift und willst endlich erfahren, wie man Deine Lieblinge anlockt und hegt und pflegt.
Ich komme gleich zur Sache. Vorausschicken möcht’ ich nur, daß meine betreffenden Erfahrungen – und hoffentlich darf ich in unserer Gartenlaube noch andere mittheilen – die Resultate eifriger Studien, Beobachtungen und Versuche sind, welche ich seit [279] meiner Knabenzeit, d. h. beinahe ein halbes Jahrhundert hindurch, meinen erklärten Lieblingen unausgesetzt gewidmet habe.
So gern nun die Königin des Gesanges im blühenden Apfelbaume ihre Oden und Dithyramben dichtet, der Duft von Flieder, Jasmin und Rosen gehört doch auch dazu, sie in die rechte Begeisterung zu versetzen. Der Garten, in welchem die Nachtigall und die größeren Grasmücken ihre Sommerwohnung beziehen sollen, darf also nicht zu klein und nicht bloßer Baum- oder Blumengarten sein; etwas mehr als fünfzig Quadratruthen muß er enthalten. Er habe auch einiges Gesträuch und Gestrüpp, sogenanntes „Unterholz“ oder sei wenigstens mit einer lebendigen Hecke eingefriedigt.
Ist dann noch ein Quell, ein Bach, ein Teich oder Graben darin oder in seiner Nähe, und liegt Dein Garten nicht in einer durch die Separation in eine baum- und trostlose Fläche verwandelten Gegend, oder mitten im Gebirge, so sind alle Ansprüche erfüllt, welche unsere Meistersänger an das Terrain für ein passendes Sommerlogis zu machen gewohnt sind. Unsere drei besten Grasmückenarten: der Plattmönch (Schwarzplättchen), die graue oder Garten- und die Sperber-Grasmücke, können und werden ihren Einzug halten, wenn auch die letztere nicht überall. Ebenso die Spöttergrasmücke oder Bastardnachtigall, der unermüdliche, zarte Oberst im Vogelorchester, der nicht einmal auf Unterholz besteht, da er sein kunstvoll geflochtenes Nest häufig auf Bäumen anlegt. Und endlich auch die Zaun- oder Klapper-Grasmücke (Müllerchen, kleines Weißkehlchen), die mit den kleinsten Stadtgärten fürlieb nimmt, wenn sie nur einiges dichtes Stachelbeer-, Johannisbeer- und Himbeer-Gesträuch vorfindet, in dem sie, wie auch die übrigen Verwandten, gern ihr leicht gewebtes Nest versteckt.
Die Nachtigall verlangt indeß noch etwas Anderes!
In Parkanlagen und „englischen“ Gärten, in denen ja Ziersträucher und Rasenplätze gleichsam den Grundriß bilden; ferner in verwilderten oder vernachlässigten Baumgärten, in welchen es an Gestrüpp aller Art nicht zu fehlen pflegt; endlich in sonst sauber gehaltenen Gärten mit Ziersträuchern oder anderem Untergehölz findet sich im Frühjahr, vom Grase und auf dem Grabelande von dem Gesträuch festgehalten, altes trockenes Laub. Dies ist aber der Nachtigall, sowie ihrem Verwandten, dem sanften Elegiker Rothkehlchen, aus doppeltem Grunde unentbehrlich.
Unter dem alten, vor- und mehrjährigen Laube haben sich Millionen von Insecten, Insectenlarven und Gewürm versteckt, um dort zu überwintern, und gerade dies kriechende, meist schädliche Gezücht bildet die Hauptnahrung der Nachtigall, und da einmal Alles, was Odem hat, der irdischen Nahrung nicht entbehren und auch die Nachtigall nicht blos vom Singen und Dichten leben kann, so lautet das erste Recept für ihre Anlockung und Fesselung: „Laß nicht alles trockne Laub unter dem Zier- und sonstigen Gesträuch Deines Gartens wegharken, besonders wenn letzteres auf gegrabenem Boden steht.“
Das Laubrecept dient aber auch einem andern Zwecke.
Nachtigall und Rothkehlchen, wie sie ihre Nahrung meist auf dem Erdboden suchen, besonders im Frühjahr, legen auch ihre Nester regelmäßig auf oder dicht über dem Erdboden an. Die Nachtigall namentlich umgiebt nun ihr in die Mitte oder an die Seite der unten oft kahlen Gesträuchstämme gestelltes Nest mit einer Umhüllung von trocknen und verrotteten Blättern, so daß das Ganze selbst in der Nähe einem Haufen hängengebliebenen Laubes gleicht und von den übrigen im Gebüsche und Grase umherliegenden Laubklumpen kaum zu unterscheiden ist. Diese Blätterumhüllung des Nestes, dessen tief halbkugelförmiges Innere mit Gewürzel, Borsten, Pferdehaar und dergleichen äußerst glatt und sauber gerundet wird, ist so sehr Bedürfniß und Regel, daß ich niemals unter Hunderten von Nachtigallennestern eine Ausnahme bemerkt oder von einer solchen gehört habe, und daß die vorsichtige Baumeisterin, wenn sie sich aus sonstigen Rücksichten entschließt, von dem Vorhandensein solcher Laubhaufen in der Nähe des Nestplatzes abzusehen, dennoch instinctmäßig für eine solche sorgt und die Blätter dazu dann oft aus ziemlicher Entfernung herbeiträgt, in diesem Falle freilich ohne ihren Zweck zu erreichen. Denn ein solcher vereinzelter Laubhaufen wird nur um so auffallender für allerlei vier- und zweifüßiges umherschleichendes Raubgesindel – Mäuse, Wiesel, Katze, Elstern, Eiersammler und Vogelfänger. Nichts hilft dann die Aehnlichkeit der Farbe des brütenden Vogels mit dem verrotteten Laube, und es ist gleichgültig, daß der edle Sänger jetzt das bereits entdeckte Asyl auch noch durch seine großen glänzenden Augen verräth.
Also auch aus diesem Grunde darf nicht alles trockne Laub, besonders nicht das zwischen den Stämmen und Stämmchen des Strauchwerks hängen gebliebene, gänzlich entfernt werden.
Zu wirksamem Schutze sind aber noch ganz besonders, wenn sie nicht schon vorhanden, recht dichte buschige Stachelbeer- oder Brombeerruthen und anderes Dornicht, vor Allem auch Weißdornbüsche anzulegen und außerdem fest zusammengebundene Bündel von dergleichen Stachelzweigen unter dem Buschwerk zu vertheilen.
Ich verdanke es vorzugsweise diesem den meisten Räubern unzugänglichen Schutzmittel, daß sich in meinem nicht allzugroßen Garten bereits im dritten Jahre, in welchem die neuangelegten Dorn- und Ziersträucher noch wenig dicht waren, ein Nachtigallenpaar bleibend ansiedelte und seine Jungen trotz aller in den Dörfern so häufigen Katzen glücklich aufbrachte, und habe oft genug bemerken können, wie Alt und Jung bei drohender Gefahr in diesem Zufluchtsorte Schutz suchte und fand.
Das zweite Recept heißt also: „Sorge für ausreichenden Schutz Deiner Gäste durch Anlegung sicherer Zufluchtsstätten!“
Das dritte aber lautet: „Dulde keinen der Eier- und Vogelräuber in Deinem Garten!“
Die schlimmsten Feinde unserer Lieblinge sind in Gärten ohne Zweifel die Katzen. Um sie fernzuhalten, braucht man sie aber nicht gleich todtzuschießen oder gar zu vergiften; ein einziger Schuß mit seinem Dunst hat fast ohne Ausnahme einen zweiten unnöthig gemacht.
Es giebt aber auch Hunde – namentlich Pinscher, Affenpinscher, Spitze und Wachtelhunde – welche gern Eier und junge Vögel fressen. Den eigenen kann man diese Unart natürlich leicht abgewöhnen. Fremde dulde man nicht in Gärten, in denen man Nachtigallen haben will. Wiesel, Iltis, Marder sind freilich nicht immer abzuhalten; Tellereisen und Flinte müssen da möglichst schützen.
Unter den geflügelten Eier- und Vogelräubern sind ohne Zweifel am gefährlichsten unsere Würgerarten, besonders die beiden kleineren: der rothköpfige und der rothrückige oder Neuntödter – Lanius rufus und collurio – und zwar nicht allein wegen ihrer Raubsucht und außerordentlichen Tollkühnheit, sondern auch weil gerade sie die nämlichen Localitäten wie unsere Schützlinge – Untergehölz mit oder ohne Bäume – allen anderen vorziehen, sich meist im Gebüsch umhertreiben und hier vorzugsweise ihre Nester anlegen.
Nun habe ich zwar bei diesen kleinen Räubern die Beobachtung bestätigt gefunden, welche man bei den großen gemacht hat: daß sie nämlich niemals in unmittelbarer Nähe des eigenen Nestes rauben. Indeß möchte ich doch nicht rathen, sich auf diese „Eigenthümlichkeit“ allzusehr zu verlassen. Von vielen Erfahrungen nur eine.
Ein Nachtigallenpaar hatte sich in meinem Garten bereits angesiedelt, als ein später ankommendes Neuntödterpaar die Krone desselben Weißdornstrauches zum Nistorte ausersah, der am Boden das Nachtigallennest barg. In Folge täglich oftmals wiederholter, überwachender Besuche waren die Neuntödter sehr zutraulich, das heißt bei solchem Raubgesindel dummdreist geworden, und ließen allerdings die Nachtigallenfamilie bis nach dem Ausfliegen der Jungen unbehelligt, aber nur, um sie jetzt um so eifriger zu verfolgen. Das Angstgeschrei der verzweifelten Eltern rief mich rechtzeitig aus der Nähe herbei und meine Stockflinte machte der Noth der Armen bald ein Ende.
Auch Elstern und Eichelheher – Corcus pica und Garrulus glandarius – darf man durchaus nicht in einem Garten dulden, in welchem man Singvögel schützen und erhalten will. Beide sind gleichfalls verrufene Nestplünderer und vergessen in ihrer abscheulichen Leidenschaft für Eier und junge Vögel oft sogar die ihnen sonst eigene Vorsicht und Scheu vor dem Menschen und dem Schießgewehr. So hatte ein Elsternpaar ein Nachtigallennest trotz seines guten Verstecks unter Brombeerranken glücklich aufgestöbert und machte wiederholte, von den Eltern mit wunderbarem Muthe so lange abgewehrte Angriffe auf die Jungen, daß ich mein in der Nähe stehendes Gewehr herbeiholen und den einen der tollkühnen Räuber erlegen konnte. Es ist diese glückliche Abwehr, nebenbei bemerkt, ein Beispiel von Heldenmuth und Erfolg, wie mir ein zweites während einer so langen Beobachtungszeit doch nicht wieder vorgekommen ist!
[280] Uebrigens sind einige blinde Schüsse – ich habe mein Leben lang nur ungern selbst schädliche Thiere getödtet – vollkommen hinreichend, um die beiden Diebesgenossen zu vertreiben, falls sie nicht schon ihre Nester in der Nähe aufgebaut haben, die man natürlich wegnehmen muß. Endlich aber suche man die Singvögel, welche man in seinen Garten gewöhnen will, durch ihr Lieblingsfutter anzulocken und zu fesseln. Austern, Caviar, Lachs etc., in die Sprache der Singvögel übersetzt, heißen aber Mehlwürmer und Ameisenpuppen. Sie sind die wahren und unwiderstehlichen Delicatessen, nicht allein für die große Anzahl aller „Insectenfresser“, sondern auch für die Mehrzahl der sogenannten Körnerfresser! Ja neuerliche Beobachtungen in meiner Volière haben mich zu meiner Ueberraschung belehrt, daß sogar Papageien ihre zarten Jungen damit ätzen, und man könnte wirklich fragen: Wer unter den Vögeln frißt keine Mehlwürmer und Ameisenpuppen?
Ich für mein Theil habe nun zwar nicht blos den Sommergästen bei ihrer Ankunft diese Leckereien entgegengebracht, sondern auch für die armen Stand- und Strichvögel, Meisen, Finken, Ammern etc., in der bösen Winterzeit Sorge getragen; eine Folge davon sind meine stets besetzten Nistkästchen aller Art! Ganz besonders aber habe ich immer dafür gesorgt, daß die ankommenden Erdsänger, Nachtigall, Roth- und Blaukehlchen, gedeckten Tisch fanden. Ich habe zu diesem Zwecke das dürre Laub unter dichtem Gebüsch stellenweise entfernt und einige Schalen mit Mehlwürmern und Ameisenpuppen dorthin gestellt, und wenn es mir auch nicht gelungen ist, das liebliche Blaukehlchen dauernd an meinen mitten im Dorfe gelegenen Pfarrgarten zu fesseln, so haben sich deren mehrere doch stets länger darin aufgehalten und mit ihrem schönen Schlage mehr erfreut, als sie es ohne diese verführerische Lockspeise sonst wohl gethan haben würden. Ein in meiner Volière herumfliegendes Blaukehlchen habe ich im vorigen Jahre durch Mehlwürmer dahin gebracht, daß es mir durch Flur, Treppe und Stuben bis zu meinem Studirzimmer folgte, spielend auf der schreibenden Hand saß und nach den Buchstaben pickte.
Mit Nachtigall und Rothkehlchen ist es mir noch besser geglückt. Sobald ich gegen Mitte April das erste „Wiidkarr“ oder „Tack“ vernahm, wurde den ersehnten Ankömmlingen ihr Leckermahl vorgesetzt und meist sofort angenommen. Man muß indeß die Procedur möglichst in ihrer Nähe vornehmen; sehen sie die laubfreie aufgelockerte Stelle, so fliegen sie sehr bald herab und ergreifen zunächst die auf den Erdboden hingelegten Würmer, gehen aber auch bald an die im Gefäße hingesetzten. Fast ohne Ausnahme begannen die trauten Sänger, sobald sie die Localitäten genauer in Augenschein genommen, ihr wunderbares Lied, und kamen einige Tage später die Weibchen an, so waren die Männchen bereits eingewohnt und überredeten jene leicht zum Dableiben, und dann erst bekam das Lied den „süß-gewaltigen Ton, der sich so trostvoll an’s Menschenherz legt“!
Noch wenige Wochen und sie kehren zurück, Königin Nachtigall und ihr ganzer Hofstaat von Minnesängern, und bringen „frisches Grün“ mit und Blüthenpracht und Blumenduft und warmen Sonnenschein, und besingen all’ diese Herrlichkeit in süß-gewaltigen Liedern.
Gieb wohl acht! Um die Mitte dieses Monats beginnt der Einzug! So etwa vom 10. an kommt der Plattmönch, um die Königin anzukündigen. Vom 15. an kannst Du sie jeden Morgen erwarten (Mitteldeutschland), später als am 26. trifft sie wohl selten ein. Sie richtet sich indeß weniger nach dem norddeutschen als nach dem Naturkalender: sieht sie die Stachelbeerbüsche blühen, den Weißdorn grünen und die Kirschblüthe sich entfalten – dann kann sie sich nicht länger halten, dann muß es endlich Frühling werden!
Halle, Anfang April 1870.
Am Abend desselben Tages, an dem ich meinen ersten Besuch bei dem Deportirten von Cayenne, dem tapfern Delescluze, gemacht hatte, ging ich nochmals in das düstere Haus der Aboukirstraße, um Henri Rochefort, den Redacteur der „Marseillaise“, zu besuchen. Die „Marseillaise“ wird während der Nacht gedruckt. Rochefort pflegte deshalb allabendlich zwischen neun und zehn Uhr in das Redactionsbureau zu kommen und dort bis Mitternacht zu arbeiten. Freund Seinguerlet, der Redacteur des „Avenir National“, hatte schon einige Tage vorher an seinen Collegen von der „Marseillaise“ geschrieben, daß ich ihm einen Besuch zu machen wünsche.
Es war fast zehn Uhr. Das Haus in der Aboukirstraße lag in tiefstem Dunkel. Im Erdgeschoß und in den beiden ersten Stockwerken war nirgends mehr ein Licht zu erblicken. Nur sämmtliche Fenster des dritten Stocks waren hell erleuchtet; im dritten Stock befanden sich die Redactionszimmer und Verwaltungsbureaux der jüngsten und am meisten verbreiteten Pariser republikanischen Zeitung. Im Januar betrug die Abonnentenzahl der „Marseillaise“ dreißigtausend, während der Straßenverkauf wenigstens ebenso viel Abnehmer brachte und häufig auf fünfzigtausend stieg. An ereignißvollen Tagen wurde die Nummer oft mit ein bis drei Francs auf den Boulevards bezahlt. Die Redacteure der „Marseillaise“ vertheilen in echt demokratischer Weise die Einkünfte des Blattes unter sich zu gleichen Theilen; das monatliche Einkommen jedes Redacteurs steigt, je nach der Ziffer des Straßenverkaufs, da die Abonnentenzahl eine bestimmte ist, oft von fünfzehnhundert bis zweitausendfünfhundert Francs. Daß der Chefredacteur aus dem Blatte für sich eine Geldquelle mache, gehört also, wie so vieles Andere, in den Kreis kläglicher und aus der Luft gegriffener Verleumdungen. Rochefort bezieht nicht mehr Gehalt aus der „Marseillaise“ als jeder seiner Mitredacteure.
Die steinerne Wendeltreppe, welche im Hause Nummer 9 der Aboukirstraße aus dem Erdgeschoß in die oberen Stockwerke führt, war in ihrer untern Hälfte, sowie die Flure im ersten und zweiten Stock, nur durch ein paar einsame Gasflammen erleuchtet. Das am Tage so belebte Haus erschien wie ausgestorben. Erst im dritten Stock war Beleuchtung, Leben und Bewegung. Das Vorzimmer der Redaction der „Marseillaise“ war überfüllt mit Menschen; jeder Stuhl, jeder Platz auf den Bänken an der Wand war besetzt; Andere umstanden einen an einem kleinen Tische sitzenden Secretär, der ihnen die Inserate für die nächste Nummer der Zeitung abnahm. Die Wände waren mit einigen Bildern des unglücklichen Victor Noir geschmückt, den Peter Bonaparte einige Tage vorher in Auteuil meuchlings erschossen hatte, unter ihnen das bekannte Bild von Gille, welches den Ermordeten nach dem Tode, die blutige Schußwunde in der Brust, darstellt. Ich überreichte dem Secretär meine Karte mit der Bitte, mich dem Chefredacteur der „Marseillaise“ zu melden. Er ließ einen Stuhl aus einem Nebenzimmer für mich holen und übergab die Karte dem Redactionsdiener, einem Arbeiter in der historischen blauen Blouse. Nach einigen Minuten kehrte derselbe zurück und sagte: „Bürger! der Bürger Rochefort bedauert sehr, Sie heute nicht empfangen zu können. Er ist gerade mit dem Leitartikel für das morgende Blatt beschäftigt, der in einer Stunde unter die Presse gehen muß. Wenn Sie aber morgen Abend um dieselbe Zeit wie heute kommen wollten, so würde Ihr Besuch ihm sehr willkommen sein.“ Jeder Schriftsteller weiß, wie wichtig der Leitartikel ist, auf den die Setzer warten. Ich beauftragte den Redactionsdiener dem „Bürger Rochefort“ zu sagen, daß ich am nächsten Abend um zehn Uhr meinen Besuch auf dem Redactionsbureau wiederholen würde, und stieg die düstere steinerne Wendeltreppe wieder in die Aboukirstraße hinab, um noch einen Spaziergang über die Boulevards zu machen.
Am nächsten Abend fand ich mich pünktlich um zehn Uhr auf der Redaction der „Marseillaise“ ein. Das Vorzimmer bot ganz denselben Anblick wie am verflossenen Abend. Der Secretär führte mich in ein nach der Straße belegenes Zimmer und ersuchte mich, einige Minuten zu warten; ein Besuch, der gerade im Cabinet des Chefredacteurs sei, würde sogleich dasselbe verlassen; er werde mich demselben melden. Auch in diesem Zimmer waren die Wände mit mehreren Bildern Victor Noir’s, außerdem mit einem großen Oelgemälde decorirt. Es stellte die von Soldaten gestürmte Barricade im Faubourg Saint Antoine dar, auf welcher der tapfere Volksvertreter Baudin am Tage des dritten December den Heldentod für die Freiheit und für die Republik starb. „Diese erste Barricade des December,“ sagt Eugen Tenot in seinem [281] berühmten Buche über den Staatsstreich, „die mit dem Blute des Abgeordneten Baudin getränkt wurde, ist eine der traurigsten, aber zugleich eine der stolzesten Erinnerungen der republikanischen Partei geblieben.“ Ich war noch mit der Betrachtung des Bildes beschäftigt, als sich die Thür hinter mir öffnete. Als ich mich umwandte, erschien Rochefort auf der Schwelle des Zimmers und ersuchte mich einzutreten.
Alle Bilder Rochefort’s, die ich in Deutschland sah, haben denselben Gesichtsausdruck. Der Ausdruck ist finster, die Augenbrauen sind zusammengezogen; das Auge schaut unter diesen zusammengezogenen Brauen mit einem stechenden Blick hervor. Ich hatte Rochefort einige Male in Auteuil, in der Kammer und auf der Straße gesehen, aber diesen Blick nie bemerkt. An dem Abend, wo ich ihm meinen ersten Besuch auf der Redaction der „Marseillaise“ machte, trugen seine Gesichtszüge in dem Moment, als er auf der Schwelle seines Zimmers erschien, in der That diesen finstern und nichts weniger als angenehmen Typus. Aber dieser Ausdruck verschwand sofort, als er mich mit einigen freundlichen Worten begrüßte; die Wolke auf der Stirn und der stechende Blick des Auges hatten einem äußerst sympathischen und gewinnenden Ausdrucke Platz gemacht. Kopf und Gesicht Rochefort’s haben den südfranzösischen Typus. Solche Köpfe sieht man in der Provence, in Cette, in Arles, in Marseille. Reiches, schwarzes Haar, aufwärts gekämmt, beschattet eine hohe Stirn; ein schwarzes Schnurrbärtchen unter einer wohlgebildeten, nicht großen Nase deckt die feingeschnittene Oberlippe, ein kurzgehaltener Henri quatre das runde Kinn; die Augen sind dunkel und feurig; ein Schatten von Schwermuth oder Trauer legt sich dann und wann plötzlich über diese edlen und während der Unterhaltung sich belebenden Züge und giebt ihnen dann einen Anstrich von Kränklichkeit. Die Gestalt Rochefort’s ist groß, schlank, ich möchte sagen, mager; seine Stimme sonor, von gewinnendem, angenehmem Klange. Der Typus des vornehmen französischen Seigneurs ist in der Gestalt und im Wesen Rochefort’s unverkennbar.
„Bürger Rochefort,“ sagte ich, als er mir die Hand zum Willkommen gereicht hatte, „ich bewundere Ihren Muth und Ihr Talent. Sie waren der Erste, der den Feldzug gegen Bonaparte und gegen das Empire eröffnete. Ihre Art und Weise, das Empire anzugreifen, war die richtigste und für dasselbe verderblichste. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen –“
„Sagen Sie mir,“ unterbrach mich Rochefort, und ein Schatten flog über diese edlen, schönen Züge, und das Auge nahm auf einen Moment wieder den stechenden Ausdruck an, von dem ich oben sprach, „überhäuft man mich in der deutschen Presse auch mit diesen nichtswürdigen, widerlichen Verleumdungen, wie hier die bonapartistischen Blätter?“
„Das ist allerdings der Fall! Alle Sympathieen der Radicalen und der Republikaner in Deutschland sind aber mit Ihnen – und diese glaube ich Ihnen aussprechen zu dürfen.“
Der düstere Schatten verschwand von Rochefort’s Zügen; sein Auge verlor den fatalen Blick. „Kommen Sie,“ sagte er und schob mir einen Sessel an das Kaminfeuer, „setzen wir uns. Es freut mich, in Ihnen einen Cameraden aus Deutschland kennen zu lernen.“
Unser Gespräch lenkte sich natürlich sofort auf die französischen Zustände. Es waren erst wenige Tage nach der Bestattung des armen Victor Noir verflossen. Ich sprach von der Demonstration in Auteuil. „Begreifen Sie Flourens?“ sagte ich, „was wäre das für ein Unglück geworden, wenn die zweimal hunderttausend Menschen mit der Leiche nach Paris gezogen wären!“
„Flourens ist sehr exaltirt. In seiner Exaltation hatte er sich die Consequenzen einer solchen Handlung nicht klar gemacht. Ich war doch dafür verantwortlich. Es stand das Leben von Tausenden auf dem Spiel.“
Dann sprach er von der Verwerflichkeit des Empire und seiner Träger und Helfershelfer und von Ollivier. Rochefort sprach sich mit derselben Erbitterung aus, wie einige Tage früher Delescluze. Auch Rochefort fragte ich dann nach dem Feldzugsplan der republikanischen Partei. Er entwickelte mir denselben ganz in der gleichen Weise wie der Chefredacteur des Réveil und wiederholte ausdrücklich mehrmals: „Wir müssen um jeden Preis jetzt jeden blutigen Zusammenstoß in Paris verhindern; der Sieg der Republik ist unzweifelhaft; wir brauchen nur Zeit, um ihn zu erringen.“ Ich denke, diese gegen mich ausgesprochenen Ansichten Rochefort’s werden wohl Jedermann überzeugen, daß die nach seiner Verhaftung in der Rue de Flandre stattfindenden revolutionären Scenen in Belleville und im Quartier du Temple nur die natürlichen Consequenzen der in Paris herrschenden, durch die Polizisten Pietri’s geschürten Aufregung waren und durchaus nicht von der republikanischen Partei ausgingen, sondern ganz im Gegentheil in crassem Widerspruch mit ihren Grundsätzen standen. Wenn es überhaupt im Plane der Republikaner gelegen hätte, Anfang Februar in Paris eine revolutionäre Erhebung gegen das Empire zu veranstalten, so hätten sowohl Delescluze wie Rochefort gegen mich aus derselben gar kein Geheimniß gemacht. Ich habe ausdrücklich diesen Punkt mehrmals in meinen Unterredungen berührt; Beide haben diese Absicht in der bestimmtesten Weise in Abrede gestellt. Auch von der Eventualität des plötzlichen Todes Louis Bonaparte’s sprach ich an diesem Abend mit Rochefort. Ich muß sagen, auch Rochefort rechnet mit Bestimmtheit darauf.
Ich versprach Rochefort bei meinem Besuche in Paris, nach meiner Rückkehr nach Deutschland seinen Verleumdern und Feinden in der deutschen Presse mit der Aufdeckung der Wahrheit entgegenzutreten. Keine Lüge ist so niederträchtig, keine Verleumdung so boshaft, keine Klatscherei so albern, welche man nicht in Deutschland gegen den Mann versucht hat in Scene zu setzen und zu verbreiten, dem der berühmte Verbannte von Jersey kürzlich fast dieselben Worte schrieb, in denen ich ihm in Paris meine Sympathie aussprach: „Ich bewundere Ihren Muth, Ihr Talent und Ihren Charakter.“ An allen diesen Verleumdungen und Erbärmlichkeiten welche darin gipfeln, daß Rochefort ein verkappter Legitimist oder Orleanist im Interesse der Wiederherstellung des Königthums arbeite, daß er ein mauvais sujet, als Mensch ohne Talent und Charakter, ein Abenteurer sei, daß er früher im Dienste der bonapartistischen Partei gestanden habe, ist auch nicht ein wahres Wort. Alle diese Erbärmlichkeiten lassen sich auf einige schmutzige Broschüren zurückführen, welche ein paar bonapartistische Soldschreiber im Auftrage der Regierung in Paris unter das Publicum schleudern mußten, um den Verfasser der „Laterne“ in der Achtung der Menschen herabzusetzen, als die gegen ihn in Scene gesetzten gerichtlichen und polizeilichen Verfolgungen sich als fruchtlos erwiesen und nur dazu dienten, die enorme Verbreitung der „Laterne“ zu verzehnfachen. Man erinnert sich wohl, daß Rochefort einmal, vom Zorn hingerissen, den Drucker einer dieser natürlich anonym erschienenen Broschüren zusammenschlug. Wenn man heut in Paris Jemandem diese abgeschmackten Verleumdungen über Rochefort auftischt, so wird man ausgelacht. Als ich mich bei dem Geschäftsträger einer großen europäischen Macht nach Rochefort’s Charakter und nach dem Werth dieser Albernheiten erkundigte, erwiderte er mir ganz aufgebracht: „Aber das Alles ist ja abgeschmackt! Jeder von uns hat hier den Mann gekannt. Er war ein kleiner Beamter auf dem Rathhause. Rochefort ist ein Mann von Ehre und Charakter. Niemand kann ihm etwas Uebles nachsagen.“ Ich werde nun in einigen Worten eine kurze Charakteristik Rochefort’s geben. Sie ist das Resultat der Erkundigungen, die ich bei seinen Collegen in der Presse, bei achtungswerthen Kaufleuten, welche die radicalen politischen Anschauungen und Mittel des berühmten Redacteurs der Marseillaise nicht theilen und lieber auf ruhigem Wege zur „déchéance de l’empire“ gelangen möchten, und bei zwei in Paris accreditirten Diplomaten über Rochefort eingezogen habe.
Graf Victor Henri Rochefort de Lucay – so ist Rochefort’s ganzer Name und Titel – stammt aus einer alten und vornehmen französischen Adelsfamilie. Sein Vater war durch Unglücksfälle und irrige Speculationen ruinirt, so daß der Sohn frühzeitig daran denken mußte, selbst seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Seine Jugend war hart und schwer, voll von Entbehrungen und Arbeit; er gab Unterricht und verwaltete nebenbei ein sehr bescheidenes Aemtchen auf dem Pariser Stadthause, wofür er eine Besoldung von zwölfhundert Francs bezog. Daß Henri Rochefort seine Jugend in Estaminets und Weinhäusern verbracht habe, ist eine Lüge. Bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre, sagte Herr Vermorel, hat Rochefort nie einen Fuß in ein Estaminet gesetzt. Er hatte von seinem geringen Einkommen noch eine alte Mutter zu ernähren und konnte sich derartige Ausgaben nicht erlauben. Heute ist Henri Rochefort fünfunddreißig Jahre alt; er ist am 29. Juli 1835 geboren. Das Einkommen aus den Lectionen und aus der kleinen Stelle als expedirender Secretair im „bureau des brevets“ des Pariser Stadthauses reichte nicht [282] für die nothwendigsten Lebensbedürfnisse; Rochefort mußte an einen andern Erwerb denken. Er hat ein dramatisches Talent und schrieb einige Vaudevilles und Artikel über das Theater in der „Presse théatrale“; sie gelangen, und er trat im Jahre 1859 in die Redaction des „Charivari“. Im Jahre 1860 gründete Scholl „le Nain jaune“, um dem „Figaro “ Concurrenz zu machen. Er vertraute Rochefort die Wochenchronik in dem neuen Blatte an, und derselbe machte sich mit seiner Wochenchronik so bemerkbar, daß Millaud, als er „le Soleil“ gründete, ihn mit fünfzehnhundert Francs monatlich für sein neues Blatt engagirte. Später trat er in die Redaction des „Figaro“ ein. Als Mitredacteur des „Soleil“ und des „Figaro“ hatte Rochefort glänzende Erfolge. Niemals hat Rochefort aber – und dies muß ihm zum besondern Ruhm angerechnet werden – während seiner damaligen schriftstellerischen Thätigkeit in den charakterlosen und frivolen Ton der „petite Presse“ eingestimmt; selbst in seinen leichtestem und unbedeutendsten Artikeln trat immer das Streben hervor, die dreifache Sache der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Moral an der Charakterlosigkeit und Frivolität des bonapartistischen Regimes zu rächen. Wer sich davon überzeugen will, der durchblättere die drei Bände seiner Schriften: „la grande Bohème“, „les Français de la décadence“ und „les signes du temps“, in denen er die Artikel, welche er als Mitarbeiter der „kleinen Presse“ geschrieben, gesammelt hat. Vom ersten Tage seiner schriftstellerischen Laufbahn an hat er diesen von mir eben bezeichneten Weg eingeschlagen, ist niemals von ihm abgewichen und ist auf diesem Wege zur „Laterne“ gelangt, mit welcher er seinen Feldzug gegen die bonapartistische Regierung mit noch nie dagewesenen Erfolgen eröffnete. Die Regierung hat seine Unabhängigkeit, seine Unbestechlichkeit und seinen Charakter auch recht wohl gekannt. Eines Tages ließ man den Eigenthümer des „Figaro“ rufen und stellte ihm die Wahl zwischen der Unterdrückung seines Blattes oder der Entlassung Rochefort’s aus der Redaction. Rochefort schied aus und gründete seine „Laterne“. Die erste Nummer erschien im Juni 1868. Welch unerhörte Folge dies Blatt gehabt hat, weiß Jedermann. Unerbittlich, schonungslos griff es Personen und Zustände an und überhäufte sie mit den bittersten Sarkasmen; in jeder Nummer leerte er einen vollen Köcher der spitzigsten Pfeile; jeder Pfeil traf und blieb im Herzen des Feindes sitzen, und mit jeder neuen Zeile, die Rochefort schrieb, legte er von Neuem die Hand auf die offene Wunde.
Die „Laterne“ brach das Kirchhofsschweigen, welches seit dem 16. Februar 1852 auf der öffentlichen Stimme in Frankreich gelastet hatte. Rochefort sprach das öffentlich aus, was Jedermann seit sechszehn Jahren dachte. Er wurde der Rächer des Gewissens des französischen Volkes, dem die Regierung des zweiten December seit sechszehn Jahren ungestraft in’s Gesicht geschlagen hatte. So wurde Henri Rochefort der Mann der Situation, und als er im Kampfe unterlag und nach Belgien floh, da folgte ihm die Sympathie aller anständig denkenden Männer in Frankreich, aller Freunde der Wahrheit, der Freiheit und der Gerechtigkeit. Damals war das öffentliche Gewissen des Volkes seine Stärke. Heute trägt ihn der Strom der revolutionären Bewegung, welche mit dem Kaiserthum nichts mehr zu thun haben, sondern unter allen Umständen die Republik wiederherstellen will. Rochefort ist der ausdrucksvollste, prägnanteste Typus der „Unversöhnlichen“; die Sprache der „Marseillaise“ ist die Sprache des ersten Pariser Wahlbezirks, der ihn zu seinem Deputirten gewählt hat. Wem diese Sprache nicht gefällt – der hat wohl die siebenzehnjährige Vergangenheit des Kaiserthums in Frankreich vergessen, oder er hat sie nie gekannt. Er schlage das Schuldbuch Louis Bonaparte’s und der Staatsstreichmänner des December auf; er zähle die Hunderttausende von Leichen, welche auf den Barricaden, in Mexico, in der Krim, in Cayenne dem Kaiserreich zum Opfer gefallen sind; er lasse sich in Paris die Persönlichkeiten aller Großwürdenträger des Empire, von Morny bis auf Bazaine und Pietri, schildern – und ich bin überzeugt, wenn er sich nur vierzehn Tage mit dieser Lecture und mit dieser Unterhaltung beschäftigt hat, dann wird er dem tapfern Rochefort dasselbe sagen, was ich ihm bei meinem ersten Besuche in dem düstern Hause der Aboukirstraße gesagt habe.
„Die Kirche hat einen guten Magen,“ sagt Freund Mephisto seinem Schützling Faust; aber es will mich bedünken, als müßte der durchlauchtigste Magen Ihrer allergnädigsten Majestät von Großbritannien und Irland auch nicht zu den schlechtesten zählen und so ziemlich Alles und Jedes gebrauchen und verdauen können; wenigstens spricht dafür, was ich neulich, meiner Gewohnheit nach im Meere der Londoner Straßen Entdeckungsfahrten anstellend, auf einer Menge von riesigen Anschlagszetteln an unterschiedlichen Planken und Mauerecken zu lesen bekam. Da stand nämlich wörtlich, wie folgt:
„Hundertsiebenundneunzigste Versteigerung. Zollhaus, London. Auf Befehl der ehrenwerthen Commissäre von Ihrer Majestät Zöllen sollen im Verkaufslocale von Mincing Lane am … dieses Monats die nachverzeichneten Waaren zum Verbrauch im Inlande oder zum Export in’s Ausland öffentlich versteigert werden. Bier, Branntwein, Cigarren, Eau de Cologne, Genever, Kaffee, Kerzen, Liqueure, Messerschmiedwaaren, Privateffecten, Rum, Spirituosen, Tabak, Thee, Uhren, Wein, wohlriechende Essenzen, wohlriechende Seifen, Zucker und noch unterschiedliche andere Artikel.“
Fürwahr, ein allerliebstes Mixtum compositum von Handels- und Gebrauchsgegenständen aller Art, ohne andere Verbindung und Ordnung als nach der zufälligen alphabetischen Reihenfolge ihrer Anfangsbuchstaben. Und was für ein Chaos der mannigfaltigsten Dinge mag sich noch in den Rubriken „Privateffecten“ und „unterschiedliche andere Artikel“ verstecken! Wenn diesen ganzen Mischmasch aber die Königin von England unter den Hammer bringt, welchen wunderbaren Bazar voll der heterogensten Waaren muß sie alsdann besitzen, und, so fragt man mehr noch, wie mag Ihre Majestät zu solch einem ungeheuren Sammelsurium von Roh- und anderen Producten kommen?
Die Antwort auf diese Frage erklärte mir ein mit allen einschlagenden Verhältnissen wohlvertrauter Freund aus der Londoner Handelswelt; sie ist einfach die: Sämmtliche der aufgeführten Artikel sind Waaren, welche das Londoner Hauptzollamt an der Themse wegen Mauthdefraudation oder falscher Declaration oder weil ihre Einführung in England überhaupt verboten ist, im Namen der Königin confiscirt hat oder die ihm auch wohl von den Eigenthümern freiwillig überlassen worden sind und die nun, wie der amtliche Redestil lautet, von „Ihrer Majestät“ verauctionirt werden.
Die britische Mauth, ward ich weiter belehrt, ist eine sehr gestrenge Dame und zugleich das System der verschiedenen Eingangszölle – denn nur diese komme hier in Betracht – ein gar complicirtes. Die von China einlaufenden Theeschiffe, jene famosen Klipper, welche so pfeilgeschwind die Meere durchfurchen, die Schiffe mit Bauholz aus Norwegen und Nordamerika und wenige andere ausgenommen, besteht, wie man sich denken kann, die Ladung eines Fahrzeuges in der Regel aus mehr als einer Waaren- oder Productengattung. Unterliegen diese sämmtlich dem Zoll oder gar dem gleicheb Zoll, so ist die Procedur natürlich eine sehr einfache. Dies ist indessen gewöhnlich nicht der Fall, und es geschieht darum nur zu häufig, daß die verzollbaren oder die Gegenstände, für welche ein höherer Zoll zu entrichten ist, auf die schlaueste und ingeniöseste Weise in die mit steuerfreien oder niedriger besteuerten Artikeln gefüllten Tonnen, Kisten, Ballen, Körbe, Packen, Flaschen etc. mit verpackt werden, so daß die Ladung äußerlich einen höchst unschuldigen Charakter trägt. Allein die englischen Zöllner sind geriebene Gesellen, auch nicht, wie in gewissen anderen Ländern, vermöge der gehörigen Dosis von Rubeln oder Gulden blind und taub zu machen, und wenn namentlich durch irgendwelchen Umstand ihr Verdacht schon rege ist, alsdann geht die allerpeinlichste Untersuchung des Schiffes vor sich und
[283] das Resultat derselben pflegt selten zweifelhaft zu bleiben. Auf jedes Faß, jedes Paket, jede Kiste, deren Füllung sich nicht völlig zollcorrect erweist, wird ohne Gnade und Barmherzigkeit Beschlag gelegt und der Defraudant obendrein häufig noch zu einer erklecklichen Strafzahlung verurtheilt.
Bei Waaren, die ad valorem, nach einem bestimmten Procentsatze ihres Werthes, zu verzollen sind, sucht man, wie anderwärts, die Behörden wohl dadurch zu hintergehen, daß man die eingeführten Artikel niedriger declarirt, als ihr factischer Werth beträgt. Auch hierbei aber läßt sich der englische Zollbeamte nicht leicht hinter das Licht führen. Sobald ihm seine Praxis sagt, daß die Artikel in den Ausweisdocumenten geflissentlich unterschätzt sind, nimmt er den Defraudanten sofort beim Worte seiner Papiere und fängt ihn so in seiner eigenen Schlinge, das heißt er kauft, wiederum „im Namen Ihrer Majestät“, die Waare zu dem declarirten Preise. Der ertappte und nun selbst am meisten betrogene Betrüger darf gegen einen solchen Kauf keinerlei Einwendungen erheben; das Gesetz zwingt ihn vielmehr, die Waare nach dem angegebenen Werthe zu veräußern und überdies noch den Zoll und die erwachsenen Kosten zu bezahlen. Wollte er sich weigern, die Ladung abzutreten, so würde sie ihm ohne Weiteres confiscirt, und ihm bliebe nichts als das leere Nachsehen, möglicher Weise auch noch die Erlegung einer empfindlichen Geldbuße.
Ferner kommt es dann und wann vor, daß dem Zollamte einlaufende Güter freiwillig überlassen werden. Dies klingt seltsam, beruht aber doch auf guten Gründen. Es sind dies nämlich Artikel, die im Verhältnisse zu ihrem Werthe mit sehr hohen Zöllen belegt sind, so daß bei einer allfälligen ungünstigen Conjunctur für die fragliche Waare, die ein Steigen des Preises vor der Hand nicht erwarten läßt, der Besitzer vorzieht, seine Habe ganz und gar preiszugeben, anstatt die verlangte hohe Zollsumme zu entrichten. Endlich fallen in unsere Kategorie noch jene hunderterlei Kleinigkeiten, welche einzelne Passagiere in England einzuschmuggeln suchen, besonders die vom schönen Geschlechte, denen die Lust am Paschen und Schwärzen angeboren zu sein scheint, – französische Handschuhe und Seidenstoffe, Bände der bekannten Tauchnitz-Ausgabe von englischen Schriftstellern (deren Einführung in England unbedingt verpönt ist) und eine Menge anderer Dinge, an welche sich endlich die den Schmugglern von Profession abgenommenen Tonnen und Fässer reihen; es sind meist Weine und Spirituosen, mit denen sich diese verwegenen Burschen befassen, welche, obschon lange nicht mehr im früheren Umfange, doch noch immer an den englischen Küsten ihr Unwesen treiben.
Natürlich kann Ihre Majestät von England das sich bald massenhaft an- und aufhäufende Durcheinander nicht selbst verbrauchen, auch nicht aufbewahren, und deshalb geruht sie, von Zeit zu Zeit es in Mincing Lane an ihre getreuen Unterthanen, und wer sonst Gelüste danach trägt, gegen baare Casse versteigern zu lassen. Verschiedenartig wie die Waaren, die hier an die Meistbietenden losgeschlagen werden, eben so verschieden ist auch das sich zu den Auctionen einfindende Publicum; jeder Artikel hat nicht nur seinen bestimmten Abnehmerkreis, sondern auch seine bestimmten Mäkler, die überhaupt die Hauptmatadore in Mincing Lane sind.
Dies Alles erfuhr ich von dem erwähnten Geschäftsmanne, den ich gern auf seinem Berufswege nach der angekündigten Versteigerung begleitete, um durch eigene Anschauung ein Bild von derselben und dem dort herrschenden mercantilen Treiben zu gewinnen.
Wir hatten eine weite Omnibusfahrt nach unserem Ziele, das, unweit der Themse, so ziemlich am Südostende der City liegt. Eine völlig unscheinbare Gasse mit nur sechszig monotonen rauchgeschwärzten Häusern ohne jedweden architektonischen Schmuck, ohne Verkaufsläden und ähnliche Ruhepunkte für das in dem einförmigen Mauergrau trostlos umhersuchende Auge, hat Mincing Lane doch eine bis in die fernsten Erdteile und Zonen reichende commercielle Bedeutung. Es ist der Mittelpunkt des Londoner Colonialwaarenhandels, was mit anderen Worten besagt, der Sitz des größten Colonialwaarengeschäfts der Welt, das Land, wo der Pfeffer zwar nicht wächst, aber wo der meiste Pfeffer auf dieser Erde zu holen ist, das leibhaftige Eldorado, wie es unseren süßen Jünglingen, die in Kaffee und Zucker machen, in seligen Träumen vorschweben mag. In jedem Hause der engen Gasse haben Kaufleute und Mäkler ihre Bureaux aufgeschlagen, in manchem Gebäude giebt es so viele einzelne Comptoirs wie Zimmer überhaupt, so daß mehr als dreihundertsechszig Firmen in der trübseligen, dicken, qualmigen Atmosphäre von Mincing Lane ihr Lebenselement finden. Und was bedeutet die Mehrzahl dieser Firmen! Es sind Firmen von Weltrang, Handelsfürsten, in Asien und Amerika so wohl renommirt und accreditirt wie in London und Europa, Firmen, bei deren bloßen Namen der Kaufmann ehrfurchtsvoll den Hut zieht, Häuser, denen Jahr aus Jahr ein Million auf Million durch die Bücher und Hände und zum Theil in die Taschen läuft. Da finden wir die großen Theehändler, die Oportokaufleute, welche lediglich dem Portwein ihre Thätigkeit widmen, die Sprit-, die Baumwoll-, die Indigo-, die Reishändler, die Westindienkaufleute und noch manche andere Specialisten, die nach dem Grundsatze der Arbeitstheilung ihre Kräfte und Mittel auf einen einzigen Geschäftszweig concentriren.
Man war schon im besten Zuge, als wir eintraten, die Versammlung zeigte jedoch jenen gemessen feierlichen Charakter, der bis zu einem gewissen Grade allen öffentlichen englischen Verhandlungen und Zusammenkünften eigenthümlich ist. Wie im Unterhause hatte zwar Jedermann den Hut auf dem Kopfe, aber die Hüte waren Cylinder und spiegelblank gebürstet; ich glaube, ich war die einzige Person, die, in deutscher Bequemlichkeit, den geweihten Raum mit einem grauen Reisefilze zu betreten wagte. Ueber alle die schwarzen Angströhren ragte der Auctionator auf seinem mitten im Saale aufgebauten hohen Katheder empor, ein echter John Bull mit rothem Sherry- und Beefsteakgesicht, und um ihn standen in dichtem Haufen, die Brieftaschen in der Hand, „die Großen der Krone“, die Makler, ohne deren Vermittelung in Mincing Lane selten ein Handel zu Stande kommt. In den Auctionen Ihrer Majestät sind sie die unumschränkten Gebieter und Macher, die eigentlichen Kunden. Sie haben schon draußen auf den Schiffen, im Zollhause, in den Londoner Docks, in Lagerkellern die zu versteigernden Waaren in Augenschein genommen, von denen man hier im Verkaufslocale selbst kein Stäubchen und kein Körnchen zu Gesicht bekommt, und für jeden einzelnen Posten bereits den bestimmten Käufer in petto. So nimmt das Geschäft einen außerordentlich schnellen Verlauf, und ehe man sich noch in den fremdartigen Umgebungen, in dem Stimmen- und Zahlengewirr und über die wundersamen Ankündigungen und Ausrufe des dicken Auctionators nur einigermaßen orientirt hat, leert sich plötzlich der Saal und man erfährt zu seinem Erstaunen, daß das ganze bunte Waarenconglomerat an den Mann gebracht und bezahlt ist.
Selten kam ein einzelner Artikel unter den Hammer; meist hatte man mehrere Waaren zu Loosen oder Partieen – lots – vereinigt und schlug diese Collectionen nur ungetrennt los. Nach welchem Princip und System aber diese oft überaus sonderbar zusammengestellten Loose gruppirt waren, das weiß vielleicht Gott Mercur allein.
„78 Probeflaschen, 3 Gallonen Rothwein mit 11/26; 21 Nöselflaschen, 19/12 Gallonen Weißwein mit 11/26!“ proclamirte John Bull von seinem Throne herab. Das war mir Chinesisch.
„Um des Himmelswillen,“ wandte ich mich an meinen Freund, „was bedeutet dieses Wischi-Waschi? Sagen Sie mir wenigstens, was wollen die Sechsundzwanzigstel hinterdrein besagen?“
„Das Letztere kann ich Ihnen erklären,“ lautete die Antwort. „Zu den Brüchen müssen Sie sich noch das Wort ‚Ullages‘ hinzudenken; darunter aber versteht man den Inhalt eines Fasses, wenn dieses nicht ganz voll ist. Hier also fehlen 15/26 an der Quantität, welche das Gefäß hätte enthalten sollen. Wie in aller Welt aber die Herren Makler die Differenz auf solche Bruchtheile herausrechnen – darüber muß ich Ihnen den Bescheid schuldig bleiben. Sie wissen, ich mache nicht in Spirituosen, nur in Zucker und Kaffee.“
Noch grübelte ich über dies Theilungsräthsel nach, da ertönte die fette Stimme vom Katheder aufs Neue.
„13 Flaschen Liqueur, 3 Flaschen Kirschbranntwein und eine Flasche Rum.“
Kein Mensch thut ein Gebot. Der Auctionator wiederholt seinen Spruch, „doch stille bleibt’s wie zuvor“. Endlich ruft aus einem Winkel heraus Jemand: „Einen Schilling!“
Und: „Einen Schilling zum ersten, einen Schilling zum zweiten, einen Schilling zum dritten und letzten Male!“ Der Hammer sinkt nieder und der Glückliche hat für einen Schilling nicht weniger als siebenzehn Flaschen Herzstärkung erbeutet!
[284] „Sind denn Alle zusammen hier mit einem Male toll geworden,“ fragte ich meinen getreuen Mentor, „daß sie sich solch einen Handel entgehen lassen? Siebenzehn Flaschen Spirituosen für die Bagatelle eines Schillings – das ist mehr, als ich fassen kann!“
„Gemach, gemach, lieber Freund,“ entgegnete mein Nachbar. „Hier im Saale weiß Jedermann recht wohl, was er thut, und ich wette, der Ersteher ist irgend ein Neuling und hat trotz seines Schillings ein sehr schlechtes Geschäft gemacht. Jedenfalls muß er auf den Posten den wahrscheinlich hohen Zoll nachzahlen, und vielleicht sind noch mancherlei andere Items dabei.“
Eine andere Proclamation lautete:
„6 Kisten eingezuckerte Orangenschalen; 1 Pfund Zuckerzeug; 2 Körbe Feigen; 20 Pfund Rosinen; eine angebrochene (Ullage) Flasche Weinessig; 17 Pfund parfümirte Seife;“ und die ganze süße wohlriechende Gesellschaft ward um einundzwanzig Schillinge zugeschlagen; wahrscheinlich fehlte auch hierbei das gewisse Häkchen nicht. Auf eine Beschreibung oder gar Anpreisung der zur Versteigerung kommenden Artikel und Posten ließ sich der Hammerschwinger niemals ein. Das ist auch durchaus nicht nöthig; jeder der „Eingeweihten“ hat seinen speciellen Katalog der zu verauctionirenden Waaren in der Hand, und außerdem sind diese letzteren drei Tage lang zu allgemeiner Beschauung ausgestellt gewesen, während, unter gewissen Einschränkungen, Wein und Liqueure sogar gekostet werden durften.
„Eine Kiste und sechs Flaschen Parfümerieartikel; neun Pfund Chocolade; ein Stück Leinwand; ein Stück Baumwollzeug; eine Kaffeetrommel; eine leere Kiste und verschiedenes Spielzeug; zwei Flaschen Medicamente; vier Kisten Stearinkerzen; ein Kasten Malerfarben; ein Paket Blattsilber“ – um wie viel denkt der Leser wohl, daß er sich diesen Grundstock zu einer „Gemischten-Waaren-Handlung“, wie man in Oesterreich sagt, hätte zu Gemüthe führen können? Um baare vierzig Schilling! Hätte ich, jetzt schon hinter die Coulissen blickend, nicht auch hierbei allerhand kleine Aber und hintennach kommende hinkende Boten vermuthet, ich wäre in der That versucht gewesen, das Glück beim Schopfe zu fassen und einen Schilling mehr zu bieten.
Vielleicht noch vortheilhafter erschien ein anderer Kauf, d. h. wenn man zufällig haarkräuslerische Tendenzen hegte. Zweihundertsechsundsiebenzig Flaschen Haaröl, neun Flaschen Haaressenz, zweiundvierzig Pakete Siegellack nebst sechsundzwanzig Pfund Stearinkerzen – dies gesammte „Loos“ war um einige achtzig Schillinge zu haben, die Flasche Haaröl also um etwa drei Pence, und all’ den Siegellack und die Stearinkerzen bekam man drein!
Den Schluß der Versteigerung machten die höchst wahrscheinlich unglücklich schmuggelnden Herren und Damen mitleidslos abgenommenen „Privateffecten“, und mit einem Male bot die Versammlung einen total veränderten Anblick dar. Das ganze handelnde Alte Testament aus Whitechapel und Bishopsgatestreet, aus Houndsditch und Hollywellstreet schien urplötzlich in den Saal geströmt zu sein, und Abraham und Isaak, Jakob und Moses, Aaron und Nathan, Benjamin und Salomon striten sich tapfer um die Partie von „einer Kiste mit verschiedenen Kleidungsstücken, Büchern, Hemden, Stiefeln und ähnlichen Effecten“.
„Da haben Sie nun gesehen,“ sprach mein Freund, der, [285] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
beiläufig, sich selbst ein hübsches Pöstchen Domingokaffee gesichert hatte, „wie Ihre Majestät unsere allergnädigste Königin von Zeit zu Zeit ihren Bazar auskehrt. Aber jetzt kommen Sie,“ setzte er hinzu, indem er seinen Arm unter den meinigen schob; „wir haben nicht allzu weit nach Leadenhall-Street, dort im ‚Ship und Turtle‘ wird Ihnen ein Teller echter Schildkrötensuppe, wie sie in gleicher Vollkommenheit nirgends anderswo auf dieser Erde zu haben ist, nach Ihren kaufmännischen Studien vortrefflich munden.“
Vor zwanzig bis dreißig Jahren hieß Preußen vorzugsweise das Land der Schulen und Casernen, indem es seine Macht hauptsächlich auf seine Bureaukratie und sein Militär stützte. In neuerer Zeit ist jedoch ein neues kräftiges Element hinzugetreten, das mit wunderbarer Schnelligkeit sich entwickelt und den Nationalwohlstand zu einer nie geahnten Höhe gebracht hat – die Industrie. Ihr verdankt vor Allem Berlin den großartigen Aufschwung und seine überraschende Entwicklung zur Weltstadt. Wo sonst öde Sandflächen uns entgegenstarrten, erheben sich jetzt Paläste der Industrie, mächtige Fabrikanlagen, riesige Etablissements, wo Tausende von Arbeitern vom frühen Morgen bis zum späten Abend die fleißigen Hände rühren und ein glänzendes Zeugniß für die Ausdauer, die Intelligenz und Tüchtigkeit des Berliner Bürgerthums ablegen. Hauptsächlich durch die Industrie hat sich die Einwohnerzahl in den letzten fünfundzwanzig Jahren mehr als verdoppelt, ist das Vermögen der Residenz um das Vierfache bis Sechsfache seines früheren Umfangs gestiegen. Mit dem wachsenden Capital geht ein entsprechender Unternehmungsgeist Hand in Hand, der fortwährend neue staunenswerthe Schöpfungen in’s Leben ruft.
Durch das Zusammenwirken aller dieser Kräfte gewinnt die Physiognomie der Stadt mit jedem Tage ein verändertes Aussehen. Ganze Straßen und Stadttheile sind neu erstanden und eine Reihe von Passagen, Prachtbauten und ähnlichen zweckmäßigen und gemeinnützigen Anlagen sind in Angriff genommen oder stehen in naher Aussicht.
Zu den hervorragendsten Unternehmungen auf diesem Gebiete zählt das großartige Industrie-Gebäude des Herrn Hermann Geber in der Commandantenstraße, dem das Verdienst gebührt, die Residenz durch eine eben so nützliche wie schöne Anlage bereichert und geschmückt zu haben. Noch vor zwei Jahren stand an derselben Stelle die verlassene Caserne des Kaiser-Franz-Regiments, welche der Kaufmann Levinstein von dem Militär-Fiscus erstanden hatte. Durch seinen Tod wurde die Uebernahme des Grundstücks verhindert, bis am 17. September 1868 Herr Geber in dem angesetzten Licitations-Termine die Caserne an sich brachte und mit 182,500 Thalern bezahlte.
[286] Die Uebergabe erfolgte am 24. December, und schon am 1. Januar 1869 reichte der Käufer seine Pläne zum Umbau des Erdgeschosses ein, das in eine Reihe von Verkaufsläden umgeschaffen werden sollte. Nachdem das Polizei-Präsidium seine Genehmigung ertheilt, wurde sofort der Bau mit sechshundert Arbeitern mitten im Winter in Angriff genommen und trotz der ungünstigen Witterung mit solcher Energie betrieben, daß bereits am 1. April 1869 die neunundzwanzig Läden ihren Miethern übergeben und eröffnet wurden. Selbstverständlich konnte dieses Resultat nur dadurch erreicht werden, daß auch die Nächte mit zu Hülfe genommen wurden, was einen kolossalen Gasconsum erforderte.
Bei seinem ganzen Unternehmen verfolgte Herr Geber das Princip, ausschließlich nur Geschäftsräume für die Industrie zu schaffen. Die von ihm erbauten Läden zeichnen sich besonders dadurch aus, daß hier zum ersten Male die sämmtlichen Schaufenstertheile vollständig aus Schmiedeeisen gearbeitet sind. Jeder Laden ist mit einer eleganten Laterne versehen; die dadurch erzielte Beleuchtung giebt den Pariser Boulevards in dieser Beziehung wenig oder gar nichts nach. Die Firmen der Geschäftsinhaber sind sämmtlich auf Glas geschrieben und werden diese sowohl wie die Schaufenster selbst durch eine oberhalb der letztern angebrachte sogenannte Coulissenbeleuchtung gleichmäßig erhellt, deren ganz neue Construction zum ersten Male in dem Industrie-Gebäude zur Anwendung gebracht worden ist. Außerdem ist mit jedem Laden eine nach dem Hofe gelegene Mansardenstube und Küche verbunden; wofür im Ganzen der für die Berliner Verhältnisse nur mäßige Preis von fünfhundert Thalern gezahlt wird.
Nachdem in dieser Weise das Erdgeschoß der früheren Caserne in einen großartigen Bazar umgewandelt worden war, schritt Herr Geber zur gänzlichen Umgestaltung der übrigen Räume, aus denen er eine Reihe der großartigsten Etablissements für die verschiedenen Zweige der Industrie und Kunst schuf.
Das Vordergebäude, welches das längste in Berlin ist, hat eine Front von vierhundert Fuß, ist im Stile der „Venetianischen Bibliothek“ gebaut und zeichnet sich durch seine sechs Fuß hohe, gänzlich in Thon ausgeführte, höchst geschmackvolle Attika aus. Zwei mächtige Portale, mit Gruppen von der Hand des Bildhauers Julius Moser verziert, führen in das Innere. Hier befinden sich in dem ersten Stockwerke die Bureaux mehrerer größerer Geschäfte und eine Möbelhandlung, die den größten Saal Berlins in einer Ausdehnung von zweihundert Fuß für ihre Zwecke besitzt.
Ein besonderes Interesse gewähren die Räume, welche der Verein Berliner Künstler gemiethet hat und die theils zur Ausstellung der gelieferten Kunstwerke, theils zu Berathungen und abendlichen Versammlungen dienen. Die sechszehn Fuß hohe Bildergallerie mit ihrem günstigen Oberlichte bietet Malern und Bildhauern die gewiß höchst willkommene Gelegenheit, ihre neuesten Schöpfungen zur Kenntniß des Publicums zu bringen, dem der Eintritt gegen ein Entrée von fünf Silbergroschen gestattet ist. Wir finden hier Bilder von den ersten Meistern, Richter’s entzückende „Odaliske“, den reizenden „Katzentisch“ mit seinen köstlichen Kindergruppen von dem genialen Knaus und das große Gemälde der „Schlacht bei Königgrätz“ von Bleibtreu, das, man mag über seinen Gegenstand denken, wie man will, schon als Kunstwerk eine Stelle in der zukünftigen National-Gallerie verdient.
Daran schließt sich die sogenannte Künstlerkneipe, das Billardzimmer und der Versammlungssaal mit ihren charakteristischen Verzierungen, den Portraits der Mitglieder und allegorischen Fresken, womit die Wände geschmückt sind. Hier erblicken wir die Bilder jüngerer Maler, wie Gustav Richter, Becker, Scholz, Eduard Hildebrandt etc., während im Versammlungssaale die alten Meister eine würdige Stelle gefunden haben. Unter den Letzteren sind besonders bemerkenswerth der alte Schadow, von Steffeck’s Meisterhand gemalt, ferner Hans Holbein von Heyden, denen sich Peter Vischer, Albrecht Dürer, sowie von Steinbach und Andreas Schlüter, Preußens Michel Angelo, anreihen.
In den Fresken von Goetz, Wiesniewcki, Brausewetter, Heyden, Burger, Gustav Spangenberg etc. offenbart sich der Künstlerhumor in köstlichen Trinkscenen, zu denen Rudolf Löwenstein die poetischem Erläuterungen in reizenden Versen giebt. Allwöchentlich versammeln sich hier die Mitglieder des Vereins zu ernsten Berathungen über ihre Interessen, denen die heitere Unterhaltung in der Kneipe und im Billardzimmer folgt. Aus der ganzen Einrichtung, den geschnitzten Stühlen und Eichentischen, den Bildern und Fresken weht uns ein frischer, echt künstlerischer Geist entgegen, der gleichsam dem sonst ausschließlich der Industrie und dem Handel gewidmeten Gebäude eine höhere Weihe verleiht.
Noch von diesem Eindruck erfüllt, verlassen wir das Vordergebäude und begeben uns in das Hintergebäude Nummer Eins, wo sich die Gratweil’sche Bierhalle befindet, zu deren Herstellung das Parterre und die erste Etage der alten Caserne benutzt wurden. Gegenwärtig das größte Bierlocal Berlins, kann allein der Hauptsaal bequem zweitausend Personen fassen. Derselbe ist hundertsechsundfünfzig Fuß lang, nach dem Muster des Sängersaals auf der Wartburg gearbeitet, die Decke von Holz geschmackvoll geschnitzt, die Spitzbögen mit sinnreichen Bildern von Ludwig Burger verziert, auf denen man alle Stadien des Trinkers bis zum unausbleiblichen erbarmungswürdigen Katzenjammer bewundern kann. Einen besonders interessanten Anblick gewährt die Bierhalle des Abends, wo sie durch dreizehn Gaskronen erhellt wird. An Hunderten von Tischen sitzen die Gäste, Kopf an Kopf gedrängt, und genießen den köstlichen Gerstensaft, der sich unter den Biertrinkern Berlins eines wohlverdienten Rufes erfreut.
An die Bierhalle stößt der Billardsaal, in dem zu gleicher Zeit auf acht Billards vom frühen Morgen bis zwei Uhr des Nachts gespielt werden kann. Die eigenthümliche Beleuchtung ist dem bekannten Jockey-Club in Paris entlehnt, zu welchem Zweck Herr Geber an Ort und Stelle seine Studien gemacht hat. Ein dritter Saal für ungefähr zweihundert Personen, mit Logen versehen, wird bei Ueberfüllung der Bierhalle benutzt und dient außerdem für kleinere geschlossene Gesellschaften. Schwerlich wird man in dem geschmackvollen Local den früheren wüsten Casernenboden wieder erkennen. Ueber dem ganzen Hintergebäude und dem Gratweil’schen Saal befindet sich die große Posamentierwaarenfabrik von W. und G. Keßler. Diese nimmt zwei Etagen ein, von denen die obere in Form eines hängenden Bodens umgebaut und durch Ober- und Seitenlicht erhellt wird. Der fast zweihundert Fuß lange Raum enthält eine Dampfmaschine, von deren Thätigkeit die in der Bierhalle sitzenden Gäste keine Ahnung haben, während dieselbe bei Tag und Nacht unablässig über ihren Köpfen arbeitet.
Ueber den dreihundertfünfzig Fuß langen Hof gelangen wir in das Hintergebäude Nr. 2, das ausschließlich für Fabriken und Werkstätten eingerichtet ist. Zwei Thürme im Renaissance-Styl dienen zur Verbindung zwischen den vorderen und hinteren Gebäuden. Alle Localitäten sind mit Doppellicht, Gas- und Wasserleitung versehen. In allen Räumen herrscht eine rege Thätigkeit und der Beschauer kann sich hier einen Einblick in die Berliner Industrie mit der größten Bequemlichkeit verschaffen. Unter einem und demselben Dache finden wir eine bedeutende Nähmaschinenfabrik, eine lithographische Anstalt, zwei renommirte Buchdruckereien, eine große Billardfabrik, mehrere Speditionsgeschäfte, eine große Pianofortefabrik, einen Auctionssaal, eine Wollengarnfabrik etc. Kaum dürfte manche größere Provinzialstadt so viele und großartige Etablissements aufzuweisen haben wie dies einzige Gebäude.
Der Hof selbst ist von beiden Seiten mit Laternen beleuchtet und wird in nächster Zeit durch zweckmäßige Anlagen in einen Sommergarten verwandelt werden, dessen schönste Zierde eine Orangerie und drei große Fontainen bilden sollen. Ein kleinerer Hof ist für den Verein der Berliner Künstler zu demselben Zweck bestimmt, während die in dem dritten Hof gelegenen Ställe, Remisen und sonstigen Gebäude für die neu anzulegende Centralstraße benutzt werden. Zu diesem Zweck ist auch das Hintergebäude Nr. 2, das an den dritten Hof stößt, so angelegt, daß sein Parterregeschoß innerhalb vier Wochen in eine dreihundertfünfzig Fuß lange Ladenfront umgeschaffen werden kann. Eine Actiengesellschaft beabsichtigt nämlich, eine neue Straße zu bauen, die, vom Spittelmarkt ausgehend, das jetzige Gertrauden-Hospital durchschneidend, nach der Commandantenstraße führen und in der Nähe der Neuen-Grünstraße auf einen freien, einhundertzwanzig Fuß breiten Platz ausmünden wird. Letzterer selbst soll, mit geschmackvollen Anlagen und einer großen Fontaine versehen, der Stadt zum Schmuck gereichen. Die projectirte Straße aber soll durchgängig im Renaissance-Styl erbaut, mit Asphalt gepflastert und glänzend erleuchtet werden.
Alle Gebäude der neuen Straße werden nach dem Plane so angelegt, daß sie im Parterregeschoß Verkaufsläden, in den Hofräumlichkeiten sonstige Geschäftslocalitäten enthalten. Sämmtliche [287] Wohnungen werden mit Erker versehen und wird besonders auf zweckmäßige Beleuchtung Rücksicht genommen werden. Zu diesem Behufe soll jedes der zu errichtenden Häuser im zweiten Hofe so placirt werden, daß es inmitten desselben zu stehen kommt, so daß zwei und respective drei Höfe für jedes Gebäude entstehen und folgerecht die in den zwei Höfen gelegenen Hintergebäude bis zur vierten Etage Doppellicht erhalten. Die Räumlichkeiten werden wieder zu Ateliers, Werkstätten und Fabriken vermiethet. Ein besonderer Vortheil dieser von Herrn Geber selbst angegebenen Bauart ist noch der, daß die sämmtlichen Corridore des Vorderhauses ihr Licht von dem zweiten und dritten Hofe empfangen, so daß die berüchtigten finsteren Berliner Stuben und Corridore in den Häusern der neuen Straße künftig fortfallen.
So ist es Herrn Geber durch seine bewunderungswürdige Energie gelungen, nicht nur das neue Industriegebäude, sondern eine ganze Straße zu schaffen, deren Ausführung so gut wie gesichert ist und schon in kurzer Zeit bevorsteht. Wo sonst eine alte verfallene Caserne stand, erhebt sich jetzt ein glänzender Palast, in dem der Gewerbfleiß und die Kunst Berlins täglich neue Triumphe feiert; wo in diesem Augenblick noch Höfe und nur zum Abbruch taugliche Remisen und Ställe stehen, wird bald ein neuer glänzender Stadttheil emporblühen.
(Fortsetzung.)
Ein langer banger Tag war über das Haus der Salten hingezogen. Es war Feldheim gelungen, Alfred in Unwissenheit über den Tod seines Vaters zu erhalten; doch von Stunde zu Stunde wuchs seine Unruhe, und je länger er ausblieb, desto mißtrauischer wurde er selbst gegen seinen Lehrer. Er war auf dessen Wunsch zu Bett geblieben und hatte fest gehofft, daß sein Vater, der angeblich nach Zürich gefahren war, wiederkäme; doch als es Abend wurde und der Erwartete noch immer ausblieb, da bemächtigte sich seiner eine unsägliche Angst. Er schärfte sein Gehör und lauschte auf jedes Geräusch – und er vernahm gar seltsame Dinge. Immer war es ihm, als höre er über sich schluchzen, Thüren auf- und zumachen, gehen und kommen. Die Tanten waren auch den ganzen Tag nicht bei ihm gewesen – der Candidat hatte es ihm zwar damit erklärt, daß sie ihm zürnten wegen seines Benehmens gegen seine Mutter, aber es war doch Alles so sonderbar! – Die Letztere hatte drei Mal bei ihm Einlaß begehrt, er hatte es geweigert und ward dabei von Feldheim unterstützt. Jetzt wünschte er, daß seine Mutter käme, weil er hoffte, von ihr zu erfahren, was ihm Feldheim verschwieg. Immer dunkler ward es und immer lauter schlug Alfred’s Herz. Er hätte aufschreien mögen nach seinem Vater, aber er schwieg, denn er fühlte, daß nichts den Lehrer vermöchte, die bleichen Lippen zu öffnen.
Da ertönten schwere dumpfe Tritte im Hausgange. Der Knabe horchte. Feldheim ward unruhig und fing gegen seine Gewohnheit laut zu sprechen an; Alfred fühlte, daß er das Geräusch von draußen übertönen wollte, und lauschte um so schärfer. Man schien etwas zu bringen; es waren die gleichmäßigen schwerfälligen Schritte von Leuten, die zusammen einen Gegenstand trugen. Es mußte ein großer ungefügiger Gegenstand sein, denn sie stießen mehrmals damit an, er hörte es ganz deutlich. Was konnte denn das sein? Jetzt stiegen sie die Treppe hinauf damit – sie schleppten es in seiner Mutter Zimmer und setzten es hart auf den Boden nieder, daß die Decke zitterte. Und jetzt gab es wieder ein Hin- und Hergehen da oben und zwischendurch jenes seltsame Stöhnen und Schluchzen vieler gedämpfter Stimmen, das ihn den ganzen Tag verfolgte. Es war kein Zweifel, da oben geschah etwas Schreckliches!
Alfred ward seiner Angst nicht mehr Meister; ein Entschluß keimte in ihm. Er machte die Augen zu und stellte sich schlafend.
Da klopfte es an die Thür, die nach des Freiherrn Zimmer führte, Feldheim ging rasch nachzusehen, es war Adelheid. „Herr Feldheim,“ flüsterte sie, „der Sarg ist gekommen, ich habe die Leiche mit diesen meinen Händen hineinlegen helfen, ich habe gelitten und gebüßt, wie ein Mensch büßen kann – lassen Sie mich aber jetzt zu meinem Kinde!“
Feldheim schob sie sanft zurück und trat zu ihr hinaus, die Thür leise nach sich ziehend.
„Er schläft, gönnen Sie ihm die Ruhe, wenigstens heute noch.“
„Sie sind grausam!“ flüsterte Adelheid. „Sie allein haben Einfluß auf meinen Sohn, Sie allein können ihn mir wiedergeben und Sie thun es nicht – das ist nicht im Sinne des Todten gehandelt, denn die Zeilen, welche Sie mir von ihm übergaben, athmen Milde und Barmherzigkeit. O, er hat mich gekannt – er wußte, daß ich von nun an das beklagenswertheste Geschöpf sein werde, und ihn jammerte meine Reue – er konnte mir verzeihen – und Sie können es nicht – Sie –!“ Adelheid hielt inne und schlug sich mit der kleinen Hand vor die Stirn.
Feldheim schüttelte das Haupt und schwieg.
„Aber Sie sollen mir noch Gerechtigkeit widerfahren lassen – Sie sollen und werden!“ fuhr Adelheid immer leidenschaftlicher fort. „Sie haben kein Recht zu der mitleidigen Verachtung, mit der Sie so stolz auf mich niedersehen, denn Sie hätten mich retten können, wenn Sie gewollt – und Sie ließen mich fallen!“
Feldheim zuckte zusammen.
„Ja, hören Sie es nur, ich spreche mit Ihnen wie ein abgeschiedener Geist mit dem andern, Sie werden mir glauben, daß nach all’ dem Gräßlichen, was heute über mich hereinbrach, kein irdischer Wunsch mehr meine Seele belastet. Die Hand des Herrn hat mich erfaßt und abgestreift, was sündhaft an mir war. Ich habe mich selbst erkannt und habe all’ mein Thun verworfen. Eines nur, Eines war in mir, was ich nicht verwerfen kann – mögen Sie es nun glauben oder nicht – Eines, was wahr und heilig war, Eines, um dessen willen ich – wie stolz es auch klinge, Vergebung hoffe von Gott – die Liebe zu Ihnen!“
Feldheim trat einen Schritt zurück. Sie fuhr fort: „Daß ich mit dieser Liebe im Herzen irren konnte, das ist das Nichtswürdigste – ich weiß es wohl – und giebt mich doppelter Verachtung preis. Ich kann es nicht versuchen mich zu entschuldigen, Sie können es nicht verzeihen, und dennoch – Gott, der in mein Herz sah, in dies arme, schwache, liebebedürftige Herz – Gott weiß es, wie ich Sie geliebt!“
Sie stürzte vor ihm nieder und bog die erglühende Stirn zur Erde. Feldheim verhüllte das Gesicht.
„O, ich bin ein schwächlich Weib, ich fürchte den Schmerz, ich habe keinen Muth, keine Geduld ihn zu ertragen – und der Schmerz um Sie zerriß mein Herz – ich wollte ihn betäuben! – Ich bin ein eitles Weib – ich konnte es nicht ertragen verschmäht zu sein – ich wollte mich in’s Geheim an Ihnen rächen. Ich hoffte Sie vergessen zu können, ach! und was ich begann, war umsonst. Ich wollte Feuer mit Oel löschen – und verbrannte uns Alle!“
„Gnädige Frau, ich bitte Sie,“ rief Feldheim erschüttert, „wozu das Alles?“
„O, lassen Sie mich!“ flehte das schöne Weib. „Was will ich denn? Ich will ja nichts als Buße, nichts als Vergebung. Ihre Kniee will ich umklammern, Ihre Hände küssen, bis Sie mir verziehen haben, und dann sterben!“
Da bog sich Feldheim herab und hob die zuckende weiche Gestalt auf in seinen starken Armen und nahm sie an sein Herz. Es war ein unbeschreiblicher Augenblick, wo die Rinde um dieses große Mannesherz schmolz und die Wogen machtvoll dahin strömten. „Weib,“ flüsterte er; „unseliges Weib, solch eine Größe wohnt in Dir und dennoch konntest Du so klein sein! O, hätte ich Dich früher erkannt, Alles wäre besser. Denn auch ich, auch ich habe gefehlt!“ Sie sah ihn fragend an, er neigte seine Lippen ihrem Ohr und flüsterte ihr leise zu. Seine Rede quoll ihm aus der Seele, wie der Lavastrom in’s Thal hernieder fließt: „Ich habe gefehlt, denn ich habe Dich geliebt und begehrt und habe Dich von mir [288] gestoßen aus Feigheit, weil ich die Kraft nicht in mir fühlte Dir zu widerstehen, sobald Du mir nahe trätest. Ich war nicht stark, nur hart; die Stärke ist milde, die Schwäche verbirgt sich in der Härte wie im einem Panzer. Ich habe Dich beleidigt, wie nie ein Weib beleidigt ward, um Dich von mir zu verjagen und mir die Versuchung zu ersparen, der ich nicht gewachsen war! Du aber, Du verstandest mich nicht, und in die mir geöffneten Arme sank – ein Anderer! Hätte ich diese offenen Arme, statt sie von mir zu stoßen – nicht um meinen Hals geschlungen – aber liebevoll gehalten – wie man einem Kinde, das in’s Feuer greifen will, die Hände hält, keinem Andern, das weiß ich jetzt, hätten sie sich ferner aufgethan. Das war meine große Schuld.“
„O mein Gott!“ stöhnte Adelheid und netzte mit ihren Thränen die Brust, an der sie lehnte, und ihre Lippen drückten einen leisen Kuß darauf, kaum fühlbar und doch sengend bis in’s Herz hinein.
„Sieh,“ fuhr Feldheim fort, „jetzt bin ich wahr, denn keine Pflicht bindet mir mehr die Zunge – Du bist frei – und wenn der Verklärte auf uns niederblickt und Abgeschiedene noch weinen können, so wird er uns beweinen wie wir ihn, denn wir sind namenlos elend!“
„Namenlos!“ wiederholte Adelheid fast zusammenbrechend.
Er hielt sie aufrecht in seinen Armen. „Ja,“ sprach er, „ich habe nach Dir gedürstet mit allen Kräften meiner Mannesseele. Ich habe meine ganze Laufbahn zum Opfer gebracht, um in Deiner Nähe zu leben und Dein Kind zu erziehen, und ich forderte doch keinen andern Lohn als Deinen süßen Anblick! Nun sage, wer hat Dich mehr geliebt – er oder ich?“
Sie klammerte sich an ihn und vermochte nicht zu antworten.
„O Helione, Helione – Du bist herabgestürzt aus Deiner Höhe, ich aber will bei Dir aushalten und Dich aufrichten, arme Zerschmetterte, denn – warum soll ich es nicht sagen? – wir können uns einander nach Dem, was geschehen, nicht mehr angehören; ich aber kann nicht aufhören Dich zu lieben. Nie, nie wird ein anderes Weib an dieser Brust ruhen, die meine untergehende Sonne geküßt. Und nie werden diese Lippen mehr einen andern Mund berühren, die jetzt den ersten und letzten Kuß auf die Stirn drücken.“
Er bog sich zu ihr nieder, und ihr war, als müsse dieser Kuß auf ihrer Stirn wie eine Oriflamme emporlodern.
„Tödte mich!“ sagte sie mit bebender Stimme, „tödte mich! Wie kann ich leben nach dem Ende dieses Augenblicks?“
„O dürft’ ich Dich tödten und mich mit Dir!“ seufzte Feldheim auf, und sein nerviger Arm preßte die süße Gestalt mit der ganzen Macht seines Schmerzes an sich – der Athem verging ihr und sie glaubte – sie hoffte – zu ersticken. Regungslos, lautlos hielt sie aus in der tödtlichen Umarmung, denn solch ein Ende war ja Seligkeit.
Da ertönte ein Schrei von oben herab, ein Weheschrei, als hätte der Schmerz in den beiden stummen Herzen wider ihren Willen Gestalt gewonnen und irre nun losgelöst als Klageruf durch das stille Trauerhaus, und sie sahen sich entsetzt an: „Was war das?“
Noch einmal wiederholte sich der schreckliche Ton. „Das ist Alfred!“ Mit Gedankenschnelle flogen die Beiden die Treppe hinan, die Thür zu Adelheid’s Zimmer war offen – Alfred lag neben dem offenen Sarg am Boden. Die Schwestern standen rathlos dabei. Noch einen Schrei stieß er aus, als seine Mutter ihm nahte, in dem sich Abscheu und Schmerz vereinigten, dann streckte er sich und blieb mit erstarrten Gliedern liegen wie ein Todter.
„Das ist Ihr Werk, Herr Candidat,“ rief Wika „Sie haben den Knaben schlecht genug gehütet, wenn er Zeit fand, sich hier herauf zu schleichen!“
Feldheim hörte nicht auf diese Worte. Er bog sich nieder und hob das Kind mit zitternden Händen behutsam auf, als sei es von einem Thurm herabgestürzt und jedes Glied an ihm zerschlagen. Und es war ja auch zerschlagen, das Leben, das er so treu gepflegt; die Frucht jahrelanger Mühe und Geduld vielleicht mit Eins vernichtet! Still trug er den Knaben hinab und legte ihn in das noch warme Bett.
Adelheid war ihm schüchtern gefolgt. „Das ist meine Schuld,“ sagte sie.
„Nein, die meine!“ sprach Feldheim, und seine dunkeln Augen ruhten mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf Adelheid. Sie kniete bei dem Sohne nieder und rieb ihm Schläfen und Hände. Feldheim ließ sie gewähren und stand am Fußende des Lagers.
Alfred schlug die Augen auf und zuckte zusammen, als er seine Mutter sah. „O, warum weckt Ihr mich!“ schrie er. „Laß mich, Mutter, laß mich! O Vater, Vater, mein lieber Vater!“
„Alfred!“ flehte Adelheid, „Alfred, sei barmherzig gegen Deine Mutter! Feldheim, sprechen Sie für mich!“
Feldheim zog den Brief des Freiherrn an seinen Sohn aus der Brust. „Hier mag ein Höherer reden, lies das, mein Alfred, es ist Deines Vaters Abschiedswort.“
Lange Zeit verging, ehe der Knabe etwas Anderes zu thun vermochte als laut zu weinen und den Brief, auf dem des Vaters Hand geruht, zu herzen und zu küssen.
„Lesen Sie ihn mir vor,“ bat er endlich, „ich sehe nichts!“
Feldheim hatte Licht angezündet und las mit gebrochener Stimme und schwimmenden Augen das heilige Vermächtniß. Sohn und Mutter lauschten mit gefalteten Händen und ihre Herzen flossen über in dem warmen Hauch der Versöhnung, der dem Briefe entströmte.
Alfred hatte die Hand seines Lehrers gefaßt und die Stirn daran gelehnt; so lange er diese Hand hielt, war er geborgen in all seinem Jammer. „An seinem starken Herzen wirst Du Trost finden für den ersten großen Schmerz, der über Dich kommt, armer Verlassener.“ Ja, Alfred fühlte es in der tiefsten Seele, der Todte hatte Recht.
Feldheim las weiter; als er zu der Stelle kam: „Steh’ ihr bei, denn die Reue wird über sie kommen und sie wird nichts haben als Dich!“ da brach Adelheid zusammen. Sie hatte zu viel erlebt und gelitten, ihre Sinne schwanden.
„Adelheid!“ rief Feldheim Alles vergessend und kniete bei der bleichen Frau nieder, ihre sinkende Gestalt zu stützen. „Adelheid! Fassung, Muth!“ flehte er außer sich und strich ihr die Locken aus dem schönen todtenähnlichen Gesicht.
Da klopfte es an die Thür und gleichzeitig ward sie auch geöffnet. Ein Polizeibeamter trat mit zwei „Landjägern“ herein.
„Herr Candidat Feldheim?“
„Der bin ich!“
„Ich habe hier einen Verhaftsbefehl für Sie.“
„Für mich?“ fragte Feldheim betroffen und noch immer die leblose Adelheid in den Armen haltend. „Wessen klagt man mich an?“
„Graf Schorn ist auf seiner Flucht verhaftet worden. Er beschuldigt Sie der Urheberschaft eines Duells und eines Mordversuchs gegen ihn selbst.“
„Ich verstehe,“ sagte Feldheim mit seiner alten Fassung und Würde. „Ich bin bereit, Ihnen zu folgen!“ Er erhob sich und trug Adelheid sanft in das Nebenzimmer auf ein Sopha. „Grüß Deine Mutter von mir, wenn sie erwacht,“ sagte er zurückkehrend zu Alfred und küßte den Knaben. Dieser hatte dem ganzen Vorgange athemlos gelauscht. Jetzt brach sich das Entsetzen erst Bahn über die bleichen Lippen und er klammerte sich in Todesangst an den Lehrer.
„Herr Feldheim, Sie sind unschuldig, Sie haben keinen Mord begangen – lassen Sie sich nicht so fortschleppen wie einen Verbrecher …“
„Ich muß mich dem Gesetz fügen, mein Kind, fasse Dich und trage das Unabänderliche. Laß mich gehen, ehe Deine arme Mutter wieder zu sich kommt, und tröste sie – hörst Du, tröste sie, so gut Du kannst. Ich hoffe, bald wiederzukehren. Lebe wohl!“
„O, ist es denn möglich, daß ich das Alles überleben kann – erst den Vater verloren und nun auch Sie?“ schluchzte Alfred und rang die zitternden Hände. „Lieber Gott, lieber Gott, wie soll ich’s denn überstehen all das Elend, ich armes schwaches Ding, wenn ich auch Sie nicht mehr habe?“
„Du sollst und wirst es überstehen, denn Gott will, daß Du ein Mann werdest aus eigener Kraft – daran denke!“
Der Candidat hatte mit den Häschern das Zimmer verlassen. Alfred war jetzt ganz allein. Wie flüssiges Erz ergoß sich das Wort des Lehrers durch seine wunde Seele, wurde darin hart und stählte sie. Unaufhörlich tönte es in ihm nach wie eine Losung: „Aus eigener Kraft!“
- ↑ Den übrigen Schilderungen Rochefort’s gegenüber dürfte nachfolgende Charakteristik eines Freundes des Agitators wohl besonderes Interesse beanspruchen. Die Redaction.