Die Gartenlaube (1870)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257]

No. 17. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)


19. Entscheidung.

Ein trüber Morgen dämmerte herauf. Der Freiherr sah es nicht. Er saß noch über einen Brief an Adelheid gebeugt und schrieb. Die Lichter waren tief heruntergebrannt, die Flammen erfaßten das darum gewickelte Papier und bildeten düstere rothe Fackeln, der Freiherr bemerkte es nicht. Da zersprang eine der gläsernen Leuchter-Manchetten von der Hitze, der leise Knall schreckte den alten Mann auf. „Es ist Zeit!“ sagte er zu sich selbst, siegelte den Brief an dem verlöschenden Lichte und öffnete das Fenster, um den Kerzenrauch hinauszulassen. Noch einmal wollte er sich an dem Anblick der herrlichen Natur erquicken, die ihm so lange eine geliebte Heimath war. Aber er sah nichts. Es war als habe sich der ganze See aus seinem Bette gehoben und fluthe nun ufer- und schrankenlos zwischen Erde und Himmel, solch ein Meer von feuchtem Nebel erfüllte den Raum. Es benahm dem Greise fast den Athem und seine weißen Haare wurden naß, als er sich hinausbog, aber es kümmerte ihn nicht, er fürchtete keine Erkältung mehr. Mit stiller Wehmuth harrte er der Sonne. Sollte er es nicht mehr grüßen dürfen, das göttliche Gestirn, das ihm ein langes Leben hindurch treulich geleuchtet? Es war so! Die Erde gönnte ihm keinen Abschiedsgruß, als zürne sie ihm unter Thränen, daß er sie verlasse. Kein Lichtstrahl, kein freundliches Ufer, keine ferne Schneespitze zeigte sich dem suchenden Auge in dem undurchdringlichen Wallen und Wogen der grauverdichteten Luft.

Da öffnete sich langsam die Thür, der Candidat trat ein. „Sie habe befohlen, daß ich Sie wecke – wenn –“

„Ist es Zeit?“ fragte der Freiherr.

„Ja – aber Sie haben nicht ausgeruht?“

„Nein – aber ich kann ja noch lange ausruhen, wenn es vorbei ist –“ Er schwieg, aber der Ton, in dem er das Wort gesagt, prägte sich dem Candidaten ein für immer.

„Hier nehmen Sie das Pistolenkästchen. So! Ich will doch einen wärmeren Rock anziehen, sonst friere ich und dann zittert mir die Hand beim Zielen. So –! Nun noch den Hut. Und – hier nehmen Sie diese Degen, die Barrière zu stecken; ich trug sie mit Ehren vom Beginn meiner Laufbahn an, sie sollen mir auch am Ende derselben den letzten Dienst erweisen. Habe ich nichts vergessen?“ Er sah sich im Zimmer um. „Ich denke, nun ist Alles in Ordnung. Ach, da – diesen Brief übergeben Sie meiner Frau, wenn Alles vorbei ist. So, jetzt weiß ich nichts mehr – mein Haus ist bestellt.“

Aber er zögerte doch einen Augenblick. „Waren Sie noch bei Alfred?“

„Ja, er schläft.“

„Wenn er aber erwacht, während Sie fort sind?“

„Ich sagte dem Diener, ich ginge in den Garten wegen heftiger Kopfschmerzen. Das wird er ihm berichten. Wollen Sie ihn noch einmal sehen?“

Der Freiherr kämpfte mit sich selbst. „Nein,“ sagte er dumpf. „Ich habe Abschied genommen! Kommen Sie!“

Einen letzten Blick warf er nach der Thür seines Sohnes; dann sprach er mit gefalteten Händen: „In Gottes Namen!“ und schritt aufrecht und sicher dem Ausgange zu. Bleich wie eine Leiche folgte ihm der Candidat mit den Waffen. Als sie aus dem Hause traten, sagte der alte Herr: „Schade, daß die Sonne nicht scheint, ich hätte sie so gern noch einmal gesehen!“

Weiter sprachen die Beiden nichts auf dem ganzen Wege. Es war so frostig und traurig um sie her, als sei an diesem Tage mit einem Male alle Herrlichkeit der Welt erloschen und versunken, und wer in diesem Augenblick aus ihr schied, der that es mit dem Gefühle des Zuschauers, der ein schönes Schauspiel leichter verläßt, während der Vorhang heruntergelassen ist.

Sie waren am Platze.

Egon, sein Secundant, der junge Hausarzt Salten’s und der Professor Zimmermann waren schon da. Die Herren begrüßten sich und legten die Hüte ab. Feldheim stellte den Professor dem Freiherrn vor, die Beiden schüttelten sich die Hände.

„Mein Gott,“ sprach Zimmermann, „ein so betagter Herr und sich noch duelliren!“

„Mein werther Herr Professor,“ erwiderte der Freiherr würdevoll, „ich habe in den letzten sechszehn Jahren meines Lebens mehrfach gehandelt, wie es meinem Alter nicht angemessen war; hatte ich dazu den Muth, so muß ich ihn auch den Folgen meiner Handlungsweise gegenüber haben, das ist eine unerbittliche Consequenz.“

Der Arzt verstand ihn natürlich nicht. „Ich gestehe Ihnen,“ fuhr er fort, „daß ich die Sache hintertrieben hätte, wenn ich geahnt, was da im Werke sei. Aber ich erfuhr ja vorhin erst Ihren Namen.“ Er wandte sich an Egon. „Herr Graf, ist es wirklich möglich, daß ein so junger Herr wie Sie einem so hochbetagten Manne auf Leben und Tod gegenübersteht? Erlaubt es Ihnen der Respect vor dem Alter, der doch jedem Menschen angeboren ist, Hand an solch ein ehrwürdiges Haupt zu legen?“

[258] Egon sah schweigend zu Boden. Er dachte nur daran, daß dieser ehrwürdige Greis ihm die Geliebte stahl, und der Haß kochte neu in ihm auf.

„Und Sie, Herr Baron,“ fuhr Zimmermann lebhaft fort, „wollen Sie den Ihrigen das anthun? Ihre Kinder halten gewiß alle Hände über Sie und geizen ängstlich mit den paar Jahren, die Ihnen noch zugemessen sind, und Sie, – ei – ei, Herr Baron, das ist nicht recht gehandelt. Weiß Gott, mich jammert Ihr Enkel, der liebe feinbesaitete Junge; was würde der sagen, wenn ihm sein Großpapa so hinterrücks wegstürbe?!“

„Ich verstehe Sie nicht – wen meinen Sie?“ fragte der Freiherr überrascht.

„Ach, ja so, Sie werden’s nicht wissen! Denken Sie, Ihr Enkel war gestern bei mir wegen seines verkürzten Beines und wollte sich heimlich von mir operiren lassen, um die Seinen nicht zu ängstigen. Das ist ein seltenes Kind, hören Sie! Und wenn ich Großvater eines solchen Knaben wäre, ich würde nicht eher sterben wollen, als nöthig ist!“

„Der Knabe, von dem Sie zu sprechen scheinen, ist nicht mein Enkel, sondern mein Sohn, lieber Herr!“ sagte der Freiherr erschüttert.

Der Gelehrte starrte den Greis erstaunt und verlegen an. Ein rasches Begreifen überflog plötzlich sein geistvolles Gesicht und unwillkürlich schweifte sein Auge vom Freiherrn zu Egon und von diesem zum Freiherrn.

Der Freiherr aber sagte leise und gelassen zu Feldheim: „Das Urtheil eines Unbefangenen! Meine Herren,“ wandte er sich zu den Uebrigen, „es ist Zeit!“

Todtenstill war es auf dem engen Platz, der Nebel rieselte durch das dichte Laubdach der Kastanien herab, die Blätter hingen naß und schwer an den Zweigen. Eine Bachstelze flog erschreckt zur Seite auf, als beim Spannen der Hahn knackte. Leise gurgelnd schlugen die Wellen des Sees unter der leichten Nebeldecke an das Ufer. Noch einmal suchte das müde Auge des Freiherrn die Ferne, aber es gab für ihn keine Ferne und keine Zukunft mehr, nur noch den engen Fleck Erde, auf dem er stand – und den bangen Augenblick vor dem Schuß.

Der Greis bewegte die Lippen, er betete: „Herr, mein Gott, stärke mich, auf daß ich mit Ehren bestehe oder falle. Herr, mein Gott, sei mir gnädig und vergieb mir, wenn ich irre, dieweil ich glaubte, recht zu thun. Amen!“

Der Candidat trat auf ihn zu und reichte ihm die Pistole. Er nahm sie, Feldheim bemerkte, daß ihm die Hand zitterte, aber Feldheim selbst bebte am ganzen Körper. Das Haar klebte ihm von der Feuchtigkeit in der Stirn, sein Blick war irre und unstät, er sah aus wie ein Schwerkranker.

Der Freiherr legte ihm sanft die Hand auf die Schulter: „Fassung, mein Freund!“

Die Herren waren bereit. Der Candidat begann die Schritte abzuzählen und stieß bei jedem fünften Schritt einen Degen in die Erde, daß der elastische Stahl noch lange nachzitterte, die Barrière war abgemessen. An derselben Stelle, wo Adelheid’s üppige Tiziangestalt vor Feldheim am Baume gelehnt, stand der Freiherr.

Egon trat auf ihn zu und sprach leise und bewegt: „Vergeben Sie mir, ob ich stehe oder falle!“

Der Freiherr aber sagte mit fester Stimme: „In dieser Sache darf nur Gott verzeihen. Sein Urtheil entscheide zwischen uns.“

Egon biß sich auf die Lippen und stellte sich auf seinen Posten, dem Freiherrn gegenüber.

Eine lange Pause entstand. Feldheim gab das Zeichen, die Herren richteten sich. Salten hob das erbleichende Gesicht hoch auf und der ausgestreckte Arm zielte gerade nach dem Kopf des Grafen, aber er schoß nicht, er avancirte, Egon desgleichen. Egon hatte offenbar die Absicht gehabt, dem Freiherrn den ersten Schuß zu lassen und sich nur zu vertheidigen. Jetzt sah er mit innerem Grauen, daß Salten ihm nach dem Leben trachte, und dieses Gefühl mit seinen geheimen Schrecken gab nun auch seiner Waffe eine bestimmtere Richtung. Jetzt erst waren sie Feinde auf Leben und Tod!

Feldheim hing athemlos an den Bewegungen der Beiden. Schritt für Schritt rückten die Feinde gegeneinander vor, die gespannten Blicke auf einander gerichtet. Der Raum zwischen ihren tödtlichen Waffen wurde immer kleiner. Keiner durfte stillstehen, that er es, so mußte er schießen. Aber der Schuß fiel nicht und der Fuß rückte unaufhaltsam dem letzten tödtlichen Ziele näher. Drei – vier Schritte waren gethan – noch nicht genug! Feldheim sah mit Entsetzen, daß die Hand des Freiherrn die sichere Richtung verlor, – noch ein Schritt – der Freiherr setzte den Fuß auf die Barrière – die Schüsse krachten zu gleicher Zeit, eine Wolke von Pulverdampf verdichtete den Nebel.

„Ich wußt’ es ja!“ schrie Feldheim und sprang auf den Platz. Egon stand da wie vernichtet, der Freiherr – lag. Rothe Tropfen flossen ihm aus der Seite und sickerten in den feuchten Boden. Ohne ein Wort, ohne einen Laut neigte er sein Haupt zur Erde. Da brach plötzlich ein wärmender Sonnenstrahl, wonach er sich gesehnt, durch den Nebel und küßte die edle erbleichende Stirn – zu spät, er fühlte und sah es nicht mehr, das brechende Auge war ausdruckslos in’s Leere gerichtet, die Uhr lief langsam ab. Stoßweise immer kürzer werdende Athemzüge hoben noch mechanisch die Brust, die Aerzte nickten sich in traurigem Einverständniß zu, während sie die Wunde untersuchten.

„Er hat’s nicht anders gewollt,“ sagte Egon, als fühle er das Bedürfniß, sich zu rechtfertigen. Feldheim aber warf sich in wildem Schmerz neben den Freiherrn zur Erde und brach in Thränen aus wie ein Kind.

„Kommen Sie,“ sagten die Aerzte, „wir müssen ihn vor allen Dingen nach Hause schaffen, helfen Sie uns.“

Sie trugen den Sterbenden in die Droschke des Arztes. Sie thaten während der langsamen Fahrt alles, was zu thun war. Aber die Kugel war unter dem rechten Arm eingedrungen und durch die Lunge gegangen. Noch bevor das Haus erreicht war, hatte der Greis ausgeathmet und sie hoben eine Leiche aus dem Wagen.

„Still, – nur still,“ gebot der Candidat, „leise auftreten, daß Alfred nichts hört.“

Im Hause war Alles ruhig, es war halb sechs Uhr und die Leute hatten noch nicht ihr Tagewerk begonnen. So stieg der kleine traurige Zug unbemerkt die Treppe hinan bis zu Adelheid’s Zimmer. Der Candidat, der voranging und keinen Arm frei hatte, pochte mit dem Ellbogen an. Es war ein seltsames unheimliches Pochen. Adelheid hatte die ganze Nacht gewacht und geweint und war endlich gegen Morgen angekleidet in einen unruhigen Schlummer gesunken. Da dröhnte das dumpfe Klopfen an ihr Ohr und sie fuhr erschrocken auf. „Was ist’s?“ rief sie und ging nach der Thür.

„Gnädige Frau,“ rief der Candidat, „öffnen Sie so schnell als möglich – Ihr Gemahl –“

Er vollendete nicht. Adelheid drehte mit fliegenden Händen den Schlüssel um – ihr Mann kam zu ihr, nun konnte noch Alles gut werden, sie wollte sich ihm zu Füßen werfen, ihn um Verzeihung bitten, denn sie sehnte sich danach, das schwergekränkte Herz des Gatten zu versöhnen.

Die Thür war offen. Sie trugen ihn schweigend herein. Adelheid fuhr zurück und taumelte mit einem Schrei an die Wand. So kam ihr Gatte zu ihr?!

„Allmächtiger – was ist da geschehen?“

Die Herren legten die Leiche auf das Bett.

„Herr Graf Schorn hat Ihren Gemahl im Duell getödtet!“ sagte der Candidat mit grausamer Klarheit und Kürze.

„Jesus, erbarme Dich meiner!“ kreischte das unglückliche Weib und brach in die Kniee; „das hab’ ich nicht gewollt, das nicht!“

Der Candidat winkte den Herren, sie zogen sich mit ihm zurück und ließen Adelheid bei der Leiche allein: „Gott, mein Gott,“ wimmerte sie in ihrer Todesnoth, „nicht auf mich komme dieses Blut, nicht auf mich! Salten, höre mich, sieh mich an! sage, daß Du mir verzeihst. Ich will ja gut machen, was ich gefehlt, will Dich ja glücklich machen für den Rest Deiner Tage! Ist denn Gott so grausam? Soll ich denn nicht nachholen dürfen, was ich versäumt, soll ich nicht sühnen dürfen, was ich verbrochen, muß ich die Reue durch mein ganzes Leben schleppen ohne Erlösung? Weh’ mir! Dein Mund kann sich nicht mehr aufthun, das Wort der Vergebung zu sprechen – ach, und kein anderer kann es für Dich. Ich bin verdammt auf ewig! O Salten, Gatte, Vater meines Kindes – gütiger, beklagenswerther Mann, jetzt, wo ich abbezahlen will all die Liebe, die ich Dir so lange schuldig bin, jetzt gehst Du dahin und lässest mich zurück mit der [259] großen, nie zu tilgenden Schuld!“ Sie warf das thränenüberströmte Gesicht auf die kalte Leichenhand und küßte sie wieder und wieder und wartete auf eine Antwort, als müßte der Todte noch einmal die Lippen öffnen, um sich ihrer Reue zu erbarmen. Aber er sprach nicht. Still lag er da, so schrecklich still! Auf seiner Stirn die Majestät des Todes, um seine Lippen das erstarrte Lächeln, mit dem er gestorben, der letzte Dienst, den die Muskel vielleicht der entfliehenden Seele gethan.

Ihr graute, und dennoch war es so schön, so erhaben anzuschauen, das greise, geduldige Haupt, das sich um ihretwillen im Tode geneigt. Und sie faltete die Hände und betete aus ihrer tiefsten zerknirschten Seele heraus!

Da hörte sie plötzlich einen wiegenden Schritt die Treppe heraufkommen, sie kannte diesen Schritt. Mit Entsetzen sprang sie auf, flog nach der Thür und verriegelte sie, als drohe ihr von draußen eine Gefahr, dann wankte sie wieder zu der Leiche zurück und barg das Gesicht in den Falten des Betttuchs. Es klopfte. Adelheid rührte sich nicht. Es wurde versucht zu öffnen, vergebens.

„Adelheid,“ rief Egon, „bist Du nicht da?“

Keine Antwort.

„Adelheid, hörst Du mich nicht? Wach’ auf, ich komme, Abschied zu nehmen!“

Alles blieb stumm.

„Ist es denn möglich, daß Du mich so fortlässest? Ich gehe, Adelheid; willst Du mir kein Lebewohl gönnen?“

Er wartete einige Minuten.

„Adelheid,“ rief er, „wenn Du mich jetzt von Deiner Schwelle weisest, weisen kannst, dann sind wir getrennt auf ewig!“

Auch diese Drohung nützte nichts, Adelheid war wie an die Leiche gekettet, ihr war als müßte der Todte ihre Buße sehen, sie heftete den Blick auf ihn und wankte nicht.

„Adelheid,“ rief Egon, „hier liege ich auf den Knieen und netze mit Thränen Deine Schwelle, überliefere mich nicht der Verzweiflung; wenn ich von hinnen muß, ohne Dich noch einmal zu umarmen, so werde ich wahnsinnig.“

Da sprang Adelheid empor und öffnete die Thür. Egon lag auf den Knieen, das schöne bleiche Weib, von den wallenden Locken wie von einer Glorie umgeben, erschien ihm wie ein überirdisches Wesen.

„Egon,“ sagte sie mit wahrer Hoheit, „wenn Du glauben kannst, ich vermöchte Dir Angesichts dieser Leiche noch die Hand zu reichen, dann bist Du nicht werth, daß ich Dich je geliebt. Geh’ und rette Dich, unsere Wege sind von heute an getrennt,“ – sie zeigte nach der Leiche. „Hier diese Leiche versperrt mir auf ewig den Pfad an Deiner Seite, ich kann nicht über sie hinwegschreiten, sie ist der Grenzstein, auf dem mit blutiger Schrift verzeichnet steht, daß ich irre ging, so lange ich mit Dir wandelte!“

Egon sprang auf und wollte Adelheid’s Hände ergreifen, doch sie entzog sie ihm.

„Ich ehre und schone Deinen Schmerz,“ sprach er, „ich könnte mich vertheidigen, könnte sagen, daß Du kein Recht hast, zu verdammen, wozu allein die Liebe zu Dir mich gebracht! Doch ich will die Schuld nicht feige von mir abwälzen. Das Eine schwöre ich Dir, ich werde kein Mittel unversucht lassen, Dein Herz mir wieder zu gewinnen; schlägt aber Alles fehl, so war das Gefühl, das Du mir weihtest, keine Liebe, so hast Du mein Lebensglück einer elenden Koketterie geopfert – und dann, Circe, hüte Dich vor der Rache eines zum Aeußersten getriebenen Mannes!“

Adelheid vehüllte mit Entsetzen vor dieser Anklage das Gesicht und lehnte halb ohnmächtig die Stirn an den Thürpfosten. Ehe sie es ahnte, hatte Egon sie umschlungen, mit wildem Ungestüm preßte er das sich sträubende Weib an die Brust und drückte einen brennenden Kuß auf ihren Hals. „Auf Wiedersehen, meine Adelheid!“ rief er und eilte die Treppe hinab. Als er in sein Zimmer trat, fand er Victor.

„Vetter,“ sagte dieser, „Du willst abreisen ohne mich?“

„Ja, mein Kind, in einer Stunde muß ich auf der Bahn sein, sonst komme ich nicht mehr fort. Du reisest mir morgen nach und bringst mein Gepäck mit. Ich kann heute nur eine Handtasche brauchen. Du wirst Alles besorgen, nicht wahr?“

„Onkel,“ sagte Victor, „was bedeutet denn die ganze Heimlichthuerei und das Gewinsel im Hause? Hast Du Dich mit Jemandem geschlagen?“

„Ja, Victor, ich hoffe, Du schweigst?“

„Auf Fähnrichsparole!“

„Ich hatte das Unglück, Herrn von Salten zu erschießen!“

„Herr Gott, Sapperment!“ schrie Victor aufrichtig erschrocken, „das nenn’ ich Pech!“ Er schüttelte den Kopf. „Der arme alte Herr! Wirklich, er thut mir leid! Aber weshalb gingt Ihr denn los? Etwa wegen der gnädigen –“

„Schweig’, Bursche!“ befahl Egon, sich in Hast zur Reise rüstend.

Victor legte die Hand an die Mütze. „Nichts für ungut, lieber Vetter!“ sagte er erschrocken und ging hinaus.

Egon war indessen mit seinen Vorbereitungen fertig geworden. Er athmete auf, als er die Schwelle überschritt. Es war noch früh, kaum sieben Uhr, er konnte unbehelligt abreisen. Als er unter die Hausthür trat, war es ihm doch, als müßte er dem Freiherrn noch Adieu sagen und ihm danken für seine Gastfreundschaft. Aber der Wirth, der ihn so lange beherbergt, lag da oben getödtet von der Hand des Gastes. Egon überlief ein heimlicher Schauer, doch er raffte sich auf: „Er hat’s ja nicht anders gewollt!“ beruhigte er sich wieder. Morgen hoffte er in M*** zu sein, und dann war die ganze furchtbare Katastrophe ein wüster Traum, der die Seele eine Zeit lang bedrückt, aber ohne Folgen vorübergeht.

Flüchtigen Fußes eilte er durch den Garten. Er wollte zu Land nach Zürich und wandte sich nach der Rückseite des Guts, der „Enge“ zu. Der dichte Nebel, dem die Sonne auf’s Neue gewichen war, begünstigte seine Flucht. Weit und breit war Alles menschenleer und verschleiert.

Da schien es ihm plötzlich, als fänden seine Schritte ein Echo, er hörte sie doppelt. Er stand still, das Echo dauerte fort, es verstärkte sich. Er sah sich um, aber das Auge blieb hinter dem Ohr zurück, es konnte den Nebel nicht durchdringen. Er ging rasch weiter. Aber die Schritte hinter ihm kamen immer näher, jetzt wußte er, daß man ihn verfolge. Er dachte daran, sich zu verbergen, doch er befand sich in einer schmalen Allee von Rosenbäumen, da gab es kein Versteck. Jetzt erkannte er auch den Verfolger, es war der Candidat. In wenigen Augenblicken hatte dieser ihn erreicht. „Halt!“ rief er und faßte den Grafen am Arm, „bleiben Sie!“

Egon blieb stehen wie eingewurzelt. Der Candidat war in diesem Augenblick sein verkörpertes Schicksal, ihm konnte er nicht entfliehen. Feldheim hielt die Pistolen des Freiherrn in der Hand, er war außer Athem von dem raschen Lauf, es schien als seien alle Dämme der Selbstbeherrschung niedergerissen und in vollen Strömen überfluthete ihn Wuth und Haß.

Er wollte Egon eine der Pistolen. aufdrängen und sprach mit zusammengebissenen Zähnen: „Vertheidigen Sie sich!“

„Was soll das?“ rief der Graf, die Waffe zurückweisend.

„Sie fragen? Konnten Sie glauben, ich ließe Sie ungestraft von dannen ziehen? ich ließe den Mord am Besten, Reinsten von uns Allen geschehen, ohne ihn zu rächen? Seit Wochen ertrug ich Unmenschliches mit unmenschlicher Geduld, Beleidigung häufte sich auf Beleidigung, Groll auf Groll und ich – schwieg! Ich habe ihn hinuntergewürgt den immer wachsenden Haß, lange – zu lange. Aber Alles hat seine Grenzen – jetzt ist meine Langmuth am Ende. Sie haben das Weib verführt, das ich anbetete; den Mann getödtet, der mir ein Vater war – Bube, niederträchtiger Bube, – der das Heiligste geschändet zum Zeitvertreib, – ich fordere Genugthuung im Namen des gemordeten, seines hülflosen Sohnes – und meiner eigenen Schmerzen!“

Egon erbleichte, er trat einen Schritt zurück vor der furchtbaren Erscheinung; solch einem Feind hatte er noch nie in’s Auge geblickt.

„Hören Sie mich“ – sprach er mit entfärbten Lippen, „ich will Ihnen jede Satisfaction geben, aber in redlichem Zweikampf, nicht jetzt, nicht hier ohne Secundanten, – ohne Arzt! Sich so nahe dem Hause und unter solchen Umständen zu schießen, hieße sich als Mörder den Gerichten überliefern, und die Lage des Ueberlebenden wäre noch schlimmer als der Tod! Haben Sie Einsicht. Meine Zukunft und Adelheid’s Ruf hängt daran, daß ich ohne Aufsehen fortkomme, Sie werden mich entfliehen lassen – wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe, mich Ihnen in M*** zu stellen, sobald Sie mich aufsuchen!“

„Was?“ rief der Candidat. „Nur dem Greis gegenüber [260] hatten Sie Muth, Männern gegenüber sind Sie eine Memme, rufen nach Secundanten und Aerzten und wollen mich mit Versprechungen trösten? Ich soll an das Ehrenwort eines Menschen glauben, der gehandelt hat wie ein Ehrloser? Wahrlich, mein Herr Graf, Sie müssen nie gefühlt haben, was Wuth ist, um für solche Vorstellungen Erhörung zu hoffen, um zu glauben, ich könnte den unschuldigen Greis sterben gesehen haben von Ihrer Hand, ohne zum Tiger zu werden, der nicht Ruhe findet, als bis er sich in Ihrem Blute gesättigt hat!“ Er drückte ihm die Pistole in die Hand. „Vertheidigen Sie sich, sag’ ich – oder ich schieße Sie nieder wie einen Hund!“

„Nein und nochmals nein,“ rief Egon. „Genug des Verbrechens und des Blutes – thun Sie, was Sie wollen und dürfen, ich schieße nicht!“ Er schleuderte die Pistole weit von sich. „Hier, sinnloser Mann, ist meine Brust, ich bin wehrlos – nun zielen Sie, wenn Sie den Muth dazu haben!“

„Feigling!“ rief der Candidat und warf seine Pistole gleichfalls weg. „Nein, Sie sind es nicht werth, daß ich für Sie zum Mörder werde, nur beschimpfen will ich Sie, ehrlos will ich Sie machen für’s ganze Leben!“

Und er faßte mit eisernem Griff den Grafen um den Leib. Ein stummes Ringen entstand. Wie Krallen gruben sich die Finger des Candidaten in die Weichen des Grafen ein. Die schlanke Gestalt bog sich in der furchtbaren Umarmung wie geglühter Stahl zwischen Hammer und Amboß. Schwer fiel die Faust des Grafen auf den Angreifer nieder, aber sie prallte machtlos an dem harten Schädel ab und steigerte nur die Wuth des Getroffenen. Herüber und hinüber bogen sich die Kämpfenden, noch schwankte der Sieg. Da gelang es dem Grafen, in einer glücklichen Wendung ein Messer aus der Tasche zu ziehen, mit den Zähnen öffnete er es und stieß es dem Candidaten von oben herab in die Schulter, daß die Klinge zerbrach. Wie ein verwundeter Tiger im Schmerz die höchste Kraft entfaltet, hob Feldheim jetzt mit einem Ruck den Gegner vom Boden auf; dieser griff nach einem Halt und erfaßte einen Rosenbaum, der ihm zunächst stand, die Lunge war ihm zusammengepreßt, ein dumpfes Stöhnen entrang sich seinen Lippen, in der Angst des Erstickens klammerte er sich an den Stamm, um den verlorenen Boden unter den Füßen zu ersetzen. Da gab das junge Holz krachend nach, ein wuchtiger Fall und der Graf lag unter dem gebrochenen Wipfel, den seine Hand nicht lassen wollte, begraben. Der Candidat kniete auf seiner Brust, überströmt von Blut und den Rosenblättern, die das geknickte Bäumchen im Sturz über ihn ausgeschüttet. Er riß einen Zweig davon ab, einen zähen Dornenzweig, und mit dieser furchtbaren Ruthe hieb er drei Mal dem Grafen über das Gesicht, daß es durch die Luft sauste, und mit jedem Streich sprach er: „Dies dem Frauenverführer, dies dem Schänder des Hausrechts und dies dem Mörder seines Gastfreundes.“

Dann erhob er sich, faßte den Halbohnmächtigen beim Genick und riß ihn in die Höhe, dieser taumelte, er stützte ihn. Egon hatte ein blutiges Kreuz über das ganze Gesicht, er konnte nicht sprechen, ihm war übel, das Blut rieselte ihm von Stirn und Wangen herab. Er lehnte fast bewußtlos an der Schulter des Gegners. Einige Minuten vergingen, der Candidat wartete geduldig, bis jener sich erholt hatte, dann sprach er mit seiner alten Fassung: „So, Herr Graf, nun können Sie gehen, wir sind fertig mit einander!“

„Das werden Sie mir mit Ihrem Leben bezahlen!“ stöhnte der Graf.

Der Candidat zuckte verächtlich mit den Achseln und ließ ihn stehen.

Der Graf wischte sich das Blut ab. Er mußte fort um jeden Preis. Aber konnte er sich mit diesen Wunden zeigen? Er war entstellt für lange – vielleicht für immer, denn die Haut hing in Fetzen herab, das gab Narben. Und es waren keine Narben, die dem Johanniter zum Schmucke dienten, sie waren das Merkmal einer unauslöschlichen Schmach. – Ein Zittern überlief den Körper Egon’s, er fühlte ein Gericht Gottes in dem, was der Candidat ihm gethan! Wankenden Schrittes ging er weiter und schob mit dem Fuße den gefällten Wipfel zur Seite, der ihm den Weg versperrte. Er hatte ein Gefühl, als sei es sein eigener Stammbaum, dem er die Krone abgebrochen.

(Fortsetzung folgt.)




Ein gestürzter Titan.
Erinnerung an Friedrich Hölderlin bei seiner Säcularfeier.
Von Robert Springer.

Hoch auf strebte mein Geist, aber die Liebe zog
Bald ihn nieder; das Leid beugt’ ihn gewaltiger;
     So durchlauf’ ich des Lebens
 Bogen und kehre, woher ich kam.   Hölderlin.

Hundert Jahre sind es her, daß ein deutscher Dichter, ein Dichter von unvergänglichem Namen, daß der Lyriker Hölderlin geboren wurde, und wir begingen dieses Geburtsfest vor wenigen Wochen in geziemender Weise mit einer Säcularfeier. Denn was bliebe uns Deutschen aus jener Zeit der Erinnerung würdig, wenn nicht die unsterblichen Namen, an welche sich unsere Literaturgeschichte knüpft? Und sie sind uns Alle theuer geblieben, sie Alle, welche während der politischen Herrschaft des Absolutismus die deutsche Republik der Geister schufen, und das Volk weiht den Namen jener Heroen die höchste Verehrung, wenngleich sich auch an diesen Platen’s klagendes Wort bewährt: „Es gesellt sich ihnen selten freundschaftsvoll ein Gemüth und huldigt körnigem Tiefsinn.“ Aber selbst wer die Messiade nur aus Bruchstücken kennt, feiert doch Klopstock als den Genius, der sich dem Höchsten weihte, uns eine neue Welt eröffnete und unsere Literatur zu einer höheren Stufe erhob; wer nur seinen Fuß flüchtig in den Vorhof der Philosophie gesetzt hat, preist dennoch Kant als den Begründer der kritischen Philosophie; Herder’s Allegorien, Wieland’s üppige Romane und Lehrgedichte verlassen nur selten den ihnen angewiesenen entlegensten Winkel unserer Büchersammlung, aber wir hegen sie wie der Geizige den Mammon, den er nicht verwendet und doch über Alles liebt; ja, selbst Jean Paul’s glühende und farbensprühende Lyrik berauscht nur die Herzen weniger Auserwählter mehr und dennoch feiern wir ihn als den herrlichsten und gemüthvollsten Freund und Tröster unserer Jugend. Wie der Ritter im Kampf auf Tod und Leben die Lanze einlegt für den Namen seiner Geliebten, so verfechten wir im Streit wider die andringenden materiellen Zeitläufe die Glorie und Unsterblichkeit unserer literarischen Heroen. Zu diesen Namen gehört Johann Christoph Friedrich Hölderlin[WS 1].

Seine Werke sind nicht allgemein bekannt. Er schrieb philosophische Briefe für Niethammer’s Journal, die längst verschollen sind; seine Gedichte, voll hohen lyrischen Schwunges, aber mit Anspielungen auf das griechische Alterthum überladen, erschienen erst, von Uhland und Schwab gesammelt, lange nachdem er schon als Dichter berühmt, ja, als er schon geistig todt war. Wie Wenige kennen leider mehr sein bedeutendstes Werk, den Roman „Hyperion“, eine großartige Schöpfung, die ihre Handlung aber auf den Boden des alten Griechenlands und des Hellenenthums verlegt hat und in deren zweitem Theile die Blitze des Genius sich schon durch das Gewölk des Wahnsinns Bahn brechen mußten! Wie Wenige, sagen wir, haben diese Werke gelesen, und doch zählen wir Hölderlin zu unsern ausgezeichnetsten Lyrikern und Achim von Arnim nennt ihn den größten aller elegischen Dichter der Deutschen.

Ganz erfüllt von den hohen Idealen der Antike und nur genährt mit jenem Bildungsstoff, der allein aus den Anschauungen und den Werken der römischen und hellenischen Classicität geschöpft ist, tritt Hölderlin in’s praktische Leben und findet sich dort völlig fremd. Gleich vielen der edelsten unserer Denker, irrt er schier obdachlos umher und sucht vergeblich nach einem Amte, es bleibt ihm nur die traurige Aushülfe, sich in das wissenschaftliche Tagelöhnergeschäft eines Hauslehrers zu flüchten. Auch die Krankheit der überspannten Jugend und das damalige Wertherfieber seines Vaterlandes befällt ihn: eine Liebesneigung ohne sinnliche Befriedigung. Bis so weit verläuft Alles herkömmlich wie bei vielen deutschen Genien; es fehlt nur, daß die classische Bildung sich endlich in einem auskömmlichen Amte mit der prosaischen Alltäglichkeit versöhne und praktischer Tüchtigkeit weiche, daß der poetische Schwung noch ausreiche, die Mußestunden


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Da ist wohl die Begeisterung mit dem Verfasser durchgegangen und hat die genaue Recherche behindert; gemeint ist natürlich Johann Christian Friedrich Hölderlin.

[261] eines gemüthlichen Philisterlebens zu vergolden, und daß das Wertherfieber in einem gesetzmäßigen kinderreichen Ehestande erlösche.

Aber dieses Loos war Hölderlin nicht beschieden. Von glühender Einbildungskraft emporgehoben, aber im Zwiespalt zwischen Natur und Geist, verliert er den Pfad, der ihn zur rechten Zeit zurückleiten konnte auf den Boden der Wirklichkeit, und vergißt den Zauberspruch, der den Fluthen der Phantasie Einhalt thut und das Gleichgewicht der Seelenkräfte wieder herstellt. Es erfüllt sich an dem Unglücklichen in der Wirklichkeit das grause Schicksal, das Shakespeare seinen Theaterhelden andichtet, um die kalten Herzen seiner britischen Landsleute zu rühren: Hölderlin wird wahnsinnig und erhöht den Ruhm eines deutschen Dichters mit dem Märtyrerthum des Irrenhauses.

Lassen wir die hervorragendsten Momente dieses unheilvollen Dichterlebens an unserem Blick vorübergehen.

Zu Laufen in der reizenden Neckargegend, wo der Vater als Verwaltungsbeamter eines ehemaligen Klosters lebte; erblickte Friedrich Hölderlin am 20. März 1770 (nicht am 29. März, wie in Folge eines Druckfehlers im „Magisterbuche“ viele seiner Biographien angeben) das Licht der Welt. Der Vater wurde ihm schon im zweiten Jahre durch den Tod entrissen. Hölderlin verlebt seine Kindheit in dem Städtchen Nürdingen, in reizender, von waldigen Bergen umschlossener Thallandschaft. Er erhält Unterricht in der dortigen lateinischen Schule und schließt Freundschaft mit seinem Mitschüler Schelling. Seine Kindheit schildert er in der Strophe:

Mich erzog der Wohllaut
Des säuselnden Hains,
Und lieben lernt’ ich
Unter den Blumen.
So wuchs ich groß
Im Arme schützender Götter.

Im Jahre 1788 sehen wir ihn auf der Universität Tübingen als einen edel gestalteten Jüngling von feinem Anstande, voll Geist und Anmuth, von schlankem Wuchse, das zarte Antlitz mit den braunen schwärmerischen Augen von reichem Haar umwallt – eine Apollogestalt wie der junge Goethe, aber weicher und hinfälliger. Dem Wunsche der Mutter folgend, widmet er sich der Theologie, vertieft sich jedoch mit Vorliebe in die alten Classiker, die ihm die Grundlage seines poetischen Schaffens bieten, ihn aber auch gänzlich dem Leben der Gegenwart entrücken. Er dichtet und spielt die Flöte unter des blinden Dulon’s Anleitung. Zu seinen theologischen Studiengenossen gehört der junge Hegel; unter seinen Freunden steht aber Sinclair obenan, aus schottischer Familie stammend, der seine thätige Theilnahme an Hölderlin’s Schicksale bis zu seinem Tode bewahrte.

Friedrich Hölderlin.

Hölderlin streift umher in Wald und Wiesenthal. Auf den alten Burgtrümmern und den Höhen von Schemberg, Balingen und Rechberg erathmet er den liebeschwellenden Hauch, der uns aus seinen elegischen Liedern anweht; in jener reichen, mächtigen und lieblichen Natur ersinnt er die tiefen Gedanken über Liebe, Freundschaft und Vaterland, die er im ersten Theile seines Hyperion ausspricht – jene edeln und erhabenen Phantasien über die Wechselwirkung zwischen Bildung und Natur, über die Einigung der Menschen zu einer glücklichen Zukunft und über das Ideal der Menschengeschichte.

Fünf Jahre später treffen wir Hölderlin in Jena. Unterdessen ist der Boden Frankreichs von einer Revolution erschüttert worden und die Stöße haben sich auch in Deutschland, wenngleich nur schwach, fühlbar gemacht. Der junge Dichter, in welchem jene Umwälzung die platonischen Staatsideen zu neuem Leben erweckte, hat, auf Schiller’s Empfehlung, eine Hauslehrerstelle bei der Frau von Kalb bekleidet, aber bald wieder aufgegeben. Er ist als Verfasser mehrerer lyrischer Gedichte, die in der „Thalia“ erschienen, und durch ein Fragment seines „Hyperion“ berühmt geworden und kommt in die Saalstadt, um Fichte zu hören und sich um eine Anstellung zu bewerben, die ihm ein gesichertes Einkommen bieten soll. Ohne Erfolg kehrt er dann in die Heimath zurück, und Sinclair verschafft ihm eine Stelle als Hauslehrer in der Familie des reichen Frankfurter Kaufmanns Gontard. Hier erfaßt ihn die leidenschaftlichste Liebe zu der schönen und geistvollen Frau vom Hause. Ihr Bild weicht nicht mehr aus seinem Herzen. Wenn er ihrer Gegenwart entflieht und Zerstreuung auf den nahe gelegenen Höhen des Taunus sucht; wenn er die Waldungen, welche sich damals noch bis an die südliche und westliche Seite der Stadt erstreckten, in schmerzlicher Wehmuth durchwandert: überall sieht er das Bild der Mutter seiner Zöglinge, das Bild der geliebten Frau, die er unter dem Namen „Diotima“ in seinen Gedichten verherrlicht hat.

Wie die Leidenschaft sein Herz überfluthet, so zerwühlen die französischen Heere den heimathlichen Boden. Verzweifelnd am eigenen Herzen und am deutschen Vaterlande, begiebt sich Hölderlin nach Frankreich; wo er eine Hauslehrerstelle beim Hamburgischen Consul annimmt. Plötzlich aber, vielleicht durch die Nachricht von Diotima’s Tode aus aller Fassung gebracht, verläßt er heimlich seine Stellung und erscheint wieder in der Heimath – gänzlich verändert, in der Kleidung eines Bettlers, gleichsam mit zerschlagenem Antlitz, wie jener ausgestoßene Titan Empedokles, dessen Geschick er in einem poetischen Fragment geschildert hat.

Sein Freund Sinclair, der in die Dienste des Landgrafen von Hessen getreten war, wirkte ihm eine Anstellung als Bibliothekar in Homburg aus. Dort in der reizenden Ebene, welche der Feldberg beherrscht und die Höhenzüge des Spessart und Odenwaldes umgrenzen, auf dem Schauplatze der classischen Vorzeit, unter den Ruinen der Castelle des Drusus, Hadrian und Tiberius – erwachte in dem gestörten Gemüth noch einmal die Liebe zum Alterthum, der Drang nach geistiger Beschäftigung. Er unternimmt eine Uebersetzung des Sophokles und verwirrt sich in diesen gewaltigen tragischen Anschauungen bis zum völligen Wahnsinn.

Wir wollen den zerrütteten, von einer trostlosen Mutter beweinten Dichter nicht im Irrenhause aufsuchen, das er zweimal bewohnte, ohne zur Genesung zu gelangen. Wir finden ihn zuletzt zu Tübingen, im Hause und unter der Pflege eines wohlhabenden Tischlermeisters. Das Häuschen ist auf dem Fundament eines alten Stadtthurms erbaut und wird vom Neckar bespült. Von dem Erkerstübchen, welches der Greis bewohnt (er hat hier siebenunddreißig Jahre des Wahnsinns verlebt!), blickt man über lachende Wiesen in das liebliche Steinthal und gegen die Rauhe Alp hin. Der bleiche silberhaarige Greis, dessen halbverloschene Züge die frühere Schönheit, ja, dessen starre Augen selbst ein früheres geistiges Leben verrathen, ist einfach gekleidet, still und in sich gekehrt. Er liest und ändert noch immer an seinem Hyperion, spielt auf einem alten Clavier mit zerrissenen Saiten und schreibt sinnlose Gedichte nieder oder zuweilen verständliche schmerzliche Klagen wie die folgende:

[262]

Weh mir! wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehen
Sprachlos und kalt, im Winde
Flattern die Fahnen.

Das ist der zweiundsiebenzigjährige Hölderlin, der wahnsinnige Titan Empedokles!

Wer dächte hier nicht an das langjährige Krankengefängniß eines andern deutschen Dichters, wer dächte nicht hierbei an Heinrich Heine? Und in der That bieten Beide, obgleich so wesentlich von einander verschieden, höchst interessante Vergleichungs-Momente dar.

Heine ein entschiedener Romantiker, wenngleich er die romantische Schule spöttisch negirt, – Hölderlin ein Romantiker auf der Grundlage antiken Geistes. Beide Volkspropheten und Bewegungsdichter; der Eine jedoch dabei sinnlich, schelmisch und frivol, der Andere ideal und voll dithyrambischen Schwunges. Beide werden von einer großen politischen Revolution ereilt und flüchten, zerfallen mit dem deutschen Wesen, nach Frankreich, wo der Eine aber der innersten Zerrüttung anheimfällt, während der Andere objectiv und heiter in alle neuen Lebensverhältnisse ausgreift. Heine, der Dichter der Liebe, der mit seinen Schmerzen cokettirt und wie ein Schmetterling von einer Blüthe zur andern flattert, – Hölderlin, der in seinem Hyperion der Liebe und Freundschaft einen unvergänglichen Altar errichtet, aber an einer unheilbaren Herzenswunde verblutet. Während Hölderlin in scharfen Sittensprüchen gegen die Nationalzerfallenheit der Deutschen eifert, behandelt Heine dasselbe Thema in launigen Zeitungsartikeln, wobei er mit dem Censor Versteck spielen muß. Beide erleben eine zweite Revolution; die französische Februar-Revolution findet aber in Heine nur noch einen lächelnden Skeptiker, – an Hölderlins gestörtem Geiste geht die französische Juli-Revolution spurlos vorüber, nur die Befreiung der Griechen versetzt ihn in eine schnell verrauchende Begeisterung. Beide stolze Freiheitsbäume sterben, ehe die Axt des Todes sie fällte, langsam ab, aber der Eine von der Wurzel heraus, der Andere vom Wipfel abwärts. Während Heine, in seiner Matratzengruft in der Rue Matignon, mit ungetrübter Geisteskraft den morschen Körper zehn Jahre lang gliedweise hinwelken sieht, fristet Hölderlin, das Haupt vom Irrsinn umdunkelt, ein vierzigjähriges Scheinleben.

Am 7. Juni 1843 endete endlich das stumpfe Dasein. Hölderlin starb mit dem Hyperion in der Hand und indem sein letzter Seufzer den Namen „Diotima“ nannte.

Wenn wir uns aber mit Thränen des Schmerzes von diesem Scheiden abwenden, so ziemte es uns wohl, freudig das hundertjährige Geburtsfest zu begehen, – den Geburtstag des Sängers voll Liebe, Geist und Hoffnung, der uns den Hyperion, das mysteriöse, aber herrliche Evangelium über die Natur, die Civilisation und die Zukunft der Menschheit, dichtete.




Die Zukunftsstrafe für Verbrecher.
Zur Beurtheilung der Todesstrafe.
Eine Mahnung an Erzieher.

Nicht durch Strafen peinigen oder wohl gar tödten wird man in Zukunft den Verbrecher, sondern durch geregeltes Arbeiten zu bessern versuchen. Diese Zeit wird aber dann gekommen sein, wenn die Menschheit mittelst naturwissenschaftlichen Unterrichts nach und nach eine höhere Stufe der Bildung erreicht hat und wenn sich der Mensch schon von Jugend auf eine genügende Kenntniß der herrschenden unabänderlichen Naturgesetze, wie solche im ganzen Weltall und auch im menschlichen Körper auftreten, angeeignet hat. Dann wird sich sicherlich der Verbrecher einer humaneren Anschauung und Beurtheilung als zur Zeit zu erfreuen haben und man wird ihn betrachten: entweder als bedauernswerthen Geisteskranken, der in der Jugend moralischen Schädlichkeiten fortwährend ausgesetzt war und deshalb den späteren Auswüchsen und moralischen Krankheiten nicht entgehen konnte; – oder als bemitleidungswürdigen Unglücklichen, dem in Folge falscher Erziehung, also ohne eigenes Verschulden, von Jugend auf schädigende Eigenthümlichkeiten, Gewöhnungen und Laster anerzogen und so eingeimpft wurden, daß dieselben für das ganze Leben unvertilgbar haften blieben und der Verwahrloste nicht im Stande ist, sie durch eigenen Willen abzulegen.

Verbrecher werden ebensowenig geboren, wie edle Menschen; Beide können nur zu solchen erzogen werden. Da nun das Kind für seine erste Erziehung, welche die Grundlage des Denkens, Thuns und Treibens durch das ganze Leben bildet, nicht verantwortlich gemacht werden kann, so ist man auch gezwungen, die aus frühester Jugendzeit stammenden schlechten Eigenschaften eines Menschen milder zu beurtheilen, als dies zur Zeit geschieht. Ebenso sollte man auch Diejenigen unserer Mitmenschen, welche von Jugend auf im Glanze, umgeben von Schmeichlern und Bedientenseelen, in dem Wahne großgezogen wurden, „sie seien etwas Besseres als das übrige Volk“, weniger verdammen als ihre Umgebung. – Die Erzieher sittenloser Menschen sind weit verächtlicher und strafbarer als ihre ungerathenen Zöglinge und nur insoweit etwas zu entschuldigen, als sie meist, und zwar ohne ihre Schuld, einen Begriff von vernünftiger Kinderzucht nicht haben konnten und als sie selbst ebenfalls eine richtige Erziehung entbehren mußten.

Wie fest die Eindrücke, welche in der frühen Jugend auf den Menschen einwirken, für’s ganze Leben haften, zeigen recht deutlich die Anhänger der verschiedenen Religionssecten, von denen fast ein jeder nur deshalb der festen Ansicht ist, daß sein Glaube der richtigste sei, weil er ihn in Folge der Gewöhnung von Jugend auf wie angeboren betrachtet, obschon es über tausend verschiedene Religionen giebt und diese doch in ihren Satzungen sich ganz bedeutend von einander unterscheiden. – Wie mit dem Glauben verhält es sich aber auch mit dem Aberglauben, der, wenn er von Jugend auf einen Menschen durch Gewöhnung beherrschte, fast nie wieder auszurotten ist. Welch gräßliches Unglück aber und welch unmenschliche, der Vernunft und Menschenwürde Hohn sprechende Thaten der von Jugend auf anerzogene fanatische Glaube und Aberglaube erzeugt haben, beweisen die scheußlichen Hexenverfolgungen und die schandbaren Glaubenskriege, die nichtswürdigen Mißhandlungen Andersgläubiger und die frühere rohe Behandlung Geisteskranker, deren Hirnleiden für ein Product der Sünde und des Teufels angesehen wurde. Wie ganz anders urtheilt man in der Gegenwart über alle diese unmenschlichen Gräuel der Vergangenheit, und wie haben sich nicht seit Bestehen des Menschengeschlechts im Verlaufe der Zeit die Ansichten über Human und Inhuman geändert! Sicherlich wird man auch in späteren Zeiten manche der Heldenthaten aus unserer Zeit mit ganz andern Augen ansehen als jetzt, und über Kriege dürften höchst wahrscheinlich unsere Nachkommen andere Meinung haben als wir.

Um nun zu einer anderen, richtigeren und humaneren Beurtheilung und Behandlung eines Verbrechers zu gelangen, dadurch aber auch die Zahl der Verbrecher für die Folge mindern zu helfen, lasse man sich Folgendes gesagt sein. Der Mensch, wenn er gesund geboren wird, bringt einen Apparat in seinem Körper mit auf die Welt, durch dessen Hülfe er denken, fühlen und wollen, also geistig thätig zu sein vermag. Dieser Apparat ist das Gehirn (in der Schädelhöhle) mit seinen Nerven und mit den Sinnes- und Empfindungsorganen. Von Haus aus besitzt nun aber das Gehirn eine bestimmte geistige Thätigkeit, sowie einen angeborenen Trieb zum Guten oder Bösen, zum Glauben oder Aberglauben, durchaus nicht; Alles dies muß in ihm erst angeregt und durch Gewöhnung anerzogen werden, ganz so, wie die verschiedenen Bewegungsapparate auch erst durch Uebung (Gewöhnung) ihre Geschicklichkeiten (Sprechen, Singen, Clavierspielen, Tanzen, Turnen etc.) erlangen müssen. Die Anregung zur geistigen Arbeit empfängt das Gehirn durch die Eindrücke, welche in dasselbe von der Außenwelt durch die Sinnesorgane und Sinnesnerven, aus unserem eigenen Körper aber durch die Empfindungsnerven hereingeschafft werden. – Menschen, die man gleich nach ihrer Geburt soviel als möglich den Eindrücken auf die höheren Sinne entzog (z. B. Caspar Hauser), blieben so lange geistlos, [263] bis ihrem Gehirne durch Auge und Ohr die geistige Thätigkeit angefacht wurde. Menschen, die von Jugend auf taub und auch blind sind, können trotz eines gesunden Gehirns nimmermehr einen ordentlichen Menschengeist bekommen. Und wollte man Menschen von ihrer Geburt an nur mit Thieren umgehen lassen, so würden sie, natürlich nur so weit es ihre körperliche Einrichtung gestattet, sich nur thierische Manieren und thierischen Geist (von den Laien „Instinct“ genannt) aneignen. – Daß das Gehirn schon von Geburt an seine Arbeit beginnt – anfangs allerdings ohne alles Bewußtsein nur wie automatisch und mit Hülfe der sogenannten Ueberstrahlung (des Reflexes) der Nerven – ist deshalb eine Nothwendigkeit, weil bei gesunden Sinnen fortwährend und ganz unwillkürlich Eindrücke auf das Gehirn durch die Sinnes- und Empfindungsnerven geschehen. Jedoch richtet sich die Hirnarbeit ganz und gar nach der Art der Eindrücke und steigert und vervollkommnet sich ganz allmählich durch die Gewöhnung. Was und wie das Gehirn später arbeitet, ist immer nur das Product der früheren Eindrücke und der Angewöhnung. Durch das verschiedene Einwirken verschiedener Eindrücke kann die Hirnthätigkeit (ebenso beim Thiere wie beim Menschen) ganz verschieden ausgebildet werden. Man kann den Menschen in Folge dieser Bildungsfähigkeit seines Gehirns durch Gewöhnung (das ist die öftere Wiederholung derselben Eindrücke) ebenso leicht zum Guten, wie zum Bösen erziehen und ihm von Jugend auf solche Ideen in das Gehirn einpflanzen, daß er dieselben mit auf die Welt gebracht zu haben fest behauptet. Die Hauptregel bei der Erziehung eines Menschen ist deshalb auch: von seiner Geburt an Alles von ihm abzuhalten, an was er sich nicht gewöhnen soll, dagegen das, was ihm zur andern Natur werden soll, beharrlich zu wiederholen.

Werden denn nun aber von den Erziehern diese aus der Beschaffenheit und Thätigkeit des Gehirns sich ergebenden Erziehungsregeln gekannt und bei der Erziehung ihrer Kinder befolgt? Durchaus nicht. Bis zu den Schuljahren, zu welcher Zeit erst die meisten Eltern nun den Verstand des Kindes gekommen meinen, wird das Kind in seiner Erziehung ganz und gar dem Zufalle, der Wärterin, Großmutter, Tante und dergleichen Personen überlassen, die von Erziehung keine Idee haben und gewöhnlich Alles thun, um das Kind zu verziehen. Diesen und den verschiedensten Erziehungseinflüssen ist es auch zuzuschreiben, daß Kinder derselben Eltern oft ganz verschiedentlich geartet sind, wie auch, daß manche Kinder gebildeter und streng rechtlicher Eltern in moralischer Beziehung den Eltern auch gar nicht ähneln. Gerade die ersten vier bis sechs Lebensjahre sind für das ganze zukünftige Leben die allerwichtigsten, weil schon jetzt die Grundlage der Moral für’s ganze Leben gelegt werden muß. In der Schule, welche in der Regel schon moralisch verkrüppelte Kinder übernehmen muß und das wieder gut machen soll, was im elterlichen Hause verdorben wurde, kann wohl der Geist gebildet und vervollkommnet werden, die moralische Erziehung muß aber schon früher im Hause ihre feste Grundlage erhalten haben. Unterrichten und belehren läßt sich ein mündig gewordener Mensch wohl noch, erziehen aber nicht mehr. Würde man das Leben eines Verbrechers nicht erst von seiner Schulzeit an, sondern schon von seinen ersten Lebensjahren an genau erforschen, so würde man sicherlich den Grund seiner bösen Thaten in einer schlechten Erziehung während seiner ersten Lebenszeit finden. Man bedenke doch, daß aus einem neugebornen Menschen, ebenso wie aus einer weichen Modellirmasse, je nachdem diese in die Hände eines Geschickten oder eines Stümpers geräth, ebensowohl etwas Gutes wie Schlechtes hervorgehen kann, und daß, wenn so viele böse Beispiele auf kleine Kinder von Seiten ihrer Umgebung verschlechternd einwirken und wenn eine Menge von possirlichen schlechten Streichen, die nach und nach zu abscheulichen Lastern heranwachsen, dem lieben Kinde von seinen kurzsichtigen Eltern nachgesehen werden, hierdurch der Mensch schon in seiner ersten Lebenszeit moralisch vergiftet wird. Kurz, nur aus den Erziehungsfehlern, welche in der ersten Lebenszeit des Kindes von den Eltern, zumal von den Müttern, gemacht werden, geht die Charakterverderbniß hervor, die später den Erwachsenen zum Verbrecher macht, und deshalb sollte dieser auch weit weniger für sein Verbrechen verantwortlich gemacht werden, als seine ersten Erzieher.

Um nun der Erziehung von Verbrechern entgegenzutreten und so Verbrechen immer seltner und seltner zu machen, dazu müssen zuvörderst die Schulen das Meiste beitragen. Sie müssen durchaus dahin streben, daß die Schüler vom menschlichen Körper und Geiste richtigere Ansichten als jetzt bekommen, und daß sie erfahren, daß der Verstand, sammt menschlicher Tugend, nicht zu einer bestimmten Zeit in die Menschen so ohne Weiteres hineinfährt, sondern vom ersten Tage des Lebens an im Gehirne nach bestimmten Regeln ganz allmählich durch Gewöhnung (Erziehung) entwickelt werden muß. Werden so aus den Eltern durch eine richtige Kenntniß von der Entwickelung des menschlichen Verstandes und moralischen Charakters verständige Erzieher erzogen, dann können auch die Schulen, weil sie nun nicht mehr solche moralische Krüppel wie jetzt aufzunehmen gezwungen sind, in moralischer Hinsicht weit mehr leisten, als dies jetzt der Fall ist. – Wie die Arbeit, zumal in freier Natur, in Feld und Wiese, im Garten und Wald, bessernd auf die allermeisten in der Erziehung verwahrlosten Menschen, besonders Kinder, einwirkt, davon liefert das Pestalozzistift in Leipzig (unter Director Dießner) die schlagendsten Beweise. – Doch es soll hier nicht ausführlicher in die Art und Weise eingegangen werden, wie man Verbrecher für die menschliche Gesellschaft nicht nur unschädlich, sondern auch nützlich zu machen im Stande ist; es sollte nur das Humanitätsprincip angedeutet werden, nach welchem ein Verbrecher zu beurtheilen ist.
Bock.




Vor zwanzig Jahren.[1]
Beim ersten Begräbniß im Urwalde.
Von Caspar Butz.

Ich führ’ Euch in des Urwalds dichtes Grün,
Dort, wo er aufwärts strebt, frei, ohne Schranken;
Wo ihn die Bildnerin Natur läßt blüh’n,
Als schönsten ihrer schaffenden Gedanken,
Als Bild des Lebens auch, des Kampfes Bild,
Wo stolz das Licht der Riese nimmt dem Zwerge,
Bis, nach des Riesen Sturz, vom Boden quillt
Das Pflanzengrün, das ihn für immer berge.

Die erste Lichtung! eng noch ist der Raum;
Sieh’ dort die blitzgespalt’ne hohe Eiche!
Der Aexte Spur an manchem knorr’gen Baum
Verkündet Untergang dem Waldesreiche.
In dieser Blätterstille soll fortan
Sich frisch entfalten neues junges Leben;
Und doch! die erste Arbeit, die gethan,
Es ist ein Grab und dort der Sarg daneben.

Auch hier der Tod! – er fordert stets sein Recht,
Und greift am liebsten in das reichste Leben,
Wo, neuer Hoffnung voll, ein kühn Geschlecht
Nach neuen Zielen muthig pflegt zu streben.
Die alte Frau zog mit den Kindern fort,
Um hier zuerst im Sarge Ruh’ zu haben,
Von ihr auch gilt des düstern Dichters Wort:
„Die Heimath hätte leichter sie begraben.“

Ein ernstes Häuflein, doch ein Häuflein nur,
Versprengt von Deutschlands letzten Kampfesstätten;
Im dunklen Walde suchen sie die Spur
Der Freiheit, die sie nicht mehr konnten retten.
Des Waldes rothe Söhne sitzen mit
In diesem Kreise, ohne Scheu und Zage,
Zu lauschen, eh’ nach Westen geht ihr Schritt,
Des Weißen erster, ernster Todtenklage.

Dort auf dem Riesenstumpf der Tanne steht
Ein bärt’ger Mann; der Rede wartet Jeder;
Wie ihm der Wind durch volle Locken weht,
Sonst sprach er wohl von anderem Katheder!
Ich kenn’ ihn längst: einst stand sein Haus am Rhein,
Ein gastliches Asyl den Kampfgenossen;
Jetzt trägt sein Haar, mit Ehren, Silberschein,
Denn zwanzig Jahre sind seitdem verflossen.

Ja zwanzig Jahr! – doch damals sprach sein Mund,
Am off’nen Grabe dieser ersten Todten:
„Auch diese sank hinab zum Erdengrund,
Wie stets noch die Nothwendigkeit geboten.
Ob wir vergeh’n auch, ewig ohne Spur,
Was wir geschaffen, bleibet unverloren,
Nichts ist der Name, strebt und wirket nur,
Bis einst die freie Menschheit wird geboren.“


[264]

Bist Dir so sicher, Freund? Ist’s mehr als Wahn,
Daß auch noch Träume diesen Schlaf durchbeben?
Wir stehen Beide auf demselben Plan,
Doch – ewig Räthsel bleibt das Menschenleben.
Vermodert ist die Todte längst im Grund,
Der Du den Leichenspruch im Wald gehalten;
Fast selbst der Wald verschwand, so farbenbunt,
Und um Euch seh’ ich andere Gestalten.

Ein neu Geschlecht, gezeugt in Kampf und Noth,
Im Ringen mit des Urwalds schweren Schollen,
Dem selber schon das harte Lebensbrod
Der Acker, tiefgepflügt, muß willig zollen!
Die junge Zucht, wie sie im Wald erstarkt!
Schon lenkt der Sohn des Vaters Ackerpferde,
Er zieht für Euch schon auf des Lebens Markt
Und theilt mit Euch die Arbeit und Beschwerde.

Auch nicht vergaß er unsrer Heimath Land;
Wie eine Sage klingt’s durch Halm und Schoten,
Wie wir das Dörflein tausend einst benannt
Nach Deutschlands unvergess’nem Martyrtodten.[2]
Die Kirsche reift, der Birnbaum blüht in Pracht,
Wenn auch den Wein versagen diese Breiten,
Bald, wie am Rhein, wird aus des Waldes Nacht
Ein deutscher Markt emporblüh’n in die Zeiten.

Uns aber einigt noch der alte Geist,
Auch er ist ewig wie der Himmelsbogen;
Noch nicht verduftet war er, wie Du weißt,
Als wir gar traute Zwiesprach jüngst gepflogen.
Versprengt einst in Columbias Urwaldsgrün,
Ein Fähnlein, wund, in Thränen und in Trauern:
Was Ihr geschaffen, wird in frischem Blüh’n
Noch manch Jahrzehent kräftig überdauern!

Chicago im Juni 1869.


  1. Der Verfasser dieser schönen, gedankenreichen Strophen gehört zu der großen Schaar derjenigen, welche im Jahre 1848 infolge der politischen Verhältnisse der deutschen Erde den Rücken kehren und sich jenseits des Oceans eine neue Heimath gründen mußten. Er lebt gegenwärtig in Chicago und gilt, wie man uns von befreundeter Seite, der wir auch das Gedicht verdanken, schreibt, als der bedeutendste deutsch-amerikanische Dichter.
    Die Redaction.
  2. Robert Blum.


Berliner Erinnerungen.
Von Eduard Devrient.
1. Spontini.

Als ich, im April 1819, zur Berliner Oper trat, fand ich Alles erregt von der bevorstehenden Ankunft Spontini’s. Der Componist von Vestalin und Cortez sollte an die Spitze unseres Musikwesens gestellt, das leidenschaftliche Feuer des Romanismus zum Correctiv für unsere etwas michelhaft gewordene Opern-Direction gemacht werden.

Ein junger Bursch im achtzehnten Jahre, wie ich damals war, konnte sich wohl in seinem Enthusiasmus den frohen Erwartungen anschließen, welche viele aufrichtige Musikfreunde von dieser Veränderung hegten. In dem Kammergerichtsrath T. A. Hoffmann, dem sogenannten Phantasie-Hoffmann, der damals auf der Höhe seines schriftstellerischen Ruhmes stand, fanden diese Spontini-Verehrer einen treibenden Mittelpunkt.

Es war die Zeit, wo die Intendanz des Grafen Brühl schon den Culminationspunkt ihres überkommenen Glanzes erreicht hatte und man anfing den Sachverstand Iffland’s zu vermissen, das Hoftheater der vornehmen Bequemlichkeit und des trägen Sichgehenlassens zu beschuldigen.

Die Opernvorstände waren allerdings damals nicht geeignet, diesen Vorwürfen die Spitze zu brechen. Der erste Capellmeister Bernhard Anselm Weber war wohl ein tüchtiger Mann und hatte sich das Verdienst erworben, die Gluck’schen Opern, welche er auf seiner Reise nach Paris, in Begleitung seines Freundes Kotzebue, gründlich und enthusiastisch studirt hatte, in Berlin vollständig heimisch zu machen, wobei ihm der glückliche Umstand zu Hülfe kam, daß er hintereinander zwei für das Großartige geborene weibliche Talente in Frau Schick, dann in Frau Milder fand. Er hatte, der Instrumentirung mehr Posaunen hinzugefügt und rief auf den Proben den Bläsern vor jedem Eintritt mit energischer Baßstimme noch sein „stark“ zu, aber für die rührenden Stellen war er nicht weniger empfänglich, und in vielen Scenen seiner Lieblingsoper „Alceste“ sah man die Thränen über seine dicken Wangen rollen. Im Allgemeinen hing er im Dirigiren der alten Kraftmanier an, die im energischen Zusammenhalten der musikalischen Kräfte ihre Aufgabe beschlossen glaubt. Früher hatte er, nach alter Sitte, mit zusammengerollten Notenblättern tactirt; da dies aber nicht durchgreifend genug wirkte, hatte er sich etwa fußlange Rollen von starkem Leder mit Kälberhaaren ausstopfen lassen, und mit diesen kleinen Lederprügeln bearbeitete er die Partitur so gründlich, daß ein wankendes Tempo im Orchester nicht möglich war, aber nicht selten die Naht des Lederprügels barst und die Kälberhaare umherflogen.

Diese Tactirpolster und ihre Consequenzen sind noch von Weber’s Nachfolgern in Wirksamkeit erhalten worden.

Der sogenannte dicke Weber hatte manche gute Musik componirt, so die zu Schiller’s „Jungfrau von Orleans“, die auf den meisten Bühnen noch gebräuchlich ist. Er componirte sehr langsam und schwerfällig, und bedurfte zur Anregung seiner Erfindung und der instrumentalen Ausarbeitung vieler Hülfsmittel. Der Orchesterdiener gerieth immer in Verzweiflung, sobald es hieß, der Capellmeister werde dies oder jenes componiren, weil dann das schwere Hinzutragen von Partituren anderer Componisten, die Weber bergehoch um sich häufte, kein Ende nahm.

Man hatte dem Capellmeister einen Famulus in der Person eines Cantors und Organisten gegeben, der, als ich eintrat, schon zum Musikdirector vorgerückt war. Ein stilles Männchen mit einer Lammesseele, mit untergeordneten Fähigkeiten, der aber, für Vorgesetzte und Untergebene das unschätzbare Verdienst besaß, sich Alles gefallen zu lassen und nur mit sanfter und hoher Stimme durch „o, o, o, o!“ dagegen zu protestiren; wie er mit demselben Tone seine eigenen Reden vielfach wichtig zu wiederholen pflegte. Er trug das Haar noch eingepudert, wie der dicke Weber, und das Sommerhalbjahr hindurch Nankingbeinkleider und leichte Schuhe, die ihm seine ordnungliebende Frau am Kalendertage des Frühlingsanfangs vor das Bett legte, die Tuchkleider unerbittlich verschließend, mochte der arme Mann auch zähneklappernd durch die eisigen Berliner Lenzestage wandeln.

Daß aus diesen Dirigenten aus der alten guten Zeit die Befriedigung der neuen nicht zu erwarten stand, hatte Graf Brühl sehr wohl begriffen und deshalb den berühmten Violoncellisten Bernhard Romberg durch eine Capellmeisterstelle von weiteren Reisen durch die Welt abgehalten.

Romberg, der über sein vorgerücktes Alter durch eine blonde Perrücke und eine immer freundliche Miene nicht zu täuschen vermochte, hatte wohl Mühe, aus der Virtuosen-Meisterschaft sich zu vollständiger Reproduction einer Partitur hindurch zu arbeiten. Seine Gewandtheit ließ ihn aber Eines, die Direction der singenden Personen, zu deren größter Befriedigung leisten. Er tactirte leise und mit einem nur dünnen Stäbchen, aber er schob damit den Singenden ihren Eintritt unfehlbar zu. Ein Witzbold sagte: er füttere seine Sänger mit dem Stäbchen wie junge Vögel.

Romberg, ein unabhängiger Mann, von berechtigtem Selbstgefühl, forderte, sobald die Anstellung Spontini’s als General-Musikdirector entschieden war, seine Entlassung. Er wollte sich eine subordinirte Stellung nicht gefallen lassen, und nicht unter einem Manne, sagte er, dessen Genie er anerkenne, der aber ein musikalischer Ignorant und ein egoistischer Intriguant sei. Er habe ihn lange genug in Paris gekannt und wolle nichts mit ihm zu thun haben.

Diese Aeußerungen waren wohl bedenklich, aber Romberg’s gekränkter Ehrgeiz benahm ihnen viel von ihrer Geltung.

Ueber die Anstellung Spontini’s herrschte noch viel Dunkel. Man wußte, daß der König auf Betrieb seines sehr musikalischen Flügeladjutanten, von Witzleben, in Paris im Jahre 1815 die Absicht verfolgt hatte, eine der dortigen musikalischen Berühmtheiten nach Berlin zu ziehen. Cherubini wurde zunächst in’s Auge gefaßt, der aber lehnte ab und verwies auf Spontini, der vermuthlich annehmen werde. Nun begannen mit diesem die Unterhandlungen, die sich mehrere Jahre hinzogen, bis der unverdient schwache Erfolg seiner Oper „Olympia“ in Paris ihn den Berliner Anträgen geneigter machte. Ohne Zuziehung des General-Intendanten wurde nun die Anstellung abgeschlossen; es cursirten über die Bedingungen allerlei theilweise fabelhafte Gerüchte, gewiß war aber, daß selbst, als der neue General-Musikdirector eingetroffen war, der Graf von Brühl nicht den Umfang der Competenzen kannte, welche demselben zugesichert waren.

[265] Romberg hatte nun das Feld geräumt, der alte Bernhard Anselm Weber war zu Tode krank, für Spontini wurde eine theure Wohnung auf dem Gensd’armenmarkt gemiethet und mit den von Paris gekommenen Möbeln ausgestattet, im Theater bereitete man die Vorstellung der „Vestalin“ zu des Meisters Empfange vor, der endlich am 28. Mai 1820 eintraf.

Ich sah ihn zum ersten Male, mit seiner Frau am Arme, über den Opernplatz kommen. Neben ihm ging ein Berliner Oberbaurath, von Paris her ihm schon befreundet, der auch sein treuer Anhänger durch allen Wechsel seiner Berliner Zustände geblieben, und dessen behaglich corpulente Gestalt die seinige um so schmächtiger und feiner erscheinen ließ. Sein schmales, gelbliches Gesicht war häßlich zu nennen, die Miene sprach den ausgeprägtesten Ehrgeiz und ein feindseliges, in sich zusammengezogenes Selbstgefühl aus. Er trug das schwarze Haar in den Schläfen flach geschnitten; als er grüßte, fiel mir dagegen das über die Stirn etwas schief aufgestellte Haar auf, eine Frisur, die das längliche Gesicht noch länger machte. Blitzende braune Augen, Nase und Mund ziemlich formlos, ein schmaler, dünner Backenbart, der sich über den großen steifen Hemdkragen bog, bezeichneten die Physiognomie. Nach damaliger Mode trug er ein dickes weißes Halstuch, aber vom feinsten Musselin, unter demselben das rheinhessische Comthurkreuz, eine weiße Weste, grasgrünen Frack mit gelben Knöpfen, die Decoration der légion d’honneur im Knopfloche, Pantalons von leuchtender Senffarbe und feine spitzige Stiefel an den aristokratisch kleinen Füßen.

Die Frau war von eleganter Gestalt, bei einer gutartig fügsamen Miene zeigte ihr Gesicht angenehme, aber gleichsam verwischte Züge, wie ein Bild, über das Jemand mit dem Schwamm hingefahren ist. Dieser erste Anblick Spontini’s rief mir Romberg’s Aeußerungen in’s Gedächtniß und stimmte mich sehr erwartungsvoll.

Die Empfangsoper „die Vestalin“ verlief nicht sonderlich zu unserem Ruhme. Das Total war befangen und ohne Selbstvertrauen, die Besetzung mangelhaft. Neben frischen Talenten ersten Ranges, wie Bader und die Frauen Milder und Schulz, mußte Cinna von einem hochbetagen Tenoristen, der Oberpriester vom Baßbuffo gesungen werden, dem im zweiten Finale beim Fluche das hohe e dergestalt umschlug, daß lautes Gelächter entstand. Er entschuldigte sich nachher, ihm habe schon seit mehreren Tagen eine Fischgräte im Halse gesteckt, die bei diesem starken Accente flott geworden sei; aber es war bekannt, daß das gestrichene Baß e schon seine Stimmgrenze war.

Spontini bereitete zunächst eine Aufführung des Cortez vor, die vier Wochen später stattfand und die uns sogleich in das Wesen seiner Directionsfähigkeit einführte.

Er nahm die Solopartien in seinem Salon am Clavier durch. Mit seiner hohen, klanglosen Tenorstimme und bei sehr mangelhaftem Clavierspiele wußte er dennoch die Singenden über alle Intonationen seiner Composition zu verständigen. Gelegentlich sprang er auf und agirte diesen oder jenen Moment der Darstellung mit den outrirten Gesten der französischen Tragödie; wie er denn überhaupt schon hier im Zimmer und am Clavier den Schwerpunkt seiner Effecte auf den schroffsten Wechsel des Ausdrucks legte. Die zärtlichen Stellen wimmerte er förmlich, die leidenschaftlichen schleuderte er, wie Zeus Blitze, von sich, für den priesterlichen Baßausdruck hatte er sich die Andeutung eines hohlen Glockentones erfunden. Das Alles war von hochgespanntem, ja übertriebenem Ausdruck, grenzte sogar an das Lächerliche, dennoch wußte er selbst bei diesen Preisgebungen eine reservirte Vornehmheit zu behaupten.

Merkwürdig war mir, daß, als einer der Sänger äußerte: bei diesen leidenschaftlichen Compositionen habe er doch wohl nur Champagner getrunken, er uns versicherte: er habe, während er den Cortez geschrieben, nur von Milch und Weißbrod gelebt, er scheue physische Aufregung beim Schaffen.

Am Dirigirpulte, inmitten des Orchesters, war Spontini erst an seinem rechten Platze, wie ein General an der Spitze seines Armeecorps. Er tactirte auch nur mit einem feinen schwarzen Stäbchen und berührte die Partitur kaum, dennoch bezeichnete er mit energischen Rucken und kurzen Luftstreichen vor sich hin die Eintritte mit fortreißender Gewalt. Besonders die Accorde zwischen den Recitativen mußten wie Donnerschläge dreinfahren. „Martelez!“ rief er dann mit aller Anstrengung seiner schwachen Stimme hinein, oder, wenn er vorher seine Intention deutlich machen wollte: „pang, pang, pang!“ mit einem Fußtritt steigernd; auch wenn er ein feuriges Tempo in Gang setzte, wie zum Commando eines Cavallerieangriffs: „allez!“ und „en avant!“ Für das sforzato verlangte er die gewaltsamsten Rucke und Stöße, während er für das piano, das er mit der immer dazu ausgespannten linken Hand dirigirte, kaum ein Berühren der Saiten mit dem Bogen, kaum einen Hauch in den Blasinstrumenten duldete. „Rien qu’un souffle!“ commandirte er leise und stieß ein scharfes Zischen durch die Zähne. Dazu stand Spontini unbeweglich, die Arme rechts und links winkelrecht hinausgestellt, und seine Miene behielt, bei den düster blitzenden Augen und dem festgepreßten Munde, etwas Grimmiges.

Diese übertriebenen Effecte, welche auf die Dauer das Orchester sehr zu verderben drohten, wurden durch mehr als genügende Proben zu solcher Präcision und durchschlagenden Gewalt eingeübt, brachten einen so nervenerschütternden Eindruck hervor, daß das Publicum ganz berauscht von diesen Aufführungen wurde und natürlich diese starken Sensationen dem bisherigen gemächlichen Operngange vorzog.

In dieser Weise studirte denn Spontini auch die Vestalin zum ersten October ein. Er stellte die Integrität des Werkes im dritten Acte wieder her. Von Weigel’s eingelegter Arie für Licinius durfte natürlich die Rede nicht sein. Die Arie des Cinna wurde wieder hergestellt; ebenso die Cavatine der Julia, bevor sie in’s Grab steigt. Die Sängerin capitulirte mit ihm, sie sei zu ermüdend. Da wurde Spontini in ganz fremder Weise belebt, er erklärte dies Musikstück für sein liebstes in der Oper und für ein Schmerzenskind. Er habe zur Zeit, da er die Vestalin componirte, ein junges Mädchen geliebt, die so schön, o so sanft und zart gewesen sei und die gestorben, als er mit seiner Arbeit bis zum dritten Acte gekommen. Er sei in Verzweiflung gewesen, auf dem Teppich habe er sich gekrümmt, vor Schmerz habe er sich tödten wollen. Da habe er alle seine Thränen in diesen Abschied vom Leben ergossen und das sei der Anfang seiner Genesung gewesen.

Ich habe bei Spontini niemals wieder so tiefgehendes menschliches Regen beobachtet, diese Weihe seiner Jugendliebe scheint keinen dauernden Einfluß auf sein Leben gehabt zu haben. Natürlich war die von dieser Erzählung sehr gerührte Sängerin augenblicklich bereit, die Arie zu singen.

Das Studium dieser beiden Opern konnte als die Vorschule gelten, in der Spontini sein Personal für fernere Aufgaben sich erzog. Ausbleiben aber konnte nicht, daß seine ungewohnten Anforderungen an das Personal, sein Uebermaß von Proben, deren anstrengende, endlose Dauer belästigend wirkten, daß sein grimmiger Eifer und sein gänzlicher Mangel an Humor ihn nicht die rechte Behandlung der Leute finden ließ, daß man bald nur zu deutlich gewahr wurde, daß er die Menschen nur als Mittel zu seinen Zwecken achtete, also eigentlich gar nicht, daß er die Deutschen in’s Besondere geringschätzte – und so begann eine Verstimmung um sich zu greifen, die ihm nur darum nicht hinderlich wurde, weil man ihn bewaffnet mit der ganzen königlichen Gunst, also allmächtig glaubte. Daß an diesem Glauben Wahres sei, sollte sich um diese Zeit darthun.

Am Abend des zweiten October fand ich eine unheimliche Stimmung auf der Bühne, man steckte die Köpfe zusammen, die Beamten des Bureaus, alle dem Grafen Brühl aufrichtig ergeben, liefen geschäftig hin und wider. Ich erfuhr denn, daß heute – ob in Folge einer Differenz zwischen Spontini und dem Grafen Brühl, war nicht klar – der General-Musikdirector die ganze Machtvollkommenheit seiner Dienstinstruction geltend gemacht habe. Nach derselben stehe ihm die Verfügung über alle musikalischen Mittel und Kräfte zu, die Entscheidung über die aufzuführenden Werke, das unbedingte Directionsrecht etc.; kurz Spontini sei keine dem General-Intendanten untergeordnete, sondern eine ihm beigeordnete Autorität. Der Dualismus der Herrschaft mit all’ seinem Unheil war also erklärt.

Zunächst hatte der Graf Brühl die richtige Maßregel angeordnet, das ganze Musikwesen dem General-Musikdirector zur Leitung und Verantwortung zu übergeben; die Beamten sollten mit ihm die Nacht hindurch arbeiten, um alle actenmäßigen Competenzen am nächsten Morgen auf die General-Musikdirection, die nun gebildet werden sollte, zu übertragen.

[266] Wenn die weiche Persönlichkeit des Grafen Brühl im Stande gewesen wäre, diese Einrichtung mit Festigkeit in aller Consequenz einzuhalten, so hätte entweder der Competenzstreit, der von nun an zwanzig Jahre lang der Krebsschaden des Hoftheaters bleiben sollte, mit einer Verzichtleistung Spontini’s auf alle amtliche Gewalt – für die er nicht eine einzige Eigenschaft besaß – enden müssen, oder es wäre die Trennung der Oper vom Schauspiele daraus hervorgegangen; eine nicht hoch genug anzuschlagende Wohlthat, die gerade um diese Zeit dem Wiener Hoftheater zu Theil wurde. Statt dessen geriethen die Angelegenheiten durch den Wankelmuth des Grafen Brühl in das Wirrsal der halben Maßregeln, das der Rücksichtslose immer zu seinem Vortheile durchbricht.

Die nächste Aufgabe der Oper war nun das Studium der Olympia von Spontini. Die Vorbereitungen dazu erregten durch ihre völlig ungewohnte, höchst anspruchsvolle Umfänglichkeit die größten Erwartungen. Spontini liebte es, in zahlreichen Conferenzen aller betheiligten Vorstände die Bedeutung und die Intentionen des fraglichen Werkes in langen Reden auseinanderzusetzen, um auf die Anwesenden wo möglich seinen eigenen Enthusiasmus für die vorhabende Arbeit zu übertragen. Dann rückte er mit seinen außerordentlichen Ansprüchen für das außerordentliche Werk hervor, und Graf Brühl war bemüht, durch Erfüllung aller seiner Wünsche ihm jede Beschwerde über Hinderungen und üblen Willen abzuschneiden.

Kein Geringerer als Schinkel wurde veranlaßt, die Entwürfe zu den Decorationen für Olympia zu machen, der Phantasie-Hoffmann übernahm die Uebersetzung des Textes. Für den Triumphzug im letzten Acte wurden die kostspieligsten Versuche gemacht und verworfen, um für Statira einen Triumphwagen von auffallendster Pracht, für Cassander einen Elephanten zu schaffen, auf dessen Nacken reitend der Held seinen Einzug halten sollte. Es wurden zwei riesengroße und starke Männer durch die ganze Stadt und alle Garderegimenter gesucht, welche im Stande sein möchten, die Vorder- und Hinterbeine des Elephanten herzugeben und zugleich das Thiergestell sammt seinem Reiter zu tragen. Die Angelegenheit beschäftigte die Stadt ganz so allgemein, wie damit beabsichtigt war.

Bis zu der Grundlage von sieben Contrabässen wurde die Zahl der Musiker vermehrt, der Orchesterraum vergrößert; demnach hatte das altgewohnte kleine Clavier unter dem Dirigentenpulte keinen Platz mehr, es wurde ausgewiesen. Zur Verstärkung des Theaterchors wurde eine bedeutende Anzahl von Extrachoristen herbeigezogen, und der alte, kleine, corpulente Chordirector eiferte sein rothes Gesicht mit den krausen, weißen Haaren bis in’s Violette beim Eingeigen und Einschreien der schweren Chöre an ungeübte Leute. Der Clavierproben im Salon Spontini’s waren unzählige, die großen Musikproben wurden aus dem allerdings ungeeigneten Probesaale des Schauspielhauses in den Concertsaal versetzt, Alles wurde groß und breit und aus der Fülle einer souverainen Gewalt angelegt und auch so durchgeführt. Bei der Scenirung war Spontini auf der Bühne, betheiligte sich bei der Regie mit großem Eifer. Dabei ging es aber sehr regellos zu; immer neue Einfälle verdrängten die bereits getroffenen Einrichtungen; diese überaus abspannende Arbeit rückte daher langsam vor und rasch wieder zurück, und am nächsten Tage wurde wieder umgestoßen, was gestern mühsam festgestellt worden.

Da die Berliner Oper damals noch keinen Clavierspieler hatte, so wurde die Scenirung durch ein Doppelquartett sehr unvollkommen begleitet, das der Concertmeister Möser führte, der, der französischen Sprache mächtig, von Anfang an das Geschäft des Dolmetschers übernommen hatte und nach und nach der wichtigste Vertraute und Helfer Spontini’s wurde. Daß dieser nur französisch und italienisch – und letzteres in merklich neapolitanischer Mundart – sprach, auch mit der Zeit nur wenige deutsche Wörter lernte, sonderte ihn schon vom Personal ab und schärfte in jedem Augenblicke das Gefühl, daß er nicht hierher gehöre, nichts von uns verstehe. Er selbst empfand wenig davon, oder es wog, nach seiner Meinung, nicht schwer. Er provocirte französisch, als ob er noch in Paris wäre, überließ dem Regisseur auf der Bühne, dem Concertmeister im Orchester, das Wesentliche des Gesagten zu dolmetschen, wurde aber sehr zornig, wenn er sich nicht ganz verstanden sah, und zankte und schalt in sehr ausfallenden Redensarten, die zum Glück nur von Wenigen verstanden wurden.

In seinem Commandoton gefiel er sich zumeist. Mit Schlachtengrimm rief er in das Ensemble hinein: „En avant! martelez! plus fort!“ ja inarticulirte Laute rief er in das Fortissimo hinein, wie um es zu verstärken. Ein alter kleiner Bratschist, ein wunderlicher Kauz, hatte Ironie und Courage genug, ihm das nachzumachen, und da er sich vergewissert, daß es nicht auffiel, so schrie er in jedes einstürmende Fortissimo sein „Hurrah!“ aus voller Kehle hinein, und nicht selten ward dafür den Bratschenpulten ein billigendes Kopfnicken Spontini’s zu Theil, was denn den alten schreienden Schelm auf’s Höchste ergötzte. Nach der letzten Generalprobe aber pflegte der General-Musikdirector das Personal mit dem Feldherrnworte zu entlassen: „A revoir au champ de bataille!“


(Fortsetzung folgt.)




Alpenglühen in Leipzig.


„Wo? In dem richtigen sächsischen Leipzig? In der Schlachtenebene der alten Meß- und ‚Seestadt‘ an der Pleiße – Alpenglühen? –“

Ja! – Trotz des bedenklichen Kopfschüttelns von den Hunderttausenden unserer Leser beharren wir bei diesem „Ja!“ und werden das zweifelnde Schütteln der verehrten Häupter in freundliches Nicken verwandeln.

Ist uns nicht dieselbe Ungläubigkeit begegnet, als wir vor sechs Jahren, auf unsere grünen Elsterwiesen hindeutend, behaupteten, daß die dort mit weltbekanntem schrillenden Pfiffe aus einer dahineilenden Esse hervorrollenden weißen Wolkenzüge einem Dampfschiffe angehörten? Und doch ist seitdem ein flotter Dampfbootverkehr zwischen Leipzig und der Insel Helgoland (natürlich der so benannten Vergnügungswirthschaft im Dorfe Plagwitz) vollendete Thatsache. – Wer hätte draußen in der Welt kein Lächeln gesehen, als wir den kühnen Jubel aufschlugen über die „Romantik auf der Pleiße“? Aber eine einzige Mitfahrt unserer Leser durch eine mondbeglänzte Zaubernacht unserer Stromwälder brachte allen Spott zum Schweigen. – Wer verzog nicht höhnend den Mund, als diese deutsche Ketzerstadt sich unterfing, in der erzkatholischen Carnevalslust sich keck neben Rom und Venedig, Mainz und Köln zu stellen? Aber siehe, das stocknüchterne Leipzig war toller als alle und errang in der Narrheit den Kranz! – Hat endlich nicht ein vaterländischer Naturforscher erster Classe in Leipzigs nächster Nähe die unverkennbaren Spuren versunkener Gletscher entdeckt? Und in einer solchen Gegend sollte kein Alpenglühen möglich sein? – Ich weiß ein Verschen, das ganz auf diese Stadt und den vorliegenden Fall paßt:

Wer in Riesenberge
Wandelt Hügelzwerge,
Der macht von sich reden!
Winkt der Preis des Zieles:
Möglich machen Vieles
Männer und Moneten.

Diese sind es auch, welche Leipzig zur Stätte nicht nur des angedeuteten, sondern zugleich noch manches anderen kunstreichen Naturwunders erhoben, zu denen wir nun die Schritte lenken.

Unser Ziel ist das durch Tausende von Meß- und anderen Fremden weltbekannt gewordene Leipziger Schützenhaus, das seit 1847, wo es in die Hand seines jetzigen Besitzers kam, sich zum ersten und nobelsten Festplatz Leipzigs und seit dem so eben vollendeten Abschluß der Garten- und Prachtbau-Anlagen sicherlich zu einem der ersten Deutschlands emporgeschwungen hat. Früher begrenzte der Hinterseite des Hauptgebäudes gegenüber eine Tonhalle den großen, durch seine Fontaine und feenhafte Illumination berühmten Garten; dahinter standen die alten Schießhallen und jenseits derselben dehnte der Schießplatz bis zu den Schießmauern sich aus. Männer und Moneten verwandelten im vorigen Jahre diese von den Schützen verlassenen Räume in das große Gartenlusthaus Trianon mit balconenreichem Saal, Vorhallen, Dachaltan und zwei Thürmchen, deren rechter sich zur Linken unseres Bildes als Randwächter darstellt. Und von diesem Thürmchen aus, zu welchem eine Freitreppe emporführt, betrachten wir das Bild des [267] allerjüngsten Stücks Leipziger Zauberwelt, für die vom glücklichen Erbauer der vierundzwanzigste April zum Tag der feierlichen Einweihung bestimmt ward. Fast über Nacht ist hier in den letzten Monaten ein Etablissement entstanden, wie es origineller und großartiger keine Stadt Europa’s aufzuweisen hat.

O Ihr alten Schützen, da schaut her: was ist aus Eurer langweiligen Schießwiese geworden! Ein Wundergarten, von Bau- und Naturgebilden fernster Zeiten und Länder umrahmt! Das Bunte reizt den Blick zuerst. Darum schauen wir unwillkürlich zur Linken hinüber. Orientalisches Farben- und Formenspiel blitzt, glänzt und funkelt dort in lebendigstem Wechsel. Sie nennen’s Alhambra, was dort in drei Terrassen aufsteigt, gekrönt von der Riesenmuschel der Tonhalle und überragt von einer vor der Hand noch geheimnißvollen Thurmkuppel. Eine Kettenbrücke führt von dort über einen Abgrund zu einer mächtigen Felsenburg, die sofort an die Riesenburg der fränkischen Schweiz erinnert: – aber mehr als fränkische Schweiz ragt dahinter herein; glitzern nicht dort die Eiskanten des Hochgebirges? Sind das nicht die Alpen in Lebensgröße? Ja, sie sind es, und wo Eiskanten glitzern, da kann uns zu rechter Zeit auch das Alpenglühen nicht entgehen.

Die Felsenburg, von rauschenden Wasserstrahlen belebt, trägt auf ihrem Scheitel einen Tempel, auf welchem Atlas eine sehr große Weltkugel auf dem Rücken balancirt. Ein Felsenthor, hinter welchem abermals eisbekantete Alpenhäupter hervorblicken, verbindet den Fels mit einer Alm, wenigstens schaut gar schmuck hinter buschigem Grün ein Schweizerhaus hervor. Eine offene Halle, auf Säulen von rohen Holzstämmen ruhend und mit durchweg einfachem Naturausputz ausgestattet, rückt nun zur Rechten auf eine Ritterburg los, die sich theilweis noch wohl erhalten und wohnlich aus den Trümmern ihrer Vergangenheit erhebt. Damit schließt das Bild zur Rechten ab.

Nun hinab und in die Nähe dieser Herrlichkeiten! Unsere Illustration zeigt die höchst leichte Begrenzung des neuen Lustraumes durch Holzgerüstbogen, welche heiteren Schlinggewächsen zum Halte dienen sollen; von gleichem Styl und Material ist das hohe Mittelthor, beschützt von zwei ebenso luftigen Thürmchen. Die Säulen der letzteren umgeben zwei schöne Erz-Statuen: links die „Concordia“, rechts die „Industria“. Ein Schritt durch das Thor, und wir sehen zur Linken und Rechten vier Gruppen von Terracotta aufgestellt, zu deren genauerer Betrachtung wir zurückkommen. Mitten den Hauptweg vorwärts wandelnd und rechts und links umblickend erkennen wir bald, welch feiner Sinn hier gleich im Grundplan des Ganzen gewaltet. Während die Alhambraseite durch das heitere Spiel ihrer Formen und Farben in der That zu keinem ernsten Gedanken kommen läßt, imponirt die Felsenburg durch ihr Massiges, das aber durch seine Wasser- und Lichteffecte ebenfalls in’s Bereich der Heiterkeit zieht. Dagegen findet zur Rechten das abgehetzte Auge in Grün und Braun der Trinkhalle wohlthuende Ruhe, die von der Ritterburg keineswegs gestört wird.

Zwischen zwei wohlgebildeten Löwen (sie sind aus Paris) und anderem plastischen Kunstschmuck hindurch gelangen wir endlich vor die von zwei ägyptischen Erzgestalten bewachte Höhle des Felsen, zu dem eine Brücke über den Bach leitet, der wahrscheinlich von den Alpen des Hintergrundes herkommt. Wir betreten sie nicht, sondern wenden uns rechts der Wasserfläche zu, die wir am klügsten einen Alpensee nennen, denn ein solcher braucht durchaus nicht groß zu sein, es genügt, daß der Himmel sich schwindelnd tief in ihm spiegele. Und das thut er hier; vor Allem spiegelt sich aber in ihm ein gar hellfarbiger schlanker Fels, welchen Sachverständige als die Nadel der Cleopatra bezeichneten. Sie steht in einer Höhle, über welcher eine natürliche Felsenbrücke sich wölbt. Unfern davon winkt rechts eine Thür in unterirdische Räume. Wir folgen dem Wink bedenklich; aber welches Wohlgefühl beschleicht uns, wenn wir dort einen jener „kühlen Keller“ finden, wo man „sitzt bei einem Glas vom Besten“. Von der Ritter- bis fast zur Felsenburg dehnt der behagliche Raum sich aus, nimmt unter dem Schweizerhaus die Breite eines kleinen Saals an und steht hier mit der Oberwelt in directer Versenkungsverbindung. Da kann’s vorkommen, daß droben in der offenen Halle die vergnügten Menschen keine Ahnung davon haben, welche Seligkeit unter ihren Füßen, „tief unter der Erd’“, gepflegt wird.

Vom Schweizerhaus beschreiten wir den kühnen Felsenbogen, der zum Drachenfels führt, denn so nannte ein erfahrener Mann diese sagenreiche Stätte. Vorher haben wir Gelegenheit, die Alpenwelt zur Rechten mit den Eiskanten ihrer Rücken und Häupter mehr in der Nähe zu bewundern. Unsere Sehnsucht nach dem Alpenglühen nimmt dadurch außerordentlich zu.

So betreten wir denn die unheimlichen Hallen – und staunen. Offenbar ausgehauen in edelstes Felsgestein wölbt sich die Höhle, und bald da bald dort bleibt das entzückte Auge an köstlichem Kalktuff und Tropfstein, Erzstufen und Bergkrystall, Amethyst und Lapislazuli haften. Rauschende Wasser locken in die Tiefe, wir folgen einem halbdüstern Gang und stehen vor einem Aquarium, dessen Bewohner hier ewiglich zwischen Nacht und Licht schweben. Die Sehnsucht nach Licht treibt uns von dannen; wir steigen bis zu dem Tempel des Atlas hinauf und genießen hier den umfassendsten Rundblick, beste Genuß wir Niemandem durch eine Schilderung beeinträchtigen wollen. Nur das Eine müssen wir erwähnen, daß an einer scheinbar unersteiglichen Stelle des Fesenthors dennoch die Inschrift zu sehen ist: Kieselack 1869.

Wir stehen nun vor dem schwindelnden Steg, der Kettenbrücke über den Abgrund, auf welcher abermals zur Rechten der Blick in die Alpen sich aufthut. Diesmal aber reißt das, was vor uns sich präsentirt, uns zu gewaltig dreitausend Jahre in die Vergangenheit zurück, als daß die Alpen uns halten könnten: dort duften in üppigstem Flor und in zartester Miniaturausgabe die hängenden Gärten der Semiramis, – ein wahrhaft reizendes Plätzchen, und was wir früher als geheimnißvollen Thurm hinter der Tonhalle erblickten, klärt sich jetzt als Pavillon der Semiramis auf. – Eine Wendeltreppe läßt von hier in den Saal der Alhambra gelangen, von dem durch ein Gitter der Raum der Tonhalle abgesperrt ist, deren Bestimmung kunstvoll angedeutet wird durch zwei Statuen musikalischer Genien. Jenseits derselben beginnt auf der höchsten Terrasse eine Reihe offener Logen oder Boxes für Grüppchen und Trüppchen, die unter sich sein wollen. Darunter ziehen die offenen vasen- und statuettengeschmückten Terrassen sich hin bis zu einem hohen Altan, der sich über den Häuptern Derer breit macht, welche darunter im Kegelbahnsalon ihrem geräuschvollen Vergnügen ohne die geringste Störung ihrer Nachbarschaft nachgehen.

Die Dämmerung naht, und drüben winkt von der Ritterburg uns der Söller zur gemüthlichen Schau auf die Nachtstücke der Naturkunst und der Kunstnatur dieser neuen Welt in Leipzig. Jetzt führt unser Weg an den humoristischen Kindergruppen vorüber, die die Zierde einer Wiener Ausstellung waren. Sie stellen der Reihe nach dar: Handel und Gewerbe, Kunst und Wissenschaft, Jagd und Fischfang, Acker- und Gartenbau. Es thut Einem die Wahl weh, bei welcher dieser durchweg löblichen Beschäftigungen man bleiben soll, so reizend zeigen sie sich alle. Wir geben der des Malers, schon wegen seiner achtbaren Leistungen, den Vorzug.

Durch den halbverfallenen Burghof und die Vorhalle mit ihrem Kreuzgewölbe gelangen wir zur Steintreppe, die zum Söller der Burg hinaufführt. Hier ruhen wir aus im Anblick der volkdurchwogten Räume, denn nun wimmelt es überall, behäbig Wandelnde, neugierig Eilende, zwischen den bunten Damen die dunkeln Herren in der Alhambra, zwischen den dunkeln Herren die bunten Damen in der düstern Halle zwischen Burg und Schweizerei. Da richten sich plötzlich alle Augen nach dem Hochgebirg – ein tausendfaches Ah! durchhaucht die Luft – es beginnt die noch nie dagewesene Naturerscheinung – das Alpenglühen in Leipzig! – Athemlose Stille. Wie sie aufblühen – die Rosen im Schnee! Vom Scheidegruß der Sonne berührt, erröthen die Häupter mehr und mehr, je dunkler die Nacht zu Thale sinkt. Und endlich ist’s die volle Purpurgluth: von dem Purpurmantel, welchen die Berge dem Himmel zu umgeschlagen, sehen wir auf Erden nur den Saum, aber diesen in seiner vollen Herrlichkeit.

Und das dauert hier nicht etwa nur minutenlang, wie anderswo – i bewahre! Unser Alpenglühen überdauert den Sonnenuntergang. Lampe an Lampe erleuchtet Garten und Halle, aus den Höhlen des Drachenfelsen bricht unheimliche Gluth hervor, die Wasserfälle verwandeln sich in Gold- und Blutströme – die Himmelskugel des Atlas wird ebenfalls leuchtend und macht dem Vollmond meilenweit in der Umgegend siegreich Concurrenz; – und durch all’ dieses Leuchten, Strahlen und Flimmern hält das Alpenglühen Stand mit felsenstirniger Beharrlichkeit. Wir leben

[268]

Die neue Welt des Schützenhauses zu Leipzig.
Nach der Natur aufgenommen von Adolf Eltzner

[269] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [270] in einem Zauberreiche – ja, davon kann man reden! – Und die Erklärung des großen Spieles? –

„Möglich machen Vieles –
Männer und Moneten!“

Diese Männer sind der Bauherr, der Baumeister und die Bauleute. Das Schützenhaus verdankt die wahrhaft großartigen Erweiterungen und Einrichtungen, welche es weit über die gepriesenen Tivolis in Kopenhagen und anderen Großstädten und über das vielgerühmte Kroll’sche Etablissement Berlins erheben, wie oben bemerkt, seinem Besitzer, Herrn Karl Hoffmann, einem Manne, der zu den „selbstgemachten Männern“ Leipzigs gehört. Dem Grundzug seines eigenen Wesens entsprechend legte er bei allen seinen baulichen Unternehmungen das Hauptgewicht auf das Solide. Dafür zeugen die (von den Baumeistern Röhde und Lipsius ausgeführten) Prachtsaalbauten im Hauptgebäude, wie die Bauten des Trianon und des hier illustrirten neuesten Abschlusses desselben, die das Werk des auch als Schriftsteller in seinem Fache rühmlich bekannten Architekten Dr. Oscar Mothes sind. – Die Anerkennung von Seiten des Publicums fehlte bis jetzt dem Unternehmer nicht, und konnte das Schützenhaus während der Michaelismesse des vorigen Jahres, wo es noch höchstens zweitausendfünfhundert Personen zugleich Raum bot, nahe an sechszigtausend Besucher zählen, so wird es jetzt, wo deren viertausend zur selben Zeit sich hier des Lebens freuen können, sicherlich seine Gäste bis zum vollen Hunderttausend begrüßen.

H. v. C.




Der Fels der Ehrenlegion.
Novelle von Berthold Auerbach.
(Fortsetzung.)
6. Ein künstliches Manöver.

Wie einen Zugehörigen, in herzlicher Zutraulichkeit, hieß Louise den Bräutigam ihrer Freundin willkommen. Sie hatte auf dem nahen Gutshause die Zimmer freundlich für ihn herrichten lassen, und wie er ihr nun dankte, wie der Mann so jugendlich straffen Ansehens mit bewegter Stimme sprach und scheu, ja fast furchtsam erschien, wie er sie groß anschaute und dann die Augen niederschlug, als sie ihn bat, auch ihre Freundschaft anzunehmen – in allem dem lag ein seltsames Widerspiel.

Er erinnerte Louise an die Begegnung in der Residenz, und sie fand es sehr aufmerksam, daß er noch wußte, welches Kleid, welchen Kranz sie trug und was sie damals mit einander gesprochen.

„Wie gefällt er Dir?“ fragte Marie, als sie mit Louise allein war.

„Ich begreife nicht,“ erwiderte Louise, „wie man fragen kann, wie einem Andern der gefällt, dem man sein ganzes Leben widmet!“

Marie schien getroffen von diesem Ernste; sie entschuldigte sich, und ihre sonst so behende Redeweise hatte etwas Stockendes und Stotterndes, da sie hinzufügte, ihre Verlobung mit dem Rittmeister sei noch nicht so entschieden.

Mit dem Vater stand der Rittmeister schnell in gutem Vernehmen, er erklärte zwar alsbald, daß er nur wenig Theilnahme für die politischen Tagesbewegungen habe, aber die Art, wie er das Gut besichtigte, die sachgemäßen und kurzen Bemerkungen, die er doch wiederum gewandt und bescheiden in die Form von Fragen überleitete, gewannen ihm bald Achtung und Neigung des Vaters, der dies auch gegen seine Tochter ausdrückte.

Der Rittmeister erklärte gegen Marie, daß er sich weniger befangen gegen Louise als gegen deren Vater fühle. Er wollte wissen, ob der Vater vom Stande der Sache unterrichtet sei; aber Marie verbot ihm, weiter darnach zu forschen. Sie fand eine angenehme Reizung darin, daß auch der Vetter Rittmeister sich noch in einem Geheimniß bewege. Das gab seinem Benehmen jene weichen Töne, die ihr wirksam erschienen, und schließlich war sie sich selbst noch nicht klar, ob man den Vater in das Geheimniß ziehen dürfe. Einstweilen verschob sie die Entscheidung bis zu einem gelegenen Moment.

Die Großmutter hatte die Mutter des Rittmeisters gekannt, und es eröffnete sich nach dieser Seite hin eine unvermuthete, freundliche Beziehung. Die Großmutter, die sonst immer schweigsam in ihrem Lehnstuhle am Fenster saß, sprach öfter mit dem jungen Manne, in dessen Erscheinung nicht nur, sondern auch in dessen ganzem Behaben sie eine Aehnlichkeit mit seiner Mutter fand.

So waren die Tage auf dem Landgute schön und anmuthig belebt. Man ritt, man fuhr in der Gegend umher, man wandelte nach Aussichtspunkten im nahen Gebirge, und Louise konnte nicht umhin, wiederholt die Freundin glücklich zu preisen, solch’ einen Mann gefunden zu haben. Es erschien ihr gerade angemessen, daß die flatterhafte, immer zum Scherzen aufgelegte Marie einem Manne sich anschloß, der, zumal in Betracht seiner Jugend, einen haltungsvollen Ernst zeigte.

Es fügte sich oft, daß Marie mit dem Vater und Louise mit dem Rittmeister ging, und ein besonders ergiebiges Verständniß erschloß sich daraus, daß auch der Rittmeister im landschaftlichen Zeichnen geübt war.

Man arbeitete gemeinsam, man verglich die Aufnahmen und Louise konnte in der That dem jungen Manne, der, wie er sagte, sein Zeichentalent nur wenig geübt hatte, mancherlei Anweisung geben. Der Rittmeister war sehr gelehrig und überraschte sie oft, wie schnell er ihren Anleitungen nachzukommen verstand.

Marie zog sich oft zurück, wenn Louise mit dem Rittmeister zusammen war. Der Vater äußerte zu seiner Tochter, wie seltsam kalt und fremd ihm das Benehmen der beiden Brautleute vorkäme. Louise fand dies gerade höchst angemessen und sie schilderte den Charakter des Rittmeisters in theilnahmvoller, ja in inniger Weise.

Als der Vater Marien dies wiedererzählte, bat sie ihn, mit ihr in den Garten zu gehen, und hier erklärte sie offen den ganzen Stand der Dinge.

Der Vater war im Innersten betroffen, er erinnerte sich, wie oft die Schwiegermutter gesagt hatte, Marie hätte sollen Schauspielerin werden. Wie ist es nur möglich, solche Dinge in’s Leben hineinzuspielen, die eigentlich nur auf’s Theater gehören und die man dort gelten lassen mag?

Er konnte lange kein Wort finden und endlich erklärte er, daß das Verfahren Mariens, gelindestens gesagt, ein verkehrtes sei; denn sie werde den beabsichtigten Zweck nicht erreichen. Von dieser Stunde an mußte er sich zwingen, sein Benehmen gegen den Rittmeister in der begonnenen Weise fortzuerhalten. Was ist dies für ein Mann, der sich zu einer solchen Intrigue hergiebt? …

Louise und der Rittmeister hatten eines Tages begonnen, die Burgruine in der Nähe zu zeichnen, ja sie wollten sie sofort nach der Natur malen, der Rittmeister in Wasserfarben, Louise in Oel. Sie arbeiteten emsig den ganzen Tag. Marie und der Vater wollten sie am Abend abholen. Der Vater äußerte unterwegs schwere Besorgniß über diesen Vorgang, der zu nichts führe und nur eine herbe Stimmung hinterlasse. Marie wußte aber mit ihrer übermüthigen, sprudelnden Laune darzulegen, daß diese kleine Hinterhaltigkeit viel zu schwer aufgenommen werde; Louise werde anfangs betroffen, ja ärgerlich sein, dann aber glücklich aufjubeln, daß man ihr einmal Gelegenheit gegeben, einen so tüchtigen Mann in unbefangener Weise kennen zu lernen. Sie wiederholte, wie Louise ihr immer gesagt, sie habe das Unglück, daß sie nur Verheirathete und Verlobte in gerechter Weise erkenne. Nun solle das Unglück zum Glück werden. Marie sprach lebhaft und so geschickt, daß der Vater nur noch die Achseln zuckte. Er kam mit Marien bei dem Standpunkte an, wo die Bilder aufgenommen wurden. Ein guter Imbiß wurde aus dem Wagen genommen, man saß wohlgemuth beisammen. Louise war indeß sehr ernst, sie sah oft träumerisch verloren vor sich hin und sagte, sie sei sehr unzufrieden mit ihrer Arbeit. Der Rittmeister gestand, er habe Besseres von Louise erwartet; es sei eine reinliche Sorgfalt in ihrem Bilde, aber es sei zu ängstlich, zu sehr mit sclavischer Treue ausgeführt, es fehle an Kühnheit. Marie sah ihn betroffen an über diese Aussprüche, aber sie lächelte schnell wieder: gerade diese Offenheit, dieser ehrliche Tadel gewinnt Louisen um so entschiedener.




[271]
7. Flucht vor sich selbst.

Die Vier wandelten nach der Ruine und erst als der Mond heraufgestiegen war, gingen sie nach dem Wagen und fuhren heimwärts. Es wurde wenig mehr gesprochen, der Vater schlief und auch Marie schien zu schlafen, nur der Rittmeister und Louise wachten. Die Sterne glitzerten am Himmel, die Nachtigallen schlugen in den Büschen und ein würziger Frühlingshauch erfüllte die Luft.

Da faßte der Rittmeister die Hand Louisens. Er hielt sie fest, sie wollte ihm ihre Hand entziehen, sie konnte nicht, sie zitterte. Er drückte ihre Hand und sie? Drückte sie sie wieder? Sie wußte es nicht. Eiskalt überlief sie’s. Ist es doch so? Du liebst einen Mann, der einer Andern angehört? Nein, nein! knirschte sie vor sich hin und ballte die Hände, und unwillkürlich rief sie plötzlich laut: „Vater!“

„Was willst Du?“ fragte der Vater aus dem Schlaf sich erhebend.

„Ach! Habe ich Dich gerufen?“

„Ja!“

„Ich wußte es nicht! Ja! Ich möchte jetzt aussteigen.“

Sie rief den Kutscher an, er hielt, sie öffnete schnell den Schlag, stieg aus und bat den Vater mit ihr auszusteigen. Sie duldete nicht, daß das Brautpaar ebenfalls ausstieg, sie befahl rasch dem Kutscher davonzufahren, und als der Wagen dahinrollte, fiel sie dem Vater um den Hals und rief: „Wehe, wehe! Ich bin schlecht, grundschlecht, ein elendes Wesen! Vater, hilf mir!“

Der Vater konnte kaum ein Wort der Beruhigung hervorbringen. Louise warf sich an seine Brust und mit herzerschütternder Stimme rief sie: „Ach, Vater, ich fürchte, es kann kommen, es will kommen, daß ich den Bräutigam Mariens liebe und er mich.“

„Wenn er aber frei wäre!“

„Ach, bitte, Vater, sprich nicht so. Ach, bitte, laß uns kein Wort sprechen.“

Der Vater wußte selbst nicht, wie er das seltsame Verhältniß erklären sollte. Er konnte nicht sagen, daß er von der Intrigue wußte, denn er mußte sich gestehen, daß er dann allen Einfluß auf sein Kind verlieren würde, und je länger er schweigsam neben seiner Tochter einherging, um so besser erschien es ihm, daß sein Kind selber sich aufraffte und den ersten Keim einer Neigung gegen einen Mann unterdrückte, der sich zu solchem Spiele hergab.

Schweigsam kamen sie bei dem Hause an. Louise eilte auf ihr Zimmer und ließ sagen, daß sie heute Niemand mehr sprechen wolle. Sie saß auf dem Sopha und rang mit sich in tief peinigender Selbstanklage. Mitternacht war vorüber, als sie sich endlich zur Ruhe begab; aber sie fand den Schlaf nicht, sie stand wieder auf und ließ den Vater wecken und ihn bitten, zu ihr zu kommen. Er kam, und nun drang sie in ihn, daß er sie befreie; noch sei es Zeit, noch gebe es ein einziges Mittel. Der Vater sollte wieder erklären, daß der Rittmeister vielleicht doch – aber Louise ließ ihn nicht ausreden; sie rief: „Nein, nie. Ich wäre ehrlos vor mir selbst.“ – Sie bat den Vater, daß man jetzt, sofort, noch in der Nacht die beabsichtigte Reise antrete, sie könne jetzt Marie und ihren Bräutigam nicht wieder sehen. Nochmals suchte der Vater sie zu beschwichtigen; aber Louise schwor, daß sie in der Nacht das Haus verlassen und in die Welt hinaus wandere, wenn der Vater ihr nicht willfahre. Noch nie hatte dieser sein Kind so leidenschaftlich überwältigt gesehen, so entschieden und entschlossen, alle Bande zu zerreißen. Er willfahrte. Louise schrieb noch einen Brief, worin sie der Freundin mittheilte, daß in den nächsten Monaten keine Nachricht sie treffe, – auch an die Großmutter schrieb sie, und im Morgendämmer, als Marie noch schlief, fuhr der Wagen ab, worin Louise und ihr Vater saßen.

Der Rittmeister, der in der Gutswohnung auch keinen Schlaf gefunden hatte und im Morgendämmer am Fenster stand, glaubte zu träumen, da er den mit vielen Koffern bepackten Wagen vorüberfahren sah, in welchem Louise und ihr Vater saßen.




8. Mit Feuer spielen.

Vater und Tochter waren schon weit, Louise war in einer Ecke des Bahnwagens eingeschlafen – wenigstens hatte sie die Augen geschlossen und hielt sich regungslos – als Marie in den Gartensaal zum gemeinsamen Frühstück ging. Sie war betroffen, daß sich noch Niemand zeigte, Herr Merz war immer früh auf. Da brachte ihr die Wirthschafterin zwei Briefe. Der eine war aus Paris, der andere hatte gar keine Adresse. Marie erröthete, als sie den ersten sah; sie öffnete aber doch schnell den zweiten. Er enthielt die hinterlassenen Zeilen Louisens. Marie konnte nicht fassen, was da geschehen war; sie öffnete den zweiten Brief, sie schien ihn nicht gut lesen zu können, sie faßte sich mehrmals mit der Hand an die Stirn, dann saß sie, lange vor sich hinstarrend, den Brief in der schlaff herabhängenden Hand haltend.

Der Rittmeister wurde gemeldet; Marie versteckte schnell beide Briefe. Der Rittmeister sah überwacht aus. Er sagte Marie, er sehe, wie er doch nicht zu solchen abenteuerlichen Unternehmungen geeignet sei; er trug es scherzhaft vor, aber im Tone seiner Rede lag doch ein Ernst, wie er darlegte, daß dies eine höchst peinliche Lage sei. Er stehe zwischen zwei begehrenswerten Mädchen; das eine solle als seine Braut gelten, das andere seine Gattin werden; er habe zu keinem ein wahres Verhältniß; er halte das nicht länger aus.

Marie hörte ihn geduldig an; sie preßte die Lippen zusammen, und als der Rittmeister endlich fragte, ob er geträumt habe oder ob es wirklich so sei, er glaube heute in der Morgendämmerung Louise und ihren Vater im Wagen davonfahren gesehen zu haben, da reichte ihm Marie den hinterlassenen Brief der Freundin. Sie war aber nicht wenig erstaunt, als der Rittmeister in fröhlichem Tone rief: „Das ist mir eigentlich lieb! Ich bin sie nun los mit sammt ihrem Gelde. Ich hätte mich vielleicht in eine Empfindung hineingelogen, ich war auf dem besten Wege dazu, und doch taugen wir nicht für einander, und ich glaube auch, daß auf ein solches Verhältniß, wie wir es hier anlegten, sich keine wirklich dauernde Lebensbeziehung aufbauen läßt. Das mag in der Komödie hingehen, wo man nicht fragt: wie ist es denn nun, nachdem der Vorhang gefallen? Wie wirkt es denn nach, daß sie Versteckens gespielt?“

Er hielt plötzlich inne und Marie sagte: „Sie wollten uns nicht ausweisen und sind darum aus ihrem eigenen Hause weggegangen.“

Der Rittmeister nickte und Marie fuhr fort: „Ich hätte Herrn Merz nichts davon sagen sollen.“

„Das hast Du gethan?“ rief der Rittmeister. Alles Blut schoß ihm durch die Stirn, seine Augen glänzten und er fuhr fort: „Nun ist Alles gut! Ich bin frei und froh. Ich bin den Geldteufel los und habe dafür den Anmuthsengel. Mir ist wohl, daß die Komödie vorbei ist. Wir wollen den Geldprotzen zeigen, daß wir sie zu Narren gehabt. Bist Du einverstanden?“

„Einverstanden? Ich verstehe nicht!“

„Marie, ich habe eingesehen, daß nur Du zu mir passest. Nun sage mir ohne Zagen frisch weg: findest Du nicht auch, daß ich allein zu Dir tauge? Wir besitzen freilich beide nichts, aber wenn wir einander haben, sind wir reich, und wir sind keine Philister, die sich viel Sorge machen. Ich bin gesund und muthig, ich werde schon mein Leben erobern. Nun sage mir nur ein einziges Wort. Habe ich nicht schon ein Leben erobert? Habe ich nicht Dich? Sprich nur ein einziges Wort!“

Marie griff in die Tasche, sie wollte den andern Brief herausnehmen, den sie aus Paris erhalten, aber sie brachte die Hand wieder leer aus der Tasche. Sie reichte die Hand dem Vetter dar und begann: „Laß mich jetzt nicht reden. Ich habe auch nicht gewußt, daß etwas in mir ist – man nennt es Eifersucht, aber – bitte, laß mich jetzt nichts reden. Vertraue mir, daß ich Alles ernstlich überlege – Du und ich, wir sind keine Kinder mehr. Ja, wir sind keine Kinder – wir haben beide Niemand, der für uns überlegt. Ich bitte Dich, reise Du jetzt zurück, aber gieb Dich keinen Hoffnungen hin – halte fest, ich habe Dir durchaus nichts gesagt. Leb’ wohl! Wenn es Zeit ist, wirst Du von mir hören. Aber nochmals – halte fest, ich habe Dir nichts zugesagt.“

„Und ich lasse Dich nicht,“ rief der Rittmeister, „ich versiegle Dir den Mund!“

Er umarmte und küßte die erbebende, die sich wehrte, dann aber auch ihn heftig umarmte und küßte. Plötzlich rang sie sich los und verließ das Zimmer. Der Rittmeister starrte ihr nach; dann ging er nach der Gutswohnung, legte das kleidsame Bürgergewand ab und in Uniform gekleidet kehrte er wieder nach der Garnisonstadt zurück.

Auch Marie reiste am Abend ab; auf der Heimkehr verbarg sie den kleinen Scheck nicht mehr in so übermüthiger Weise, der [272] Inspector erlaubte ihr, ihn offen in dem Wagen mitzunehmen; sie saß lange still und Scheck schaute verwundert nach ihr, so hatte er seine Herrin noch nie gesehen, sie widmete ihm keinen Blick, viel weniger ein Wort.

Nach einiger Zeit nahm sie den Brief Louisens aus der Tasche, durchlas ihn rasch und zerriß ihn dann vielfältig in kleine Schnitzel, die sie in kurzen Pausen immer wieder aus dem Fenster des Eisenbahnwagens in die Luftströmung hinausflattern ließ. Auf weite Wegstunden hin waren die Papierstückchen zerstreut, Niemand hätte sie wieder zusammenfinden können.

Sie nahm auch den anderen Brief heraus, betrachtete kopfschüttelnd die darin liegende Photographie, dann las sie: „Wessen ist dieses Bild? Nein, so wirst Du nicht fragen, wenn Dein warm und hell strahlendes Auge auf diesem Lichtbilde ruht.

Ich habe mich äußerlich wohl verändert, aber könnte man von der Seele ein Lichtbild aufnehmen, Du würdest keinen fremden Zug darin finden.

Und nun – wo bist Du? Wie lebst Du? Habe ich noch ein Recht, Dich ‚Du‘ zu nennen? Bist Du noch frei? Bist Du noch Dein, um mein zu sein?

Ach, verzeihe die krümmenden Fragezeichen.

Ich habe Dir Positives zu sagen.

Was ich damals auf dem schnell dahin gleitenden Schiffe Dir gelobt, ist nun Erfüllung. Ich bin zu schönen Ehren gekommen und in der Lage, Dir – uns – eine heitere, vor Noth und Sorge geschützte Häuslichkeit aufzubauen.

Ich komme zu Dir, wohin Du mich rufst.

Nur noch Eins, in Treue und Wahrhaftigkeit.

Sollte ich Dir nicht mehr so erscheinen, wie ehedem, so bist Du frei. Wir wollen uns dann feierlich die Hände reichen und sagen: es sollte nicht sein!

Ich überlese den Brief. Ich habe Dir verwirrt geschrieben; ich bin aber klar und weiß mich nur nicht anders zu fassen.

Mein Herz pocht wie damals, als ich Dich rheinabwärts fahren sah.

Ich bin voll Muth und Zuversicht und möchte, so lange ich

athme, sein
Dein . . . .“ 

Marie that einen Riß in den Namen, sie wollte auch diesen Brief zerreißen, aber sie hielt an, und vor sich hin sagte sie: „Er spricht dich frei, um auch selbst frei zu sein und auch neu prüfen zu dürfen. Nein, nein! Er ist eine gerade offene Seele ohne Hinterhalt! Ja, das war er! Ist er’s aber noch?“

Sie starrte lange auf die Photographie, dann steckte sie Brief und Bild wieder in die Tasche. –

Als sie heim kam, fand sie die alte Dame eben damit beschäftigt in gewohnter Weise die Papierschnitzel in allen Zimmerecken zu zerstreuen.


(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Volksliteratur in England. Seit einigen Jahren hat sich in Berlin eine Romanfabrik etablirt, die mit ihren Erzeugnissen in unzweideutigster Weise auf die grobe Sinnlichkeit und die brutalen Leidenschaften der Menschen speculirt. Wie die Gartenlaube schon einmal constatirt, hat das Geschäft in dieser Beziehung auch bereits recht Anerkennenswerthes geliefert, namentlich werden die Ankündigungen seiner Fabrikate, welche in Wort und Bild die pikantesten Scenen und Situationen der zu veröffentlichenden Romane mit raffinirter Lüsternheit als Köder auftischen, der würdigen Aufgabe der Manufactur nach Kräften gerecht. Allein der strebsame Berliner Fabrikant könnte doch auch bei gewissen englischen Collegen in die Schule gehen, die, wenn auch vielleicht weniger in Betreff des Sinnenkitzels, so doch hinsichtlich drastischer Nervenerschütterung ihren deutschen Geistesverwandten tief in den Schatten stellen.

Bekanntlich geschieht der Vertrieb der englischen Zeitungen und Journale anders als bei uns; sie werden viel weniger in vierteljährlichen Abonnements als in einzelnen Nummern verkauft, welche man nicht blos in den Buch- und Zeitungsläden, sondern, wie es eben kommt, in Boutiken und Kramhandlungen der verschiedensten Art bekommen kann. Es sind lauter Wochenblätter, keines theurer als einen Penny – etwa zehn Pfennige unseres Geldes –, aber welcher Natur!

Vor den Fenstern und an der Thür des Ladens ist ein mächtiges Placat im gröbsten Holzschnitt angebracht, auf dem man in einer Ausführung, wie die uncivilisirtesten Zeiten künstlerisch Roheres nicht erblickt haben, jedwede Art von Gewaltthat und Mord, alle möglichen grausigen und teuflischen Verbrechen, jedes Begebniß, das in größerem Maße verhängnißvoll und verderblich wird, jeden Schrecken, jede Katastrophe, jede Brutalität, durch welche die vergangene Woche innerhalb und außerhalb Englands sich ein trauriges Andenken gestiftet hat, dem Publicum bildlich vorgeführt sieht. Immer aber genießen blos die allerentsetzlichsten Unthaten und Ereignisse die Ehre, auf diesen Ankündigungsbogen verewigt zu werden. Ist irgendwo ein armes Kind von unnatürlichen Eltern mit raffinirter Grausamkeit gequält; ist ein Vater von seinem Sohne oder ein Sohn von seinem Vater ermordet worden; hat ein Mann seine Frau halb todt geschlagen; hat ein eifersüchtiger Liebhaber seine Geliebte und sich selbst erschossen: – so gewiß wie der Sonnabend kommt, ebenso gewiß erscheinen alle diese Scheußlichkeiten in der nächsten Nummer jener Blätter in knolligen Holzschnitten. Mit Einem Worte: ist man im Laufe der Woche in den Zeitungen auf Berichte von Ereignissen so haarsträubender Art gestoßen, daß man mit Schreck und Abscheu das Blatt weglegte und die Schilderung nicht weiter lesen mochte, – mit Bestimmtheit kann man darauf rechnen, am nächsten Sonnabend die Gräuelthat mit allen den fürchterlichen Details, die kennen zu lernen unser Gefühl sich sträubte, in den Fenstern der erwähnten Zeitungsläden prangen zu sehen. Und je abnormer und unnatürlicher das Verbrechen, je größer ist immer der Holzschnitt.

Zufällig liegen im Augenblicke zwei Nummern solcher Publicationen vor mir: es sind sogenannte Concurrenzblätter, und beide behandeln den nämlichen Gegenstand, einen schauderhaften Mord, welchen ein junger Weber in der Gegend von Manchester vor Kurzem an drei Mitgliedern eines und desselben Hauses beging, – einen Mord, der durch ganz England einen Schrei des Entsetzens hervorrief. Ueber die beiden mittleren Seiten des einen Blattes gehend – das Format beider Zeitschriften steht an Umfang dem der „Times“ nicht nach –, befindet sich ein riesenhafter Holzschnitt mit sechs bis sieben Zoll hohen Figuren, der den Abschied des Verbrechers von seiner Geliebten illustrirt; auf denselben beiden Seiten der andern Zeitschrift kann das Publicum die Hinrichtungsscene selbst mit allen ihren Einzelheiten genießen. Ein entsetzliches Bild! Mit entblößtem Nacken und gefesselten Armen steht der Verbrecher auf dem Schaffot unter dem verhängnißvollen Gerüste und wartet auf den Henker, welcher inzwischen einem zu gleicher Zeit abzuthuenden andern Delinquenten minder interessanter Natur die weiße Nachtmütze über den Kopf zieht. Die Brutalität dieser Illustration übersteigt alle Vorstellungen.

Aus beiden Bildern aber leuchtet ganz deutlich und unverkennbar die Tendenz hervor, den Verbrecher im Lichte eines Helden oder Märtyrers darzustellen, jedenfalls ihn dem Publicum in thunlichst anziehender Erscheinung vorzuführen. Er ist auf das Zierlichste gekleidet, mit eleganten Beinkleidern und Stiefeln versehen, sein Haar ist wie bei dem Dandy neuesten Schlages in der Mitte gescheitelt, und aus seinen Mienen spricht das Bewußtsein, daß er eine berühmte Persönlichkeit und stolz ist auf diese seine Bedeutung.

Kann es noch etwas geben, was die moralischen Begriffe des ungebildeten Haufens mehr zu verwirren geeignet ist, als dergleichen Bilder? Man muß es selbst mit angesehen haben, wie jeden Sonnabend diese Illustrationen umlagert werden, wie stets dichte Gruppen von Männern und Weibern und, was das Schlimmste, von Knaben und Mädchen sich um die Zeitungsläden drängen, sobald ein neues jener Blätter erscheint, um den unheilvollen Einfluß voll zu begreifen, welcher damit auf das an sich so rohe und brutale Publicum der unteren englischen Bevölkerungsschichten ausgeübt wird! Mit gieriger Wollust versenkt sich die Menge in die dargestellten Gräuel, und je entsetzlicher, je widerwärtiger die abgebildeten Scenen, desto tiefer ist ihr Interesse und desto intensiver ihr Genuß, wie man an den funkelnden Augen und aus den Gesprächen der Beschauenden entnehmen kann. Das allgemeinste Entzücken ruft aber unveränderlich die Schlußscene, der Act auf dem Schaffot selbst hervor, – nicht, weil das Gerechtigkeitsgefühl des Volkes sich befriedigt fühlt, daß den Verbrecher schließlich die gebührende Strafe ereilt, daß die Unthat die nothwendige Buße gefunden hat, behüte Gott, vielmehr, weil es ja so schön, so heldenhaft, so bewundernswerth ist, in dieser Weise vor Aller Augen zu sterben. Wir glauben deshalb nicht zu viel zu behaupten, wenn wir dieser populären Literatur ebenso wie den öffentlichen Hängescenen die Hauptschuld beimessen an der Häufigkeit der capitalen Verbrechen in England. Zugleich ein neues Argument, wie viel es mit jener Abschreckungstheorie auf sich hat, welche die Vertheidiger der Todesstrafe neuerdings wieder so geräuschvoll in’s Feld führen.

Den Illustrationen steht natürlich der textliche Inhalt unserer Blätter vollkommen ebenbürtig zur Seite, wie folgende Capitelüberschriften beweisen: Fürchterlicher Mord und Selbstmord verübt an einem Vater; Mordversuch an einem Weibe; entsetzlicher Selbstmord auf einer Eisenbahnstation; Anklage auf Mord gegen den Kammerdiener eines Herzogs; schauderhafter Todtschlag durch eine rothglühende Eisenstange. Ferner: Kampf auf dem Giebel eines Hauses; wie man illegitime Kinder bei Seite schafft; außerordentliche Verstümmelung – zweien Männern die Nasen abgeschnitten etc. Den eigentlichen Kern und Schmuck dieser Journale bildet jedoch stets die detaillirte Geschichte der letzten Stunden irgend eines renommirten Verbrechers, deren Inhalt in dem einen der in unseren Händen befindlichen Blätter zum Beispiel folgendermaßen aufgezählt wird: Verhalten des Delinquenten seit seiner Verurtheilung zum Tode: Abschied desselben von seiner Geliebten und seinen Eltern: letzter Brief des Verbrechers an einen Freund; der Galgen; die anwesende Menge; das Fesseln des Delinquenten; der Weg zum Schaffot; die letzten Vorbereitungen; ergreifender Schlußact des Ganzen.

Wir wundern uns in der That, daß die speculative Betriebsamkeit der Eingangs erwähnten Berliner Fabrik ein so glänzendes und vielversprechendes Beispiel zur Nachahmung bis jetzt unbenützt gelassen hat. Vielleicht hat es nur unseres Winkes bedurft, sie auch zur Verpflanzung dieses neuen Zweiges ruhmvoller Journalistik auf deutschen Boden anzuregen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)