Die Gartenlaube (1870)/Heft 3

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 3. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.


1. Ein einziges Kind.

Die Sonne war nach langem Regen wieder aufgegangen und streute mit vollen Händen Silber und Gold über den Züricher See aus. Die tanzenden Wellen spielten damit, wie ein neckisches übermüthiges Mädchen mit seinem Geschmeide tändelt. Die feuchte Erde sog begierig die warmen Strahlen ein, die nassen Büsche und Gräser glitzerten und von den Bäumen sprühte der Thau. Um die himmelanstrebenden Gipfel der Alpen schwebten zerrissene Wolkenschleier. Ein weißes Haupt um’s andere kam heraus in duftiger Ferne. Alles war Licht und Glanz, kein Schatten zog an dem Gestirn des Tages vorüber, und dennoch war es nicht heiß, sondern kühl und wonnig auf der frischgewaschenen Erde. Die Blumen und Blätter, von denen der Regen jedes Stäubchen abgespült, athmeten stärkere Düfte aus; der feuchte Hauch, der durch die ganze Atmosphäre zog, schien den Brand der lichten Strahlen zu löschen. Wie Quecksilberperlen zitterten unzählige funkelnde Tropfen in dem weichen Rasen, der vom See zu den freundlichen Villen führte, die nachbarlich nebeneinander am Ufer lagen, von blühenden Kastanien umrauscht.

„Ah,“ sagte eine Kinderstimme mit tiefem Athemzuge, „das thut gut!“ Ein Knabe von etwa dreizehn Jahren trat unter die Thür der einen Villa und sog begierig die frische Morgenluft ein, die ihm so wohl that. Es war ein armes krankes Kind inmitten dieses Reichthums. Er trug einen breiten grünseidenen Augenschirm, unter dem er schüchtern hinausblinzelte in die schimmernde Pracht, und er konnte selbst unter seinem Schutze den glänzenden Anblick nicht ertragen, denn er bog geblendet den Kopf zur Seite und leistete stummen Verzicht auf das Anschauen von Gottes schöner Welt, – er hätte das schon längst gewöhnen müssen. Die rothen Augen zu Boden geheftet, schlich sich der Knabe unbeholfen in seinem langen wattirten Morgenrocke die Stufen vor dem Hause herab; der eine Fuß stampfte beim Gehen klirrend auf die Steine, er war in eine eiserne Maschine geschnallt, wie sie Kinder tragen müssen, die Anlage zur englischen Krankheit haben. So hatte er sich langsam heruntergeschleppt und setzte sich nun auf die unterste Stufe. Gewöhnt, nur immer zu Boden zu blicken, hatte er sich mit der Mutter Erde besonders vertraut gemacht und sah da, was vielleicht kein anderes Kind sieht. Das Leben des elenden Gewürms, das darauf umherkriecht, war ihm gar wichtig geworden; und sein Fuß zertrat gewiß nie ein Thierchen, über das Andere achtlos hinwegschritten. Er hatte gelernt zu beobachten, er hatte dadurch Sinn für das Kleinste und Unscheinbarste bekommen, er verstand früh eine Bedeutung darin.

So saß er, schaute seelenvergnügt der winzigen Welt zu, die sich vor ihm herumtummelte, und betrachtete grübelnd die günstigen und ungünstigen Veränderungen, die der Regen in derselben hervorgebracht. Unzählige neue Wahrnehmungen beschäftigten ihn. Wo hatten wohl die schönen Schmetterlinge gesteckt während des schlechten Wetters, die nun von Blume zu Blume flatterten, aber immer wieder aufflogen, wenn sie sich setzen wollten, weil die Kelche noch naß waren vom Regen und ihnen statt Süßigkeit Thränen boten? Das waren doch rechte Schelme, die Schmetterlinge! Die Blumen, die nicht von der Stelle konnten, hatten Regen und Sturm über sich ergehen lassen und waren nur noch duftiger und schöner danach geworden; die Schmetterlinge aber hatten sich im Trockenen geborgen und jetzt mochten sie nicht einmal ihren Freundinnen die letzten Spuren des Unwetters wegküssen. – Ein farbenschillerndes Pfauenauge setzte sich dicht vor dem Knaben auf die Erde, als habe es sich einen Flügel verstaucht und müsse nun ein wenig rasten. Der Kleine rührte sich nicht, um es nicht zu verscheuchen. Es saß eine Weile ganz still; dann hob und senkte es die Schwingen, wie um zu prüfen, ob sie wieder gingen, und auf und davon war es. In einiger Entfernung ließ es sich auf eine Blume nieder, die mehr als ihre Gefährtinnen im vollem Sonnenglanz lachte.

Der Knabe wandte sich ängstlich nach dem Hause, als fürchte er erwischt zu werden. Nach kurzem Lauschen hatte er sich überzeugt, daß Alles ruhig sei, und sich ein Herz fassend, stand er auf und humpelte dem Falter nach, – es war so verführerisch! Er wollte ihn nicht fangen. Wie hätte er daran denken können, einen Schmetterling zu haschen! Er wollte es nur betrachten, das wundervolle Thier. „Komm, komm, mein Thierchen!“ rief er lockend; aber der Unstäte flog weiter dem See zu auf die Terrasse, die von alten dichten Kastanien wie von einem Dache überschattet wurde und deren steinerne Balustrade tief unten der See bespülte. Schon von Weitem leuchtete die blaue Fluth durch die Lücken des alterthümlich ausgehauenen Geländers; das war herrlich für den kleinen Knaben, denn so sah er die Wellen wie eingerahmt, und das blendete ihn auch nicht, weil er dabei das Auge nicht zu erheben brauchte. Wieder drehte er den Kopf nach dem Hause um, aber nichts Bedenkliches zeigte sich, und so ward er immer muthiger und folgte seinem beflügelten Führer bis an den Rand der Terrasse. Hier mußte er nun freilich Halt machen, während der Falter lustig über das Geländer schwebte und sich mit ein paar schwirrenden Libellen im Schilfe um die Wette tummelte. „Der hat es gut!“ dachte der Knabe und schaute von dem leicht beschwingten Volke auf seinen


[34] schwergepanzerten Fuß herab. Ach, er wollte ja nicht einmal fliegen, wenn er nur laufen konnte, laufen wie die Nachbarskinder, da wäre er schon ganz zufrieden gewesen, oder nur wenigstens sehen ohne Augenschmerzen, ja, nur sehen hätte er mögen wie die Anderen! Es wäre ihm beinahe eingefallen, daß er doch ein recht armer Knabe sei; aber da trug der frische Seewind von Zürich das Läuten der Dampfschiffglocke herüber, nun mußte das Schiff bald kommen und darüber vergaß er’s wieder.

Er setzte sich auf eine der eisernen Gartenbänke, die zum behaglichen Anschauen des reizenden Amphitheaters errichtet waren, denn das Stehen that ihm weh. – Und während er so auf den Dampfer wartete, ergoß sich ein anderes feierlicheres Geläute in sanften Schallwellen über den See. Es waren die Kirchenglocken von Zürich, von Rapperschwyl und allen den blühenden Ortschaften der Ufer. Rein und keusch wie die Zwinglianische Lehre selbst tönte der melodische Ruf zur Kirche durch die Sonntagsstille, und es war, als glätte sich der Wasserspiegel unter dem hohen Lied und der Morgenwind legte sich, die Vögel schwiegen. Wie ein Canon, von metallenen Kehlen gesungen, flossen die verschiedenen Glockenstimmen allmählich ineinander, erst eine, dann zwei, dann drei und so fort in mächtiger Steigerung anschwellend über die ganzen unabsehbaren Gestade hin. Wie das Tönen und Klingen von allen Thürmen nah und fern jetzt ineinander schmolz, so strömten nun aller Orten die Seelen der Andächtigen zusammen in einem Gefühl, ein Gedanke war’s, in dem sie sich Alle vereinten, ein Gedanke, der sich aussprach in der morgendlich lachenden Schöpfung ringsum, und den selbst das Kind in seiner ganzen Schöne empfand, das entsagungsreiche, von Krankheit gepeinigte Kind: der Gedanke Gottes.

Nach und nach ward das Geläute schwächer, eine Glocke nach der andern verstummte, traumhaft verhallend zog es sich mehr und mehr in die Ferne, bis endlich nur ein letztes Glöckchen in einzelnen Schlägen träumerisch nachklang, wie noch vom versiegenden Brunnen dann und wann ein Tropfen fällt.

Jetzt durchschnitt das Abfahrtszeichen von Zürich die melodieengeschwängerte Stille. Die Wellen wurden bewegter und schlugen schäumend und spritzend an das Gemäuer der Terrasse an. Das seltsame Stampfen und Rauschen der Maschine im Wasser erscholl, erst fern, dann näher und näher, bis das stolze Schiff maiestätisch durch die blaue Fluth dahergebraust kam, seinen schwarzen Dampf weit hinaus puffend, auf dem Verdeck lachende, geputzte, entzückte Menschen mit bunten Sonnenschirmen und hellen Hüten, die es hineintrug in den wonnigen sonnigen Tag, in die Wunder der Schweiz.

Dem Knaben schlug das Herz im Tacte mit der Maschine, er breitete sehnsüchtig die Arme aus: er wäre so gerne mitgezogen mit dem leicht vorbeijagenden Fahrzeug, wohin? das wußte er selbst nicht, nur in die duftige Ferne, wo er die letzten Glockentöne ersterben gehört, – dort, meinte er, müsse es am schönsten sein! Er eilte, so schnell er konnte, an das Geländer und bog sich hinaus, er horchte, wie die schäumenden Wellen hinter dem Schiff wild murmelnd zusammenschlugen, ähnlich wie die Menschen, wenn ein großes Ereigniß durch sie hingezogen, in ihrer Aufregung zusammenlaufen und sich darüber besprechen.

„Hurrah Fredy, paß auf, jetzt komm’ ich zu Dir!“ rief vom Nachbarsgarten eine laute Mädchenstimme herüber, und als der Kleine den Kopf wendete, sah er die Sprecherin zu seinem unbeschreiblichen Entsetzen auf der steinernen Einfassung stehen, welche die Terrassen der beiden Güter gemeinsam vom See trennte. Der Weg, den das tollkühne Mädchen einschlagen wollte, war höchstens zwei Hand breit, wie solche steinerne Brüstungen eben sind. Da stand es hoch aufgerichtet, ein schönes Kind von etwa acht Jahren, die Arme zum Balanciren ausgebreitet, und schickte sich an, seinen halsbrechenden Lauf zu beginnen. Der Wind riß an seinem flatternden Röckchen und wehte ihm die krausen dunkeln Haare von der Stirn. Die kräftige Gestalt hob sich prächtig ab von dem leuchtenden See, in den sie der leiseste Fehltritt hinausschleudern konnte.

Dem Knaben wurde übel und schwindelig, als er seine kleine Freundin so frei auf der schmalen Kante über dem Wasser stehen sah. „Aennchen, um Gotteswillen, thu’ das nicht!“ schrie er zitternd und rang in bitterer Angst die mageren Händchen.

„O Du Hasenfuß,“ lachte sie, „wenn ich in den See falle, schwimme ich wieder heim.“ Und leicht wie eine Libelle schwebte sie daher, setzte sicher einen Fuß vor den andern, streckte die Arme aus wie Flügel, bald rechts, bald links schwankend, aber doch immer das Gleichgewicht haltend. Der Knabe sah ihr athemlos zu, seine Stirn und Hände wurden ganz feucht, nun mußte sie noch um das Aprikosenspalier herum, welches bis zur Brüstung die beiden Gärten trennte. Die zwei Minuten, wenn sie so lange brauchte, dünkten ihn ewig, bis sie endlich bei ihm anlangte. Rasch griff er mit seinen schwachen Armen nach ihr, um sie zu halten, aber sie sprang mit einem Satz von der Brüstung herunter. „Etsch, da bin ich schon!“ jubelte sie in die Hände klatschend, „wie die sich da drüben den Kopf zerbrechen werden, auf welche Art ich aus dem Garten kam, denn zur Thür ging ich nicht hinaus und über das abscheuliche hohe Spalier kann ich ja nicht mehr herüber.“ Sie hielt inne und sah den Knaben an. „Aber, Fredy, ich glaube gar, Du weinst?“

„Ach Aennchen, ich habe mich so geängstigt.“

Aennchen war ein wenig betroffen. „Geh’, schäme Dich doch, so ’n großer Bub’ und weinen, wegen so ’was!“ Sie schüttelte ihn liebreich bei den Achseln. „Hör’ doch auf, Du kriegst wieder böse Augen, – Du siehst ja, ich bin nicht in’s Wasser gefallen, ich und in’s Wasser fallen, das wäre noch schöner!“

„Ach Aennchen, Du hast eine solche furchtbare Courage,“ klagte Fredy. „Dir geschieht gewiß noch einmal ein Unglück.“

Aennchen lachte, daß es kräftig vom See wiederhallte. „Du feiger Bub’, Du! Das kommt Dir nur so vor, weil Du weder turnen noch laufen kannst und immer im Zimmer sitzen mußt. Die Mutter sagt’s alle Tage, Du würdest einmal ein schöner Mann werden, wenn Du so fortmachtest.“

Der Knabe sah die unvorsichtige Spötterin unter seinem grünen Schirm mit einem seltsamen Blick an, eine tiefe stille Trauer lag darin, aber er sagte nichts.

Aennchen mochte fühlen, daß sie ihm weh gethan, denn sie nahm ihn gutmüthig bei der Hand. „Na komm, Fredeli, wir wollen spielen.“

„Was denn?“ fragte der Knabe, eine letzte Thräne aus den Augen wischend, die ihn wie Feuer brannte.

„Mutter und Kind. Ich bin die Mutter und Du bist das Kind.“

„Ach Aennchen, laß mich doch nur ein einziges Mal den Vater sein und sei Du die Tochter,“ bat Fredy, „ich bin doch fast fünf Jahre älter als Du!“

„Ja, aber ich bin um so viel größer und stärker als Du,“ erwiderte das Mädchen mit Ueberlegenheit, nahm den unbeholfenen Knaben in die Arme, drehte ihn um und um und drückte ihn behend auf die Bank nieder. „Siehst Du, ich zwinge Dich. Ich bin Deine Mutter, und Du mußt thun, wie ich will.“

„Nun so mach’, was Du Lust hast,“ sagte er sanft, „ich folge Dir ja doch immer. Wenn ich einmal groß bin und gesund, dann mußt Du mir folgen, denn dann werd’ ich Dir’s in Allem zuvorthun, Du wirst schon sehen.“

„Ja, das möchte ich einmal sehen!“ spottete Aennchen und drehte sich auf dem Absatz herum. Dann band sie einen Strick los, den sie wie einen Büßerstrang um den Leib geschlungen trug, und sprang in gewaltigen Sätzen darüber, immer schneller, daß sich das Seil zuletzt wie ein beweglicher Ring um sie herumschwang, durch den sie mit gleichen Füßen hindurchhüpfte. Kein Kind in ganz Zürich konnte so schön Seil springen, wie sie, das wußte sie recht gut, ja selbst ihre vier großen Brüder machten es ihr nicht nach.

Fredy schaute ihr stumm vor Verwunderung zu, wie sie so elastisch, einem Gummiball gleich, auf- und niederschnellte, so rasch, daß man glaubte, ihre Füße berührten den Boden nicht mehr, und daß ihre breite Brust kaum Athem fand, nur schnell genug nachzuzählen, wie oft sie ohne zu fehlen sprang. „einundfünfzig, zweiundfünfzig,“ zählte sie, Fredy’s Staunen auf die äußerste Höhe treibend. Da fing sich das Seil in ihren langen wallenden Haaren und setzte ihrem Uebermuth ein Ziel. „Nun, Fredy,“ sagte sie verschnaufend und ihre großen Augen blitzten ihn lustig an, „wirst Du mir das nachmachen, wenn Du groß bist?“

„Nein, das nicht, aber man braucht nicht Seil zu springen, um ein rechter Mann zu sein,“ sagte Fredy ernst.

„Ei was, wenn Du nicht kannst, was ich kann, dann hab’ ich auch keinen Respect vor Dir, verstehst Du? Ein rechter Junge muß Courage haben und Du hast keine, zu nichts, zu gar nichts! [35] Hast noch nicht einmal ein anderes Kind durchgeprügelt, noch nicht ein einzig Mal. Das ist ja eine Schande für einen Buben, da sind meine Brüder anders, die prügeln sich den ganzen Tag.“

„Ich will Niemanden schlagen, denn das ist eine Rohheit; wenn ich es wollte, könnte ich es auch.“

„Nein, Du könntest es nicht, Du wärst viel zu schwach dazu. Wer einen tüchtigen Zorn hat, der schlägt zu, wenn er kann – und Du wirst doch auch schon zornig gewesen sein.“

„Nein, niemals, warum sollte ich? Sie sind ja Alle so gut gegen mich, Niemand giebt mir ein böses Wort oder gar einen Schlag. Alles, was mir geschieht, ist ja nur zu meinem Besten, worüber sollte ich denn zornig sein?“

„Hm,“ meinte Aennchen mit einem eigenthümlichen Tone, „Du bist doch ein schrecklich guter Junge!“ Sie zog eine große flaumige Aprikose aus der Tasche und biß hinein, daß ihr der Saft heruntertropfte und Fredy das Wasser im Munde zusammenlief.

„Willst auch eine, Fredy?“ fragte sie und hielt ihm eine noch schönere hin. Sie war so schön, sie war wie von Sammt und hatte ein braunes gesprungenes Bäckchen.

Fredy kämpfte schwer: „Ich – ich darf nicht!“

„Warum denn nicht?“

„Ich darf nur gekochtes Obst essen, rohes hat mir die Mutter verboten.“

„Ach Gott,“ meinte Aennchen, „die Mutter verbietet Dir doch auch Alles!“ Und sie streifte Fredy, dessen Augen durstig an der köstlichen Frucht hingen, mit einem mitleidigen Blick. Sie steckte die Aprikose wieder in die Tasche, sie mochte nun auch nicht mehr essen, wenn Fredy zusehen mußte. „Aber jetzt wollen wir spielen,“ rief sie, „siehst Du, ich führe Dich zum Lehrer. Du sollst in die Schule kommen. Du bist gerade sechs Jahre alt und kannst noch nicht lesen und schreiben. Unterwegs fängst Du an zu heulen und willst nicht, dann laufen die Leute zusammen und wundern sich über den unartigen Balg. Ach, der Phylax, der kommt eben recht, der muß den Lehrer machen!“ Und sie sprang auf einen großen gelben Bernhardinerhund zu, der gemächlich des Weges dahertrottete, um nach seinem jungen Herrn zu sehen. „Phylax, herziger Phylax,“ schrie sie, „das ist herrlich, da geh’ her, setz’ Dich, so. Was schnupperst Du denn? Ach, er riecht mein Ankenweckli in der Tasche. Na, da hast Du’s!“ Und sie zerbrach das Wecklein in kleine Stücke und folterte das riesige Thier nach Kinderart durch Verabreichung wahrhaft homöopathischer Dosen.

Der Hund nahm geduldig mit der bärtigen Schnauze die winzigen Portionen aus den kleinen Fingern und forderte sie nur hie und da durch einen Handschlag mit seiner schweren Tatze zu größerer Eile auf. Endlich war das Frühstück beendigt. Phylax rieb sich an den spitzen Knieen Fredy’s ab und das schöne Spiel sollte nun beginnen. Phylax wurde überredet, seinen mächtigen Körper auf eine der Steinbänke hinaufzuzwängen, und stellte zum Ergötzen der Kinder mit vieler Würde den Lehrer vor. Fredy ließ sich sogar verleiten, trotz seiner Augenschmerzen dem Hund seinen grünen Schirm aufzusetzen, und die Kinder brachen bei dem drolligen Anblick in lauten Jubel aus.

Da, wie ein Donnerschlag für den armen Fredy, ließ sich plötzlich vom Hause her eine Stimme vernehmen: „Allmächtiger Gott, Alfred! Willst Du Dir denn den Tod holen in der Feuchtigkeit?“

Es war eine noch junge und schöne Frau, die diesen Schreckensruf ausgestoßen und mit einer ängstlichen Hast auf den Knaben zueilte, als könnten ihn die Wogen des See’s hinwegspülen, bevor sie ihn erreichte.

„Unvorsichtiges Kind, an diesem kühlen Morgen Dich am See herumzutreiben! Darf man Dich denn nie aus den Augen lassen? Wo ist Herr Feldheim?“

„Er ist auf seinem Zimmer, liebe Mutter,“ sagte Fredy sanft, nahm Phylax den Schirm ab und setzte ihn selbst wieder auf, „darf Aennchen nicht mit hereinkommen?“

„Ah, Aennchen, guten Tag!“ sprach die erregte Frau. „Es wird besser sein, Alfred ruht sich jetzt ein wenig aus, denn ich hörte schon von Weitem, wie wild Ihr wieder wart. Adieu, liebes Kind, Du kommst wohl ein ander Mal!“

Aennchen machte zu dieser Verabschiedung ein bitterböses Gesicht, aber Alfred gab ihr die Hand und flüsterte ihr zu: „Siehst Du, Aennchen, es thut mir recht weh, daß ich hinein muß an dem schönen Morgen, aber zornig bin ich deshalb doch nicht, sei Du’s auch nicht, liebes Aennchen. Es wird ja wohl bald so trocken und warm werden, daß ich auch wieder einmal hinaus darf.“

„Meinetwegen,“ maulte Aennchen, „laß Dich von Deiner Mama in Baumwolle einwickeln,“ und mit diesen schnippischen Worten trippelte sie, trotzig das Röckchen schwenkend, von dannen.

„Welch ein Umgang für Dich!“ seufzte die junge Frau und trat mit Alfred in das Haus. Eine kleine säulengetragene Vorhalle empfing sie, die von oben herab durch eine blaue Glaskuppel matt erleuchtet war. Zu beiden Seiten führten Thüren in die rechts und links gelegenen Wohngemächer. Dem Eingange gegenüber lag die breite steinerne Treppe, die in den oberen Stock führte. Gegen diese wandte sich die erregte Mutter zunächst, denn in demselben Augenblick stieg ein junger Mann von oben herab, den sie ungeduldig zu erwarten schien.

Er war eine seltsame ernste Erscheinung, die da niederstieg, als käme sie aus einer andern Höhe, denn die, welche Menschenhände erbauen können. Ein stolze Gestalt mit einer starren, fast militärischen Haltung und so breiten eckigen Schultern, daß es aussah, als trügen sie verborgene Epaulettes unter dem langen bescheidenen Priesterrock, der sie bekleidete. Er hatte zwar die Lider gesenkt, aber auf seiner hohen Stirn lag etwas Gebietendes und die dunkeln buschigen Brauen, die über der Nase zusammengewachsen waren, erschienen wie eine undurchdringliche Hecke, welche die stille Welt in seinem Kopfe nach außen abzäunte. Das war der Candidat Feldheim, Alfred’s Erzieher. Langsam, die Hand leicht über das vergoldete Treppengeländer nachziehend, kam er herab. Die sichtbare Ungeduld seiner Gebieterin brachte ihn nicht aus seinem gleichmäßigen Schritt.

„Herr Feldheim,“ rief ihm diese entgegen.

„Befehlen?“

„Herr Feldheim, soeben kehre ich aus der Kirche zurück und finde meinen Sohn allein, ohne jede Aufsicht; haben Sie gewußt, daß Alfred an dem feuchten Morgen im Garten war?“

„Ja!“

„Aber ich bitte Sie, wie konnten Sie das zugeben?“

„Ich war der Ansicht, daß die frische Morgenluft dem Kleinen wohlthun werde,“ erwiderte der Candidat ruhig.

Die Frau war durch diese Antwort ganz aus der Fassung gebracht. Sie hatte eine rasche Entgegnung auf der Zunge und ein strafender Blick sollte den trotzigen Sprecher treffen, glitt jedoch schon an dem Schild seiner hochgewölbten Brust ab, bevor er das eigentliche Ziel seiner Bestimmung, das Auge des Mannes, erreicht hatte. Es war ein wunderbares tiefes Auge, das da auf sie niedersah unter den schattigen Brauen hervor, solch ein Auge, das man immer fragen möchte: „Was denkst du?“ das kein Mensch ertragen kann, der auf dem Grunde seiner Seele etwas zu verbergen hat, denn auf wen es sich einmal richtet, den läßt es nicht mehr los, er muß ihm stumme Rede stehen, bis er ihm jedes Geheimniß seines Innern, wenn auch ohne Worte, gebeichtet hat. Ahnte die junge Frau etwas hiervon? Hatte sie etwas zu verbergen? Genug, sie ließ den strafenden Blick als eine ohnmächtige Waffe zur Erde gleiten, bevor sie den Muth fand, sie zu erproben. Auch das rasche Wort verwandelte sich in ein zögerndes: „Man sieht, daß Sie kein Mediciner sind.“

„Als ich Alfred’s Erziehung übernahm, wußte ich nicht, daß das unglückliche Kind eines solchen dringender bedurfte, als eines Lehrers. Seit ich mich jedoch hiervon überzeugte, war ich bestrebt, die fehlenden Kenntnisse nachzuholen, und hoffe jetzt so viel zu wissen, als nöthig ist, um die körperliche Entwickelung des Knaben mit gutem Gewissen leiten zu können. Steht dieses Selbstvertrauen im Widerspruch zu Ihren Ansichten, gnädige Frau, so bin ich gern bereit mein Amt in die Hände eines ‚Mediciners‘ niederzulegen.“

Eine heiße Röthe stieg auf in dem zarten Gesicht der jungen Frau. Sie schwieg einen Augenblick, denn sie mußte Athem schöpfen, ein jäher Schreck war über sie gekommen. Aber sie nahm sich zusammen und sagte leise: „Darüber wollen wir später sprechen, jetzt dürfen wir nicht mehr zögern, Alfred trockene Sachen anzuziehen, er hat sich gewiß feuchte Füße geholt.“ Mit diesen Worten öffnete sie die Thür von Alfred’s Zimmer und trat, ihn nach sich ziehend, hinein. Der Candidat folgte. Es war ein großes dunkles Gemach, die Fenster waren tief verhangen mit schweren Gardinen und grünen Rouleaux, damit kein Lichtstrahl den kranken Augen des Kleinen weh thue, und eine erstickende Treibhaushitze drang den Eintretenden entgegen. Das Zimmer lag gegen Norden, [36] weil dies die durch Mauern und Nebengebäude geschützteste Seite des Hauses war, aber die fehlende Sonnenwärme wurde an jedem leidlich kühlen Tage durch Ofenhitze ersetzt, denn Fredy’s Mutter behauptete, er müsse eine stets gleichmäßige Temperatur von mindestens sechszehn bis achtzehn Grad Réaumur haben. Da es seither geregnet hatte, war natürlich gefeuert worden und auch heute hatte man noch nicht den Muth gehabt, damit aufzuhören. Der Morgen war doch noch nebelig gewesen.

„Alfred, süßes Kind, Du siehst blaß aus. Sage, fühlst Du Dich schon erkältet, ist Dir unwohl?“ fragte die Mutter mit banger Zärtlichkeit, während sie ihm die frischen Strümpfe am Kamine wärmte.

„Liebe Mutter, mir ist ganz wohl,“ versicherte er, dachte aber doch bei sich mit heimlicher Besorgniß darüber nach, was sein „Leichtsinn“ für Folgen haben könne. Versunken war der See, der unendliche, silberschimmernde, verschwunden das millionenfach wiedergestrahlte Sonnenlicht, das wilde liebliche Aennchen und alle Schmetterlinge und Libellen, die sich badeten in dem feuchten Aether, versunken Alles mit einem Schlage in den Abgrund seiner feuchten Strümpfe. Der Knabe saß in sich zusammengekauert am Kamin und starrte bleich und entgeistert in die matt glimmenden winterlichen Kohlen. „Armes Kind!“ hauchten die geschlossenen Lippen des Candidaten unwillkürlich vor sich hin.




2. Der Zweiaugengeist.

„Was ist Alfred? Fehlt Alfred etwas? Ist Alfred etwas geschehen?“

Diese ängstlichen Fragen ertönten hintereinander und drei ängstliche alte runzlige Gesichter erschienen hintereinander in der Thür. Das waren die drei Tanten, die unverheiratheten Schwestern von Alfred’s Vater. Alfred’s Mutter, die vor dem Knaben am Boden kniete, um die Maschine an seinem Beine zu lösen, blickte besorgt zu ihnen auf, eine Seite ihres zarten schönen Gesichts war vom Scheine des Kaminfeuers geröthet, sie sah aus wie die verkörperte Muttersorge, die zu den Parzen fleht, den Lebensfaden ihres Kindes nicht abzuschneiden.

„Er hat sich nasse Füße geholt. Glaubt Ihr, daß es ihm schaden wird?“ fragte sie.

Die drei Parzen schüttelten die Köpfe.

„Man muß ihm gleich einen warmen Thee geben,“ lautete der Chor.

„Was für einen?“

„Lindenblüthe! Flieder! Kirschenstielthee!“

Es entstand eine lange Berathung unter den Schwestern, fast ein Streit. Alfred erwartete still ergeben sein Schicksal. Der Candidat schaute regungslos auf die lächerliche Gesellschaft nieder.

Bella, die älteste der Schwestern, war eine sechs Schuh lange hagere Greisin von siebenundsechszig Jahren. Alles an ihr war schief, der Kopf, der graue dünne Scheitel, eine Schulter und eine Hüfte, sogar die Augen, denn sie schielte. Die Ellenbogen gingen ihr bis über die Hüften herab. Sie hatte eine seitwärts gebeugte Haltung, als wolle sie sich immer entschuldigen, daß sie so groß sei. Ihre Hände waren auch krumm von der Gicht, sie konnte nur noch stricken. Sie versorgte die ganze Familie und unendlich viele Freunde mit wollenen Leibchen, Röckchen und Binden, ohne sie wäre längst Alles, was sie liebte, an zu leichter Kleidung zu Grunde gegangen. Sie hatte zu ihren Gichtknoten auch noch Schwielen von den Stricknadeln an den Fingern, aber sie hörte doch nicht auf zu stricken. Nur wenn ihr die Hände gar zu wehe taten, machte sie Filet, und am Sonntag las sie in Zschokke’s Stunden der Andacht. Sie konnte nur alte Bücher lesen, die sie fast auswendig wußte, neue vermochten ihre schlechten Augen nicht mehr zu entziffern.

Wika, die zweite Schwester, war nur fünfundsechszig Jahre alt. Sie konnte noch besser sehen als Bella und war eine kleine untersetzte Figur mit braunen falschen Zöpfchen, die schneckenförmig an dem schwarzgefärbten Scheitel befestigt waren und sich nicht die geringste Mühe gaben, für echte gehalten zu werden. Sie war zweifellos die dominirende unter dem Kleeblatt. Ihre breite behäbige Figur, ihr energisches Auftreten und eine kleine heimliche Tabaksdose gaben ihr etwas frauenhaft Ueberlegenes. Auch war sie die einzige von den Dreien, welche eine oder gar zwei wirklich gute Partien ausgeschlagen, weil ihr der Freier nicht gefallen hatte. Seit der unerhörten That staunten die Schwestern sie an wie ein höheres Wesen. Sie war auch erhaben über eine mechanische Gewohnheitsbeschäftigung. Sie trieb Politik, las Zeitungen, kochte sehr gut, spielte vortrefflich Whist und wurde grob, wenn sie verlor. Sie hatte Humor und brachte alle Leute zum Lachen, aber sie lachte nicht selbst mit, denn sie litt am Asthma und mußte ihren Athem sparen.

Jetzt blinzelte sie mit ihren klugen kleinen Aeugelchen über ihre dicken Backen zu dem Candidaten hinüber, während sie spöttisch Kirschenstielthee anrieth. Sie wußte, daß er sich ärgerte, und das machte ihr Spaß, denn sie waren sich beide durchaus nicht grün. Sie behauptete immer, er habe es dick hinter den Ohren und sie sei die einzige im ganzen Haus, die den Menschen durchschaue.

Lilly, die jüngste Schwester, das „Nestheckchen“, war erst neunundfünfzig Jahre alt. Sie war der leichtsinnige Springinsfeld unter den Schwestern, den man keine Minute aus den Augen lassen konnte, sonst machte er dummes Zeug, erkältete sich, verlief sich oder verdarb sich den Magen. Sie war gutmüthiger als Wika und natürlicher als Bella, aber seltsamerweise, obgleich die jüngste von den Dreien, war sie doch die erste, die Spuren von Altersschwäche zeigte und im Alter wie in der Jugend rettungslos von den beiden anderen bevormundet wurde. Sie hatte fast immer eine Schmarre im Gesicht, weil sie sehr schusselig war und alle Augenblicke die Treppe hinunter fiel, was ihr viel Schelte zuzog. Aber es war doch ein herzensgutes, liebes Gesichtchen, das immer unter einer unbeschreiblichen verkehrten Haube hervorguckte, ein altes runzeliges Kindergesicht. Tante Lilly war die einzige, die unermüdlich mit Alfred Domino oder Schach spielte und sich freute, wenn der Junge sie matt machte. Tante Lilly konnte auch noch das „Steh nur auf, Du lust’ger Schweizerbub“ auf dem Clavier spielen und wenn sie gleich manchmal daneben griff, Alfred fand doch nichts, nicht einmal die Chopin’schen Phantasien seiner Mutter, so schön und so rührend wie Tante Lilly’s „lustigen Schweizerbub’“!

Dies waren die Schwägerinnen von Alfred’s jugendlicher mädchenhafter Mutter, die letzten Freiinnen von Salten-Hermersdorf, die jüngeren Schwestern von Alfred’s Vater – denn dieser war ein Greis von siebenzig Jahren.

Aus solcher Umgebung sollte die kümmerliche Blüthe des zarten Knaben ihre Nahrung ziehen. Dies schattenhaft verhängte dunstige Krankenzimmer mit den launischen, allem Leben absterbenden Pflegerinnen war der Hintergrund, auf dem die Kindheit des letzten Stammhalters eines ritterlichen Geschlechts trübselig hindämmerte.

(Fortsetzung folgt.)




Kaisergräber in Wien.

Von dem Platze der alten Kaiserstadt, auf dem die herrliche Pyramide des Stephansdomes in die Lüfte steigt, während die Sonne in dem bunten Mosaik des Riesendaches darunter spielt, strahlen, wie von einem bedeutungsvollen Mittelpunkte, enge Gassen nach allen Richtungen aus. Eine derselben führt uns in wenigen Augenblicken nach einem kleineren Platze, der von einem der gefeiertsten Kunstwerke Wiens, dem trefflichen Donner’schen Brunnen, geschmückt wird. Auf den Rändern eines weiten Bassins gruppiren sich da vier gewaltige Gestalten in den großartigsten Stellungen, während die fünfte majestätisch über sie und das Ganze emporragt –: die Personificirung der Donau und ihrer Nebenflüsse im Gebiete des Erzherzogthums Oesterreich. Aber höheres Interesse hat das unscheinbare Gebäude an der Ecke dem Brunnen gegenüber. Die spitze Giebelwand, die es dem Platze zukehrt, überragt kaum die umliegenden Häuser; aber daß seine Bestimmung keine profane ist, erkennt man, wäre es nur an dem kreuzhaltenden Mönch, der oben in einer Nische steht. Er trägt das Gewand des Capuzinerordens, dem das anstoßende Kloster und die Kirche gehören.

Schon zwei Mal war ich umsonst an der Pforte gewesen.

[37]

Die Ruhestätte des Kaisers von Mexico in der Gruft der Kapuziner.

[38] Das erste Mal fand ich sie verschlossen, am nächsten Tage tönten mir das Rauschen der Orgel und die monotonen Responsalien der Priester entgegen. Ueber den absonderlichen Zweck des Gottesdienstes hatten mich zwar die im Vestibulum angeschlagenen Zettel belehrt, in denen ein „Vorbeter“ die Gläubigen zu der Pilgerfahrt nach Mariazell einlud und zugleich die Anzahl der vorbereitenden Exercitien nebst dem obligaten Quantum an Ablaß bekannt machte, aber trotzdem konnte ich mich nicht entschließen, die Messe zu stören. Ich vergaß wieder, daß in katholischen Ländern der Fremde ungehindert zwischen den Andächtigen und den Geistlichen circulirt, wie ich es selbst so oft gethan. Daß die Dinge, die ich suchte, die verrostete eiserne Thür und die düstere gespenstische Höhle, nicht im Innern der Kirche sich befanden, daß sie überhaupt nicht existirten, wie ich sie im Geiste gesehen, erfuhr ich erst heute.

Nicht weit von dem Hauptportal führt ein heller gemauerter Corridor in das Innere des anstoßenden Gebäudes. Als ich eintrat, sah ich zur Rechten eine Pforte geöffnet, die abwärts führen mußte, denn mir war, als vernähme ich aus der Tiefe ein halblautes Gemurmel von Stimmen. Ich hatte mich nicht getäuscht – über steinerne Stufen ging der Weg nach dem Orte, an den ich zu gelangen wünschte. Nicht in die Finsterniß; ein heller Schein von Fliesen und Pfeilern winkte mir entgegen, als ich die Treppe hinunterstieg. Von der einen Seite wenigstens, auf der anderen war es Nacht. Ein Mönch hatte mich oben empfangen. Er trug eine braune Kutte von weißem linnenem Gürtel umschlossen und ein Käppchen auf dem silberlockigen Haar. Seine Gestalt war klein, doch nicht würdelos; er war nicht hager und nicht gedunsen, nicht leichtfüßig und nicht schwerfällig, nicht freundlich und nicht düster. Auf seinen Zügen lag weder Fanatismus noch Schwermuth; seine Stimme klang ruhig, als hätte niemals die Leidenschaft darin vibrirt. In Haltung und Bewegung glich er einem Menschen, in dem Alles entschlafen ist, die Begierde wie die Hoffnung, der Haß, aber auch die Liebe; der die Maschine seines Lebens weiter treiben läßt, ohne zu fragen, ob sie heute oder morgen still steht. So war er der rechte Hüter des Ortes, an den er mich führte. Noch diese letzten Stiegen und ich stand in der Gruft des Hauses Habsburg.

Unter weißgetünchten Wölbungen zog es sich hin, zu beiden Seiten, Sarkophag neben Sarkophag. Aber während zur Linken das Licht des Tages durch die Fensteröffnungen hereinfiel, lag über den Räumen zur Rechten bleischwere Dämmerung. Nur hie und da blinkte es wie ein matter metallischer Glanz durch das eiserne Gitter, welches die beiden Hälften des unterirdischen Friedhofes trennte.

Ich war nicht allein; zwei Damen in Begleitung eines Führers waren kurz vor mir hinabgestiegen. Es waren Russinnen, denn ich hörte sie flüsternd Worte in ihrer Muttersprache wechseln; Beide waren edle und vornehme Erscheinungen, aber die Todten waren mir jetzt interessanter, als die Lebenden.

Der Capuziner hatte eine brennende Lampe ergriffen und ging unhörbaren Schrittes vor uns her auf das Gitter zur Rechten zu. Eine Pforte bewegte sich in ihren Angeln und wir traten durch sie in einen Gang, den wiederum auf jeder Seite eine Reihe eiserner Stäbe abgrenzte. Nur auf die vordersten fiel der bleiche, flackernde Schein der Flamme, dahinter war Alles in tiefe Finsterniß gehüllt. Die Leuchte bewegte sich nach rechts – wir sahen sie hoch schweben auf der dünnen Hand, die aus den braunen Falten der Kutte hervorblickte, und im nächsten Augenblicke stiegen die bauchigen Wandungen eines Sarkophages vor uns auf. Matte und polirte Flächen übereinander und die scharfen Kanten eines seltsam verzierten Deckels glitzern uns entgegen und von den Ecken herab grinsen uns gekrönte Todtenschädel an. „Leopold der Erste!“ sagt die eintönige Stimme unseres Begleiters.

Die Geschichte ist eine harte Richterin, daß sie das Bild derer, die in ihren Blättern verzeichnet stehen, so tief in die Erinnerung der Nachkommen eingräbt, daß es auch da nicht weicht, wo persönlicher Haß und egoistische Leidenschaft schweigen – an den Gräbern der Heimgegangenen. Ich konnte vor diesem nicht an die versöhnende Vorstellung zerfallener Erdenherrlichkeit mich halten; ich dachte nur an das, was der Todte Deutschland gekostet an Ehre und Macht – daneben auch an die schreckliche Lippe, die seit ihm in gemilderter Gestalt im Hause der Habsburger erblich geworden, und die mir an seinen Büsten schon mehr als ein Mal Entsetzen eingeflößt hatte.

Unserem Führer folgend traten wir jetzt hinter das Gitter in einen andern schmäleren Gang, der zwischen diesem und den Särgen hinführte. Ein zweiter niedrigerer Schrein mit trübe blinkenden Schildern und Festons tauchte aus dem Dunkel empor.

„Karl der Sechste!“ ertönte es wie vorhin.

Auch ein Fürst, dem es nicht um’s Ganze zu thun war! Seinen Namen hat er zu verewigen gesucht durch zwei Denkmäler in der Prager St. Veitskirche: das geschmacklose Johann Nepomuk’s aus siebenunddreißig Centner Silber, um die seine Unterthanen ärmer wurden, und das schöne marmorne seiner Vorgänger auf dem Kaiserthron; dann durch ein drittes in der Geschichte, das die pragmatische Sanction heißt – aber das Vaterland setzt ihm keine Ehrensäule.

Es folgten drei schlichte zinnerne Särge; der vorderste war der unscheinbarste, jedes Zierraths und Schmuckes baar.

„Kaiser Matthias!“ rief der Capuziner.

Armer Fürst! Dein Vergehen war, Kaiser zu sein in einer Zeit, deren stürmischer Kraft die Deinige nicht gewachsen war. Niemand war wohl glücklicher, als Du selbst, da der Tod das Scepter Deiner zitternden Hand entriß. Dritthalb Jahrhunderte verronnen vor wenigen Tagen – schlaf’ in Frieden!

„Ferdinand der Zweite!“

Ha, Ferdinand, ich grüße Dich – grüße Dich von den Prager Siebenundzwanzig – eben komme ich von den Steinen, über die ihr Blut rann auf Dein Geheiß! – grüße Dich von Böhmen, dem gesegneten, das manche Tage des Elends geschaut, aber nimmer solche, wie die Deiner Herrschaft – ich grüße Dich von Deinen Freunden, den Jesuiten, die, aus Deiner Hauptstadt verwiesen, dafür Deutschlands Gefilde beglücken! Freust Du Dich nicht der Botschaft?

Neben Ferdinand liegt sein Sohn, der Dritte dieses Namens – dann folgen Mitglieder des Kaiserhauses, die keine Krone getragen. Die letzten drei Sarkophage stehen nicht parallel den andern, sondern in gleicher Linie mit der Mauer nebeneinander, so daß die Füße der Leichen nach den Seitenwänden jener gerichtet sind. Es sind zwei Geschwister Maria Theresia’s und zwischen ihnen die Oberhofmeisterin ihrer kaiserlichen Schwester, Gräfin Fuchs, die Einzige aus geringerem Stamm, die hier Theil hat an der Herrlichkeit des erlauchten Fürstengeschlechtes.

Zufällig war ich bisher der erste in der Reihe der Besucher gewesen und dicht hinter dem Capuziner hergeschritten; jetzt, als dieser den Rückweg antrat und mit hochgehobener Leuchte sich abermals an die Spitze des Zuges stellte, schloß ich denselben. Unser Führer ging rascher als vorhin und die Uebrigen folgten ihm in gleicher Weise, mir aber war, als hemmte eine dunkle Gewalt meinen Gang. Im nächsten Moment fühlte ich eine eisige Berührung meiner Hand – ich war dem einen Sarg zu nahe gekommen – als ich mich umwandte, erkannte ich den des blutigen Ferdinand. Ich mußte still stehen, wie von magischer Kraft gefesselt, und hinblicken, starr und unbeweglich nach dem Kopfende der Leiche. Ich hörte vorn den dumpfen Klang der eisernen Thür und das Rauschen der Gewänder, die an den Gitterstäben hinglitten – dann bewegte sich darüber die andere Pforte und noch einmal ertönte in meinem Rücken ein dumpfes Murmeln und das Gleiten der Füße über die Steine des Bodens hin, dann erstickte die Entfernung und die doppelte Scheidewand den letzten Laut. Ich war allein mit den Todten.

Das Auge hatte sich an das Halbdunkel gewöhnt und die Gegenstände vor mir traten in nebelhaften Umrissen aus den Schatten des Gemäuers hervor. Wo die untere Wand des Ganges an die Straße draußen stieß, da glitten durch eine enge vergitterte Oeffnung einzelne Lichtstrahlen herein und beleuchteten grell die nächsten Särge. Dort tanzten auch die Moderstäubchen, welche unter unsern Schritten aufgewirbelt waren, in der glänzenden Luft um die vorspringenden Strebepfeiler. Dunkle unregelmäßige Streifen traten auf der bleigrauen Wand hervor, als ob eine Flüssigkeit dort an ihnen herabgetroffen wäre, und wo ein Schimmer Lichtes über sie glitt, da schillerten sie in feuchtem widerlichem Grün. Ich hatte meine Hand an die eisernen Stäbe gepreßt, während mein Auge abermals über die schweigende Genossenschaft vor mir hinflog. Wie ein Sturm umbrauste es meine Stirne, mir war, als sähe ich Deckel sich heben und als hörte ich Purpurfalten rauschen. Mein Ohr vernahm es wie drohenden Zuruf der Todten, deren Ruhe ich gestört, und ich fühlte Augen, die schon längst [39] geschlossen gewesen waren, in lebendigem Zorne auf mich gerichtet, da ermannte ich mich – eine Bewegung der Hand, die Betäubung war gewichen, ich eilte den Gang zurück, den wir herabgekommen waren, und warf keinen Blick zurück, bis ich draußen stand auf den Fliesen der Halle.

Als ich zu der Gesellschaft zurückkehrte, fand ich sie noch drüben im entgegengesetzten Gange. Mechanisch schritt ich den Uebrigen nach; die Namen der Todten, an welchen wir vorbeikamen, verhallten mir ungehört; daß sie keinen historisch wichtigen Persönlichkeiten angehörten, erfuhr ich später. Nur zwei Mal erwachte ich aus meinen Träumereien; vor dem kostbaren Sarge Margaretha’s von Spanien, der ersten Gemahlin Leopold des Ersten, der aus sechszehn Centnern reinen Silbers gearbeitet ist, und vor dem der Gemahlin des Kaisers Matthias, der ältesten Leiche, die seit dem Jahre 1618 hier ruht.

Und nun heraus aus den Räumen der Finsterniß und hinüber in die hellen und freundlicheren, würdig des Jahrhunderts, dessen Todte sie umschließen! Eine Reihe freistehender Pfeiler scheidet diese Hälfte der Gruft in zwei Theile, und die Bogenwölbungen der Decke wiederum bilden mit ihnen mehrere einzelne Grabkammern. Die erste, in die wir treten, enthält eine große Anzahl von Särgen, die im Kreise um einen gewaltigen Doppelsarkophag stehen. Auf dem letzteren blinken die Embleme der Herrschaft, Kronen und Hermelin. Faltige Purpurmäntel wallen von beiden Seiten herab und beschatten die figurenreichen Reliefs, welche die Wände des Monumentes schmücken. Hier schläft Maria Theresia und ihr Gemahl Franz der Erste in einem Grabe. Die sie umringen, sind ihre Kinder und nächsten Verwandten. Dort liegt Herzog Albert von Sachsen-Teschen, neben ihm seine Gemahlin Christine, die Lieblingstochter der Kaiserin. Beiden war ich schon in der Augustinerkirche begegnet, wo sich das Grabmal der Herzogin, ein Meisterwerk Canova’s, befindet. Die weiße Marmorpyramide mit dem Zuge klagender Gestalten, der auf sie zuschreitet, mit dem Genius, der sich trauernd auf einen düsterblickenden Löwen stützt, und der Inschrift über dem Eingange: uxori optimae Albertus, redet draußen zu der Welt – mächtiger aber zu dem fühlenden Herzen der stille Familienkreis selbst, in dessen Mitte wir hier stehen.

Wer aber ist der fürstliche Schläfer, der dieses bescheidene Haus sich erwählt hat? Eine viereckige Kammer aus dem schlechtesten Metall, aus trübem glanzlosem Blei, kein Schnörkel daran und kein Zierrath – wie dürftig erscheint sie unter den prunkenden Gemächern umher! Ihr einziger Schmuck ist ein Name – der Name Joseph der Zweite! Wer die Segnungen begriffen hat, die eine neue Zeit der Menschheit gebracht, den wird es wie Andacht umwehen an dieser Stätte! Wer noch Glauben hat an das Herz und an Leiden der Fürsten, der wird die Hände falten vor diesem Sarge! Joseph’s Denkmal in stolzer Imperatorentracht steht draußen auf dem Burgplatz, aber beredter als selbst die Worte der Inschrift: saluti suorum non diu vixit, sed totus – ist dieses schlichte Grab, das der mächtige Fürst sich erwählte im Bewußtsein der Richtigkeit seines Wirkens und Wollens und das er demuthsvoll hinstellen hieß zu den Füßen seiner Eltern.

Die folgende Zelle umschließt die Familie Kaiser Franz des Zweiten. Unter allen Habsburgern war mir kaum einer so widerwärtig, als dieser. Ueberall in den Straßen Wiens macht sich sein Name breit, auf Thoren, Monumenten, Schulen und Casernen. Sein langweiliges und hochmüthiges Gesicht hatte mich erst gestern geärgert, wo ich das prachtvollste goldene Gemach des Bellevuepalastes ausschließlich seinem Bilde reservirt fand, das überdies von himmlischen Genien – wenn nicht gar von den Musen gekrönt wurde. Auch hier in der Gruft mußte er etwas voraus haben; sein prunkender Sarkophag aus braunem Marmor dort auf dem Postamente mit dem unvermeidlichen „Franciscus imperator“ erschien wie das letzte Zeugniß eines nimmer endenden Stolzes.

Am Boden, in drei Ecken des Gewölbes, stehen die Särge seiner vor ihm gestorbenen Frauen; die vierte ist für die noch lebende Kaiserin Karolina Augusta bestimmt. Zu seiner Linken aber ruhen noch Zwei, die ihn angehen: seine Tochter Marie Louise und der Sohn seines Feindes, sein Enkel – der König von Rom. Draußen „im Garten von Schönbronnen“ hatte ich ihn gesucht, von Saphir’s Ballade verleitet – aber Niemand wußte mir dort von ihm zu sagen; nun fand ich ihn hier, zu äußerst an die Mauer gesetzt, wie es dem heimathlosen Fremdling geziemt.

Die zweite Reihe der Gemächer umschließt die Leichen des Kaiser Leopold des Zweiten und der Seinen, dann die in den letzten Jahrzehnten verstorbenen Glieder des Herrscherhauses und am äußersten Ende fünf Särge der Familie Toscana. Mitten unter Jenen ruht auch die Jüngste der Todten, die arme Mathilde. Vorhin erst war ich unter dem Fenster vorübergegangen, aus dem sie sich herausgebeugt, als die Flamme ihr Kleid erfaßte, und ich kannte das Gemach draußen in Hietzing, aus dem ihr grausiges Schmerzensgeschrei Tage und Nächte hindurch erklungen war, daß die Umstehenden kaum vermocht hatten, es zu ertragen. Nun war es so still da unter dem Deckel – verblichene Kränze und Guirlanden umfingen ihn noch, die letzten Gaben der Liebe. Ihr Vater hat der Stadt Wien jetzt für die Erlaubniß, seine beiden Paläste durch einen bedeckten Gang verbinden zu dürfen, vier Marmorgruppen geschenkt, zu denen die Blöcke allein vierzigtausend Gulden kosten. Was würde er wohl geben für die Todte hier unten in der Capuzinergruft?

Und nun – einsam steht dort der letzte Sarg in der letzten Zelle zur Rechten. Wer ist der Ausgestoßene, bei dem Niemand liegen gewollt hat, auch im Tode nicht? Sanftes Licht fließt über den zinnernen Schrein und die Kette verwelkter Blumen, die ihn umschlingt. Zwei silberne Kränze liegen oben auf, ein großer reichblätteriger zu Häupten – ein kleiner halbgeschlossener zu Füßen. Breite Seidenbänder, rothe und weiße, schmiegen sich unter der Guirlande hervor und flattern empor, da wir näher treten. Auf dem einen steht: „Erinnerung“, auf dem andern: „Maximilian Ferdinand Max, Erzherzog von Oesterreich, Kaiser von Mexico“ – der Erschossene von Queretaro!! Giebt es einen Sarg in einer Fürstengruft, der gewaltig redete gleich diesem? Den einzigen vielleicht drüben in Westminster, wo das Haupt eines Königs neben seinem Leichnam liegt. Beide gerichtet von ihren Völkern, beide Tyrannen genannt, und um der Tyrannei willen gefallen. Aber der Schuldigere war dieser hier gewiß nicht; mag man ihn kurzsichtig und verblendet schelten – sein Herz hat noch Niemand anzuklagen gewagt. Wie die Kränze blinken in trübem Schrein, als quöllen Thränen unter den silbernen Blättern hervor! Den hier unten haben die Damen von Mexico, jenen zu Häupten hat seine Gemahlin für seine Gruft geschickt – einstweilen, bis sie selbst zu ihm niedersteigt, wenn die Nacht des Wahnsinns einer friedlichen ewigen Nacht gewichen ist, und dann wird er nicht mehr einsam sein, hier wo Jeder unter den Geliebten seines Herzens ruht!

Wir schreiten rückwärts durch die stillen Gemächer. Freundlich erschienen sie mir zuvor, aber die Schauer des Todes durchwehen doch auch sie. Moder und Verwesung ist hier – was Licht und Leben heißt, quillt nur draußen, nur von oben herab, vom strahlenden Himmel!
Dr. Weck.




Aus deutschen Lustschlössern.
1. Auf dem Winterkasten.

Unsere weiland Hunderte von Landesvätern haben in löblicher Eintracht dafür Sorge getragen, daß das liebe deutsche Reich von Nord nach Süd und von Ost nach West mit kaiserlichen und königlichen, mit kurfürstlichen und pfalzgräflichen, mit herzoglichen und prinzlichen, mit bischöflichen und äbtlichen Residenzen und Lustschlössern jedweder Art und Gestalt geschmückt und beglückt werde, und gar viele dieser größeren und kleineren allerhöchsten und höchsten Tuscula, dieser Steine und Burgen, dieser Ruhen und Haine, dieser Fantaisies und Belvederes, dieser Solituden und Eremitagen, dieser Monrepos und Monplaisirs sind in der That bewunderns- und neidenswerthe Flecken Erde, Architektur- und Landschaftsbijoux, keines derselben aber reicht durch die vollendete Vereinigung von Natur und Kunst in Ensemble und Totalwirkung an den weltbekannten Sommersitz heran, welchen sich die reichen Landgrafen und Kurfürsten von Hessen eine Stunde von ihrer Hauptstadt Kassel geschaffen haben.

[40] „Mein Gott, welch einen großen schönen Gedanken hat euer Fürst da in unseres Gottes Schöpfung hineingeworfen!“ so rief ein deutscher Dichter aus, als er an einem Sommermorgen die Wilhelmshöhe[1] zum ersten Male vor Augen hatte, und wer jemals die entzückende grüne Bergterrasse des Habichtswaldes mit ihren Bauten und Anlagen erschaute, der stimmt gewiß aus vollem Herzen dem ehrwürdigen Sänger der Messiade bei – denn kein Geringerer ist es, den wir citiren. „Ganz Europa hat nichts Herrlicheres aufzuweisen,“ meint gar ein seiner Zeit viel gelesener Reiseschriftsteller, ein Mann von Geist und Witz, der mancher Länder Städte und Menschen gesehen. In wie weit sein Wort stichhaltig ist auch nach der Begeisterung des Momentes, lassen wir dahin gestellt sein.

Der Stil von Schloß und Park, halb Renaissance, halb Rococo und Zopf, mannigfach manierirt und gespreizt, rührt zum großen Theil aus einer Zeit her, wo das landschaftliche Auge ein anderes war als heutzutage, wo man, in der Reaction gegen alle mittelalterlichen Anschauungen und Geschmacksrichtungen, „unplaisirlich“, „wüst und öde“ nannte, was uns jetzt als hochpittoresk und hochromantisch erscheint, allein das Ganze in seiner Harmonie von Natur und Menschenwerk bleibt unvergleichlich, und wenn sich der Mensch auch da und dort bemüht hat, die Natur zu corrigiren, dem Gesammteffect hat es keinen Eintrag zu thun vermocht.

Ich habe Wilhelmshöhe in allen Luftströmungen und Wetterstimmungen, in jeder Färbung und Beleuchtung gesehen, nie aber schöner als neulich beim durchsichtig klaren Himmel eines milden Herbsttages, eben als das Laub sich zu röthen begann. Vor mir die weite freie Aussicht auf das heitere Fuldathal mit der Stadt im Herzen, der stundenlangen Allee von alten Linden, die zum Plateau heraufführt, der Reihe von Zwischenstufen mit Feldern und Baumgruppen, mit Wiesen und Häusern daneben und den sanft geformten Bergen rechts und links und in der bläulichen Dämmerung des Hintergrundes; rund um mich herum der sich über drei Berge hinwegziehende köstliche Park mit seinen Büschen, seinen Blumen und Rasengründen, seinen Bächen und Weihern; dann das Schloß selbst, gefällig und imposant zugleich, mit seiner Kuppel, seiner Freitreppe und seinem Porticus; zur Seite die Riesenfontaine mit ihrer mächtigen Wassersäule; im Rücken die buntbetupften Waldhöhen mit der Löwenburg und dem Erzkoloß des Hercules, der sich gleich einem ungeheuern aufgehobenen Finger aus der Laublücke heraus in den Himmel reckt, zwischen alle dem in reizendem Wechsel Thäler, Schluchten, Felsen, Cascaden und Aquäducte und überall das fröhliche Treiben von Lustwandlern und Touristen – ein Bild, wie es das mittlere Deutschland in gleichem Einklang aller Elemente wohl nicht zum zweiten Male umschließt, ein Paradies von landschaftlicher Schönheit, um es mit einem banalen Worte bequem und verständlich zu bezeichnen, ein Ort, der so recht auf die Erde gesetzt zu sein scheint zu würdiger Erfüllung und edlem Genuß des Lebens.

So dünkt uns Wilhelmshöhe, so muß es Jedem dünken im Entzücken des ersten Anblicks, in der unbefangenen Hingabe an den Eindruck des Momentes, welchem sich Niemand entziehen kann. Bald aber kommen spukhafte Schatten hervorgekrochen aus den vergoldeten Prunksälen, aus den verschwiegenen Boudoirs, aus den kühlen Grotten, aus den lauschigen Boskets heraus, rauschen unheimlich in den Baumwipfeln, schlüpfen über den Sammet der Wiesen, tauchen aus der Fontaine empor, huschen durch die Alleen und umschweben uns, wo wir gehen und stehen, bis sie alle die Pracht vor unseren Augen ausgelöscht haben und uns schauert in der gespenstischen Gesellschaft.

Die Geister der früheren Zeiten sind es, die auf Wilhelmshöhe umgehen auch im Sonnenlichte des hellen Tages, die Erinnerungen vergangener Scenen und Gestalten, welche hier in diesen Räumen lebendig werden und auf uns eindringen, – ach, und wo ist da nur eine, bei der das Herz gern weilen möchte, bei der es sich beglückt, erhoben, veredelt fühlte? Von königlichem Prunk, von rauschender Lust, von Spiel und Fest und Sinnenzauber hat die Chronik von Wilhelmshöhe ohne Ende zu erzählen, – von Momenten höherer Weihe steht wenig geschrieben auf ihren Blättern. Ein Capitel aus jenem großen Buche der Monarchenwillkür, eine der unzähligen Variationen über „der Staat, das bin ich!“ wozu unsere deutschen Fürstenschlösser so reiche Beiträge und Illustrationen geliefert, wissen die Annalen von Wilhelmshöhe zwar nicht von Schauderdramen zu berichten, wie sie sich in den italienischen und russischen Palästen abgespielt haben; aber das auf den Schlachtfeldern Europas und weit drüben jenseits des Oceans verspritzte Blut der Landessöhne hat die Bauten, die Wasserkünste, die Gartenwunder von Wilhelmshöhe zusammengeleimt, und dort hinter den hohen Spiegelfenstern, auf den blanken Marmorparquets ihrer Säle, in den weichen Seidenpolstern ihrer wollusthauchenden Pavillons, im verborgenen Geranke ihrer Lauben ist der Schweiß und das Mark des Volkes verpraßt, ist seinen vaterländischen Gefühlen Hohn gesprochen, seine Würde mit Füßen getreten, seine Sitte und Tugend vergiftet worden. Und wenn es heute verwaist steht, das Prachtschloß, wenn von ihm aus der letzte seiner „angestammten“ Herren den Passionsweg antreten mußte in Gefangenschaft und Exil, wer möchte darin nicht das „Weltgericht der Weltgeschichte“ erkennen, nicht die nothwendige Sühne für jahrhundertelanges Verschulden?

„Denn jede Schuld rächt sich auf Erden.“

Zu allen Zeiten haben die geistlichen Herren ein scharfes Auge für landschaftliche Schönheit und Vortheile gehabt. Das bezeugt die Lage von Hunderten von Klöstern und Stiften in und außerhalb Deutschlands. Geistliche Herren sind’s auch gewesen, welche die aussichtsreiche Bergterrasse des eine Stunde westlich von Kassel beginnenden Habichtswaldes, wo sich heute die Pracht von Wilhelmshöhe entfaltet, für die Welt entdeckt und zuerst besiedelt haben. Auf dem Plateau des sogenannten Winterkasten unweit des heutigen Dorfes Kirchdetmold gründeten Anfangs des elften Jahrhunderts Augustinermönche ein Kloster, das sie nach der Farbe des Felsens, auf welchem sie ihren Bau unternahmen, das Kloster auf dem Weißen Steine hießen. Die Reformation machte dem ziemlich unheiligen Leben der heiligen Väter und Mütter – denn auch diese hatten sich inzwischen auf dem Winterkasten etablirt – ein Ende, und die Stiftsgebäude, soweit sie noch vorhanden waren, begaben sich in den Dienst St. Hubert’s, als bequemer Sammel- und Rastpunkt bei den fürstlichen Jagden in den nahen Wäldern. Später führte Landgraf Moritz, der ein hochgelehrter Herr – seine Zeitgenossen gaben ihm den Beinamen „der Gelehrte“ – aber Glanz und Prunk nicht minder zugethan war als den Wissenschaften und mit seinen militärischen Neigungen den Grund legte zu der Soldatenpassion, welche bis in die Neuzeit hinab die hessischen Fürsten gekennzeichnet hat, an Stelle des halbverwüsteten Klosters ein eigenes Jagd- und Lustschloß auf, sein „Moritzheim“ oder die „Villa Mauritiana“. Der dreißigjährige Krieg, der ihm selbst die Krone kostete, zerstörte ihm auch seine Schöpfung, und lange Jahre lag der Weiße Stein wieder wüst und einsam.

Vom letzten Viertel des siebenzehnten bis über das erste des achtzehnten Jahrhunderts hinaus regierte in Hessen ein kluger, doch curioser Herr, eine Art Tausendkünstler, der selbst sich in allen möglichen Wunderwerken versuchte und eine merkwürdige Collection von seltsamen Gegenständen und Raritäten, Perpetuum-mobiles, Zauberlaternen, kunstvollen Uhren, Automaten und dergleichen zusammenbrachte. Er reiste zu diesem Behufe in Europa umher, tauschte mit anderen Potentaten, namentlich mit dem vielfach gleichgesinnten August dem Starken von Sachsen, seine Schätze aus und suchte sich mit Künstlern und Mechanikern nah und fern in Verbindung zu setzen. Italien war damals das gelobte Land für alle fürstlichen Touristen; auch Landgraf Karl pilgerte dahin. Dort sah er die Vorbilder für die großen Bauten, die er nachmals zu Hause unternahm, für das noch heute berühmte Marmorbad im Kasseler Curgarten, besonders aber für seine Schöpfungen auf dem Weißen Steine. Diesen wollte er zu einem wahren Zaubergarten umwandeln, und der italienische Baumeister, welchen er sich mitbrachte, Francesco Guarnieri, mußte ihm seine Pläne verwirklichen helfen. Ludwig der Vierzehnte hatte sein Versailles, August von Sachsen seinen Zwinger, Eberhard Ludwig von Würtemberg sein Ludwigsburg; Landgraf Karl mußte etwas besitzen, was anders und größer war als alle diese Weltwinkel, und so fiel er auf die Idee eines Riesenschlosses mit einem wahrhaftigen Riesen auf der Zinne.

Auf der höchsten Spitze der den Weißen Stein im Westen säumenden Bergkette ließ er ein kolossales Achteck setzen und als Krone des Ganzen die Statue des berühmten farnesischen Hercules in gigantischen Verhältnissen. Es war eine der „curieusen“ Ideen [41] einer an curieusen Gedanken und Menschen merkwürdig reichen Zeit, und Landgraf Karl hatte jedenfalls erreicht, was er erstrebt: kein Potentat konnte etwas Aehnliches aufweisen, wie das Octogon des Karlsberges mit seinem Erzkolosse noch heute ohne Gleichen da steht. Aber er hatte auch etwas gezeigt, was damals, wo man die prunkvollsten Schlösser in die langweiligsten Sandebenen oder die ödesten Moorflächen zu bauen liebte, nicht eben häufig war: ein Auge für wahre landschaftliche Schönheit. Wer sich durch die grabeskalten dunkeln Tuffsteingewölbe der unteren Stockwerke bis zu der um den ganzen Bau laufenden Platform emporgearbeitet hat, was freilich ein gut Theil Anstrengung kostet, dem liegt eine Welt vor dem Blicke, wie sie der Versucher dem frommen Zimmermannssohne vom Gipfel des Oelbergs nicht schöner enthüllt haben kann. Bis zum düstern Brocken hinüber im Norden und gen Morgen bis zum waldgrünen Inselsberge schweift das wonnetrunkene Auge, und dazwischen sieht es ein unendliches Meer ausgegossen von Städten, Dörfern, Weilern, Burgen, Flüssen, Büschen, Forsten und Bergen, einen solchen Reichthum von Landschaftspracht, daß man Stunde um Stunde mit immer gleichem Entzücken vor dem Panorama weilt.

Die Natur aber, wie er sie fand, genügte dem Landgrafen nicht. In jenen Tagen ging ein merkwürdiger Zug und Drang nach dem Wasser. Wasser mußte rauschen und plätschern, rinnen, springen, stürzen, wo immer sich ein großer Herr seinen Sommersitz herrichtete. Marly, Versailles, Hollabrunn bei Salzburg, Herrenhausen bei Hannover, alle diese berühmten Wasserwerke und Wasserspielereien mit ihren mythologischen Ungethümen und Grotten sind um die Scheide des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts entstanden. Natürlich konnte auch der Weiße Stein seiner Wasserkünste nicht entrathen, und reicher, umfänglicher, imposanter sollten sie werden, als Alles was die Welt bis jetzt dergleichen kannte, vollkommene Zauberconstructionen. Da sann nun der baulustige Fürst, der gern Alles selbst und allein machen wollte, der in den verschiedensten mechanischen und technischen Hantirungen mit Geschick dilettirte, und entwarf den Plan zu den großen Cascaden und zu der gewaltigen Fontaine, die uns noch heute zu Staunen und Bewunderung fortreißen. Mit seinem italienischen Baumeister grub er unweit vom Gipfel seines Karlsberges sein „Riesenbecken“ aus, in welchem sich die Wasser sammeln. Mitten darin liegt unter einem massigen Felsblocke der Riese Eukeladus und schleudert aus seinem Gigantenmunde einen fast sechszig Fuß hohen Wasserstrahl in die Luft, während zu beiden Seiten des Bassins reiche Cascaden in dreifachen Absätzen tausend Fuß tief in die vom Meergotte Neptun mit dem Dreizack behütete Grotte hinabstürzen.

Im Jahre 1714 spielten die Wasser vom Weißen Steine, welche Karl’s Namen verewigt haben, zum ersten Male. Der ganze glänzende Hof, mit dem sich der Landgraf nach Versailler Muster umgeben hatte, war entboten, dem Schauspiele beizuwohnen. In vergoldeter kleiner Barke, welche acht venetianische Gondoliere lenkten, schiffte der Fürst, ein noch sehr stattlicher Herr von achtundfünfzig Jahren, durch das in Quadern ausgehauene Becken bis in die Neptunsgrotte hinein, um hier, vor der fallenden Fluth geschirmt, dem bestrickenden Spiele des beweglichen Elementes zuzusehen und durch den in den Irisfarben schimmernden Tropfenschleier die draußen in Gruppen vertheilte Versammlung der vornehmen Schäfer und Schäferinnen, Götter und Göttinnen zu mustern. Hinter Boskets versteckt war die Hofcapelle postirt, deren Mitglieder zumeist aus Italienern bestanden, und während Welle auf Welle in die Tiefe hinabrauschte, mischten sich die Fanfaren und Rondos der wälschen Musiker in das melodische Geplätscher. Plötzlich schallt’s von der Höhe hinab wie die Posaune des Weltgerichts; die Capelle schweigt und Alles lauscht erschrocken den wundersamen durchdringenden Tönen; nur der Landgraf und seine Vertrauten kannten das Räthsel dieser Klänge. Oben am Riesenbassin ist ein Centaur mit einem Faune aufgerichtet, die auf gewaltigen Kupferhörnern blasen. Indem nämlich, vom einströmenden Wasser gedrückt, die Luft aus diesen Hörnern entweicht, erzeugen sich Töne, welche gleich dem Schmettern einer Tuba Mark und Bein erschüttern.

So ging das Fest in stetem Wechsel bis zum Abend fort, dann flammten ringsum in Busch und Wald Hunderte von bunten Lampen auf und streuten magische Lichter und Tinten auf Teiche und Cascaden. Endlich erschienen Karl’s gigantische Heiducken oder Hofhusaren, sämmtlich Kinder der ungarischen Pußten, die er sich um theueres Geld zusammengeworben hatte, und unter dem Scheine ihrer Wachsfackeln und Lichtersträuße stieg, den Landgrafen an der Spitze, die Gesellschaft mit ihren hochstelzigen Stöckelschuhen die achthunderundzweiundvierzig Stufen zum oberen Bassin hinauf. Neue Wunder! Das Becken glühte wie eine Fluth geschmolzenen Erzes, und ein Purpurstrahl stieg aus Eukeladus’ Munde in die feuerhelle Luft empor. Aus der hintern Grotte aber tauchte aus einem Muschelkahne ein Trupp lieblicher Nixen auf und tänzelte zu dem Landgrafen heran, welchem auf einem mit Teppichen behangenen Steinwürfel der Sitz bereitet war, ihn mit grünem Geschlinge und Wasserrosen zu umwinden, während die sogenannten Ortolansänger, als Waldnymphen costümirt, mit einer getragenen weichen Arie von Alessandro Scarlatti das Echo der Haine weckten.

Mit seinem getreuen Factotum und Liebling, dem Geheimen Secretär Ries, der allein das Ohr seines durchlauchtigen Herrn und weit größern Einfluß besaß, als alle Minister, Generale und Höflinge zusammen genommen, hatte der Landgraf den Plan des Festes bis in das kleinste Detail selbst entworfen, wie die Wunderschöpfung überhaupt als sein „eigenstes Werk“ gelten darf, er hatte sogar höchstselbst unterschiedliche Proben des Schauspiels abgehalten, mit welchem er jetzt seine Gäste überraschte, dennoch fühlte auch er sich zur Begeisterung fortgerissen, wie er nunmehr seine Ideen verwirklicht vor sich hatte. In huldvollster Laune, wie es sonst nicht immer die Art des hochfahrenden und hitzigen Herrn war, der auch mit seinen höchsten „Dienern“ nicht viel Federlesens zu machen pflegte, ging er von einem Cavalier zum andern, von Dame zu Dame und lächelte wohlgefällig über die ungeheuchelte Bewunderung, welche sich in Aller Blicken und Aller Worten kundgab, bis ihn eine jener reizenden Nixen ausschließlich zu fesseln schien. Ein ganz junges Mädchen, eine noch kaum erblühte Knospe, war sie doch eine Erscheinung, die unwillkürllch zum gebietenden Mittelpunkt des Kreises wurde, in welchem sie sich zeigte. In ihren großen, tiefblauen Augen brannte ein Feuer, das zugleich mächtige Leidenschaft und ungewöhnliche geistige Begabung und Energie verrieth.

Von Stunde an hat der Landgraf seine Nixe – ein Fräulein von Bernhold – nicht wieder aus dem Blick verloren, und diese im Verein mit ihren speculirenden Angehörigen das Interesse festzuhalten und auszunützen verstanden, welches sie dem Fürsten eingeflößt hatte. Jahre darauf hat sie Karl zu seiner erklärten Favoritin erhoben, und nachdem er selbst alt und fast stumpfsinnig geworden, ist sie es gewesen, welche Hof und Staat regiert hat, die erste jener galanten Damen, die fortan und bis auf die jüngsten Tage, bis zur gewaltsamen Entsetzung der Dynastie, am Kasseler Hofe und im Lande der Katten so allmächtige und meist so unselige Herrscherinnen gewesen sind, Landverderberinnen, wie jene berüchtigte Gräfin von Urach, unter deren Schandwirthschaft das Herzogthum Württemberg schmachtete.

Aehnliche Feste wie das hier geschilderte sind sich bei den Wassern des Weißen Steines in endloser Reihe gefolgt, mit all’ dem Pompe, welchen Karl zu entfalten liebte; die Königin von allen war „die schöne Bernhold“, wie sie die Cousine des Landgrafen, die Herzogin von Orleans, nennt. Karl war glücklich: die Wasserkünste auf dem Winterkasten waren das Wunder Europas geworden. Fürsten und Cavaliere aus Deutschland und aus der Fremde, gelehrte Touristen aus Frankreich und England kamen nach Kassel, die Herrlichkeit zu beschauen und dem Urheber derselben in Prosa und Poesie Weihrauch anzuzünden. Was fragten die staunenden Fremden danach, wo die fabelhaften Summen herkamen, welche des Landgrafen Wasserkünste und Feste verschlangen; fragte doch dieser selbst nicht, wo er das Geld fand, das er zu seinen Bauten und Anlagen, zu seinem Hof- und Militärgepränge brauchte. Um so besser wußte das arme Volk, was ihm sein prachtliebender Landesvater kostete: es hatte Trank- und Acciseabgaben, hatte den Licent, hatte Stempel-, Rangclassen-, Perrücken- und viele andere Steuern zu entrichten, die von Jahr zu Jahre stiegen – mehr noch, es hatte den Glanz mit seinem Blute zu bezahlen. Landgraf Karl ist es gewesen, welcher jenen schmachvollen Menschenhandel ersann, der zur „berechtigten Eigenthümlichkeit“ des Hessen-Kassel’schen Hauses werden sollte, um dieses für alle Zeiten zu richten und zu brandmarken. Den Venetianern verkaufte er ein Regiment Infanterie zum Türkenkriege auf der Halbinsel Morea, im spanischen Erbfolgekriege lieferte er England und Holland Tausende tapferer Hessen zum Kanonenfutter auf den Schlachtfeldern [42] in Italien endlich überließ er den Königen Georg dem Ersten und Georg dem Zweiten von Großbritannien nachmals Tausende seiner Landeskinder, so daß er allein ein jährliches Einkommen von zweimalhundertundvierzigtausend Pfund Sterling bezog. Die Wasserwunder des Weißen Steines – sie sind buchstäblich aus den Blutstropfen seiner Unterthanen entquollen. Ob ihm nie gegraust haben mag, wenn er an der Seite seiner schönen Nixe dem Wellentanze zuschaute? Ob ihm nicht aus jeder Wasserperle ein Gespenst aufgestiegen ist, das ihn als Raubmörder anklagte?

Die Maitressenwirthschaft und der Seelenschacher der hessischen Fürsten – Beides ist aus dem Wogenschaume des Winterkastens geboren worden. Wenn auch nicht so toll, so ist doch auch in den Prunkgemächern der übrigen deutschen Lustschlösser die Leidensgeschichte unseres armen Volkes zu suchen und wir wollen den Lesern der Gartenlaube davon erzählen.
H. S.




Im Banne der Engelsburg.[2]
I.
Das Concil und die Oppositionspartei. – Die erste Procession und ihr Glanz. – Wer bezahlt? – Der Peterspfennig. – Knauserige Kirchenfürsten. – Die Militärrevue und die neuen Kreuzritter.

Nichts ist bezeichnender für die Fortschritte, welche der Katholicismus vermittels des Jesuitismus in neuester Zeit gemacht zu haben glaubt, nichts bekundet schlagender das Gefühl der Sicherheit, welches man in Rom in Bezug auf die Einheit der Kirche hegt, als die Einberufung dieses jetzigen Concils, welcher der Welt beweisen soll, daß das Papstthum trotz aller äußeren Veränderungen, die sich in Rom und Italien während der letzten Jahre vollzogen haben, eine göttliche, durch nichts zu erschütternde Macht ist; welches die Einigkeit der katholischen Kirche in ihrer Unterordnung unter den Stattalter Christi auf Erden in einem noch nie dagewesenen Grade der erstaunten Welt bezeugen soll. Indessen kann auch hier sich möglicherweise das alte Wort bewahrheiten, daß eine zu straff angespannte Bogensehne oft springt. Selbst in dieser katholischen Welt, in der jede freie Willensäußerung todt, jede Regung von Selbstständigkeit unter den Bischöfen erloschen zu sein schien, haben sich bereits deutliche Zeichen herausgestellt, welche beweisen, daß dem wenigstens nicht ganz so ist, daß man nicht allen Bischöfen auch geradezu Alles zumuthen kann, unter anderm auch das: ihre eigne Macht durch Annahme des Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit völlig und für alle Zeiten zu Grabe zu tragen. Es hat sich, das steht trotz alles Ableugnens der römisch-klerikalen Organe bereits ganz fest, eine Oppositionspartei, eine Linke, gebildet, welche gegen die extremsten Forderungen der Päpstlichen Front macht. Wir erlauben uns diese parlamentarischen Ausdrücke auch auf das Concil anzuwenden, obwohl die klerikale Presse eifrig bemüht ist, dergleichen profane Ausdrücke als ganz und gar unpassend für dasselbe zu erweisen, welches als eine direct vom heiligen Geiste inspirirte Versammlung mit den streitenden, revolutionären Ideen ergebenen „Kammern“ der modernen Zeit in keinem Punkte zu vergleichen sei und nicht etwa parlamentarisch die absolute Gewalt des Papstes beschränke.

Nun, zum Streit kommt es auf alle Fälle in dieser erlauchten und „vom heiligen Geiste erleuchteten“ Versammlung, und es fragt sich nur, ob der Sieg der Römlinge ein wirklich so beklagenswerthes Ereigniß sei, als man in der Regel annimmt. Ich kann mir nämlich nimmermehr vorstellen, daß eine wahrhaft liberale Richtung innerhalb der katholischen Kirche auf die Dauer wirklich möglich sei, während ein vollständiger Triumph der Jesuitenpartei, also directe Billigung des Syllabus und Proclamirung des Infallibilitätsdogmas, das Princip des Katholicismus dergestalt auf die Spitze treiben würde, daß man wie in allen historischen Erscheinungen so auch hier mit Recht einen Rückschlag, eine Reaction erwarten dürfte, welche mehr liberale Verbesserungen, als die schwache Opposition der Bischöfe jemals durchsetzen kann, in ihrem Gefolge haben würde.

Doch kehren wir von dieser Ausschau in die Zukunft und von der immer sehr gewagten historischen Möglichkeitsrechnung zurück auf den wirklichen Boden des Concils. Ich will versuchen unbefangen und ohne Vorurtheil den Eindruck zu schildern, welchen die Stadt des Concils macht, diese alte ewige Roma, welche jetzt wieder einmal als Weltstadt im vollen Sinne des Wortes sich zeigt, da sie neben den kirchlichen Spitzen des katholischen Erdkreises gläubige und ungläubige Fremde aus aller Welt – mehr vielleicht augenblicklich als irgend eine andere Stadt – innerhalb des alten Aurelianischen Mauergürtels vereinigt.

Zunächst muß zugestanden werden, daß noch kein Concil mit solchem Glanze eröffnet worden ist wie dieses. Nach dem jetzt erschienenen officiellen Ausweis, den die „Civiltà Cattolica“, das hohe Organ der hierarchisch-römischen Partei, bringt, waren am Tage der Eröffnung gegenwärtig und in der großen Procession befindlich der Papst, neunundvierzig Cardinäle (und zwar fünf Cardinalbischöfe, sechsunddreißig Cardinalpriester und acht Cardinaldiakonen), neun Patriarchen, vier Primaten, hundertdreiundzwanzig Erzbischöfe, fünfhundertundein Bischöfe, achtundzwanzig Aebte und neunundzwanzig Generale oder Generalvicare geistlicher Orden. Diese Männer waren gekommen aus allen Gegenden der bewohnten Erde, denn wo wäre ein Land, eine Insel, wo nicht der thätige Katholicismus seine Netze ausgespannt, ein Bisthum oder ein Kloster gegründet und Convertirungen versucht hätte! So war die Procession, welche das großartige Gebäude der römischen Kirche vor den Augen der Zuschauer in einem Bilde entrollte, zugleich eine wahre Ausstellung interessanter Nationaltypen.

Zwischen den meist einfach weißdamastenen Gewändern der Bischöfe des Occidents funkelten in goldenen edelsteinbesetzten Kronen und bunten in allen Farben spielenden Gewändern von schwerer Seide diejenigen der verschiedenartigen orientalischen Riten. Von ihren oft ausdrucksvollen und schönen Greisengesichtern wallte der volle silberne Bart bis tief auf die Brust herab. Dann sah man wieder Bischöfe aus Innerasien, China, Afrika mit eigenthümlich verschmitzten und confiscirten Gesichtern; schöne feurige Creolenköpfe befanden sich unter den amerikanischen Prälaten, und zwischen alle diese mit weiten, bis zu den Füßen wallenden Gewändern bekleideten Gestalten mischte sich die geschmackvolle spanische Hoftracht, in der die Beamten, der Hofstaat des Papstes, einherschritten, und die reiche Kleidung der Spalier bildenden und vor den Thoren der großen Kirche Wache haltenden Soldaten des Kirchenstaates.

Ich übergehe alle näheren Einzelnheiten dieser Feierlichkeit, welche aus den Zeitungen auch in Deutschland hinreichend bekannt sein werden. Es drängt sich aber zunächst die Frage auf: aus welcher Casse fließen die Gelder, welche solche Feste kosten? Wer unterhält die vielen armen Bischöfe, die in der vertheuerten Stadt standesgemäß zu leben gezwungen sind? Dies thut Alles der anfangs so verspottete Peterspfennig, dieser „freiwillige Tribut“ der katholischen Christenheit an das Oberhaupt der Kirche. Seitdem 1860 der Staat des Papstes um mehr als zwei Drittel verkleinert worden war, hat man zu diesem von alten Zeiten her bekannten Mittel, den Säckel St. Petri mit Geld zu füllen, zurückgegriffen, und das Mittel schlug vermöge der Organisation, welche durch die katholischen Jünglingsvereine, Marianischen Sodalitäten etc. auf das Geschickteste über die römische Kirche verbreitet ist, ganz prächtig an. So kam man, allmählich kühner werdend, auf den Plan, auch die päpstliche Armee durch diese Gelder zu reformiren, und da man in Rom keine tüchtigen Soldaten fand (denn man traute den eigenen Unterthanen nicht recht), so beschloß man, wie das Geld so auch die Mannschaften selbst vom gesammten katholischen Erdkreise zu beziehen. Auch dies gelang vortrefflich. So hat man jetzt eine aus nahezu fünfzehntausend Mann bestehende Truppe, ein Heer, welches, für den kleinen Staat viel zu groß, ihn in unerhörter Weise belasten würde, wenn man nicht die Unterhaltungskosten

[43] auf die beschriebene Weise decken könnte. Die Gläubigen aber, anstatt nachzulassen in Spendelust, zahlten den Peterspfennig immer reichlicher. Die Jesuiten sorgten dafür, daß es in frommen und reichen Familien katholischer Länder, besonders unter den reichen Kaufleuten Belgiens und Hollands, unter den legitimistischen Adeligen Frankreichs, Styl wurde, gewissermaßen zum guten Ton gehörte, einen der Söhne, auf zwei oder mehr Jahre dem Vater der Christenheit zur Verfügung zu stellen. Für solche Freiwillige und Reiche, die sich natürlich selbst unterhalten, bildete man vorzugsweise das Corps der Zuaven, die Elitetruppe der päpstlichen Armee. Die Aermeren werden größtentheils in die anderen Regimenter gesteckt, nur ein Regiment besteht aus geborenen Römern.

Wie die Armee, so kostet nun auch das Concil der Curie gar nichts, im Gegentheil, es bringt noch Geld ein. Wie durch die Priester die ganze Welt seit 1867 auf das Concil, dieses größte Ereigniß der neueren Zeit, in geistlicher Weise vorbereitet worden ist, so drückte man nicht minder auf die Geldbeutel der Gläubigen, um für dieses Jahr den Betrag des Peterspfenniges zu einem besonders reichen zu machen. Alle Zeitungen katholischer Tendenz sammelten außerdem, alle katholischen Vereine legten Concilscassen an, reiche und fromme katholische Particuliers wurden zu besonderen außerordentlichen Gaben von ihren Hauspriestern veranlaßt. So sind bereits jetzt die Kosten der Kirchenversammlung mehr als gedeckt, während man aller Orten noch weiter sammelt. Und neben dem Gelde langten die kostbarsten Geschenke hier an, die fernen Bischöfe brachten sie aus ihren Dioecesen mit, um den Segen des „großen Papstes“ dafür zu erflehen.

Die Aula des Concils, die im rechten Nebenarm der Peterskirche erbaut wurde, ist durch den reichen Schmuck der feinsten Teppiche, Tücher und Gobelins ein wahrhaft kostbarer Raum. Alles das sind Geschenke aus Belgien und Frankreich. Im Ganzen haben die Sammlungen allein vermittels des Peterspfennigs vom Jahre 1860 an bis jetzt die Höhe von hundert Millionen Franken erreicht. An außerordentlichen Gaben für das Concil sind jetzt bereits über drei Millionen Franken eingekommen.

So befinden sich die Römer, die Unterthanen des Papstes, allerdings in einer Lage, die sie nicht mit Neid auf die an einem unsterblichen Deficit krankenden Italiener hinsehen läßt. Dies ist die wichtige politische Seite der Sache. Es würde trotz allen Militärs im ganzen Staate ewig glimmende Revolution, fortdauernde Unsicherheit herrschen, wenn die Curie von ihren Unterthanen so viel Steuern verlangte, als man im Königreich Italien zahlt, und schwerlich würde, trotz aller französischen halb widerwilligen Protection, Pio Nono noch auf dem Throne sitzen, wenn nicht die ganze Welt die Kosten dieses Staatswesens deckte, und wenn nicht die Römer selbst zum größten Theile sehr gern Römer bleiben wollten.

Und wie durch die päpstlichen Sammlungen der Katholiken der Staat unterhalten wird, so ernähren fast lediglich die ebenfalls hier allwinterlich aus aller Welt zusammenströmenden Fremden das Publicum. Den Römern wird von den Priestern weis gemacht, daß nur des Papstes wegen, nur weil Rom durch ihn Hauptstadt des christlichen Erdkreises sei, dieser Menschenstrom jährlich aus allen Weltgegenden heranziehe.

Da es nun weder Industrie, noch Handel, noch vernünftige Ackerbewirthschaftung in und um Rom giebt, so lebt die träge Masse des Volkes von dem Gelde, welches die Fremden in’s Land einführen. Sie haben auf diese Weise Alle genug, um bei ihren geringen Ansprüchen recht behäbig und ohne anstrengende Arbeit zu leben, und als der Arbeitsamste und Rührigste gilt Der, welcher auf die schlaueste Weise die der römischen Verhältnisse noch unkundigen Forestieri zu übervortheilen versteht.

Eine etwas weitläufigere Auseinandersetzung über diese Punkte war nothwendig, um das Verhältniß des geborenen Römers zum ökumenischen Concil klar zu machen. Von der geistigen Bedeutung dieses Ereignisses hat er keine Idee. Auch nicht ein Hauch von Begeisterung für oder irgend ein Zeichen der Abneigung gegen die Ziele der Kirchenversammlung ist in der Masse der Bewohner zu spüren. Man denke, wenn bei uns in Deutschland eine Versammlung von ähnlicher Bedeutung in irgend welcher größeren Stadt tagte: würde nicht die Stimmung der Bürger tief berührt und aufgeregt werden durch die Fragen, welche man daselbst discutirte? Aber Dergleichen ist in Rom gänzlich unbekannt. Der Römer sieht die Sache völlig von der praktischen Seite an, und so ist das Concil denn unter anderen auch ein Mittel, um die gute Stimmung, die Anhänglichkeit der Unterthanen an einen Fürsten, unter dem es sich so herrlich lebt, wesentlich zu erhöhen.

Rom hat sich auf das Concil gerüstet, um es mit einem Worte zu sagen, ungefähr wie Paris seiner Zeit auf die „Allgemeine Weltausstellung“. Lange Zeit vorher schon wurden für die erwarteten Gäste die Wohnungen zurecht gemacht. Alle römischen Familien, mit Ausnahme der sehr wohlhabenden und reichen, beschränkten ihr Quartier diesen Winter noch mehr als andre. Ein dürftiges Wohnzimmer voll Betten gepfropft und etwa noch eine oder zwei Kammern müssen selbst für mitgliederreiche Familien genügen. Alle anderen disponiblen Räume wurden mit so viel Comfort, als hier nur zu haben, ausgestattet, um möglichst theuer vermiethet werden zu können, die Miethpreise aber schraubten sich auf eine hier unerhörte Höhe hinauf. Aber man hat noch mehr Fremde erwartet, als in der That gekommen sind, und manche Familie hat ihr Zimmer leer behalten, nachdem sie so und so viel Miether, die auf die kolossale Forderung einzugehen nicht Willens waren, hat fort gehen lassen; oder man hat sich später entschließen müssen, für einen weit geringeren Preis zu vermiethen. Ganz ebenso ist in den Speisen, welche anfangs, besonders Ende October, zu ungeheuren Preisen stiegen, bereits eine Ermäßigung eingetreten.

Mit den Kirchenfürsten selbst aber hat man nicht immer Glück gehabt. Das leichtgläubige, unwissende Volk meinte, sie würden wie wahre Nabobs mit geldstrotzenden Beuteln in die ewige Stadt kommen, einen Hofhalt wie Fürsten machen und die Schätze Asiens und Amerikas hierher zusammentragen. Dem ist nun durchaus nicht so. Viele Bischöfe und besonders die von den fernen Erdtheilen sind arm und leben mehr knauserig als verschwenderisch. Ueberdies haben diese Herren ihren italienischen Priester als Beirath zur Seite, der die Gaunereien seiner Landsleute gegen die Fremden genau kennt und den seinem Schutze anvertrauten Prälaten davor zu bewahren weiß. Manche orientalische Bischöfe sollen in patriarchaischer Einfachheit so weit gehen, daß sie sich die Speisen zu den kleineren Mahlzeiten sowie sonstige Bedürfnisse auf dem Markte und in den Läden selbst einkaufen, was dem Römer, der auf äußeres Decorum sehr viel giebt, alle Achtung vor diesen asiatischen Völkerhirten benimmt. So kommt es, daß man die Bischöfe, die hier zu Hunderten da sind, kaum mehr als etwas Besonderes ansieht, während die ersten Ankömmlinge, die im päpstlichen Wagen von der Empfangscommission auf dem Bahnhofe abgeholt in die Stadt fuhren, wie fremde Wunderthiere angegafft wurden. Sie sind jetzt, um mit Shakespeare zu reden, so wohlfeil wie die Brombeeren. Niemand sieht sie mehr an. Auch, meinen die Römer, hätte es der heilige Vater den Herren etwas zu bequem gemacht und nicht genug an seine Unterthanen gedacht, da er für mehr als die Hälfte der fremden Prälaten Wohnungen besorgt habe. Die großen päpstlichen Paläste des Vatican, des Quirinal und des Lateran nehmen in ihren verfügbaren Gemächern eine große Menge Prälaten auf Privatkosten des Papstes auf. Nicht minder viele wohnen in Stiftsgebäuden, Klöstern, Convicten. So zum Beispiel die meisten deutschen Bischöfe in dem zur deutschen Nationalkirche dell’ anima gehörigen Nebengebäude. Vielen bringt auch der päpstliche Küchenwagen die Hauptmahlzeit. Nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil der Geistlichen ist wirklich mit geldstrotzenden Taschen gekommen, hat sich eigene große Logements gemiethet und hält Equipagen und zahlreiche Dienerschaft. Diese Herren werden von den Römern für voll angesehen und genießen all den Respect, den man Fürsten bezeigt, müssen ihn aber theuer bezahlen.

Im Geleite des Concils genießt Rom ferner manche großartige festliche Schaustellung, an der das ganze Volk Theil nimmt. Es ist diese Vorliebe für dergleichen Feste, an denen im Gegensatze zu unseren nordischen Nationalvergnügungen das Sehen die Hauptsache ist, eine tief im Nationalcharakter der Römer begründete. Sie datirt von den alten Römerzeiten her, wo die Kaiser das Volk an kostbare Schaugepränge, an ein vergnügliches Leben ohne Kosten, allmählich so gewöhnten, daß sich später kein Herrscher mehr halten konnte, der den Pöbel nicht in dieser Art befriedigte. Das Christenthum mußte gegen diese entsittlichenden Vergnügungen auftreten, konnte aber nicht umhin, dem Volke wenigstens einen Ersatz dafür zu bieten. So verlegte der Katholicismus die glanzvollen Feste in die Kirche als integrirenden Bestandtheil des Gottesdienstes, und das Volk von Rom genoß die großartigsten Schauspiele. In dieser [44] Beziehung nimmt die römische Bevölkerung am Concile allerdings von ganzem Herzen Theil, die Peterskirche füllte sich am Tage der Eröffnung zum ersten Male seit langer Zeit so mit Menschen an, daß viele ohnmächtig wurden und an einzelnen Stellen fast Lebensgefahr durch das Gedränge entstand. Aber auch die großen Festlichkeiten, welche einzelne Cardinäle und auswärtige Gesandten an öffentlichen Empfangsabenden gaben, Illuminationen der Stadt an feierlichen Tagen (die am Eröffnungstage wurde leider durch den unaufhörlich strömenden Regen fast zu Nichte gemacht), endlich militärische Revuen und Manöver müssen dazu beitragen, das Volk bei guter Laune zu erhalten. Das Vergnügen dabei besteht für die Römer, wie ich schon sagte, lediglich im Auf- und Abwandern und bequemen Anstaunen der vielen Menschen, der Carossen, der Feuerwerke. Gegessen oder getrunken, gesungen oder getanzt, wie bei nationalen Festen in Deutschland, wird hier bei dergleichen Gelegenheiten nie. Das Volk verhält sich hier passiv, es läßt sich die Feste geben; wir Germanen geben sie uns meistentheils selber.

Großartig war zum Beispiel das Schauspiel, welches die letzte militärische Revue im Garten Borghese gewährte. Nach langem Regenwetter hatte man einen ersten sonnigen, lauwarmen Wintertag, so daß man ohne Ueberzieher in dem prächtigen Garten des Fürsten auf- und abwandelte. Ganz Rom strömte zur Porta del Popolo hinaus. Dort befindet sich eine Art Amphitheater, das durch eine natürliche Vertiefung des Terrains entsteht; in dem ringsum sich allmählich wieder erhebenden Boden sind theils steinerne Sitzreihen, theils Rasenbänke angebracht. Herrliche Exemplare von immergrünen Eichen, Cypressen und Pinien umgeben diese Stelle. Große Wiesen und breite Fahrstraßen machen den ausgedehnten Park für starken Verkehr und das Sichausdehnen großer Massen sehr passend. Bald gewährten die Bänke des Theaters einen bunten Anblick. Fremde aller Nationen, Leute jedes Standes und Ranges hatten sich dort niedergelassen. Man sah die schönen jungen römischen Mädchen in ihrer geschmackvollen Tracht und die feinsten und reichsten Toiletten vornehmer Damen nebeneinander. Bald marschirten die einzelnen Truppenkörper auf, alle in glänzender Paradepracht. Unter den Klängen der Musik ritt der Generalstab, begleitet von einigen römischen Fürsten, welche hohe Beamtenstellen einnehmen, und französischen Officieren sowie anderen hervorragenden Fremden, die Reihen der Bataillone entlang. Darauf setzten sich dieselben in Bewegung, um an der Estrade des für den Fürsten Borghese reservirten Gartens vorbei zu defiliren. Hier nämlich hatten die Bischöfe, denen zu Ehren man die katholische Armee paradiren ließ, Platz genommen. Ist doch dieses päpstliche Heer fast ebenso ökumenisch wie das Concil selbst; denn es mag wenige Länder der Erde geben, die nicht einige ihrer Söhne in die Reihen der „Gottesstreiter“ oder „neuen Kreuzritter“, wie die hiesigen Organe sich ausdrücken, gesandt hätten.

Als die einzelnen Regimenter vorbei marschirten, wurden sie nach italienischer Sitte mit reichlichem Händeklatschen von oben empfangen. Am lautesten erklang der Beifall beim Erscheinen der Zuaven, deren Bataillone jetzt so stark sind, wie seit langer Zeit nicht. Sie gelten als die eigentlichen Wächter des Concils, als die Truppe, auf die man sich am unbedingtesten verläßt. Durch ein Einlaßbillet, das ich von unserer Gesandtschaft erhalten hatte, war ich in den Garten gekommen und konnte zum ersten Mal bequem einen großen Theil der Väter in der Nähe sehen und beobachten. Ein Römer, den ich kennen gelernt hatte, zeigte mir die hervorragenden Erscheinungen, die Bischöfe von Orleans und Sura, die Herren Dupanloup und Maret, welche er für Häupter einer Opposition erklärte, „welche dem Heiligen Vater gewiß noch viel Kummer machen würde“. Auch die deutschen Bischöfe, welche ich größtentheils schon auf dem großen Empfangsfeste des neuen österreichischen Gesandten v. Trautmannsdorff gesehen, waren zahlreich vertreten. Einige uncultivirt Aussehende aus Amerika bezeigten besonders lebhaft ihre Freude bei dem Anblicke der schönen glänzenden Soldaten. Der italienische Episkopat war schwach vertreten und enthielt sich sonderbarer Weise aller Beifallsbezeigungen, ganz ebenso der römische Adel. Erst gegen drei Uhr war der Zug der Truppen beendet (man hatte um zwölf Uhr begonnen) und bis gegen Abend dauerte es, ehe die kolossale Menschenmenge – man schätzt sie nicht mit Unrecht auf nahe hunderttausend Personen – und der Knäuel der eleganten Equipagen und elenden Miethskarren durch das nicht allzuweite Gartenthor und die Porta del Popolo zurück, den engen Corso entlang wieder in das Innere der Stadt gelangte.

Andere Feste werden folgen: Ricevimenti bei Cardinälen – wobei gewissermaßen auch das Volk theilnimmt, indem auf dem Platze vor dem Palaste Musikbanden spielen, bis das Fest vorüber ist, während die dichtgedrängten Römer und besonders die kleinen Römerinnen mit neugierdefunkelnden Augen die Kutschen vorfahren sehen und die Uniformen und reichen Toiletten des Adels mustern – ferner die andern öffentlichen Sessionen des Concils, d. h. die Sitzungen, bei denen der Papst gegenwärtig ist, und wo die Flügelthüren der Aula offen stehen für die Blicke der Menge, während die Väter im höchsten Ornate, wie bei der Eröffnung, gegenwärtig sind. Von alledem das nächste Mal, wo ich Ihnen auch Einiges über die Opposition und die in ihr hervortretenden Bischöfe, sowie überhaupt über die bekanntesten Persönlichkeiten der Versammlung mitzutheilen gedenke.



Doctor Reinhard.
(Fortsetzung.)

Ein glänzendes Casino, an dem vorzugsweise die Officiere der Marine mit ihren Familien theilnahmen, zählte auch heute Adalbert und Eva zu ihren Gästen und der fröhliche Ton, welcher in der Gesellschaft herrschte, schien diesmal einen besonderen Einfluß auf Ersteren zu üben, denn die junge Frau, welche ihn nach ihrer Gewohnheit aus der Ferne sorgsam, wenn auch unbemerkt, beobachtete, nahm zu ihrer Freude wahr, daß er sich ungezwungener und heiterer der Unterhaltung hingab, als er sonst zu thun pflegte. Er stand jetzt nicht weit von ihr in einer Gruppe von Officieren, mit denen er sprach, und ihr Ohr erquickte sich an seinem herzlichen Lachen, das von Zeit zu Zeit zu ihr herüberscholl.

In diesem Augenblick trat ein anderer Marineofficier, den sie bisher in der Gesellschaft noch nicht gesehen hatte, an die Herren heran und wandte sich mit den Worten: „Sag’ mir ein Wort des Willkommens, Wallberg!“ an Adalbert, dem er zur Begrüßung die Hand hinhielt.

Wie mit einem Zauberschlag war alle Heiterkeit von Adalbert’s Gesicht verschwunden und Eva sah seine Wangen bleich werden; doch faßte er sich auf der Stelle und sie hörte ihn fragen, indem er die gebotene Hand faßte und schüttelte:

„Soll ich an Geister glauben, Rosen? woher kommst Du?“

„Direct von Japan!“ entgegnete der Andere, bei dem sich ein gewisses aufgeregtes Wesen verrieth, und fuhr, nachdem er auch die übrigen Herren begrüßt hatte, fort: „Ich habe Urlaub gefordert und erhalten, weil Familienverhältnisse meine Rückkehr nöthig machten, während die ‚Arethusa‘ noch auf Jahre hinaus dort stationirt bleiben wird, und bin mit dem Transportschiff ‚Diomed‘ heute im hiesigen Hafen eingelaufen.“

Die Unterhaltung war eine Weile allgemein und schien sich auf die erwähnte Expedition zu beziehen; dann aber bemerkte Eva, daß Rosen sich wieder speciell an Adalbert wandte und, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte, zu ihm sagte: „Ich höre, daß Du verheirathet bist, alter Junge, und daß Deine Frau sich hier in der Gesellschaft befindet; so bitte ich, stelle mich ihr vor!“

Es war Eva, als ob Adalbert der Aufforderung nur ungern Folge leistete, und auf seinem Gesicht lag jener finstere Zug, der ihr schon so manchen Kummer bereitet hatte, als er in der nächsten Minute mit dem Neuangekommenen vor sie hintrat und ihr denselben mit kurzen Worten als seinen Freund, den Capitainlieutenant Rosen, vorstellte. Letzterer schien aber in keiner Weise die Stimmung Adalbert’s zu theilen, vielmehr nahm er unbefangen an ihrer Seite Platz, nachdem er sie zuvor in der verbindlichsten Weise begrüßt hatte, und begann sofort eine eifrige Unterhaltung anzuknüpfen, in deren Verlauf Adalbert die ihm augenscheinlich höchst unangenehme Wahrnehmung machte, daß dem Cameraden schon von vielen Seiten ein Willkommstrank credenzt sein mußte, denn nur der Wirkung des Weins konnte er dessen allzu ungebundene Weise zuschreiben.

[45]

Das mustergültige Amormodell.
Originalzeichnung von N. Gysis in München.


Er suchte nach Mitteln, um ihn auf unverfängliche Art aus Eva’s Nähe zu entfernen, aber Rosen fing an, sich auf seinem Platze sehr behaglich zu fühlen und daneben über Adalbert’s unzufriedene Miene zu spotten.

„Sehen Sie nur, gnädige Frau,“ sagte er zu Eva, „welch’ bitterernstes Gesicht er zu machen versteht, und doch sage ich Ihnen, er war der lustigste Vogel von uns allen, als wir noch ein paar Jahre jünger waren! An tollen, verwegenen Streichen hat’s denn auch nicht gefehlt, haha! wenn sie uns auch bisweilen arg in die Patsche gebracht haben! Denkst Du noch an die lustigen Nächte bei Karte und Würfelspiel, Wallberg? Haha! Du brauchst mich nicht so finster anzublicken, denn es sind ja nur vergangene und vergebene Sünden, die ich aufdecke! Ich habe schon gehört, daß Du tugendhaft geworden bist und seit der Zeit weder Karte noch Würfel mehr anrührst – aber dazumal, parbleu, wie haben wir dem gestrengen Admiral ein Schnippchen geschlagen und es selbst auf die Cassation, die uns drohte, ankommen lassen!“

„Rosen, Du vergißt, daß eine Dame, meine Frau, uns hört!“ sagte Adalbert, kaum noch im Stande, seinen Zorn niederzuhalten.

„Pah! Deine schöne Frau sieht nicht aus, als ob sie stark im Gardinenpredigen wäre! Ich wette, sie verzieht Dich wie alle Damen, denen Du es mit Deinen schwarzen Augen anzuthun verstandest, und verwünscht mit uns den schuftigen Juden, der uns nicht einmal auf unser Ehrenwort leihen wollte, als wir in der bösen Klemme steckten!“

In Adalbert’s Brust kochte es. „Rosen, laß die Erinnerungen bis zur gelegenen Stunde, bis wir allein sind!“ rief er.

„Warum, Wallberg, da sie mir gerade jetzt kommen? Warum [46] soll ich Dir jetzt nicht sagen und Dir dafür danken, daß Deine Großmuth uns Beiden damals geholfen hat? Ja, solch ein reicher Oheim, der überdies Vormund ist, ist zu gebrauchen, wenn man seine Sachen nur schlau und dreist zugleich anzufangen weiß! Haha! hast ihm aber die Daumschrauben wohl gehörig ansetzen müssen, he, alter Junge?“

Adalbert war kreideweiß geworden; seine Züge verzerrten sich wie in furchtbarem Grimm, während seine Augen Blitze zu sprühen schienen.

„Rosen,“ keuchte er mehr als er sprach, „ich verbiete Dir, länger von diesen Dingen zu reden, hörst Du? – ich verbiete es Dir!“

Als hätte dies eine Wort dem Genannten plötzlich alle Haltung wiedergegeben, ihn vollkommen nüchtern gemacht, sprang er rasch von seinem Sitze auf und indem er einen Blick über Eva gleiten ließ, die todesbleich und vor Entsetzen über die Heftigkeit ihres Mannes stumm zurückgesunken war, flüsterte er:

„Ich schweige jetzt aus Rücksicht für Deine Frau, aber später treffen wir uns!“ und war gleich darauf durch die Thür eines Seitenzimmers verschwunden.

Glücklicherweise hatte die Scene keine weiteren Zeugen gehabt, da schon beim Beginn der Unterhaltung der im anstoßenden Salon anfangende Tanz die anderen Gäste angelockt und aus der Nähe der Sprechenden entfernt hatte. Nachher bemerkte man nur, daß Adalbert sich besorgt über seine Frau beugte und diese gleich darauf an seinem Arm aus dem Zimmer führte, wobei er einigen nähertretenden Bekannten die kurze Erklärung gab, daß Eva – wahrscheinlich durch die Hitze des Zimmers – unwohl geworden sei und sich in der Ruhe des Hauses erholen müsse.

In der That hatte der Schreck so auf die junge Frau gewirkt, daß sie sich einer Ohnmacht nahe fühlte und erst Erleichterung fand, als sie zu Hause in ein heftiges Weinen ausbrach. Adalbert war auf’s Zärtlichste und Sorgsamste um sie bemüht, indem er ihr wieder die ganze Weichheit und Liebenswürdigkeit zeigte, deren seine Natur fähig war. „Armes Vöglein,“ sagte er, indem er ihr das Haupt an seine Brust drückte, „hat Dich die Rauhheit der Männer erschreckt? Laß mich Dein Köpfchen hier betten, daß es Ruhe finde!“ – Ach, aber wie sollte sie Ruhe finden an dem Herzen, das selbst so stürmisch und unruhvoll klopfte?!

„Was war es, was bedeutete das Alles, Adalbert?“ vermochte sie nur bang und ängstlich zu fragen.

„Eine unerhörte Tactlosigkeit Rosen’s,“ sagte er, die Stirn runzelnd, „der alte Sünden und Thorheiten wieder anregte und mich dadurch erbitterte; denn nicht wahr, Eva, fuhr er weicher fort, „alle sind begraben in Deiner Liebe?“

„Alle, Adalbert,“ sagte sie, indem sie den Arm um seinen Nacken schlang, „und wären ihrer weit mehr und größer, als die er Dir schuld gab!“

Er küßte sie zärtlich, gab ihr tausend Schmeichelnamen und brachte es wirklich durch seine Bemühungen dahin, daß sie ruhiger wurde und zuletzt fast die Ursache ihrer Aufregung vergaß. Nur ihr erschöpfter Körper erinnerte sie noch daran und so gab sie Adalbert’s Bitten nach, sich zum Schlaf niederzulegen, damit rasch die letzte Spur des unangenehmen Vorfalls getilgt werde. Er begleitete sie noch bis zur Thür ihres Schlafzimmers, zog sie dann, als er ihr gute Nacht wünschte, noch einmal an seine Brust und küßte sie auf ihr schönes Haar, auf ihre Augen mit einer Rührung, die sie lange nicht mehr an ihm wahrgenommen. Als sie sich darauf zur Ruhe gelegt hatte, verließ er noch einmal das Haus; auf Eva aber senkte sich schnell der Schlummer nieder und hielt sie fest in seinen Armen, daß ihr die Wirklichkeit mit Allem, was dieselbe vielleicht über sie verhängen mochte, entschwand.

Ihr Schlaf dehnte sich am andern Morgen über die gewöhnliche Dauer aus, und selbst als sie mit halbwachen Sinnen unruhiges Geräusch und verworrene Stimmen im Hause vernahm, verschwammen dieselben mit ihren Träumen. Erst als ihr Mädchen zu ihr ins Zimmer stürzte und sie mit entsetzten Worten anrief, erwachte sie zu klarem Bewußtsein.

„Gnädige Frau, stehen Sie auf!“ klangen dieselben, „es steht nicht gut im Hause!“

„Um Gotteswillen, ist ein Unglück geschehen? Wo ist mein Mann?“ fragte Eva.

„Der Herr ist krank – verwundet glaube ich!“ stammelte das Mädchen.

Eva stieß einen Schrei aus und eine Fluth von Fragen wollte sich über ihre Lippen drängen, aber es kamen nur halbgebrochene Worte heraus, auf die das weinende, zitternde Mädchen nicht zu antworten wußte.

„Ich komme!“ stöhnte Eva endlich, warf sich in Hast einige Kleidungsstücke über und war im Begriff, ihr Zimmer zu verlassen, als ihr der Besuch des Doctors H., ihres Hausarztes, gemeldet ward.

„Was ist geschehen?“ riefen ihm ihre bebenden Lippen, fast deutlicher noch die stumme Sprache ihrer Augen entgegen.

Der Arzt schloß die Thür hinter sich, trat dann auf sie zu und sagte, indem er ihre Hand ergriff, mit bewegter Stimme: „Fassen Sie sich, gnädige Frau, um ertragen zu können, was ich Ihnen sagen muß!“

„Adalbert – mein Mann?!“ stammelte sie.

„Es hat eine Begegnung mit einem Cameraden stattgefunden und Ihr Herr Gemahl ist durch einen Pistolenschuß in die Seite verwundet worden.“

Sie zuckte noch zusammen, aber sie stieß keinen Schrei mehr aus. „Ist Gefahr da?“ fragte sie.

„Leider ja, gnädige Frau!“

„Auch Hoffnung?“

Der Arzt zuckte die Schultern. „Bei Gott ist kein Ding unmöglich, gnädige Frau!“

Sie wankte, daß er sie mit seinen Armen halten mußte, dann aber raffte sie sich gewaltsam auf und bat leise: „Führen Sie mich zu ihm!“ –

Als sie die Gestalt ihres Gatten bleich, regungslos, in weiße Tücher gewickelt, vor sich sah, sank sie mit einem Laut unsäglichen Wehs an seinem Lager nieder. Er lächelte matt, als er sie sah, legte dann die Hand auf ihr Haupt und sagte leise: „Armes Kind – nun sterbe ich!“

Den Ausbruch ihres leidenschaftlichen Schmerzes dämpfte der Arzt, der herzutrat und sie beschwor, jede Aufregung des Kranken zu vermeiden. Dieser schüttelte nur fast merklich das Haupt, als wollte er damit die Nutzlosigkeit jeder Sorge andeuten, und faßte nach Evas Hand, die er fest in der seinen hielt.

„Verlaß mich nicht – keinen Augenblick!“ bat er sie flüsternd.

Sie konnte nicht antworten, aber sie beugte sich über ihn und küßte seine Stirn, seinen Mund, seine Hände. Endlich erhob sie sich und fragte den Arzt:

„Kann etwas geschehen? Darf ich etwas für ihn thun?“

„Nichts!“ entgegnete dieser. „Nur ruhig – ruhig sein!“

Und ruhig blieb sie bei ihm, Stunden, lange, bange Stunden hindurch, in denen auch er sich nicht regte und zu schlafen schien; aber es war schwer zu sagen, ob er, ob sie bleicher und todtenähnlicher aussah. Endlich ward er unruhig, seine Züge zuckten wie in schmerzlichem Krampf, und in seinen Wangen stieg Fieberhitze auf. Er öffnete die Augen, sah Eva mit einem langen Blick an und flüsterte:

„Laß uns allein sein, Eva, ganz allein, hörst Du?“

Sie winkte dem anwesenden Wärter, das Zimmer zu verlassen – der Arzt hatte sich früher schon mit der geflüsterten Bemerkung entfernt, daß seine Hülfe für den Augenblick überflüssig sei und er später wiederkommen würde – und neigte sich mit den liebevollen Worten über ihn:

„Hast Du mir etwas zu sagen, Adalbert?“

„Zu beichten, ja, Eva!“ erwiderte der Kranke hastig. „Dem Sterben muß die Beichte vorhergehn – und sie ist schwer, die Beichte!“ fügte er mit einem stöhnenden Seufzer hinzu.

„So vertrau’ sie Gott, Deinem Herrn, allein an, der sie ohne Worte verstehn wird!“ bat sie erschüttert.

„Nein, Eva, nein, Du mußt es wissen! Rosen kann sich mit der Hälfte begnügen, die er weiß und Dir sagte, aber Du mußt Alles hören! Er hat nur den Funken gesehen, ich aber habe den Brand gefühlt immer und immer – hier im Herzen, Eva!“

„Laß, o laß, Adalbert!“ rief sie flehend, „Du sollst, Du mußt Dich schonen!“

„Schonen?“ rief er mit einer Art kurzen, wilden Lachens; „glaubst Du, die Flamme brennt minder heiß, wenn Andere sie nicht sehen?! Nein, laß mich, das allein giebt mir Lust und Linderung! – – Du hast es gehört, daß wir gejubelt und getollt und gespielt haben, und zuletzt war Alles verspielt und uns erwartete Cassation, denn wir hatten unsere Ehre um zweitausend [47] Thaler verpfändet, und der Schurke, an den wir sie verloren, drohte mit der Anzeige. Rosen kam mir nach, als ich zum Besuch bei der Mutter war, und war der Verzweiflung nahe – da schwor ich, uns Beiden zu helfen. Der Tag meiner Mündigkeit war nahe und dann mußte mir mein Erbtheil von dreitausend Thalern zufallen, das der Onkel für mich verwaltete. Ich bat ihn um die Herausgabe – er verweigerte sie; ich forderte sie – immer dringender – er blieb unerschüttert. Vielleicht glaubte er nicht, daß meine Noth so groß sei, vielleicht konnte er mir wirklich nicht helfen; ich aber hielt ihn für reich und wußte auch, daß er gerade zweitausend Thaler als städtischer Beamte eingenommen hatte und mich mit der Summe retten konnte. Aber mein Ansinnen empörte ihn; er nannte es eine Unredlichkeit und behauptete auch, er müsse noch am folgenden Tage Rechnung darüber ablegen, könne mir seine Ehre nicht opfern. Ich war wild und außer mir, Eva, und es kam zu heftigen Reden – hernach aber faßte ich einen verzweifelten Entschluß, meine Ordre war gekommen, die mich zum andern Tage an Bord rief, und in der Nacht – – aber gieb mir Wasser, Eva, die Worten die ich spreche, versengen mir die Lippen!“

Mit zitternder Hand reichte sie ihm den kühlenden Trank, während sie mit Grauen daran dachte, was er weiter noch sagen würde.

„In der Nacht,“ fuhr er, als er sich einigermaßen von seiner Erschöpfung erholt hatte, fort, „kehrte ich noch einmal zurück; ich wußte wohl, wo der Schrank stand, in dem das Geld lag, und da bedurfte es nur eines Drucks, um das Schloß zu sprengen.“

„Adalbert, um Gotteswillen, das hast Du nicht gethan!“ rief Eva entsetzt.

„O, ich that noch mehr, Eva, ich nahm das Geld, hörst Du! ich nahm es und gab es hernach Rosen, und mit ihm kauften wir Beide dann unsere Ehre zurück, haha! die verlorene Ehre, die noch zu kaufen war. Was siehst Du mich so starr an, Eva? Hast Du noch nie einen Menschen gesehen, der ein Dieb geworden ist? – o, es kommt noch besser, merk nur auf! – nun geht’s rasch, immer weiter dem Ende zu! Meinst Du, ich wisse nicht, daß den alten Mann darum der Schlag getroffen hat, weil er sich bestohlen fand und wußte, wer das Geld genommen hatte? Auch der Doctor wußte es, und ich habe ihn darum gehaßt bis auf’s Blut, bis auf den Tod, den ich jetzt leide! Den Onkel aber habe ich lieb gehabt, wenn er auch durch mich gestorben ist, so lieb, wie nur immer ein schlechter Sohn seinen Vater haben kann! Ich wollte ihm schriftlich Alles gestehen, ihn um Vergebung bitten, daß ich nur mein Erbtheil vorweggenommen, aber früher noch erhielt ich die Nachricht seines Todes. O, ich könnte noch jetzt um ihn weinen wie Du, wenn die Thränen in meinen Augen nicht ausgetrocknet wären, seit ich zum Schurken ward! Glaubst Du, daß ich noch einmal wieder weinen werde, Eva?“

„O gewiß, Adalbert,“ rief Eva, die kaum noch im Stande war, sich aufrecht zu erhalten, „Gott im Himmel wird Dir verzeihen und die Schuld von Dir nehmen!“

„Meinst Du?“ sagte er. „Sieh, ich habe zuweilen auch auf Erlösung gehofft und mir gesagt, daß sie mir durch Dich kommen müsse, Eva, und darum mußtest Du, Du mußtest mein werden – ich hätte Dich der ganzen Welt abgetrotzt. Deinen Vater hatte ich getödtet, mich selbst zu Grunde gerichtet; aber Du – Du solltest glücklich werden, und Niemand durfte über Dein Glück wachen, als ich allein! – Einst, als Du noch ein Kind warst, hatte ich gelacht, daß Du mich so lieb hattest und weintest, wenn ich mir nichts aus Dir machte – und nun fiel mir das Alles wieder bei und ich schwor mir zu, daß Du mein Weib werden solltest!“

„Also darum!“ schrie es in Eva’s Herzen auf; „darum sein Werben und darum Dein eigener Treubruch gegen Reinhard?!“ laut aber rang sich der Ruf aus ihrem Munde: „O, so sprach keine Liebe in Deinem Herzen, Adalbert?“

Der Kranke schwieg einige Augenblicke; die Fieberhitze auf seinen Wangen brannte stärker und seine Gedanken schienen sich zu verwirren.

„Liebe?“ flüsterte er endlich „o, wohl habe ich sie geliebt! – sie war so schön mit ihren dunklen Locken und den blitzenden Augen – fast schöner noch als Du, Eva, aber was durfte Emilie Waldow mich kümmern, was ging mein eigenes Herz mich an, wenn ich Dich nur gewann!“

„O mein Gott, mein Gott, stehe mir bei!“ murmelte die unglückliche Frau.

„Es ist nun Alles aus,“ fuhr er fort, indem er unruhig mit den Händen auf der Bettdecke hin- und herfuhr, „und Eva ist auch fort – aber wenn sie wiederkommt, sagt ihr, daß sie – mein guter Engel gewesen ist – meine Seele gerettet hat – vor Verzweiflung!“

„Adalbert, Adalbert, noch einmal dieses Wort, es rettet auch mich vor Verzweiflung!“ rief sie an seinem Lager niederstürzend.

Er schlug noch einmal die Augen auf und blickte sie mit einem matten, aber doch liebevollen Lächeln an.

„Vergieb mir, Eva, und bete für mich!“ hauchte er.

„Vater im Himmel, erbarme Dich über ihn und über mich!“ drang es aus ihrem brechenden Herzen.

Als der Arzt nach einer Weile zurückkehrte, um nach seinem Kranken zu sehen, fand er Eva ohnmächtig an der Leiche ihres Gatten zusammengesunken. –

In der Stadt erregte das unselige Ereigniß und der noch unseligere Ausgang desselben die allgemeinste Theilnahme, und mit tiefem Mitleiden sprach man von der unglücklichen jungen Frau, die durch den Verlust des heißgeliebten Gatten selbst an den Rand des Grabes gebracht worden war. Der Schmerz hatte sie auf das Krankenlager geworfen, wo sie wochenlang zwischen Tod und Leben schwebte, und als sie sich endlich wieder von demselben erhob, waren Monate seit dem Tode Adalbert’s vergangen. Sie war bleich, still und gefaßt, als sie in die Welt der Gesunden zurückkehrte, vermochte aber mit kaum irgend Jemandem von der traurigen Vergangenheit zu reden, und zeigte nur ein großes Verlangen, von dem Schauplatz derselben fortzukommen, so daß sie fast ungeduldig ward, als ihr der Arzt der vorgerückten rauhen Jahreszeit wegen anfänglich immer noch das Reisen verbot. Endlich erklärte sie geradezu, daß sie sich nicht länger halten lassen könne und am nächsten Tage die Stadt verlassen würde. Auf sein Befragen nannte sie ihm ihre Vaterstadt als vorläufiges Ziel ihrer Reise.

Doctor Reinhard saß in seinem Arbeitszimmer zwischen Büchern und Papieren, als ihm die Meldung gebracht wurde, daß eine Dame ihn zu sprechen wünsche. Er nahm sie ohne Ueberraschung auf, denn es war nichts Seltenes daß auch Frauen aus den höheren Ständen den vielbeschäftigten Arzt in seiner eigenen Wohnung aufsuchten, um desto schneller und sicherer seines Raths theilhaftig zu werden, und so glaubte er auch jetzt, es handle sich um eine ärztliche Consultation. Als aber die Dame, welche ganz in Schwarz gekleidet war, ins Zimmer trat und den Schleier, der ihre Züge bedeckt hatte, von ihrem Gesicht entfernte, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück und die Farbe wich aus seinen Wangen, als er sie erkannte.

„Eva – Frau von Wallberg!“ rief er halblaut.

Ihre großen Augen, die in dem blassen Gesicht jetzt noch größer erschienen als früher, blickten ihn wehmüthig an, und sie sagte bittend:

„Reinhard, seien Sie gut gegen mich – ich habe eine schwere Aufgabe zu erfüllen, wenn ich jetzt zu Ihnen komme!“

Er hatte sich wieder gefaßt. „Ich habe von Ihrem Verlust gehört,“ sagte er ruhig und theilnehmend.

Ueber ihr Gesicht zuckte es. „Ich hatte viel zu tragen und darf mich vielleicht im Leben nicht wieder frei fühlen von der Last des Kummers. Wenn Sie noch etwas wie Theilnahme für mich haben, so erlassen Sie mir, ausführlich von Dem zu sprechen, was Sie verstehen werden, wenn ich es nur andeute.“

„Aber warum überhaupt von etwas reden, was Ihnen Schmerz bereitet?“ fragte er sie. „Sollte es sich auf die Vergangenheit beziehen, so nehmen Sie mein Wort, daß ich diese als gänzlich todt betrachte, wenn dies Sie beruhigen kann!“

Sie schüttelte das Haupt. „Ruhig kann ich nur wieder werden, Reinhard, wenn ein dunkler Fleck, der auf ihr haftet, getilgt ist – und darum gerade kam ich zu Ihnen. – Sie kennen ein unseliges Geheimniß,“ fuhr sie fort und ihre bebende Stimme rang nach Festigkeit – „Reinhard, ich habe als Erbtheil eine Schuld auf mich genommen und muß mich davon lösen!“

„Eva, jetzt verstehe ich Sie wirklich nicht!“ entgegnete der Doctor, im höchsten Grade erregt.

Sie schwieg einige Augenblicke und sagte dann: „Habe ich Ihnen nicht einst gesagt, daß ich lange über die letzten Worte meines Vaters nachgesonnen hätte wie über ein schweres Räthsel? Sie verweigerten mir damals die Lösung, hernach aber habe ich sie gefunden und weiß nun, was es bedeutete, daß der Sterbende [48] Sie den Retter seiner Ehre nannte, weiß, daß dieselbe durch – den Verlust anvertrauter Gelder bedroht war.“

„Niemand kann Ihnen das gesagt haben, Eva!“ rief er erschüttert. „Kein lebender Mund –“

„O still, Reinhard!“ unterbrach sie ihn; „zwingen Sie mich nicht, Ihnen zu wiederholen, wie ich zu meiner traurigen Kenntniß gelangt bin! Ich sage Ihnen nur: lassen wir die lieben Todten ruhen! – – Der Kummer hat mein Herz gelähmt, aber mein Blick, mein Geist ist dadurch schärfer geworden und auf meinem einsamen Krankenlager in der langen, trüben Zeit habe ich mir Alles, was noch an dem Zusammenhange fehlte, zurecht gedacht. – Als ich dann die hinterlassenen Bücher und Papiere meines Vaters studirte – ich habe das auch jetzt erst gelernt, Reinhard,“ unterbrach sie sich mit einem schwachen Lächeln – „fand, ich, daß er aus eigenen Mitteln die fehlenden Gelder nicht hätte ersetzen können – und da wußte ich auch, wessen Hülfe sie ihm verschafft, seinen Namen unbefleckt erhalten hatte. Wenn ich Ihnen jetzt das geliehene Geld wiederbringe,“ fuhr sie fort, indem sie ein Päckchen mit Banknoten auf den Tisch legte, „so ist es mit heißem Dank – –“

„Unmöglich, Eva, ich kann das Geld nicht nehmen!“ unterbrach er sie heftig.

„Sie dürfen sich nicht weigern, Reinhard! Ich bitte, ich flehe Sie darum an, als die Tochter meines Vaters und – als das Weib Adalbert’s!“ fügte sie leise und, wie es schien, mit unsäglicher Anstrengung hinzu.

Eine Secunde schwieg er ergriffen, dann aber sagte er: „Wohlan, so hören Sie meinen Vorschlag, Eva! Annehmen kann ich das Geld nicht – ablehnen darf ich es nicht; aber hier in der Stadt ist eine Stiftung zur Unterstützung von Familien, denen der Versorger geraubt ist und denen ihre Stellung nicht erlaubt, sich öffentlich um die Wohlthätigkeit ihrer Mitmenschen zu bewerben; sie hat schon viel Segen gespendet – wollen Sie, daß ich ihr das von Ihnen empfangene Geld als ein Vermächtniß Ihres Vaters übergebe?“

Eva nickte nur zum Zeichen ihrer Einwilligung – sprechen konnte sie nicht. Beide bedurften einiger Augenblicke, um sich zu sammeln; dann sagte Eva: „Meine Mission ist nun erfüllt!“ und neigte abschiednehmend ihr Haupt.

Schon hatte Beider Mund das Lebewohl ausgesprochen, als er plötzlich ihre Hand ergriff und zu ihr sagte:

„Eva, Sie forderten einst von mir, ihr Freund zu bleiben. Damals konnte ich nicht anders: ich mußte mich von Ihnen losreißen! Jetzt aber bitte ich Sie selbst: lassen Sie mich Ihren Freund sein wie ehedem!“

„Wie ehedem!“ wiederholte sie und sah trübe lächelnd zu ihm auf „Wohl, Reinhard, ich danke Ihnen!“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Cabale und Liebe, großes Oratorium von Fr. von Schiller. Unter diesem Titel ging in San Francisco am vergangenen Sonntag jenes ergreifende Trauerspiel unseres deutschen Lieblingsdichters über die Bretter, welche die Welt bedeuten.

Die deutsche Muse ist in der großen Goldstadt am Stillen Meere in eine wunderliche Stellung gerathen; am Sonntag wagt sie sich nur im geistlichen Gewande auf die Bühne. Ein altes californisches Gesetz verbietet nämlich am Sonntage „Stiergefechte, Hahnenkämpfe, Theater und andere barbarische Vergnügungen“ (bull fights, cock fights, theatres and other barbarous amusements). Da aber Alles unter dem Namen heilig (sacred) am Tage des Herrn erlaubt ist, so giebt es hier doch mitunter dann deutsches Theater, das als heiliges Concert, als Oratorium oder dergleichen annoncirt wird, damit es den gottesfürchtigen Amerikanern nicht gar zu anstößig werde. Concerte, bei denen Tanz- und Opernmusik die Hauptrolle spielt, werden als „heilige Concerte“ (sacred concerts) aufgeführt; sogar heilige Seiltänzer und heilige Circusreiter etc. haben schon in San Francisco ihre Kunst an Sonntagen zum Besten gegeben.

Seit Jahren haben die hiesigen Deutschen bei den Gerichten des Landes darauf hingearbeitet, daß jenes pietistische Gesetz in Bezug auf deutsche Theatervorstellungen am Sonntag für ungültig erklärt werde. Die californischen Richter entschieden aber in höchster Instanz, daß Theatervorstellungen unter die Classe von barbarischen Vergnügungen zu zählen seien, und dabei blieb es. Bierkeller und Tanzlocale dagegen dürfen nach californischem Gesetze am Sonntag offen sein; einen Schluck vom edlen Gerstensafte kann ein ehrlicher Deutscher in San Francisco auch am Sonntag zu sich nehmen, ohne, wie in manchen östlichen Städten der Union der Fall ist, dafür straffällig zu werden.

Nur zu Zeiten, wenn die Amerikaner die Deutschen als Stimmgeber bei Wahlcampagnen gebrauchen und wenn die herrschende Partei in der Stadt es nicht mit ihnen verderben will, drückt die hohe Obrigkeit ein Auge halb zu und nimmt keine Notiz von einer deutschen Theatervorstellung an einem Sonntag. Die Zeit der Freude dauert aber selten lange. Trotz aller frommen Ausflüchte und der größten Vorsicht seitens der Deutschen, den Amerikanern nicht durch zu große Publicität jener unschuldigen Amüsements unangenehm zu werden, werden ihre allerdings nichts weniger als heiligen Sonntagsconcerte, Oratorien etc. in der Regel grausam vom Gesetze verfolgt. Wenn keine Wahlen in Aussicht stehen, pflegen die Amerikaner in dieser Beziehung hier wenig Federlesens mit ihren den Sonntag entheiligenden barbarischen deutschen Mitbürgern zu machen: die als Minimum angesetzte Geldstrafe von fünfzig Dollars folgt den theatralischen Vorstellungen auf dem Fuße und wird an jedem Sonntag verdoppelt, und bald müssen jene bis zur nächsten Wahl immer seltener werden oder ganz aufhören. Die Sonntage sind aber die Haupttage für die hiesige deutsche Theatercasse und ohne Sonntagsvorstellungen kann in San Francisco kein deutsches Theater auf die Dauer bestehen. Die deutsche Muse fühlt sich daher leider am Gestade des Stillen Oceans immer noch nicht recht wie zu Hause; nur gelegentlich stattet sie uns eine Visite ab, und wagt sich, wie gesagt, auch dann am Sonntag nur im geistlichen Gewande auf die Bühne.

San Francisco, am 23. November 1869.

Theodor Kirchhoff.


Radetzky’s graue Couverts. Heute weniger, als je, widerspricht man in Oesterreich der Behauptung, daß des alten Feldmarschalls sogenannte „italienische Armee“ vor und nach seinen schweren Kampf- und glänzenden Siegestagen gegen Sardinien und das italienische Volk zu den Mustertruppen Europa’s gehörte. Nicht so bekannt ist es, daß zu seinen Mitteln, den trefflichen Geist seiner Mannschaft – wir reden natürlich nur von der kaiserlichen Militärdisciplin – auch im Frieden zu erhalten, eine außerordentliche Strenge gegen die höheren Officiere gehörte. Nach jeder der damals unter ihm in Oberitalien so häufigen größeren und kleineren Revüen erging ein gefürchtetes Gericht über das gesammte Officiercorps und namentlich waren Aenderungen im Personal der höheren Führer damit keine Seltenheit. Und so weit trieb der geistreiche alte Held die Schärfe seiner Strafen, daß an der Farbe des Couverts der mehr oder weniger zu fürchtende Inhalt zu erkennen war. Die gefährlichsten Couverts aber waren die grauen: sie bargen in der Regel eine Beseitigung vom bisherigen Posten des Adressaten. Diese Notiz verdanke ich einem der Adjutanten des Feldmarschalls im italienischen Kriege, dem jetzigen Obersten Gr. M. In seinem frischen Husarenhumor deutete er darauf hin, daß gar leicht der alte Herr bei seiner Farbenwahl das vom Soldatenwitz damals vorgeschlagene neue Armee-Gesetz im Sinne gehabt habe; dasselbe bestand nur aus zwei Paragraphen, und diese lauteten: „§. 1. Kein General darf ein Esel sein, – und §. 2. Kein Esel darf ein General sein.“




Bock’s bekanntes Schulbuch: „Bau, Leben und Pflege des menschlichen Körpers in Wort und Bild“ ist vor einigen Tagen von dem österreichischen Ministerium für Cultus und Unterricht zur Anschaffung für die Volksschulen und Lehrerbildungsanstalten der kaiserlichen Staaten im Verordnungsblatt dringend empfohlen worden. Die preußischen Oberschulbehörden hatten bis jetzt für dieses von allen pädagogischen Zeitschriften glänzend besprochene Buch kein Wort der Sympathie, trotz alledem ist das vortreffliche Werk bereits in vielen preußischen Schulen eingeführt und in Tausenden von Exemplaren verbreitet.




Berichtigung. Aus Hannover geht uns, im Widerspruch mit unserem Artikel in Nr. 51 des vor. Jahrg., die berichtigende Mittheilung zu, daß nicht die Stadt Hannover an Iffland’s Geburtshaus eine Gedenktafel anbringen ließ, sondern daß es vielmehr einzig und allein die Mitglieder des dortigen königlichen Hoftheaters waren, welche die Tafel beschafften und welche auf Anregung aus eigener Mitte und mit Unterstützung der Intendantur der königlichen Schauspiele die längst fällige Ehrenschuld an den Verstorbenen zahlten.



Kleiner Briefkasten.


E. Bhler. in Trogen, Appenzell. Der beste Stich nach Leonardo da Vinci’s Abendmahl ist der von Raffael Morghen. In gewöhnlichen modernen Abdrücken verkauft die Kunsthandlung von Börner in Leipzig für 25 Thaler, in älteren Abdrücken je nach der Schönheit derselben zu 50 bis 80 Thaler, einen ganz vorzüglichen für 120 Thaler. (Ein Künstlerprobedruck dieses Stiches wurde vor einigen Jahren in Berlin für 2400 Thlr. verkauft.) In derselben Größe hat das Bild auch F. Wagner gleichfalls vorzüglich gestochen. Dieses Blatt ist zum Einrahmen sehr zu empfehlen und kostet 8 Thaler in gewöhnlichen Abdrücken mit der Schrift, weiß Papier, und 16 Thaler vor der Schrift.


Inhalt:


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Leser der Gartenlaube erinnern sich wohl noch der großen Ansicht von Wilhelmshöhe in Nr. 21 des Jahrgangs 1860.
    D. Red.
  2. Wir freuen uns, unsern Lesern die Mittheilung machen zu können, daß die Gartenlaube aus Rom fortlaufende Schilderungen aus der bewährten Feder eines Schriftstellers bringen wird, der schon seit längerer Zeit in der Stadt der Päpste weilt und sich dort auch während der ganzen Dauer des Concils aufhalten wird. Wir brauchen kaum die Versicherung beizufügen, daß sich unser Blatt, so ernst und würdig auch die Mittheilungen gehalten sein werden, doch von theologischen Auseinandersetzungen gleich weit entfernt halten wird.
    D. Red.