Die Gartenlaube (1871)/Heft 20

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 20.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Held der Feder.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


„Bis zur Beendigung des Krieges,“ rief Jane aus, „der alle Verhältnisse zerreißt und die Menschen hier- und dorthin sprengt? Noch kam die Nachricht nicht zu spät, ich hoffe es wenigstens, aber nicht einen Augenblick durften wir zögern, sie zu benutzen, und da ein brieflicher Verkehr nicht denkbar war, so gab es nur einen Ausweg, ich mußte persönlich eintreten und selbst der Spur folgen. Wenn Sie unter den Gefahren und Entbehrungen der Reise leiden, Mr. Atkins – es ist Ihre Schuld, ich wäre auch allein gegangen!“

„Ja, weiß Gott, das wären Sie!“ sagte Atkins mit einem Seufzer. „Jane, Sie sind manchmal ganz erschreckend mit Ihrer rastlosen Energie! Ich gehöre doch wahrhaftig nicht zu den Trägen und Unentschlossenen, aber dies ruhelose Vorwärtsjagen nach einem einzigen Ziele spannt mich zuletzt völlig ab.“

„Mich nicht!“ erklärte Jane mit kalter Festigkeit. „Ich bin entschlossen, noch weiter zu gehen, ich wiederhole es Ihnen, bis an die Grenzen des Möglichen.“

„Nun, wenigstens eine Gewißheit haben wir,“ hob Atkins nach einer Pause wieder an, „der deutsche Meister, bei dem der junge Erdmann noch beim Beginn des Krieges in Arbeit stand, ist noch hier. Sie wissen ja, ich ging gestern von der Mairie, wo mir die betreffende Auskunft ward, sofort nach dem bezeichneten Hause; freilich fand ich es verschlossen, die ganze Einwohnerschaft ausgeflogen, um die eben neu einrückenden preußischen Regimenter zu sehen, unter denen man Landsleute zu finden hoffte. Diese Kenntniß schöpfte ich wenigstens aus meiner höchst merkwürdigen Unterhaltung mit einer höchst schwatzhaften Nachbarin – merkwürdig, denn sie verstand kein Englisch und ich kein Französisch, wir waren genöthigt, eine sehr ausdrucksvolle Mimik zu Hülfe zu nehmen, vermittelst deren ich ihr denn auch begreiflich machte, daß mein Besuch dem Monsieur Erdmann und seinem Meister galt, daß ich heut’ wiederkommen werde, und daß sie mich unendlich verbinden werde, wenn sie meine Karte mit unserer Adresse einstweilen dem betreffenden Monsieur übermitteln wolle. So weit gelangten wir glücklich mit unserer Geberdensprache, und nun bin ich in der That neugierig auf die unvermeidliche Confusion, die Madame ohne Zweifel aus der Geschichte gemacht hat.“

Jane blickte auf die Uhr. „Es ist bald neun, ich glaube, wir können uns jetzt zu dem Gange fertig machen.“

Die Antwort, die Atkins eben zu geben im Begriff stand, unterbrach ein Klopfen an die Thür, sie ward geöffnet und ein alter Mann mit weißen Haaren, einfach, aber durchaus nicht dürftig gekleidet, mit einem bescheidenen freundlichen Wesen, trat ein, um sich sofort in gutem Französisch an die beiden Fremden zu wenden.

„Ich bitte um Verzeihung, aber man wies mich hier hinauf. Ich bin der Tischlermeister Vogt, Rue de –, ein fremder Herr hat gestern nach mir gefragt und eine Karte mit seiner Adresse zurückgelassen, die, wenn ich recht verstand, eine Aufforderung sein sollte, ihn aufzusuchen. Ich bin doch am rechten Orte?“

Atkins verstand natürlich nichts von dieser an ihn gerichteten Anrede. Jane aber, die des Französischen vollkommen mächtig war, übersetzte ihm rasch das Nöthige und wendete sich dann, mit Rücksicht auf ihren Begleiter deutsch, zu dem Ankömmlinge.

„Sie sind ganz recht berichtet, aber der Besuch jenes Herrn galt nicht Ihnen, sondern einem jungen Manne, der, wie man uns mittheilte, bei Ihnen in Arbeit steht. Es ist ebenfalls ein Deutscher, der Tischlergeselle Franz Erdmann; wir suchen ihn und waren soeben im Begriff, deshalb wieder zu Ihnen zu kommen!“

„Den Franz suchen Sie?“ sagte der alte Mann nun auch in der Muttersprache. „Du lieber Gott, der ist schon seit sechs Wochen fort. Gleich nach der Kriegserklärung verließ er uns und ging nach Deutschland zurück. Er ist jetzt im preußischen Heere.“

Jane erbleichte unwillkürlich. Wieder umsonst! aber die Enttäuschung, die nach so sicherer Hoffnung jede Andere niedergeschlagen hätte, erbitterte sie nur, ihre Lippen preßten sich fest aufeinander und die Spitze ihres Fußes schlug den Boden. Wenn sie auch der Empfindung keine Worte lieh, man sah es, im Innersten legte sie sich nur ein erneutes Gelübde ab, trotz alledem und alledem doch vorwärts zu gehen.

Mr. Atkins nahm die Auskunft nicht so schweigsam hin, sein Aerger machte sich in lauten Ausrufungen Luft.

„Im Heere! Ich glaube, dies glorreiche preußische Kriegsheer umfaßt nachgerade die gesammte Menschheit! Wo wir anfragten, im Laufe unserer Nachforschungen, welche Personen wir zum Zeugniß aufriefen, wir erhielten immer nur die eine stereotype Antwort: ‚Im Heere!‘ Ich bin überzeugt, wenn wir endlich die directe Spur des Mr. Forest finden, so weist sie ebenfalls nach ‚dem Heere‘. Wenn im ganzen übrigen Europa nicht, da ist er gewiß zu finden!“

Der Tischlermeister verstand zwar die englisch gesprochenen Worte nicht, aber er hörte es an ihrem Ton und sah es an dem Antlitz der jungen Dame, wie schwer seine Auskunft Beide getroffen.

„Ja, uns geht es auch nahe genug!“ meinte er traurig, „Mir [326] fehlt der Franz überall, und mein Mädel sitzt nun vollends und weint sich die Augen aus, sie sollten zum Herbst ein Paar werden. Aber es half nun doch einmal nichts, er gehörte noch zum ersten Aufgebot und wir wollten die Sünde nicht auf uns nehmen, ihn festzuhalten.“

„Sünde!“ grollte Atkins wieder in seinem Englisch zu Jane gewendet. „Haben Sie je dergleichen gehört? Dieser Bursche sitzt sicher und geborgen hier in Frankreich, wo kein Mensch nach seiner Militärpflicht fragt. Er will hier heirathen, sich niederlassen, kommt wahrscheinlich in seinem Leben nicht nach Deutschland zurück, und kaum bricht der Krieg aus, so läuft er wieder nach Hause, läßt Braut, Hochzeit, Gewerbe, Alles im Stich, und meldet sich Hals über Kopf, um sich für den geliebten Rhein todt schlagen zu lassen – das Pflichtgefühl bei diesen Deutschen ist wirklich eine Art Manie!“

Jane hörte kaum auf seine Worte, ihr blitzte bereits ein Hoffnungsstrahl, wo Atkins Alles verloren gab; rasch wendete sie sich auf’s Neue zu dem Handwerker.

„Der junge Erdmann stand in naher Beziehung zu Ihrer Familie? Er sollte Ihr Schwiegersohn werden? Nun, dann wissen vielleicht Sie oder Ihre Tochter einiges aus seiner Vergangenheit, das uns von Wichtigkeit sein kann. Wir hoffen von ihm Auskunft in einer Familienangelegenheit zu erlangen, und würden uns gern in jeder Weise erkenntlich dafür zeigen.“

„Nun, was seine Verhältnisse betrifft, die kenne ich ziemlich genau. Er ist länger als zwei Jahre in meinem Hause gewesen, und die Liebesgeschichte mit meiner Marie nahm auch gleich in den ersten Monaten ihren Anfang,“ meinte Vogt bereitwillig. „Fragen Sie nur, Madame, ich denke, ich kann Ihnen Bescheid geben.“

Atkins zog sich etwas zurück, er sah, daß Jane die Sache völlig in ihre eigne Hand nehmen wollte, und überließ ihr das um so lieber, da er sich von dem bevorstehenden Examen kein besonderes Resultat versprach. In der That war seine Hülfe auch nicht nöthig, Miß Forest stellte ihre Fragen so klar, so sicher und energisch, wie der beste Criminalrichter es nicht anders vermocht hätte.

„Ihr künftiger Schwiegersohn ist in dem kleinen Fischerdorfe M. nicht weit von Hamburg geboren?“

Meister Vogt nickte.

„Er kam nach dem Tode seiner Eltern zu Verwandten in P., die ihn erzogen, von dort wanderte er nach überstandener Lehr- und Militärzeit nach Frankreich, um sich in der Kunsttischlerei zu vervollkommnen, und lebt bereits seit zwei Jahren in N. in Ihrem Hause?“

„Ganz recht!“ bekräftigte der Meister. Es ist wirklich unser Franz, den Sie meinen. Das stimmt alles auf’s Haar!“

„Hat er Ihnen nie,“ in Jane’s Stimme verrieth sich wieder die mühsam zurückgehaltene Spannung, „hat er Ihnen niemals von einem Bruder erzählt, der in M. mit ihm zusammen aufwuchs?“

„Das hat er freilich! Aber es war kein rechter Bruder, ein angenommenes Kind, das seine Eltern aus Hamburg mitgebracht hatten und in ihrer Gutherzigkeit behielten, da sich Niemand dazu fand.“

Jane schickte einen triumphirenden Blick zu Atkins hinüber, sie folgte trotz alledem der Spur. „Das also ist Ihnen bekannt? Die Knaben wurden später getrennt, aber auch jener Andere fand Aufnahme?“

„Ja, bei einem Gelehrten.“

Jane hob mit einer fast zuckenden Bewegung das Haupt empor. „Bei – einem Gelehrten!“ wiederholte sie langsam; „man sagte uns, es sei ein Geistlicher gewesen, der Pfarrer Hartwig.“

„Ja, ganz recht, aber nebenbei war es ein sehr gelehrter alter Herr, der immer nur zwischen seinen Büchern steckte. Franz hat uns einmal von ihm erzählt; er gab später sogar seine Pfarre auf – er war nicht arm –, um nur seinem Gelehrtenthum zu leben.“

Jane war auf einmal todtenbleich geworden. Ein Blitz zuckte nieder und zerriß jäh die Dunkelheit, welche auf dem Schicksal des so lang gesuchten Bruders lag, einen Moment lang leuchtete er grell und unheimlich, dann war es wieder Nacht, aber sein Aufflammen mußte der Schwester etwas Entsetzliches gezeigt haben, sie schauderte davor zurück.

„Sind Sie unwohl, Miß Jane?“ fragte Atkins besorgt und machte eine Bewegung, sich ihr zu nähern.

„Nein!“ Jane raffte sich zusammen und wies ihn zurück, ihr Athem ging kurz und heftig und die Hand, mit der sie sich auf den Tisch stützte, zitterte wie im Fieber.

„Und wissen Sie, ob jener Adoptivbruder noch am Leben ist, ob er in irgend einer Verbindung mit Ihrem Schwiegersohne steht?“

„Gewiß ist er noch am Leben,“ sagte der Handwerker ruhig. „Und sie werden sich auch wohl öfter schreiben, um Ostern wenigstens hatte Franz einen Brief von ihm.“

„Aus welchem Ort? Wie war er unterzeichnet?“ In Jane’s Stimme bebte die furchtbarste Erregung, ihr Blick heftete sich auf den Mann mit einem Ausdruck, als gelte es die Entscheidung über Leben und Tod.

Meister Vogt zuckte verlegen die Achseln. „Ja, das kann ich beim besten Willen nicht sagen! Gesprochen hat er wohl von dem Briefe, und auch erwähnt, daß es dem Bruder recht gut ginge, aber er nannte ihn stets nur beim Vornamen und weder meine Tochter noch ich haben das Schreiben zu Gesicht bekommen. Das Einzige, was ich weiß, ist, daß er vom Rheine kam.“

Vom Rheine! Jane legte die Hand gegen die feuchte eiskalte Stirn. Einen Augenblick war es ihr, als müsse sie zusammenbrechen und alles Andere mit ihr, aber sie blieb aufrecht, blieb starr und unbeweglich, den beiden Männern konnte es scheinen, als sei sie unempfindlich.

Atkins blickte befremdet zu ihr hinüber, er wartete, daß sie weiter fragen sollte, wartete eine volle Minute lang, als sie aber immer noch schwieg, ergriff er endlich das Wort.

„In diesem Falle hätten wir uns die beschwerliche Reise sparen können! Vom Rheine kommen wir eben, mein bester Mr. Vogt. Sie wissen uns also weder Namen noch Ort anzugeben? Auch Ihre Tochter nicht?“

„Nicht das Geringste.“

„Nun, dann kann ich Sie nur bitten, mir genau Regiment- und Truppentheil zu bezeichnen, bei welchem Ihr künftiger Schwiegersohn gegenwärtig steht. Sie haben doch während des Krieges Nachricht von ihm erhalten?“

„Erst ein einziges Mal! Wir hofften immer, er werde mit der Armee hier durchkommen, und gestern, als es hieß, daß neue preußische Regimenter einrückten, sind wir allesammt vor’s Thor gelaufen, – in der Hoffnung das seinige zu finden, es war aber nicht dabei.“

Atkins wartete noch immer auf Jane’s Einmischung, ihre völlige Theilnahmlosigkeit stach zu seltsam ab von dem fieberhaften Interesse, das sie noch vor wenigen Minuten gezeigt; da sie aber in ihrer Unbeweglichkeit verharrte, so zog er sein Taschenbuch hervor und notirte sich die betreffenden Angaben. Der Handwerker verabschiedete sich von der jungen Dame, sie neigte wie mechanisch das Haupt und überließ es ihrem Begleiter, ihn mit großer Höflichkeit hinauszubecomplimentiren. Wer weiß, der Mann war doch vielleicht noch einmal in dieser Angelegenheit zu gebrauchen, und Jemand, den Mr. Atkins zu benutzen gedache, erfreute sich stets aller Aufmerksamkeit von Seiten desselben.

Er kehrte, nachdem Jener fort war, wieder zu Jane zurück. „Sagte ich es nicht? Wieder eine andere Himmelsrichtung! Jetzt werden wir nach dem Rheine zurückdirigirt! Das Einzige, was nun bleibt, ist: sich von Deutschland aus brieflich an diesen Mr. Erdmann zu wenden, was jedenfalls leichter auszuführen ist, als eine Correspondenz mit N., zumal wir seine ausführliche Adresse haben. Für den Fall, daß er nicht mehr lebt, müssen wir den Aufruf in sämmtlichen rheinischen Blättern wiederholen. Jedenfalls aber meine ich, daß wir ungesäumt die Rückreise antreten.“

Jane fuhr bei dem Worte aus ihrer Erstarrung empor.

„Weshalb? Wir sind einmal in Frankreich. Vielleicht gelingt es uns, jenes Regiment zu finden!“

„Jane, ich bitte Sie um Gotteswillen, das geht doch zu weit! Ein Regiment auf dem Marsch aufsuchen – welche Idee!“

„Gleichviel, ich will jetzt die Wahrheit wissen! Und kostete es mir das Leben, und müßte ich bis in’s Gefecht, bis in die Schachtlinie vordringen – ich muß Gewißheit haben!“

Atkins stand fast entsetzt vor diesem plötzlichen furchtbaren Ausbruch einer Leidenschaftlichkeit, die er in Jane niemals geahnt, er bemerkte jetzt erst ihre Leichenblässe.

„Mein Gott, was fehlt Ihnen? Sie sind krank! Dacht’ ich’s doch, daß die Ueberanstrengung dieser Reise sich rächen würde!“

[327] Er wollte ihr Hülfe leisten, aber sie wies ihn mit einer heftigen Bewegung zurück.

„Es wird vorübergehen – ich bedarf nichts – nur um ein Glas Wasser bitte ich Sie!“

Atkins war in ernstlicher Unruhe, er wußte sehr wohl, daß Jane keine „Nervenzufälle“ kannte, er fürchtete eine Krankheit, und da jetzt im Hôtel an schnelle Bedienung nicht zu denken war, so eilte er selbst hinaus, das Verlangte zu holen.

Das war es, was Jane beabsichtigt hatte. Sie brauchte kein Wasser, aber sie bedurfte einen Moment des Alleinseins, wollte sie nicht ersticken. Kaum war er hinaus, so eilte auch sie zur Thür, schob den Riegel vor und sank dann erst am Sopha in die Kniee, das Gesicht in den Händen verborgen. Jane Forest brach nicht zusammen vor fremden Augen!

„Wenn man eltern- und heimathlos in’s Leben hinausgeworfen wird und dann in die Hände eines Gelehrten fällt, der nichts kennt und liebt auf der weiten Welt als seine Wissenschaft“ – und jener Brief kam vom Rhein! Das war der Blitz gewesen, der sie vorhin durchzuckte, die Ahnung kam mit der ganzen vernichtenden Gewalt der Gewißheit. Jener Blitz hatte einen Abgrund vor ihr aufgethan, in den Jane es nicht wagte hinabzublicken, hatte ein Geheimniß an’s Licht gerissen, dessen sich die kalte, stolze Braut Alison’s bisher nicht bewußt war; aber als sie jetzt in Todesangst die gerungenen Hände emporhob, da brach es hervor in dem lang zurückgehaltenen Verzweiflungsschrei:

„Allmächtiger Gott, nur dies Eine nicht! Mein Gegner, mein Todfeind, wenn es sein muß, ich will es tragen – nur mein Bruder nicht!“




Die späte Nachmittagssonne eines klaren Septembertages schien durch die dichtbelaubten Aeste der uralten mächtigen Kastanien, welche die Gänge und Rasenflächen des weiten Parkes beschatteten, der sich hinter dem Schlosse S. ausdehnte, einem jener prachtvoll gelegenen Landsitze, an denen das Innere Frankreichs so reich ist. Das Schloß am westlichen Abhange des hier jäh aufsteigenden Gebirges, das gerade an diesem Punkte seine ganze wildromantische Schönheit entfaltet, hatte wie das in unmittelbarer Nähe liegende Dorf gleichen Namens ebenfalls Einquartierung erhalten. Ein rheinisches Landwehrregiment war, nachdem es die sämmtlichen Schlachten des August mitgemacht, hierher zurückbeordert worden, um das Gebirge von den umherstreifenden Franctireurbanden zu säubern und die Pässe desselben frei zu erhalten. Es war ein gefahrvoller und ruheloser Posten für das nicht allzu zahlreiche Detachement, das, stundenweit von seinen Cameraden getrennt, fast täglich Streifzüge in die Berge unternahm und dabei fortwährend vor einem Ueberfall auf der Hut sein mußte, den das Terrain nur allzu sehr begünstigte. Die Mannschaften lagen im Dorfe, während die Officiere sich in dem unmittelbar am Ausgange desselben befindlichen Schlosse, dessen Bewohner natürlich geflohen waren, einquartiert hatten. Die Herren schienen sich, im Augenblick wenigstens, einer hier nur seltenen Muße hinzugeben, von der Terrasse her scholl lautes Plaudern und Lachen, untermischt mit hellem Gläserklingen.

Am Eingange des Parkes unter einer jener mächtigen Kastanien lag ein junger Landwehrofficier ausgestreckt in dem hohen Grase und blickte hinauf in das dunkelgrüne Laubdach, durch welches die schon untergehende Sonne hin und wieder ihre röthlich zuckenden Lichter warf. Die mit großer Kunst und Mühe geordnete Flora des Gartens, der noch in der ganzen Pracht und Ueppigkeit des Sommers prangte, schien seine Aufmerksamkeit ebensowenig zu fesseln wie der Lärm seiner Cameraden, der vom Schlosse zu ihm herüberdrang; er hob den Kopf erst, als der Schritt eines Nahenden ihn aus seiner Träumerei aufschreckte.

Ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, den die Uniform und Armbinde als einen Arzt bezeichneten, kam suchend den Gang herauf und blieb endlich vor dem Liegenden stehen.

„Dacht’ ich’s doch! Hier liegst Du wieder und träumst, während ich Dir im Schweiße meines Angesichts die Popularität erringe! Du kümmerst Dich freilich nicht darum!“

Der Angeredete richtete sich zur Hälfte empor, indem er sich leicht auf den Ellenbogen stützte. „Ich habe ja Dienst,“ sagte er ruhig. „Ich muß um vier Uhr in’s Dorf hinunter.“

„Und deshalb warst Du um drei Uhr bereits unsichtbar geworden? Leugne doch nicht, Walther, Du bist davongelaufen, weil Du merktest, daß ich die fürchterliche Absicht hatte, ein Gedicht vorzulesen, dessen Abschrift ich Dir wieder einmal habe abzwingen müssen. Uebrigens nützt Dir die Flucht wenig; Du wirst bei der Rückkehr dennoch mit allgemeiner Acclamation empfangen werden. Unser Major flucht seinen ganzen unerschöpflichen Vorrath von Flüchen der Reihe nach herunter, um nachdrücklichst zu bekräftigen, daß er so etwas in seinem Leben noch nicht gehört; der Adjutant hielt eine um so zartere Rede; Du weißt, er ist so eine Art Schöngeist, macht selbst stark in Aesthetik, und Du hast ihm mit Deiner Gelehrsamkeit gleich von Anfang an bedeutend imponirt. Er führte uns zu Gemüthe, wie hochbegnadet wir doch eigentlich vom Schicksal seien, uns die Waffengefährten eines Dichters nennen zu dürfen, den Deutschland dereinst als seinen ersten Genius begrüßen wird, eine ausgezeichnete Rede, nur etwas zu lang! Die Lieutenants schwören bei allen Göttern der Ober- und Unterwelt, wenn die Franzosen einen Barden besäßen, der sie vor der Schlacht mit ähnlichen Gesängen begeisterte, so hätten sie uns mehr zu schaffen gemacht; den großartigsten Effect aber hat Deine Poesie auf den dicken Hauptmann hervorgebracht – er hat das Trinken darüber vergessen!“

„Laß doch die Possen!“ sagte der junge Officier halb unwillig, indem er in seine liegende Stellung zurücksank.

„Possen? Ich gebe Dir mein Wort, daß ich Dir das Gesagte nur buchstäblich wiederhole. Hörst Du den Gläserklang? Das gesammte Officiercorps garantirt Dir soeben feierlichst die Unsterblichkeit. Ich bin abgesandt, auf den flüchtigen Sänger zu fahnden und ihn lebend oder todt zur Stelle zu schaffen. Man verlangt stürmisch Deine Gegenwart.“

„Verschone mich! Du weißt, wie sehr mir dergleichen Ovationen zuwider sind.“

„Du willst wieder nicht kommen? Natürlich! Wir sollten uns nun nachgerade daran gewöhnt haben, daß Lieutenant Fernow nur zu haben ist, wenn es zum Dienst oder in’s Gefecht geht. Du läufst vor jeder Anerkennung davon wie Andere vor der Strafe; das mußt Du Dir noch abgewöhnen, Walther; es paßt wirklich nicht für den ‚künftigen Genius Deutschlands‘.“

Fernow war inzwischen aufgestanden, hatte den Helm, der neben ihm im Grase lag, aufgesetzt und schnallte jetzt den Degen fester. Wer noch vor zwei Monaten den gelehrten Professor der Universität B. gesehen, der hätte ihn freilich nicht wieder erkannt in diesem jungen Krieger, dem der Waffenrock so knapp und fest um die schlanken Glieder schloß, als habe er sein Lebelang nichts anderes getragen. Fort war die krankhafte Blässe und die tiefen dunklen Ringe um die Augen, fort war der gebückte Gang und das ganze leidende Aussehen. Dunkler Sonnenbrand lag jetzt auf Stirn und Wangen, in denen das Blut kräftiger pulsirte, das blonde Haar quoll, wenig gepflegt, in üppigerer Fülle unter dem Helme hervor, der sonst streng verbannte Bart sproßte kräftig um das Kinn, die aufrechte mititärische Haltung kostete dem nunmehrigen Landwehrlieutenant augenscheinlich nicht die geringste Mühe mehr, und die Hände, die freilich ihre ganze Zartheit eingebüßt hatten, faßten dafür mit um so kräftigerem Griffe den Degen. Die sechs Wochen im Felde hatten Wunder gethan, man sah es auf den ersten Blick – die Radicalcur des Doctor Stephan hatte angeschlagen.

„Ihr legt allesammt meinen Liedern zu viel Werth bei!“ sagte er ablehnend. „Die Verse, die die Begeisterung des Augenblicks schufen, zünden auch im Augenblick, und später, wenn die Bewegung endigt, die sie gebar, fallen sie der Vergessenheit anheim. “

„Meinst Du?“ fragte der Arzt ernster werdend. „Das erlaube ich mir denn doch zu bezweifeln. In Deinen Liedern braust mehr als bloßer Schlachtenlärm, wenn Du ihm vielleicht auch einst dankbar sein wirst, daß er Dein Talent aus seinem Schlummer aufrüttelte und Dir die Bahn wies zu künftiger Größe.“

„Vielleicht!“ sagte Fernow düster. „Und vielleicht auch macht eine Kugel heut oder morgen der ganzen Herrlichkeit ein Ende!“

„Kannst Du denn die ewige Schwermuth nicht loswerden?“ schalt der Doctor. „Walther, ich glaube wahrhaftig, Du trägst irgend eine unglückliche Liebe mit Dir herum.“

„Warum nicht gar!“ rief Fernow heftig, indem er sich abwandte. Die dunkle Röthe, welche früher schon sein bleiches Gesicht bei jeder heftigen Erregung überfluthet hatte, stieg auch jetzt wieder, wenngleich weniger sichtbar, in das gebräunte Antlitz.

[328] Dem Arzt war sie bei der raschen Bewegung seines Freundes entgangen. Er war ein jüngerer College Stephan’s, Privatdocent an der Universität in B., und durch den Krieg gleichfalls aus seiner Stellung gerissen. Er und Fernow hatten sich so obenhin gekannt, hatten, wie man zu sagen pflegt, auf dem Grüßfuße gestanden und hin und wieder ein paar flüchtige Worte gewechselt. Dabei war es geblieben, drei Jahre lang, das Kriegsleben hatte sie in wenig Stunden zu genauen Bekannten und in wenig Wochen zu Freunden gemacht.

Der immer froh gelaunte junge Doctor lachte laut auf über seine eigene komische Idee. „Ich wäre auch wirklich neugierig auf das ‚wie, wo und wann‘! Seit wir im Felde sind, bin ich Dir nicht von der Seite gewichen, und in B. hast Du ja kein weibliches Wesen auch nur angeschaut, weshalb Dich die schönere Hälfte der Stadt mit Fug und Recht in Acht und Bann erklärte!“

Fernow gab keine Antwort, er machte sich noch immer am Griff seines Degens zu thun.

„Uebrigens hat Doctor Stephan doch Recht behalten mit seiner Diagnose,“ fuhr Jener nach einer augenblicklichen Pause fort, „obgleich ich es ihm damals nicht glauben wollte, als er eigens noch einmal nach H. herüberkam, Dich mir auf Leib und Leben anzuempfehlen, da er hörte, ich sei Deiner Compagnie zuertheilt worden. Ich konnte mit gutem Gewissen versprechen, mein Bestes zu thun, denn ich war überzeugt, Du würdest mir als erster Patient in die Hände fallen. In den ersten acht Tagen hätte ich keinen Heller für Dein Leben gegeben, als aber nun die Märsche und Strapazen ihren Anfang nahmen, als unsere Leute in der heißen Augustsonne umfielen, wie die Fliegen, und Du immer noch Stand hieltest, als Du unter all den Anstrengungen und Entbehrungen, denen die Stärksten zeitweise erlagen, nur immer gesünder und kräftiger wurdest, da habe ich denn doch den Hut abgenommen vor dem Scharfblick meines alten Collegen. Walther, Du hast bei alledem eine der besten Naturen, eine wahre Prachtnatur, die nur erst einmal heraus mußte aus dem Stubensitzen und hervor hinter dem Schreibtisch, um sich entwickeln zu können, und für Deine Nerven haben wir jetzt auch das richtige, wenn auch etwas ungewöhnliche Mittel gefunden. Der Kanonendonner hat sie gründlich curirt! Das wird eine Verwunderung geben, wenn Du so nach B. zurückkommst.“

Wenn ich zurückkomme!“

Der Arzt machte eine ungeduldige Bewegung. „Immer und ewig diese Todesahnungen! Du hängst mit einer förmlichen Leidenschaft daran.“

„Weil ich’s fühle!“

„Unsinn! Ist einer kugelfest, so bist Du es! Nimm es mir nicht übel, Walther, aber wie Du in all’ den Schlachten vorgingst, das grenzte nahezu an Wahnsinn. Der Muth darf denn doch nicht zur Tollkühnheit werden, aber Du siehst und hörst nichts mehr, wenn die Aufregung Dich einmal fortreißt, darüber ist nur eine Stimme unter Deinen Cameraden.“

Um Fernow’s Lippen schwebte eine leise Bitterkeit. „Und doch ist nicht Einer unter ihnen, der mir früher auch nur den allergewöhnlichsten Muth zugetraut hätte.“

„Nein!“ sagte der Arzt ehrlich. „Aber aufrichtig gestanden, Du hattest anfangs auch wenig genug vom Helden an Dir. Du warst so ganz und gar nur der Mann der Feder, der, eben erst hinter seinen Büchern hervorgekommen, sich in die Welt draußen noch gar nicht finden konnte. Nun, das hat sich schnell genug verloren, ebenso wie der Irrthum Deiner Cameraden – nach der ersten Schlacht haben sie ’s Dir allesammt abgebeten.“

Fernow lächelte flüchtig und traurig. Die Augen allein waren sich gleich geblieben, es lag noch immer die alte Träumerei und die alte Melancholie darin.

Am Eingange des Parkes ließ sich ein Geräusch vernehmen, es stampfte etwas mit schwerem Tritt den Boden und eine hünenhafte Gestalt tauche hinter dem Gitterthore auf. Die Riesenfigur Friedrich’s nahm sich in der Uniform äußerst vortheilhaft aus, und er schien eine Ahnung davon zu haben, denn es lag ein unverkennbares Selbstbewußtsein in der stramm militärischen Haltung, mit der er auf die beiden Herren zukam.

„Herr Lieutenant, eben wird gemeldet, daß unten im Dorfe ein Wagen mit Engländern angekommen ist, die durch unsere Posten durch in’s Gebirge wollen.“

Fernow wandte sich rasch um, Träumerei und Schwermuth waren auf einmal verschwunden, er war jetzt völlig „im Dienst“. „Das ist unmöglich! Es darf Niemand passiren. Der Posten hat sie doch zurückgewiesen?“

„Ja, aber der Engländer lamentirt, und will sich nicht zufrieden geben. Er hätte Papiere, sagt er, und will durchaus den Herrn Major oder den Herrn Lieutenant vom Dienst sprechen.“

Fernow blickte auf die Uhr. „Gut, ich komme, ich muß ohnedies jetzt in’s Dorf. Das wird eine unangenehme Sache werden,“ wendete er sich zu dem Arzte. „Ich muß wahrscheinlich harmlose Reisende zurückweisen, denen sehr am Weiterkommen gelegen ist, aber der Befehl ist streng, es läßt sich nichts daran ändern.“

„Unangenehm nennst Du das?“ lachte der Doctor. „Mir gewährt es im Gegentheil immer eine große Genugthuung, wenn wir diesen edeln Söhnen Albions, die mit ihrer Unverschämtheit und Blasirtheit unsern ganzen Rhein überwuchern, endlich einmal zeigen können, wer hier Herr und Meister ist. Im eigenen Lande haben wir das leider bisher niemals gewagt.“

„Gehst Du mit mir in’s Dorf?“

„Nein, ich gehe nach dem Schlosse zurück. Sieh zu, wie Du allein mit Deinen Engländern und Deinem Triumphe fertig wirst, denn der naseweise Freiwillige, der E., hat im Dorfe aller Wahrscheinlichkeit nach auch schon dafür gesorgt. Er riß mir Dein Gedicht ohne Weiteres fort, um es seinen Cameraden vorzulesen. Und höre, Walther, wenn Du mit Deiner Runde fertig bist, so komm wenigstens noch auf eine einzige Viertelstunde zu unserer Bowle, Du sinkst sonst rettungslos in der Achtung des Hauptmanns, der sich allein noch weigert, Dich als künftige Größe anzuerkennen – Du trinkst ihm nicht genug.“

Mit einem lachenden Gruß wendete sich der Arzt dem Schlosse zu, während Fernow den Weg nach dem Dorfe einschlug. Friedrich stampfte hinter ihm her, er ließ das Auge nicht eine Minute von seinem Herrn, aber der Ausdruck darin war jetzt ein anderer geworden. Früher hatte er den Professor immer nur mit jener Aengstlichkeit angeschaut, mit der man ein krankes hülfloses Kind behütet, das leicht zu Schaden kommen kann, jetzt lag eine stumme Ehrfurcht und eine grenzenlose Bewunderungen in dem Blick, welcher der kleinsten Bewegung „seines Lieutenants“ folgte. Die Anhänglichkeit des treuen Burschen hatte mehr als eine Feuerprobe überstanden, sie war in der Compagnie sprüchwörtlich geworden.

Am Eingange des Dorfes, vor dem dort befindlichen Wirthshause, hielten zwei Wagen, die kurz nacheinander angelangt waren. Der erste, der eine Viertelstunde früher kam, war auch zuerst von dem Posten zurückgewiesen worden, aber sein Insasse wollte sich durchaus nicht in die ihm auferlegte Nothwendigkeit finden; leider verstand er kein Deutsch, die betreffenden Soldaten kein Englisch, man mußte also seine Zuflucht zu einem beiderseitig sehr mangelhaften Französisch nehmen, das die Unterhandlungen endlos erschwerte und verlängerte. Indessen hatte es der Fremde, der sich auf seine Papiere berief, doch endlich durchgesetzt, daß man versprach, die Sache dem betreffenden Officier zu melden, und er trat eben, noch erhitzt von dem Gespräch, mit finsterer Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen aus der Thür des Wirthshauses, als der zweite Wagen vorfuhr, aus dem gleichfalls ein Herr stieg, der sich dem Hause näherte. Die Augen der Beiden begegneten sich und ein Ausruf der Ueberraschung brach gleichzeitig von Beider Lippen.

„Mr. Atkins!“

„Henry!“

„Wie kommen Sie hierher?“ fragte Alison, der sich zuerst von seinem Erstaunen erholte.

„Von N. Und Sie?“

„Direct von Paris! Ich wagte nicht länger dort zu bleiben, es scheint Ernst zu werden mit der Belagerung. Aber ich werde hier aufgehalten, man verweigert mir die Fortsetzung der Reise.“

„Auch uns läßt man nicht passiren.“

„Uns?“ wiederholte Alison langsam. „Sie sind nicht allein?“ Und von einer plötzlichen Idee durchblitzt fügte er hastig hinzu: „Ich will doch nicht hoffen, daß Miß Forest sich in Ihrer Begleitung befindet?“

„Allerdings ist dies der Fall.“

(Fortsetzung folgt.)
[329]

Schloß Klenau.
Nach der Natur aufgenommen von Ernst Heyn.

[330]

Aus der Wandermappe der Gartenlaube.
Nr. 9. Klenau in Böhmen.


Bald wird einer jener vielen stillen Erdenwinkel, welche, ungeachtet ihrer poetischen Naturschönheiten, noch viel zu wenig bekannt sind, in das große europäische Schienennetz eingezogen und wo, angeregt durch Stifter’s herrliche Studien, bisher nur vereinzelte Wanderer den südwestlichen Theil des schönen Böhmerlandes besuchten, wird bald die Locomotive mit eleganten bequemen Waggons den modernen Touristenschwärmen ein neues, dankbares Ziel für ihre Sommerausflüge rasch erreichbar machen. Daß wir mit diesem Ziele den sogenannten Böhmerwald sammt seinen grünen Höhenzügen und trauten Thälern, seinen von Sturzbächen durchrauschten Schluchten und düster schönen Seen meinen, werden unsere Leser aus der obigen Erinnerung an Adalbert Stifter, den poetischen Touristen des Böhmerwaldes, errathen haben. –

Wir behalten uns vor, in einer Reihe von Skizzen die dankbarsten Partien besonders zu beschreiben, und wollen heute mit einem der schönsten und romantischsten Fleckchen, das zugleich der lohnendste Anfangspunkt auf der böhmischen Seite ist, beginnen.

In dem durch seine liebliche Schönheit bekannten Angelthale, ungefähr in der Mitte zwischen Klattau und dem Hohenzollernschen Schlosse Bistritz, erhebt sich bei Janowitz aus der Thalsohle ein etwa fünfundzwanzig Klafter hoher Hügel, zu dem eine Fahrstraße hinanführt, – von dieser Seite gesehen, verräth Nichts, daß auf der waldigen Höhe neben einem ausgedehnten bewohnten Schlosse eine der interessantesten Burgruinen Böhmens, die Ruine Klenau, die Perle des Angelthales, thront. Erst auf halber Höhe erblickt man zwischen den Bäumen einige Mauerreste, welche jedoch beim Eintritt in das den Hügel umgebende Gehölz dem Blicke entschwinden. Wenn man den Fahrweg im nun betretenen Wildparke verfolgt, wird man bei einer Biegung des Weges durch den Anblick auf imposante Ringmauern überrascht, und nach wenigen Schritten gelangt man unter dem Laubdache mächtiger alter Bäume zur Thoreinfahrt; links vom Thore breitet sich eine von herrlichen alten Linden und Kastanienbäumen beschattete Plattform aus, und angebrachte Sitze laden zur Rast ein; das Plätzchen ist zu verlockend und reizend, um nicht einige Zeit hier zu träumen; rechts von uns die dunkle Thoreinfahrt neben den mächtigen altersgrauen Wällen, bekränzt und umsäumt mit dem frischen Grün der Bäume, in deren Schatten sich Sage und Wirklichkeit nebelhaft verschmolzen haben, glauben wir, in die Zeit des fehdelustigen Faustrechts versetzt, die Zugbrücke niederrasseln zu hören; schon vernehmen wir Pferdegetrappel, doch statt der gewappneten Reiterschaar kömmt eine moderne Equipage aus dem Thorwege und statt der rauhen Söldnerstimmen tönt aus dem Wagen das muntere Geplauder fröhlicher Kinder uns entgegen; aus unseren romantischen Träumereien wieder zur Wirklichkeit erwacht, treten wir durch das offene Thor in den ersten Burghof; links dehnt sich die lange Gebäudefront des bewohnten Schlosses aus, rechts ragen die malerisch imposanten Trümmer der Hochburg über die reichen Baumkronen empor.

Der ganze erste Burghof vor und neben der Hochburg, sowie die Basteien sind zu einem reizenden Garten umgestaltet; rechts neben dem Hauptthurme gelangen wir unter schattigen Bäumen zuerst zu dem von einem Eckthurme umschlossenen, in Felsen gesprengten sechsundzwanzig Klafter tiefen Brunnen, welcher das köstlichste Trinkwasser enthält; und weiterhin zu einem Aussichtspunkte, welcher das ganze herrliche Angelthal zwischen Klattau und Neuern vor unserem überraschten Blicke entrollt.

Nachdem wir uns mit Befriedigung von dem schönen Bilde wenden und nochmals den ersten Burghof durchschreiten, gelangen wir durch einen zweiten alterthümlichen Thorweg in den oberen Burghof. Mahnte uns auch im ersten Burghofe das bewohnte Schloß und die Gartenanlagen an die Gegenwart, so finden wir uns hier im oberen Burghofe mitten in das graue Mittelalter versetzt; links das alte Schloß, ein alterthümliches einstöckiges Gebäude, knapp daran der drei Stockwerke hohe Wartthurm, ein zweiundzwanzig Quadratklafter umfassendes Viereck mit dem achtzehn Klafter tiefen Burgverließ; rechts eine ganze Front mächtiger Trümmer der alten Hochburg; noch wenige Schritte und unser Blick wird von der pittoresken Schönheit der Südfront der Hochburg gefesselt.

Am östlichen Flügel dieser Seite erhebt sich ein halbrunder massiver Hauptthurm, von dessen Zinnen sich unseren Blicken einer der herrlichsten Aussichtspunkte darbietet. Weit in der Ferne begrenzen die Höhenzüge des Böhmerwaldes mit dem imposanten Ossen und dem langgestreckten hohen Bogen unsern Gesichtskreis; näher vor und unter uns entfaltet sich ein ebenso liebliches als malerisch gruppirtes Landschaftsbild; bewaldete Bergkuppen und Lehnen, von schönen Thälern unterbrochen, da und dort Kirchlein mit Dörfern und Weilern aus den grünen Wald- und Wiesenmatten hervorlugend, so senkt sich sanft von den Höhen des Böhmerwaldes die Landschaft bis vor uns, um weiterhin mit der reizendsten Idylle abzuschließen.

Steigen wir wieder hinab von diesem Aussichtspunkte, so bleibt uns noch eine lange Wanderung durch alle die alten Ruinen und Reste; nachdem wir die merkwürdige sogenannte Hussitencapelle mit ihrer schönen Fernsicht, die westliche Seite der Hochburg und die gut erhaltenen Gemächer im alten Schlosse besucht haben, führt uns ein kleines Pförtchen zwischen dem neuen und alten Schlosse in den Burggraben; dieser Theil ist eine der herrlichsten Partien in dem kleinen Tempe; die lichte Dämmerung, mit der die Sonnenstrahlen, gebrochen durch das goldig grüne Blätterdach alter Ulmen und Linden, uns umweben, die epheuumrankten alten Mauern, die vielen so unendlich anmuthenden lauschigen Plätzchen dieses Burggrabens, dies Alles übt einen so poetischen Zauber auf uns aus, daß wir in den verschlungenen Pfaden, über uns das dichte Laubgewölbe, unwillkürlich an Dornröschen denken und bei jedem Schritte zu den schlafenden Knappen und Rüden zu gelangen glauben.

Wir treten aus diesen lauschigen Gängen, erfrischt an Herz und Gemüth, heraus, um den großen rings um die Ruine im Walde angelegten Park zu durchwandern, und werden auch hier mit überraschend schönen Aussichtspunkten abwechselnd mit den reizendsten Waldpartien erfreut. Zurückkehrend in das Schloß machen wir von der freundlichen Einladung, das neue Schloß zu besuchen, gern Gebrauch und finden einen ebenso gemächlich wie gemüthlich eingerichteten Landsitz; was uns aber besonders hier anzieht, sind wieder die wunderschönen Landschaftsbilder, welche sich hier durch die Fenster der Hauptfront dem freudig überraschten Auge darbieten.

Wir scheiden mit inniger Befriedigung von Klenau, denn wir kennen wenige Punkte in unserem schönen Vaterlande, wo Poesie und Romantik in so trauter Verbindung eine so liebliche Stätte haben. Möge dieses reizende Tusculum immer so gehegt und erhalten bleiben, wie wir es fanden! dann wird kein Wanderer mit Herz und Gemüth ohne wahrste Freude dieses Stück Vergangenheit, umsponnen voll allen Naturschönheiten, verlassen. –

Die älteste Geschichte der später in den Annalen Böhmens so berühmt gewordenen Burg Klenau ist in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt: nur so viel ist gewiß, daß die Burg bereits in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts bestand, denn damals gehörte sie schon urkundlich den Rittern von Klenau, und Miloslaus de Klenovy ist der erste urkundlich bekannte Gebieter dieser Veste, der dieselbe unter König Wenzel dem Zweiten besaß. Die Nachkommen dieses Miloslaus de Klenovy wurden fast alle Przibik getauft; unter ihnen that sich namentlich Einer durch Kriegsruhm und Thatendurst hervor, Przibik der Vierte von Klenau, welcher die väterliche Burg in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts beherrschte, also in der bewegtesten Periode der Geschichte des böhmischen Volkes, während der Hussitenkriege. Er war einer der ersten Ritter, die auf die Seite der Taboriten traten, Aeneas Sylvius, der ihn persönlich kannte, schilderte ihn mit folgenden gehässigen Worten: „je mehr er unter den Ketzern durch Gelehrsamkeit und Beredsamkeit hervorragte, desto grausamer und treuloser war er.“

Am St. Wenzelstage im Jahre 1426 bemächtigte er sich plötzlich mit nur zehn Reitern der Stadt Mies. Im Juli des nächsten Jahres schlug Przibik die in Böhmen eingedrungenen Deutschen, als sie Mies belagern wollten, mit nur zweihundert Mann Besatzung mit blutigen Köpfen zurück, focht später auch in der großen Schlacht bei Riesenberg und züchtigte den buschklepperischen Nachbarritter Habart von Hradek, dessen Raubnester Lopota (im [331] Pilsener Kreise) und die Burg Hus (im Prachiner Kreise) er zerstörte.

Acht Jahre später ging Prizibik von den Taboriten zu den Katholiken über und focht an deren Seite in der berühmten Schlacht bei Lipan. An allen Wirren des langjährigen Interregnums, welches dem Tode des Kaisers Sigmund folgte, nahm er wesentlichen Antheil, und lebte außerdem mit den benachbarten Bayern in beständiger Fehde.

Seine letzten Tage brachte Przibik auf Klenau zu, fand aber auch jetzt noch nicht die ersehnte Ruhe; denn der König Georg von Podiebrad zwang ihn, die eroberte Stadt Mies, die Przibik bisher in ununterbrochenem Besitz hatte, an Jost von Rosenberg abzutreten. Er starb im Januar 1465 auf Klenau und wurde im Dominicanerkloster zu Klattau vor dem Hochaltar an der Seite seines früh verstorbenen Sohnes beigesetzt. Sein Enkel trat schon gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die Herrschaft und Burg Klenau an den berühmten böhmischen Herrn und nachmaligen Oberstburggrafen von Prag, Zdenek Lew von Rozmita und Blatna ab, von diesem ging Klenau an dessen Sohn Adam Lew von Rozmital und Blatna über.

Ob und wann die Burg Klenau jemals belagert, eingenommen und zerstört wurde, oder ob die jetzt bestehenden malerischen Ruinen nur dem Zahn der Zeit und der Vernachlässigung ihre gegenwärtige Form verdanken, ist nicht sicherzustellen, da historische Nachweise hierüber fehlen; – doch berechtigen die große Menge steinerner Kugeln, welche beim Aufbau des neuen Schlosses im Schutte gefunden wurden, zu der Annahme, daß die Burg durch Belagerung gelitten haben mag.

Ueber die wahrscheinlichen Erbauer der Burg der Ritter von Klenau ist endlich noch sichergestellt, daß dieselben einem der ältesten Adelsgeschlechter Böhmens entstammen, wenigstens wird ihrer Vorfahren schon in dem ältesten Denkmale der böhmischen Dichtung, in der Grüneberger Handschrift, ruhmvolle Erwähnung gethan.
C. N.

Der Kriegs-Weihnachtsbaum der deutschen Kinder.

Wir haben in mehreren der letzten Nummern des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ unseren Lesern Vorläufiges über die erhebenden Erfolge der „großen Bitte“ mitgetheilt, welche Dr. Friedrich Hofmann Mitte November „an alle deutschen Kinder“ gerichtet hatte. Von allen deutschen Orten gilt, was damals aus Wismar geschrieben wurde: „Bei den hiesigen Sammlungen sind wahrhaft rührende Scenen vorgekommen: ganz arme Kinder brachten ihr Scherflein, wenn es auch nur wenige Pfennige waren. So ein deutsches Kinderherz ist doch schön; möge dasselbe den Kindern und uns Allen recht lange erhalten bleiben!“ – Und wie köstlich haben die Kinderchen selbst in ihren Briefchen theils an den „lieben Onkel Keil“, theils an den „guten Herrn Doctor“ diese braven Kindesherzchen sprechen lassen! Der deutsche Patriotismus tritt uns in seiner schönsten Erscheinung bei Frauen und Kindern entgegen, und so sind es auch hier die patriotischen Beziehungen, die Sorge, den armen deutschen Kindern, welche um ihren Vater zittern oder gar schon weinen müssen, ihre liebevolle Hülfe, und den Altersgenossen im Elsaß und in Lothringen zu ihrer Wiederkehr in’s alte Vaterland die deutschen Bruder- und Schwesternhändchen zu reichen, welche die herzigsten Aeußerungen hervorgelockt haben.

Vier Geschwisterchen in Weimar sparten ihre Frühstücksdreier, um ihrem Gruß aus Thüringen nach Straßburg auch einen „heiligen Christ“ beilegen zu können. Wie viele Kinder wohlhabender Eltern haben ihre Sparbüchsen ganz und gar geleert oder, wie die Brüder Karl und Otto in Ohrdruf, O. T. aus Z. u. v. A. ihre Weihnachtsthaler hergegeben, um der Aufforderung der Gartenlaube nachzukommen; denn alle fühlten sich geehrt als deutsche Kinder, und in dieser Ehre wollte keines dem Andern nachstehen. „Für die armen Kinder jenseits des Rheins drei kleine Anhaltiner.“ Auch von Kindeshand, kurz und gut. Die erste Gabe kam von vier Geschwistern in Bockenem, die Kinderchen schreiben an die kleinen deutschen Schwestern und Brüder in Elsaß und Lothringen ihren Gruß selbst, die Absendung besorgt aber „eine deutsche Mutter“, und man sieht dieser Unterschrift den Stolz von 1870 an. Das kleine Mariechen R. in Hamburg schreibt aber selbst zu ihrem Thaler: „Lieber Onkel Keil! Kaufe hierfür einem armen Soldatenkinde etwas.“ Eine Troppauerin, die in Wologda wohnt, schickt zwanzig Rubel aus der Sparcasse ihres kurz vorher im sechszehnten Jahre verstorbenen Töchterchens Leona und schreibt dazu: „Die Siege unserer tapfern Deutschen sind meine erste Freude seit dem Tode unseres geliebten Kindes.“ Aus Neapel kam eine „Sammlung der Schoch’schen Kinder zu einem Weihnachtsbaum für die Waisen des Kriegs“ mit einem prächtigen Briefchen vom kleinen Arnold Schoch „an meine liebe Gartenlaube“ – und eine reiche Sammlung vom Director der deutschen Schule in Neapel, dem Dichter W. Kaden. Sogar in Bukarest sorgt die kleine Hermine mit ihren Geschwistern und ihrer deutschen Köchin für die wieder deutsch gewordenen Kinder in Elsaß-Lothringen.

Viele Einsendungen geschehen durch die Lehrer, und da wiederholt sich’s oft: „Es ist wenig, aber von der Armuth gegeben und zwar mit Freuden!“ – ebensoviele durch die Classen-Ersten in Knaben- und Mädchenschulen, und das sind dann meist sehr sauber und lieb geschriebene Briefchen – und welche Unterschriften! „Seien Sie, freundlicher Herr, herzlich gegrüßt von den Schülerinnen der dritten (und auch von der ersten) Mädchenclasse der evangelischen Stadtschule zu Hirschbera in Schlesien. – Ihre Sie liebende Mathilde.“ – Auch das Alter wird angegeben: „Johannes Unger, neun Jahr alt.“ – Auch traurige Unterschriften kamen, wie „ein kinderloser Kinderfreund“. Mann, jetzt giebt’s „elternlose Waisen“ genug, kann Dir da nicht geholfen werden? – Und welch prächtige Kinderbriefe – und wie viele! – kommen aus Oesterreich her. Da steht’s mit den großen Buchstaben: „Zum heiligen Christfeste den armen Waisenkindern aus unsern Sparbüchsen! Hermann und Gertrud aus Prag.“ Und da: „Sind es auch nur kleine Gaben, ist’s doch Alles, was wir haben! Gustav und Matzi“, auch aus Prag. – Die Mecklenburger sind hier so tüchtig dabei, wie ihre Großväter im deutschen Kampf 1813 bis 1815! – „Mehrere junge Mädchen in Ostpreußen“ bringen sogar siebenzig Thaler auf einmal. Der Humor spielt ebenfalls mit: „Nehmen Sie gefälligst auch das Scherflein eines siebenundsechszigjährigen Kindes.“ – Zwei Thaler von fünf Kindern in Bregenz, Vorarlberg! –

Hie und da, zum Beispiel zu Oberhof in Thüringen, haben die Schulkinder das Bescheerungsgeld durch Gesangaufführungen erworben. Ebenso in Bunzlau. Aus Gotha schicken zehn Enkel ihr großmütterliches Weihnachtsgeschenk. Eine Trauernde sendet die bis dahin treulich aufbewahrte Sparbüchse ihrer kleinen seligen Elly, gewiß die schönste Verwendung, welche eine deutsche Mutter mit dem Erbe ihres todten Lieblings machen kann. Die Schulkinder von Hellingen (bei Hildburghausen) schreiben: „Manches arme Kind, dem vielleicht selbst zu Weihnachten kein Lichtlein am Baume brennt, hat gern und willig sein Scherflein beigetragen.“ Lehrer Bolte schreibt aus Seifertshausen beim hessischen Rothenburg: „Die schöne echt deutsche Sitte des Weihnachtsbaums ist den meisten Kindern unseres entlegenen Walddorfs nur von Weitem, aus dem Pfarr- und Schulhause, bekannt, und Sparbüchsen hat auch kein einziges Kind meiner Schule, denn das Dorf ist sehr arm, aber doch sind wir an’s Sammeln gegangen für den Christbaum unserer Wehrleute.“ „Eine deutsche Mutter“ sendet drei Thaler „zum ersten Christbaum für unsere Kinder in Elsaß und Lothringen.“ – Eine Andre möchte sich durch ihre Gabe „ein Kindesherzchen des Elsaß gewinnen.“ – Kasseler Bürger haben aus den Überschüssen ihrer Sammlung für ein Christfest der Kinder ihrer ausmarschirten Krieger noch hundert Thaler für die Straßburger Kinder bestimmen können. – Auch „eine alte Großmutter“ hat noch so ein junges Herz, daß sie drei Thaler schickt. Die kleine Cäcilie in Dresden hat ihr liebstes Spielzeug verkauft und schickt den Erlös für die Straßburger armen Kinder. – Die kleine Anna zu Berne in Oldenburg giebt einen Theil ihrer Weihnachtsgeschenke für sie her. – Max H. brachte selbst, die helle Freude im lieben Gesicht, seinen Weihnachtsthaler in die Redaction der Gartenlaube und zwar als eine Gabe „aus eigener Kraft!“ –

P. V. in Halle schickt seinen eigenen Christbaum für einen [332] armen Knaben im Elsaß: „Ich werde den Weihnachtsabend dafür, auch ohne Christbaum, doppelt vergnügt sein.“ Die Mädchen der Selectaclasse in Oelsnitz schrieben selbst ein liebevolles Briefchen an ihre „lieben Brüder und Schwestern in Straßburg“. Toni, Therese und Marie Gerhard schicken aus ihren Sparbüchsen zehn Gulden für die armen Kinder, weil sie selbst sich so sehr auf das Christfest freuen. Und die Mutter schreibt unter das Briefchen: „Möge Gott meinen Kindern auch im Auslande ein warmes deutsches Herz erhalten!“ – Aus Südrußland schickt ein deutscher Knabe zehn Rubel und schreibt dazu: „Ich möchte auch so gern in Deutschland sein, wo die meisten Leute denken und sprechen wie Sie, werther Herr Doctor, und wo es so schön, schön sein soll! Aber meine Mutter will mich noch nicht fort lassen, weil ich erst zehn Jahre alt bin, und doch möchte ich lieber in einer deutschen Schule lernen, als im hiesigen Gymnasium, wo meine Mitschüler mich auslachen, wenn ich von den deutschen großen Siegen spreche. Aber mögen sie lachen, ich lerne das schöne Lied von Emil Rittershaus und sage auch: Glückselig, glückselig, ein Deutscher zu sein!“ – Mit Bleistift, wie sich das Händchen in der Elementarclasse übt, von Hans und Grete aus Dorneichenberg: „Fir die armen Kinder zu Weinachten aus unserer Sparbikse.“ Der kleine Hugo Lenck in Passau schickt von „ihrer acht“ Geschwistern acht Thaler und schreibt: „Sie können sich denken, daß, wo drei Buben und fünf Dirndl, die alle Gottlob kerngesund sind und die viel Hunger und Durst haben und obendrein eine Masse Kleider herunterreißen, das sehr viel sein will.“ Die Kinder haben sich ihre Geburtstagsthaler auf ein Jahr voraus geben lassen, daher die Summe. „War das nicht schlau?“ Freilich, liebster braver Hugo!

Wir müssen, um Wiederholungen zu vermeiden, auf unsere oben angegebenen früheren Bescheerungsnotizen hinweisen, namentlich hinsichtlich der wahrhaft großartigen Gaben einzelner bedeutender Spiel-, Porcellan- und Glaswaarenfabriken und Handelsgeschäfte in Nürnberg, Memmingen, Sonneberg, Görlitz, Scheibe bei Alsbach in Thüringen, Olbernhau, Neustadt bei Koburg, Pösneck, Köthen etc. etc. Leider ist der Gedanke der eifrigsten werkthätigen Teilnehmerin an dem Unternehmen, der Frau Louise Schünemann in Magdeburg, daß „ein großer, großer Extrazug voll Bescheerungsgaben“ nach den neuen Reichsprovinzen abgehen sollte, diesmal nicht ausführbar gewesen; ihre zweihundertsechszig herrlichen Puppen sind aber unter die kleinen Mädel von Straßburg und Kehl brüderlich getheilt worden. Die Schulmänner haben größtentheils die patriotische Bedeutung der Kinderthat, zu welcher Hofmann’s „große Bitte“ anregte, besonders hoch gehalten; ein deutscher Pfarrer – und zwar ein Siebenbürger – nennt sie „den herrlichsten Commentar zu Marc. 9, 37“, und Lehrer Lesensky in Schwerin sagt: „Deutsches Vaterlandsgefühl in den Herzen auch der deutschen Mädchen zu beleben und zu pflegen, nicht blos durch das belehrende Wort und die Erzählung der vaterländischen Geschichte, einer Geschichte ohne Gleichen, sondern auch durch Gelegenheitsuchen und -Geben, sich – ob auch nur in kindlicher Weise und Kraft – thätig in des Vaterlandes Dienst freiwillig zu stellen: das war und ist mein Hochziel, wie ich den Beruf eines deutschen Lehrers verstehe.“ – Viele Kinder hatten bei dem Vorlesen der „Bitte“ geweint, schreibt der Siebenbürger, und Pfarrer Eckstein in Tiefenort schreibt: „Kaum hatten die kleinen Mädchen Hofmann’s Aufruf gelesen, als sie mir auch schon alle ihre Sparbüchsen brachten, damit ich den Inhalt für die deutschen Waisen und die armen Kinder in Elsaß und Lothringen verwenden solle.“ Ein vierjähriges deutsches Mädchen zu Charkow in Rußland sandte auch sein Ersparniß. Und obwohl ausdrücklich nur die Schulkinder dieses Fest im alten und wieder neugewonnenen Deutschland bereiten sollten, so kam doch auch ein „Hemdeläuterchen“, das güte Jörgel aus Breslau, herbei und brachte seinen Thaler, den es gerade in den Händchen halten konnte. Aus Labiau rufen die Kinder den kleinen Elsaß-Lothringern zu:

„Und wenn es wieder Weihnacht ist,
– O wär’ es doch kein Traum! –
Dann ist vorbei der Väter Zwist,
Wir tanzen um den Baum –

Um einen Christbaum, hell und groß,
Für Jedes gleich geschmückt,
Aus einer großen Mutter Schooß
Beschenkt, und gleich beglückt!“

Wie leid thut es Einem, daß man nicht alle diese lieben, kleinen herzigen Briefchen abdrucken lassen kann! Und ob sie sich in dem Ausdruck ihrer Theilnahme namentlich für die neuen deutschen Spielgenossen in Elsaß und Lothringen auch natürlich alle wiederholen, so ist’s doch eine Lust, jedem einzelnen Kinde dabei in die schön erregte Seele zu blicken. Solche Kinder versprechen unserem Vaterlande eine herrliche Zukunft!

Was wird jetzt, wo die erste bitterste Erregung über das Schicksal Straßburgs durch die Belagerung doch wohl im Hinblick auf die so grauenvoll zu Tage getretenen französischen Zustände sich besänftigen konnte, was wird jetzt jene „Straßburgerin“ zu den Liebesäußerungen unserer Kinder sagen? Damals, am vierten December, schrieb sie „Herrn Dr. Hofmann“ als elsässische Antwort auf seine „große Bitte an die deutschen Kinder“ u. A.:

„Ich bitte, verschonen Sie unsere armen Kleinen mit Ihren Liebesgaben, bleiben Sie ihnen ferne mit dieser Brüderschaft; sie glauben Ihnen auf Ihr Wort, daß die deutschen Kinder gut und glücklich sind, und sehen vielleicht einst, wenn sie das Mannesalter erreichen, ob diese deutschen Kinder ihren Vätern in instruirter Barbarei gleichkommen. Unterdessen haben Sie kein Recht, die friedliche Weihnachtstanne bei uns aufzupflanzen; sie wäre zu sehr mit Blut getränkt; aber eine Saat haben Sie ausgestreut, die Wurzel faßt und täglich mehr verspricht. Wir wissen nun, was es heißt ‚Hassen‘, und wir können unsern Kindern nicht verwehren, es von uns zu lernen. …“

Das Gefühl, das den ganzen Brief dictirte, gewinnt uns trotz alledem Achtung ab: es ist die deutsche Treue, die durch Deutschlands Schuld sich nach Frankreich verirrt hat und nun dort ihr Vaterland vertheidigt und beweint. Ebendeshalb haben wir den Handschuh aufgehoben, den diese Straßburgerin uns hinwarf, und unbeirrt von Grollen und Schmollen, auf das wir gefaßt sein mußten, das einmal Begonnene durchgeführt.

Nach Straßburg schickten wir zweitausend Franken und drei große Kisten Bescheerungswaaren, darunter die eine der Frau Louise Schünemann in Magdeburg und die andere aus Memmingen; die dritte war mit den von deutschen Kindern ganz besonders für ihre lieben neuen Straßburger Cameraden bestimmten Gaben angefüllt. Zuschriften von dort hatten uns zwar belehrt, daß unsere feindselige „Straßburgerin“ mit ihrem „Haß“ gegen alles Deutsche nicht allein stand: man schrieb uns sogar: „Von ‚deutschem Weihnachtsbaum‘ oder ähnlichen Anspielungen auf künftige Volksgemeinschaft darf jedoch dabei leider noch nicht die Rede sein.“ Das war zu Anfang December. Paris hielt sich damals noch und hinter Belfort sammelte sich ein mächtiges Heer, auf das alle Französischgesinnten im Elsaß ihre Hoffnung setzten. Diejenigen, welche ihre deutschen Sympathien zu offen gezeigt, geriethen zeitweise in mißliche Lage. Dies Alles darf Man nicht vergessen, wenn man nicht ungerecht über obige Bedenklichkeiten urtheilen will.

Trotz alledem wird der deutsche Geist, der in dem Kinderfest der Weihnacht selbst liegt, schließlich über alle politische Rücksichten und Aengstlichkeiten siegen. Die Freude der Kinder hat jetzt schon vermocht, was wir ihr zu getraut, sie hat Versöhnung gepredigt – und das war für diesmal genug. In Straßburg konnten dreitausend Kinder sich der deutschen Liebesgaben erfreuen und Kinder und Eltern werden gewiß gern an diesen ersten deutschen Friedensgruß zurückdenken. – Nach dem vom Kriege ebenfalls hart mitgenommenen Fröschweiler schickten wir hundert Thaler und eine große Kiste Christgeschenke, und eine Bescheerungskiste mit einer Beilage von zweihundert Franken baar kam nach Schlettstadt. – Für eine Anzahl elsässischer und lothringischer Orte hatte der wackere Pfälzer Buchhändler und opferfreudige Vaterlandsfreund Ed. Witter in Neustadt an der Haardt die Besorgung unserer Gaben übernommen, und die uns zugegangenen Berichte von dort bezeugten, daß dies meist mit Glück geschehen war. In Lützelstein besorgte der protestantische Pfarrer für einundzwanzig Kinder seiner Gemeinde eine Anzahl Blousen, Hemden, Schürzen, Hosen etc., und bei der Bescheerung betonte er namentlich das Zusammengehören der Elsässer mit den Deutschen und die Liebe und das zarte Gefühl der deutschen Kinder, deren Liebeswerk in der That viel dazu beigetragen habe, die Wunden des Krieges, im Lande zu heilen. – In Weißenburg verbanden die deutschen Beamten ihre Sammlung mit unserer Kindergabe und veranstalteten eine Christbescheerung für die hundertvierzig ärmsten [333] Kinder der ersten Siegesstadt dieses Kriegs. – In Pfalzburg besorgte Forstmeister Schirmer von Zabern ein Neujahrsfest für die armen Kinder, bei welchem Kleidungsstücke und baar Geld zur Vertheilung kamen. Auf den Wunsch des Maires hatte man es auch da vermieden „eine Festlichkeit zu veranstalten, welche ohne Zweifel das Gefühl der Bevölkerung verletzt haben würde.“ Aus demselben Grunde zog man auch in Zabern eine Geschenkvertheilung in der Kinderschule dem noch zu ostensiblen deutschen Christfest vor. – Dagegen strahlte die deutsche Weihnachtstanne in voller Pracht in der Festung Marsal. Dort hatte der Commandant, Artilleriehauptmann Metz, im Verein mit dem Maire und der Oberin der barmherzigen Schwestern vom Orden St. Charles, die Sache in die Hand genommen und schreibt uns darüber: „Mit Freuden unterzog ich mich dem Auftrage, den armen Kindern Marsals einen freudigen Abend zu bereiten, welcher Auftrag so recht von dem gutherzigen deutschen Sinne zeugt, der in unseren Kleinen genährt wird und so zum herzlichen Ausdrucke kam … Am Abend des ersten Januar wurden die Kleinen im Saale des ‚Kinderasyls‘ versammelt; ich hatte einen prächtigen Christbaum in den Festungsanlagen fällen lassen, und es war derselbe getreu unserer heimathlichen Sitte behängt und geziert worden, – wohl der erste, der seinen Glanz hier auf französischem, nun bald deutschem Boden ausstrahlte. Viele der Eltern und wir Officiere der Garnison wohnten dieser für uns so wohlthätigen nachträglichen Weihnachtsfeier bei; wir sahen nur glückliche, freudige Kindergesichter und aufrichtigen Dank in den Mienen der Eltern. Wohl manches Jahr werden die Kleinen Marsals sich dieses Abends gern erinnern.“

Ebenso erfreulich lauten die Nachrichten aus Diedenhofen. Wenn auch der dort fungirende Vicar, ein Deutscher, Das, was er über die Sitte und Bedeutung des Christbaums in Deutschland erzählte, den Kindern in französischer Sprache vortragen mußte, weil diese, seit Jahren als Unterrichtssprache eingeführt, ihnen allein verständlich ist – so schließt der Unterpräfect seinen deutschen Bericht doch mit den Worten: „Der deutsche Weihnachtsbaum und die schöne Sitte der Christbescheerung an arme Kinder wird sich in diesem, Deutschland zwar entfremdeten, aber fortan angehörigen Lande nach diesem Vorgänge hoffentlich wieder einbürgern. Auch übernahm ich es gern, den Dank der beschenkten Kinder an die kleinen Cameraden in Deutschland zu vermitteln, mit denen sie, so Gott will, auch ferner gute Cameradschaft halten werden.“

Endlich waren auch für die kleinen armen Deutschen und Franzosen in Metz hundert Thaler von uns abgeschickt, die, nach den schriftlichen Versicherungen des Herrn General-Gouverneurs von Lothringen (General der Infanterie, Herrn von Bonin) und des Herrn Präfecten von Deutsch-Lothringen (Grafen Henckel-Donnersmarck), im Sinne der Geschenkgeber verwendet worden sind.

Mit diesem Erfolge ihrer Liebessorge für Elsaß-Lothringen müssen unsere Kinder sich zufrieden stellen, und sie können es: für die Kürze der Zeit ist das Mögliche gethan worden. –

Dasselbe gilt für, die Bescheerungen der Wehrmannskinder in Deutschland. Größere Sendungen von Geld und Bescheerungskisten kamen nach Kehl, Oberwiesenthal im Erzgebirge, dem preußischen Schmiedefeld auf dem Thüringerwald, Marienwerder in Preußen und an die sächsischen Dörfer, welche die Mannschaften zu den 106., 107. und 108. Regimentern lieferten, die vor Paris in den Decembergefechten so furchtbar gelitten hatten. Nicht weniger bedeutend waren die Gaben an Geld und Bescheerungsgegenständen, welche vereinzelt mehreren hundert besonders bedürftigen Frauen oder Waisen von Landwehrmännern zugetheilt wurden. Der Gartensalon des Gartenlaube-Hauses war bis zum Weihnachtsfest ein kleiner Bazar, in welchem tagtäglich Kistchen und Päckchen gepackt, und nach allen Himmelsrichtungen versendet wurden.

Im Ganzen waren eingegangen einundsiebenzig Sendungen von Kisten, Säcken und Packeten an Bescheerungsgaben und dreihunderteinundvierzig Geldsendungen im Gesammtbetrag von 2044 Thlr. 8 Ngr. 3 Pf. – und dies Alles der Erfolg der „großen Bitte“ in wenigen Wochen.[1] Freut Euch, Ihr Kinder, Ihr habt Eure Sache brav gemacht! –

In Deutschland dürfen wir die Sorge für den Christbaum der Armen in diesem Sieges- und Friedensjahre den Erwachsenen allein überlassen; dagegen sollten die deutschen Kinder ihre Versöhnungsarbeit im neuen Reichslande jenseits des alten deutschen Rheines nicht nach dem ersten Versuche schon aufgeben. Denkt an den Fehdehandschuh, Ihr deutschen Kinder, den Euch jene erzürnte „Straßburgerin“ hingeworfen. Wir heben ihn auf und halten fest zusammen, denn es muß sich ja endlich doch einmal entscheiden, was stärker ist und was in Elsaß-Lothringen siegen wird, die deutsche Liebe oder der französische Haß.


Der See von Oeningen.

Wer schon Gelegenheit hatte, ein größeres Naturaliencabinet nicht blos flüchtig durchzusehen, erinnert sich vielleicht noch an jene gelblichweißen Kalksteintäfelchen, welche sehr deutliche und bis zu der feinsten Nervation wohlerhaltene Abdrücke von Baumblättern der mannigfaltigsten Formen zeigen, oder auf denen versteinerte Käferchen, Fliegen oder Ameisen, zuweilen auch wunderschön erhaltene Fischchen zu sehen sind. Alle diese feinen Versteinerungen stammen aus den berühmten Steinbrüchen von Oeningen. Es ist bis jetzt kein zweiter Fundort bekannt, der sich in Bezug auf Reichhaltigkeit und gute Erhaltung der versteinerten Formen mit Oeningen messen könnte, und deshalb fehlen diese Versteinerungen in einer größeren Naturaliensammlung gewiß selten.

Schon lange bevor man den wahren wissenschaftlichen Werth der Versteinerungen würdigen konnte, wurden auch die Oeninger Funde als Raritäten aufgehoben. Es werden besonders die Mönche des ehemaligen Augustinerklosters zu Oeningen als Sammler bezeichnet, und ein Züricher Gelehrter, Namens Scheuchzer, der zu Anfang des vorigen Jahrhunderts lebte, beschrieb mehrere Oeninger Funde auf eine recht ergötzliche Art. Derlei Sachen hielt man damals für treffliche Belege zur mosaischen Schöpfungsgeschichte; Scheuchzer glaubte sogar das Skelet eines bei der Sündfluth ertrunkenen Menschen aufgefunden zu haben und wurde dadurch auf’s Höchste begeistert, und dieser Begeisterung verdanken die Gläubigen eine recht erbauliche poetische Production. Scheuchzer redet den versteinerten Menschen mit folgenden Worten an:

„Betrübtes Beingerüst von einem alten Sünder,
Erweiche Sinn und Herz der neuen Bosheit Kinder!“

In späterer Zeit stellte es sich freilich heraus, daß Scheuchzer sich geirrt habe. Der berühmte Anatom Cuvier wies nämlich auf das Allerbestimmteste nach, daß der angebliche vorsündfluthliche Mensch eigentlich gar kein Mensch, sondern blos ein riesiger Salamander sei, der einst im Oeninger See gelebt hatte. Aehnliche Riesensalamander finden sich jetzt noch in den Gewässern von Japan und eines Theils von Amerika.

Oeningen liegt im südlichen Baden, in der Nähe des Bodensees, da wo der Zeller- oder Untersee allmählich in den Rhein sich verschmälert. Die Steinbrüche sind etwa eine halbe Stunde von Oeningen entfernt, der eine liegt etwa fünfhundertfünfzig Fuß, der andere siebenhundert Fuß über dem Spiegel des Bodensees. Die Brüche liefern Kalkstein und zum Theil dünnschiefrige Kalkmergel.

Die Versteinerungenkunde (Paläontologie) ist eine noch sehr junge, aber doch schon gut ausgebildete Wissenschaft; noch nicht gar lange hat man den wahren wissenschaftlichen Werth der Versteinerungen erkannt. Auch die Oeninger Fossilreste konnten [334] daher erst in verhältnismäßig neuerer Zeit genauer untersucht und richtig gedeutet werden. Viele Forscher haben an diesen Untersuchungen Theil genommen; einer der eifrigsten war wohl Professor Heer in Zürich, welcher die Oeninger fossilen Pflanzen und Insecten sehr ausführlich bearbeitete. Die Resultate dieser Untersuchungen geben uns ein getreues Bild von unserem Lande aus einer längst verflossenen Zeit; sie lehren uns, daß vor vielen, vielen Jahrtausenden, lange bevor der Mensch den Schauplatz der Schöpfung betrat, unsere Gegend mit einer Pflanzendecke bekleidet und von Thieren bevölkert war, wie man sie jetzt in ähnlicher Weise nur noch in Ländern der heißen Sonne antrifft.

Man hat bis jetzt in den Oeninger Steinbrüchen gegen fünfhundert verschiedene fossile Pflanzenarten und über neunhundert Thierarten entdeckt. Unter diesen ist nicht eine einzige Art, die mit einer jetzt lebenden vollständig übereinstimmte. Jedoch lassen sie sich meistens in jetzt lebende Gattungen einreihen und manche derselben haben in der heutigen Schöpfung sehr nahe Verwandte, die man aber in den meisten Fällen in wärmeren Zonen aufsuchen muß. Von den Pflanzen liegen meistens nur einzelne Theile zur Untersuchung vor, gewöhnlich nur Blätter; manchmal sind zwar auch noch Blüthen und Früchte erhalten geblieben. Genaue Vergleichungen dieser Ueberreste mit den jetztlebenden Pflanzenarten haben gelehrt, daß sie zum großen Theile von Holzgewächsen, Bäumen und Sträuchern herstammen, von welchen mindestens die Hälfte, über hundertfünfzig Arten, in einem immergrünen Laubschmucke prangten. Es ist mithin ein bedeutender Unterschied zwischen unserer jetzigen Flora und derjenigen, von welcher uns in den Oeninger Kalkmergeln ein Herbarium aufbewahrt wurde; denn in unsern Wäldern treffen wir jetzt keinen einzigen immergrünen Laubbaum mehr, alle verlieren vor Beginn des Winters ihre Blätter; höchstens ein paar minderwichtige Sträucher, wie die Stechpalme, der Epheu und die Mistel sind das ganze Jahr durch grün. Je weiter wir uns gegen Süden wenden, desto mehr nimmt die Zahl der immergrünen Holzgewächse zu, bis sie endlich die Oberhand gewinnen. Die Holzpflanzen, welche in jenen fernen Zeiten bei Oeningen wuchsen, verhalten sich demnach wie diejenigen der jetzigen warmen Zonen.

Die Oeninger Fossilreste stammen zum Theil von Sumpfpflanzen her oder gehören doch solchen Gewächsen an, welche einen feuchten Standort liebten. Ein anderer großer Theil weist dagegen mehr auf trockneren Waldboden hin. Die Ueberreste von Thieren stammen zum Theil von Landbewohnern her, aber auch eine Anzahl derselben sind von Wasserbewohnern. So findet man z. B. die Schalen von Teichmuscheln, Sumpfschnecken und eine Menge Reste von Fischen und Reptilien. Alles dies und die Art der Einhüllung der organischen Reste spricht für das frühere Vorhandensein eines Sees, an dessen seichten Ufern eine Menge von Sumpfpflanzen gedeihen konnten. Ein Fluß mag aus benachbarten Urwäldern eine Menge von Baumblättern in den See hineingeschwemmt haben, wo sie mit anderen Pflanzen und Thieren in feinen Schlamm eingehüllt und auf diese Art bis auf unsere Zeit vor der Zerstörung bewahrt wurden. Freilich war damals die Gestaltung des Landes eine ganz andere als heute. Das schweizerische Mittelland und ein Theil des angrenzenden badischen Gebietes waren damals ein zum Theil sumpfiges, von trägen Flüssen durchströmtes, niedriges Flachland. In der Geognosie bezeichnet man dieses Zeitalter, in welches der See von Oeningen fällt, mit dem Namen „Tertiärperiode“ oder noch specieller als miocene oder mitteltertiäre Stufe.

Gehen wir nun einige der wichtigeren Pflanzen- und Thierarten, welche im Oeninger See zur Ablagerung kamen, durch, so mögen etwa die Zimmet-, Kampher- und Lorbeerbäume, welche ohne Zweifel als große immergrüne Waldbäume an der Zusammensetzung der benachbarten Urwälder einen wesentlichen Antheil nahmen, zuerst unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Vom tertiären Zimmtbaum (Cinnamomum Scheuchzeri) finden sich bei Oeningen nicht blos Blätter, sondern auch Blüthen, Früchte und Zweige, die Rinde der letzteren taugt freilich nicht mehr dazu, unseren Hausfrauen das bekannte, geliebte Gewürz zu liefern; er hat in vielen Beziehungen große Aehnlichkeit mit dem jetztlebenden japanischen. Eine mit dem Zimmtbaum in dieselbe Gattung gehörende Art ist der Kampherbaum, als dessen Vetter oder Nachkomme wohl der heutige japanische Kampherbaum bezeichnet werden darf, mit dem er in vielen Punkten noch übereinstimmt. Von Lorbeerarten prangte hier der prachtvolle Laurus princeps mit Blättern von einem halben Fuß Länge und anderthalb Zoll Breite; er steht dem canarischen Lorbeer sehr nahe, welcher auf Teneriffa und Madeira den Hauptbestandtheil der immergrünen Wälder bildet. Der bemerkenswertheste der hiesigen Feigenbäume und eine besondere Zierde des Oeninger Urwaldes war wohl der lindenblättrige Feigenbaum, von amerikanischem Typus, mit prächtigen herzförmigen Blättern.

Interessant ist der große Reichthum an Eichen; es sind bis jetzt in den Oeninger Schiefermergeln nicht weniger als sechszehn Eichenarten aufgefunden worden. Darunter sind aber die jetzt bei uns einheimischen Typen nicht vertreten. Es sind durchweg solche mit lederartigen, zum Theil ganzrandigen, zum Theil dornig gezahnten Blättern. Ihre Verwandten finden sich heute in Amerika und den Mittelmerländern. Es scheint, daß die tertiären Eichenwälder etwas entfernt vom Oeninger See standen, denn ihre Ueberreste sind nicht gerade häufig. Eine Myrtenart kommt ebenfalls vor, zwar tritt sie im Gestein nur spärlich auf, aber diese wenigen Ueberreste beweisen doch, daß es den Jungfrauen unter den Scheuchzerischen Salamander-Menschen nicht ganz an Material zu Brautkränzen fehlte. Zu den häufigsten Vorkommnissen gehören die schönen gefiederten Blätter einer ausgestorbenen Holzpflanze, welche große Aehnlichkeit mit denen unserer Acazien zeigen. Von den Podogonien, verwandt mit der ostindischen Tamarinde, sind bei Oeningen bis jetzt sechs Arten bekannt, welche für die Geognosie von besonderer Wichtigkeit sind, weil sie nur in solchen Ablagerungen auftreten, die mit den Oeninger Kalkmergeln ein gleiches Alter haben; sie geben uns deshalb ein Mittel in die Hand, um zu entscheiden, ob die Niederschläge irgend einer andern Pflanzenfundstelle auch in die Oeninger Periode fallen oder nicht.

In der Umgebung unseres Sees fanden sich außerdem auch Ebenholzbäume, welche mit einer heutigen südeuropäischen Art verwandt sind, ferner ein prächtiger Seifenbaum, welcher an eine jetzt lebende Art der Tropengegenden erinnert. An den seichten Ufern des Sees vegetirte die Sumpfcypresse; diese tertiäre Art ist der Vorläufer von der jetzt lebenden amerikanischen, welche in Mexico und den südlichen vereinigten Staaten eine weite Verbreitung findet. Diese Bäume gedeihen da am besten, wo der Boden fortwährend vollständig mit Wasser gesättigt ist. Ein beliebter Standort sind ihr z. B. die sumpfigen Buchten und Bassins an den Ufern des Mississippi. Wenn diese Bäume dann größer und schwerer werden, versinken sie allmählich, und dadurch werden solche Wasserbecken oft gänzlich ausgefüllt. Bei Hochwassern unterwühlt aber der Fluß zuweilen solche Stellen und treibt die wirr durcheinander gestrickten Bäume als schwimmende Inseln fort. Von Pflanzen, welche den Charakter der heißen Zone leicht verrathen, wären noch die Palmen zu erwähnen; sie kommen zwar bei Oeningen selten vor, doch zeigten sich Arten, welche an heutige Typen Indiens erinnern.

Die in den Oeninger Schiefern zahlreich vorhandenen Blätter von Pappeln und Weiden weisen darauf hin, daß der feuchte Boden der Umgebung des tertiären Sees letzteren zum Standorte diente. Ihre Verwandten finden sich zum Theil in unserer Zone, zum Theil in südlichen Gegenden. Erlen, Birken, Ulmen, Ahornarten, Heidelbeersträucher waren damals auch schon da. Das Seeufer umgaben hohes Schilf, Riedgräser und Rohrkolben. Es blühten dort die Schwertlilien und Seerosen.

Betrachten wir noch einen Augenblick die damalige Thierwelt. Eines der interessantesten Geschöpfe, welches den Oeninger See bewohnte, ist wohl der berühmte Riesensalamander, den wir schon eingangs erwähnten. Dieses Thier wurde über vier Fuß lang. Von Zeit zu Zeit finden sich bei Oeningen Skelete desselben, welche von den großen Naturaliensammlungen theuer bezahlt werden. Die großen Augenhöhlen und das weite Maul, welches im Bogen den ganzen Kopf umfaßt und mit vielen kleinen, spitzen Zähnen besetzt ist, lassen den Salamander nicht verkennen und bieten gewiß treffliche Merkmale dar, um das Skelet von dem eines Menschen zu unterscheiden. Den Oeninger See bevölkerten außerdem zweiunddreißig verschiedene Fischarten, sowie Kröten und ein riesiges Fröschenvolk. Daß auch Krokodile darin lebten, kann nicht direct nachgewiesen werden, aber der Umstand macht es sehr wahrscheinlich, daß an gar nicht weit entfernt liegenden Localitäten in Niederschlägen, welche mit den Oeninger Schiefern gleichaltrig sind, Ueberreste von solchen sich zeigten. Aber eine Wasserschildkröte war vorhanden. Von Landbewohnern, die sich in der Umgebung

[335] des Sees aufhielten und deren Reste in den Schlamm eingehüllt wurden, sind zu erwähnen: Hirsche, Hasen, Mastodonten und einige Vogelarten. Das Mastodon gehörte einem ausgestorbenen Geschlechte an; es ist sehr nahe verwandt mit dem Elephanten.

Daß zur Zeit des Oeninger Sees eine Menge Insecten die Luft durchschwirrten, geht daraus hervor, daß bis jetzt von dort nicht weniger als achthundertsechsundzwanzig verschiedene fossile Arten dieser Thiere bekannt wurden. Es sind darunter die verschiedensten Käferarten, Heuschrecken, Ameisen, Bienen, Hummeln, Wespen, Fliegen, Mücken und Wanzen vertreten.

Zur Zeit, als dieser See existirte, entwickelten in seiner Nähe mehrere Vulcane eine lebhafte Thätigkeit. Der Hohentwiel, Hohenkrähen und die übrigen Hegauer Kegelberge schleuderten damals ungeheure Massen vulcanischen Sandes, Lapilli und Bomben aus ihren Kratern. Es geht dies daraus hervor, weil man am Hohenkrähen im vulcanischen Tuffe genau dieselben Pflanzenarten, nur nicht so zahlreich und nicht so schön erhalten wie bei Oeningen, findet.

Eine Pflanzen- und Thierwelt, wie sie zur Zeit des Oeninger Sees in unserer Gegend vorhanden war, könnte aber unmöglich existiren bei unserem jetzigen rauhen Winter. Es liegt daher klar auf der Hand, daß damals in diesen Gegenden auch ein viel milderes Klima herrschen mußte. Professor Heer hat aus einem sorgfältigen Studium der Tertiärpflanzen abgeleitet, daß zur Oeninger Zeit unsere mittlere Jahrestemperatur achtzehn bis neunzehn Grad Celsius, also etwa neun Grad höher als jetzt, gewesen sein müsse. Es entspricht dies einem Klima, wie man es jetzt etwa auf Madeira oder in Südspanien, Südsicilien oder im südlichen Japan antrifft.

Auf die Frage, wie lange es wohl schon sein möge, seit am Oeninger Tertiär-See eine subtropische Pflanzenwelt existiren konnte, läßt sich keine bestimmte Antwort geben; nur das ist sicher, daß man die Jahre, die seitdem verflossen sind, nicht allein nach Tausenden, sondern auch nach Millionen zählen müßte. Menschen gab es damals noch nicht, aber doch wenigstens Affen; wenn uns die Oeninger Kalkmergel auch noch keine Ueberreste von diesen letzteren zeigten, so finden sich doch an anderen Localitäten Ablagerungen aus denselben Zeitalter mit solchen.

L. Würtenberger.


Der Sohn der Wildniß und seine Amme.

Das Jahr 1871 hat uns Deutschen im großen Ganzen so Schönes und Herrliches gebracht, daß es fast zu wundern ist, wenn es einem Einzelnen noch etwas Besonderes bringt, worüber sich dieser Glück zu wünschen hat. Etwas dergleichen ereignete sich für alle Freunde der Naturgeschichte, als die schöne Tigerin des Dresdener Zoologischen Gartens am 22. März dieses Jahres wieder einmal Junge bekam, und zwar nicht mehr und nicht weniger, denn drei Stück. Wieder einmal; denn schon fünf Mal vorher war dies der Fall gewesen, und eine wahre Tigerherde müßte es geben, wenn sie alle noch lebten. Aber leider lebt kein Einziges von diesen früher geborenen Jungen, nachdem die alte Tigerin niemals Milch hatte, um sie säugen zu können. Alles wurde damals von dem unermüdlichen Director Schöpf[WS 1] versucht, um die Jungen am Leben zu erhalten; denn da im Zoologischen Garten zu Dresden die Zucht von Löwen, Bären, Puma’s etc. ein fast regelmäßiges und natürlich einträgliches Geschäft geworden ist, und nur die Tigerzucht noch nicht gelang, so mußte schon deswegen der Wunsch nach diesem Erfolg immer lebhafter werden. Der Direktor versuchte es also bisher mit allem Möglichen: mit Hündinnen, mit Ziegenmilch, mit Kuhmilch, mit der Saugflasche, mit Löffel, mit Spritze, aber stets starben die jungen Tiger nach wenigen Tagen. Einen Andern hätte wohl diese Erfolglosigkeit ermüden können, nicht aber unsern Schöpff. Als er jetzt beim sechsten Male die Wurfzeit der Tigerin herannahen sah, bat er in öffentlichen Blättern etwaige Eigenthümer von tragenden ober säugenden Hündinnen um betreffende Mittheilung, und der glückliche Zufall fügte es, daß, als die Tigerin nun wirklich Junge bekam, eine Hühnerhündin, welche sich im Besitz des Herrn Erb- und Lehngerichtsbesitzers Schlotter zu Langebrück befand, eben auch erst Junge geworfen hatte. Da der Besitzer mit einer Gefälligkeit, für welche ihm der Zoologische Garten sehr verpflichtet ist, sich zur Darleihung der Hündin bereit erklärte, so handelte es sich zunächst um einen Versuch, ob dieselbe die jungen Tiger auch annehmen würde. Ein Transport der Hündin selbst hätte zunächst den Erfolg dieses Versuchs fraglicher gemacht, und so traten denn die zwei jungen Tiger (den dritten hatte man zunächst bei seiner Mutter gelassen, um möglicherweise doch noch die Milch derselben herbeizuziehen) die Probereise, wohlverpackt in einem Korbe mit einer Wärmflasche, nach Langebrück an. Der Erfolg war vollständig; mochte es der Hündin bei ihren neun Jungen, von denen man ihr nur zwei gelassen hatte, vor Allem auf Ersatz, gleichviel welchen, ankommen, oder fühlte sie eine wirkliche Neigung für die plumpen, putzigen Kleinen, kurz die Tiger wurden sofort an Kindesstatt angenommen und ließen es sich dabei ganz wohl sein, indem sie sich sofort dem Soff ergaben.

Jetzt war die Hauptsorge beseitigt, der Rücktransport der Tiger mit ihrer nunmehrigen Amme und deren zwei Kindern ging vor sich, und zur größern Sicherung des Erfolgs begleitete sogar der Besitzer der Hündin dieselbe bis zum Zoologischen Garten, damit das Thier sich dort besser eingewöhnen möchte. Auch das gelang, und so wohnt nun schon seit Wochen die Tiger-Amme mit ihren Pfleglingen in einer eigenen Kammer des Raubthierhauses und empfängt dort ungescheut die zahlreichen Besuche der schaulustigen Dresdener.

Gerade diese große Sanftmuth der Hündin, welche es zuläßt, daß das Publicum sich massenhaft und dicht an sie und die Tiger herandrängt und diese sogar anfaßt und streichelt, trägt natürlich sehr zur Beliebtheit der ganzen Gruppe und zum zahlreichen Besuch des Gartens bei, denn das Bewußtsein, einen Tiger gestreichelt zu haben, ist so doch am Ende auch nicht zu verachten.

Vom Director des Gartens erhielt ich eine freundliche Benachrichtigung über das Ereigniß, nachdem die Tiger ungefähr acht Tage alt waren, natürlich mit einer Einladung zum Besuch. Nach einer Woche machte ich mich denn auch daran, den Tigern meine Aufwartung zu machen, und ich gestehe, daß der Anblick ein reizender und gemüthlicher zugleich war. Der Hündin hatte man ihre eigenen Jungen kurz vorher genommen und zu einer andern gebracht, um den Tigern die ganze Milch zukommen zu lassen, und außer dieser genossen die Pfleglinge nun auch die ganze Zärtlichkeit ihrer Amme. Deren ganzes Benehmen war überhaupt so aufrichtig mütterlich, daß sie von dem ganzen Schwindel schwerlich eine Idee hatte und wahrscheinlich den Glauben hegte, daß diese ihre Jungen sich nur etwas verändert hätten. Freilich war dies dann ein starker Glaube, denn hundehaft benahmen sich die jungen Tiger allerdings nicht. Während junge Hunde in den ersten Wochen keinen andern Ton haben als ein jämmerliches Winseln, waren die Töne der Tiger ein fortwährendes Raisonniren, besonders arg dann, wenn sie die gesuchte Nahrungsquelle nicht gleich fanden. Denn obgleich sich bereits nach zwei Wochen ihre Augen öffneten, so wußten sie doch offenbar davon anfangs keinen Gebrauch zu machen und blinzelten höchst blöde vor sich hin. Bei diesem erwähnten Suchen nach der Stoffquelle gebrauchten sie übrigens ihre kurzen Beine mit großer Energie, und sie würden ihre Pflegemutter dabei über und über blutig gerissen haben, wenn ihnen ihre erstaunlich scharfen Krallen nicht bereits zweimal vom Director beschnitten worden wären.

Die prachtvolle Erscheinung des erwachsenen Tigers, die gewiß kein eindruckfähiger Beschauer vergißt, war nun allerdings bei diesen Jungen noch sehr im Keim versteckt. Aber kann man dies ihnen vorwerfen, oder etwas Anderes erwarten? Ist etwa der Mensch, diese Krone der Schöpfung, im Alter von zwei Wochen etwas sehr Prachtvolles? Und so gleicht denn der junge Tiger von zwei Wochen einem kleinen braunen, schwarzgestreiften Wollsack, an dem unten vier kurze Beine, ein kurzes spitzes Schwänzchen hinten und ein streifenreicher, fast kugelrunder Kopf vorn befestigt sind. Daß die Beine zum Gehen sind, muß Tiger und Beschauer mehr ahnen, wenn letzterer nicht schon sichere Nachrichten darüber hat, denn fortwährend stolpert das kleine Tigerchen über die vielen Beine, fällt um, auf den Rücken und braucht dann sehr viel Zeit, um wieder den Bauch unter sich zu haben. [336] Auch dabei viel Raisonniren, welches überhaupt nur dann ganz schweigt, wenn die kleinen Kerle wie Blutegel sich an der Amme festgesogen haben, um zuletzt von selbst abzufallen und schnell ein Weniges zu schlafen. Saugen, schlafen und mitunter etwas in ihrem Heukasten herumstolpern, das ist zunächst ihr Sein.

Als ich die Gruppe anfing zu malen, bot sie gerade den Anblick, wie ihn das Bild zeigt. Aber leider, wie das dem unglücklichen Thiermaler immer geht, dauerte das nicht lange, die Hündin wollte zunächst ihre Lage verändern und stieg sogar ganz aus ihrem Kasten, um sich zu mir zu stellen. So rührend dies an sich sein mochte, so machte es doch auf mich einen mehr entgegengesetzten Eindruck, und nur meinen eifrigsten Bemühungen gelang es endlich, das Thier


Die Tiger-Amme im Zoologischen Garten zu Dresden.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.


seinem Beruf wieder zuzuführen. Aber sie legte sich nun ganz anders hin. Beleuchtung, „Ungestörtsein“, diese Hauptsachen waren mir günstig, nur die größte Hauptsache, das Thier selbst, nicht. Da nahte mein Schutzengel, der Wärter Donath, dessen Pflege die Gesellschaft anvertraut war. Auf meine Bitte machte er den Versuch, die jetzt gerade aufgestandene Hündin niederzudrücken und sie in die Stellung zu bringen, die sie mir erst vorgeschlagen hatte. Und siehe da, es gelang vortrefflich, jede Correctur ließ sich das fast menschlich fromme Thier gefallen, die Tiger mußten gleichfalls pariren, und so möge denn der Beschauer das beifolgende Bild nicht eigentlich als mein, sondern als das Werk des Wärters betrachten, der so entscheidend in die Arbeit eingriff.

Selbstverständlich braucht Wida, so heißt die Tiger-Amme, auch die nöthige Bewegung in frischer Luft, und sie wird daher täglich einigemal ausgeführt, meist außerhalb des Gartens, um den vielen in der Nähe gehegten Wiederkäuern keine Unruhe zu verursachen. Die feine Jagddressur des Thieres zeigt sich aber selbst bei diesem kurzen Wege zum Garten heraus oder hinein, denn sowie ihm einer der vielen Hasen, welche den Garten in voller Freiheit beleben, zu Gesicht kommt, so „steht“ es, als wäre die Saison in vollem Gange. Doch nach solcher Abwechselung ist auch die Hingebung des Thieres an die jungen Tiger um so eifriger.

Der dritte schon erwähnte kleine Tiger war zwar auch noch der Hündin angelegt worden, schien aber doch die Nahrung schon zu lange entbehrt zu haben und starb. Doch ist noch jetzt beim Schreiber dieser Zeilen die Hoffnung um so größer, die beiden anderen Tiger aufzuziehen, da sie sich, wie ich brieflich erfahren, nun mehr entwickeln und täglich kräftiger werden. Da vorauszusehen ist, daß ihnen bei fortschreitender Entwickelung die Milch der Hündin nicht mehr genügen wird, ohne daß sie bereits Fleischnahrung vertragen würden, so wird gegenwärtig der Versuch gemacht, sie an die Ziehflasche zu gewöhnen. Ist dies gelungen, wie zu hoffen, so hat das Tiger-Geschwisterpaar (es ist Männchen und Weibchen) Aussicht, noch lange ein Anziehungspunkt im Dresdner Zoologischen Garten zu sein.

Von den früher gebornen Jungen des Dresdner Tigerpaares stehen drei ausgestopft in derselben Kammer, wo jetzt Wida mit ihren Tigern liegt, und geben Gelegenheit zu Vergleichen. Auch im Schaufenster eines Leipziger Kaufladens sind drei junge ausgestopfte Thierchen zu sehen. Sie sind zwar mit einer alten ausgestopften Tigerin zusammengestellt, aber ich habe sie, die Jungen, stark in Verdacht, daß sie Dresdner Kinder sind und daß ihnen ihre jetzige Mutter octroyirt worden ist.




[337]

Kaiserfahrt über die Pontonbrücke von Surènes.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Feldmaler F. W. Heine.

[338]
Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
Nr. 4. In französischen Quartieren.
II.


Was ich den Lesern der Gartenlaube hier mitzutheilen beabsichtige, ist durchgängig sehr unschuldiger Natur, und ich kann durchaus nicht, wenn ich bei der Wahrheit bleiben will, große Heldenthaten, haarsträubende Mordgeschichten u. dgl. erzählen. Die letzterlebte Zeit ist aber ohne Frage so gewaltig und großartig gewesen und hat mit so mächtiger Hand in die Fugen der Geschichte eingegriffen, daß wohl jede, selbst die geringste Kleinigkeit interessant und des Lesens werth ist. Zu Allem aber darf ich mir vielleicht auch mit der Hoffnung schmeicheln, daß meine Mittheilungen und Erfahrungen als Ergänzungen früherer Schilderungen dienen können, welche die Gartenlaube bereits aus anderer Feder gebracht hat.

Wirklich activ mitwirkend ist der Truppentheil, bei dem ich stand, im Ganzen nicht gerade oft gewesen, mein Regiment hat aber dafür Gelegenheit gehabt, fast den ganzen Osten Frankreichs gründlich kennen zu lernen, da es auf immerwährenden Streifzügen in die Kreuz und in die Quere begriffen war; es wird sich kaum ein Städtchen oder eine Stadt finden, wo wir nicht kurze oder lange Zeit in Quartier gelegen und in deren Umgebung wir nicht bald Weg und Steg kannten; natürlich habe ich, bei diesem ewigen Hin- und Herziehen, eine Menge von Quartieren kennen gelernt, bin mit den verschiedensten Charakteren in Berührung gekommen, und kann daher ein wenigstens einigermaßen richtiges Urtheil über die Grundzüge in dem Charakter des französischen Volkes in den Provinzen abgeben. Die Schilderungen des französischen Volkes, die man am häufigsten liest, sind fast alle mehr oder weniger übertrieben; man hat sich zum Schaden der Provinzen daran gewöhnt, zu sagen: „Paris ist Frankreich.“ Dies ist durchaus nicht der Fall. Ein Jeder, der eine Zeit lang in Paris und dann in den Provinzen, dem eigentlichen Frankreich, unter dem Kern des französischen Volkes gelebt hat, wird wissen, wie grundverschieden Paris und Frankreich ist.

Das Volk in Frankreich hat durchgängig mit sehr wenigen Ausnahmen einen gutmüthigen, gemüthlichen, vor preußischen Pickelhauben allerdings sehr besorgten Charakter; Religiosität oder kirchlicher Sinn ist bei den Männern sehr schwach oder gar nicht zu finden, und dennoch besitzen die Mönche und Jesuiten einen ungeheuern Einfluß, nämlich durch die Frauen; die Männer wissen dies sehr gut, aber trotz ihres Nihilismus, trotz ihres Kirchenhasses können sie sich diesem Einflusse nicht entziehen. Diesen Priestern – es sind ihrer in jedem Dorfe wenigstens drei oder vier zu finden – hatte die deutsche Armee es auch zu verdanken, wenn sie in ganz Frankreich von Jedermann mit einer wirklich kindischen Furcht erwartet wurde; um so anerkennungswerther war es daher, wenn diese Furcht, je länger unsere Truppen in Frankreich waren, immer mehr und mehr schwand, um in manchen Gegenden einem gewissen Freundschaftsgefühl Platz zu machen.

Ich weiß mich keines Quartiers zu entsinnen, in dem unser Abmarsch nicht ein aufrichtiges Bedauern verursacht hätte, und dieses wurde, je länger wir in einem und demselben Quartier weilten, desto stärker, obwohl die gegentheilige, freudige Empfindung doch nur sehr natürlich gewesen wäre. Man sah uns sehr ungern kommen, aber man sah uns ebenso ungern scheiden. Ich entsinne mich noch lebhaft eines Quartiergebers, bei dem dies Beides ganz besonders der Fall war. Es war ziemlich am Ende des Feldzuges, als ich Befehl erhielt, mit meiner Compagnie das Dorf Vébilleau zu besetzen. Nach einem angestrengten Tagesmarsch erreichten wir unsern Bestimmungsort und hatten nichts Eiligeres zu thun, als unser Quartier aufzusuchen, um unsere müden Glieder endlich einmal wieder durch eine ordentliche Siesta erquicken zu können. Ich mit noch einigen Cameraden hatte mein Quartier bei dem Maire des Dorfes genommen, der als alter Capitain der französischen Armee den Sturm auf den Malakoff mitgemacht und dabei einen Arm verloren hatte; ein echter Repräsentant der grande nation. Der alte Herr residirte in einem schloßartigen Gebäude ganz allein, nur von einem alten Diener gepflegt. Es war eine stattliche imponirende Gestalt, mit mächtigem weißen Schnurr- und Knebelbarte und das Kreuz der Ehrenlegion im Knopfloch, die uns preußische Landwehrleute an dem Eingange des Hauses würdevoll und mit folgender Ansprache begrüßte:

„Meine Herren, Sie sind, wenn auch aus den traurigsten Gründen, für jetzt meine Gäste; erlauben Sie mir zu versichern, daß es mein Bemühen sein wird, es Ihnen hier an keiner Bequemlichkeit fehlen zu lassen; aber verlangen Sie nicht, daß ich, ein alter Soldat der französischen Armee, freundschaftliche Gefühle für Sie empfinden, daß ich die gerechten Gesinnungen, die ich gegen Sie hege, verbergen soll; ich werde durch Ihren Anblick stets an das Unglück meines armen Frankreichs erinnert werden.“

Und in der That, während unseres Aufenthaltes in Vébilleau hatten wir Alles, was wir nur irgend verlangen konnten; alle unsere Wünsche wurden auf’s Bereitwilligste erfüllt, kurzum wir lebten buchstäblich „wie der liebe Gott in Frankreich“; und, was das Schönste war, wir hatten die Genugthuung, unserm alten Capitain und Preußenfeind, da unser Aufenthalt von ziemlich langer Dauer war, eine so gute Meinung von uns beizubringen, daß er am Abschied sagte:

„Meine Herren, seitdem ich Gelegenheit gehabt habe, Sie als die Vertreter des deutschen Heeres kennen zu lernen, scheint mir die Schande Frankreichs, von der deutschen Armee besiegt zu sein, nicht mehr so groß, nicht mehr so sehr Schande!“

Von Vébilleau und dem Hause des alten Capitains führte mich mein Schicksal nach Vitry zu einer Wittwe in Quartier, die in genanntem Städtchen eine reizende kleine Villa mit ihren beiden hübschen Töchtern und einem weniger hübschen, aber sehr treuen Diener bewohnte. Am ersten Tage ließ sich die alte Dame gar nicht sehen, die etwaigen Wünsche und Anforderungen, die ich zu stellen hatte, wurden von dem Diener entgegengenommen und sehr prompt ausgeführt. Wie ich später erfuhr, hatte man mich in dem Zimmer der älteren der beiden jungen Damen untergebracht, es war sehr elegant möblirt und darin ein prachtvoller Flügel aufgestellt. Einer alten lieben Gewohnheit folgend, versuchte ich am dritten Tage meines Aufenthaltes in dieser reizenden Behausung seit langer Zeit zum ersten Male wieder mein musikalisches Talent in einer bekannten deutschen Volksweise. Ich mochte schon eine geraume Weile gespielt haben, und war so sehr in die Erinnerungen an längst verschwundene Zeiten und an die Lieben in der Heimath versunken, daß ich gar nicht bemerkte, wie die Thür sich öffnete und Jemand eintrat, um hinter meinem Stuhle stehen zu bleiben.

Plötzlich wurde ich durch ein leises Schluchzen aus meinen Träumereien erweckt; erstaunt aufblickend gewahrte ich ein über mich gebeugtes seltenschönes Gesicht, dessen sanfte Züge durch einen rührenden Ausdruck von Schmerz und Melancholie verklärt wurden. Im reinsten dialektfreien Deutsch bat mich die schöne Fremde, die junge Dame, der das von mir bewohnte Zimmer gehörte, das eben gespielte Lied ihr noch einmal vorzutragen; bereitwillig ging ich darauf ein, und nach einer kurzen Einleitung ging ich auf die eigentliche Melodie über. Meine schöne Gefährtin – Mademoiselle Angeline de Savigny – fiel mit einer vollen und schöngeschulten Altstimme ein, und nun zauderte auch ich nicht weiter, mein ganzes Können zusammennehmen, um mit ihr vereint das Lied zu Ende zu singen. Sehr bald hatte sich zu unserm Gesang auch ein Publicum gefunden, nämlich Mutter und Schwester von Mademoiselle Angeline und der alte Diener; alle Drei schienen von unserm Gesang seltsam bewegt zu sein. Die alte Dame suchte vergebens ihren Thränen Einhalt zu thun, und ebenso lauschte auch der alte Bertrand mit unverkennbarem Interesse. Nachdem das Lied beendet war, reichte mir meine Partnerin ohne jede Ziererei die Hand, Madame de Savigny trat auf mich zu, um mich in ihr Wohnzimmer einzuladen, da sie mir eine Erklärung ihrer mich gewiß überraschenden Bewegung schuldig zu sein glaube; „nachdem Sie,“ sagte die alte Dame, „dieses Lied, das für uns so viel schmerzliche und schöne Erinnerungen erweckt, gesungen, kann ich Sie unmöglich mehr als einen Feind meines Vaterlandes betrachten.“

Mit der größten Offenheit erzählten mir Madame de Savigny und ihre Tochter hierauf, welche Bewandtniß es mit dem Liede hatte. Es war eine traurige Geschichte von Liebeslust und Liebesleid; und während ich da saß und die sah, deren Herz schon so viel Leid erfahren, konnte ich mich eines Gefühls des tiefsten Mitgefühls nicht erwehren. – Vor einem Jahre war Angeline [339] de Savigny in Nizza gewesen in Begleitung ihrer Mutter und Schwester. Sie hatte dort einen jungen deutschen Musiker kennen gelernt, schön und talentvoll, doch den Todeskeim mit sich tragend. Auch Angeline war talentvoll und der Musik mit Leidenschaft ergeben; kein Wunder, daß sich die Seelen der beiden von der Natur so verschwenderisch begabten Wesen bald gefunden hatten. Die Musik war es, die aus dem Gefühl der Freundschaft eine reine und glühende Liebe entwickelte, einen Bund der Herzen bewirkte, den der Tod leider nur zu bald trennen sollte.

Als die Familie de Savigny von Nizza nach ihrer Villa in Vitry zurückkehrte, ging der Bräutigam Angelinens mit, und es folgte sehr eine schöne Zeit für die beiden Liebenden, die nur ihrem Glücke, ihrer Liebe und der Musik lebten, ohne an etwas Anderes zu denken. Der Verlobte Angelinens fühlte sich so wohl und gesund wie nie zuvor und lebte an der Seite seiner schönen Braut einen ununterbrochenen Tag des Glückes, stolze und ehrgeize Pläne für die Zukunft machend. Allein das Auge der Mutter sah scharf; sie ahnte, daß diese scheinbare Gesundheit des jungen Musikers nur das letzte Aufflackern des Lebens war, das im Begriff stand für diese Welt zu verlöschen. Den Muth, diese Befürchtungen ihrer Tochter mitzutheilen und sie dadurch so jäh aus ihrem schönen Glückestaumel zu erwecken, hatte sie freilich nicht; oft aber, wenn die beiden Liebenden vereint an dem Clavier saßen – demselben, das jetzt in meinem Zimmer stand – um die schwermüthigen deutschen Melodien, und besonders dies eine Lied: „Es ist bestimmt in Gottes Rath, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden,“ miteinander zu singen, konnte sich Madame de Savigny der Thränen und des Gedankens, wie sehr gerade dies Lied auf die Beiden passe, nicht erwehren. „Es ist bestimmt in Gottes Rath,“ das sang der jetzt Verklärte noch eine Stunde vor seinem Tode, mit einen Ausdruck, der für Alle, die es hörten, unvergeßlich war; er sang sich sein Schwanenlied! Vor einem Jahre war er gestorben, und noch konnte sich die Familie nicht von ihrem Schmerz erholen, jeder leise Anstoß ließ ihn auf’s Neue mit aller Macht hervorbrechen.

Die Familie in dem Landhause in Vitry war mir bald sehr lieb geworden, diese Zuneigung war gegenseitig, und noch jetzt denke ich oft an jene Tage zurück, und sollte mich mein Geschick wieder einmal nach Frankreich führen, aber hoffentlich dann nicht als Feind, so bin ich gewiß, freundlich und liebevoll von der Familie de Savigny aufgenommen zu werden. Ich ging später jeden Tag auf den Kirchhof von Vitry, um das Grab des deutschen Landsmannes, der in Frankreich so viel Liebe erfahren hatte, zu besuchen; es war ein einfacher, mit üppigem Moos bewachsener Hügel mit der lebensgroßen Marmorstatue des Entschlafenen, von Cypressen umgeben.

Als ich von Vitry fortging, war ich ungefähr vier Wochen lang immer auf dem Marsche; diese Zeit war zwar höchst anstrengend, aber auch wiederum sehr interessant. Ein jeder Tag brachte uns neue Gegenden, neue Menschen. Ueberall sahen wir am Wege die Einwohner stehen mit der unvermeidlichen Zipfelmütze und den schwarzen Holzpantoffeln; Einzelne betrachteten uns mit unverkennbarer Neugierde, Andere dagegen sahen wir auch mit einem beinahe Furcht erregenden Ausdruck Geberden machen, die unmöglich falsch zu verstehen waren; aber bei diesen Geberden blieb es auch; nur eine gewisse Bewegung unsererseits mit dem Gewehr, und die ganze prahlerische Masse, die in der dortigen Gegend die grande nation vertrat, war zerstoben.

Daß in jedem Theil Frankreichs viel mehr Wohlhabenheit, als irgendwo in Deutschland herrscht, ist bereits eine bekannte Sache; der unaufmerksamste Beobachter würde diese Bemerkung, ganz abgesehen von allem Andern, schon bei den Dörfern machen, denen wir hier durchgängig den Namen Städte beilegen würden. Besonders aufgefallen sind mir auch die selten schönen und großen Kirchen, und zwar ist kein Dorf ohne solche. Schöner als bei uns in Städten von vielleicht hunderttausend und mehr Einwohnern, sind auch in dem armseligsten französischen Dorfe die Glocken. Es war stets ein erhebender Augenblick, wenn wir auf dem Marsche waren, und wenn dann plötzlich mit dem Untergange der Sonne oder zur Vesperzeit alle die vielen Glocken aus den verschiedenen, im Ganzen sehr nahe zusammenliegenden Ortschaften in einem harmonischen Ganzen zusammenklangen. Diese verschiedenen Töne, kräftig und milde, worein dann wieder das tiefe Summen einer besonders großen Glocke hallte, vereinten sich stets zu der schönsten Musik. Ferner ist an jeder Kirche eine Thurmuhr, deren richtige Zeitangabe nichts zu wünschen übrig läßt; auch haben diese als sehr angenehme Beigabe ein hübsches Glockenspiel; meistentheils sind die Melodien aus den bekanntesten Opern genommen, und es kommt wohl vor, daß man mitten im Schlafe in tiefer Nacht „Wir winden dir den Jungfernkranz“ oder dergleichen in nächster Nähe herunterdudeln hört und dadurch an den heimischen Leiernkasten erinnert wird.

Eine Zeit lang horcht man und lauscht man; dann aber – man lernt im Kriege den Segen des Schlummers gewaltig schätzen – dreht man sich wieder auf die andere Seite, schläft ein, und es ist kein Wunder, wenn liebe Träume aus der Heimat einkehren und für kurze Zeit die holdeste Täuschung hervorrufen. – Lassen Sie mich heute hier abbrechen. Noch mancherlei Erlebtes, Gesehenes und Gedachtes ruht in meinem Notizbuch wohlverwahrt, und wenn die vorstehenden Aufzeichnungen den Beifall Ihrer Leser gefunden haben, so will ich gern noch Weiteres aus „meinem Feldzugsleben“ folgen lassen.
v. N… nn.




Blätter und Blüthen.


Der unverwüstliche Capitain. Am 10. März dieses Jahres fand sich in New-York in der Wohnung des Generals J. Watts de Preyster eine kleine, aber ausgewählte Gesellschaft hervorragender Militärs und Schriftsteller zusammen, um den Geburtstag eines Mannes zu feiern, dessen Leben an Ereignissen und Wechselfällen so reich ist, daß selbst die Phantasiegestalten eines Victor Hugo oder Alexander Dumas dem gegenüber verblassen müssen. Der Name dieses Mannes ist Capitain Lahrbush, und wer an jenem Tage zufällig in den Kreis der beim General Preyster versammelten Gäste eingetreten wäre und die launige Rede jenes rüstigen Greises mit angehört hätte, in welcher derselbe am Schlusse die Hoffnung ausspricht, nach zehn Jahren dieselbe Gesellschaft an demselben Platze wieder zu treffen, der hätte wohl kaum geglaubt, daß seit dem Tage, an welchem der Sprecher in England das Licht der Welt erblickte, volle hundertfünf Jahre verstrichen seien. Um dem Leser in engem Rahmen ein Bild der bewegten Vergangenheit dieses seltenen Geburtstagskindes zu geben, wird es das Beste sein, wenn wir die bei dieser Gelegenheit gehaltene Rede des Gastgebers dem Wesentlichen nach wieder geben. Dieselbe lautet ungefähr folgendermaßen:

„Verehrte Freunde! Wir sind so oft an dieser Stelle zusammengekommen, um den Geburtstag des verehrungswürdigen Helden dieses Festes zu feiern, daß es unnöthig ist, alle die wunderbaren Einzelnheiten seiner Carrière zu wiederholen. Ich will mich daher heute hauptsächlich auf die Perioden seines Lebens beschränken, welche in genauerer Beziehung zu jenen zwei großen Mächten stehen, die in den letzten sieben Monaten so ausschließlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.

Capitain Lahrbush wurde 1766 geboren, in jenem für Preußen dadurch so wichtigen Jahre, daß während desselben die ersten Schritte zur Einverleibung jenes Theiles des Königreichs Polen, welches Ostpreußen und Schlesien von einander schied, gethan wurden. Zu jener Zeit saß auf dem Throne Frankreichs Louis der Fünfzehnte, ein schwächlicher und ausschweifender Fürst, der nicht im Stande war, Friedrich dem Großen die Wagschale zu halten, obgleich der Letztere erklärte, daß, wäre er König von Frankreich, kein Schuß in Europa ohne seine Erlaubniß abgefeuert werden sollte. Seit dem Geburtstage des Gastes, zu dessen Ehre wir hier versammelt sind, haben fünf Monarchen in Preußen geherrscht, und die Regierung Frankreichs hat dreizehn Mal gewechselt. Der erste Feldzug, den der Capitain mitmachte, war gegen die mächtige französische Republik gerichtet, welche derselbe allenthalben triumphiren sah, und seine zweite Feuerprobe hatte er in Irland zu bestehen, wo die Franzosen fortwährend bemüht waren, das Feuer der Revolution zu schüren, bis die Vernichtung der vereinigten französischen und spanischen Flotte die Gefahr einer Invasion endgültig beseitigte.

Das erste große Schlachtfeld, auf welchem er stand, war bei Jena, wo er am 14. October 1806 Zeuge des Zusammenbruchs jener militärischen Organisation war, welche bis dahin für unwiderstehlich gehalten worden war. Er befand sich damals in der Suite des britischen Gesandten, des bekannten Lord Castlereagh, welcher dem Könige und dessen Gemahlin Louise, der liebenswürdigsten der Frauen und der unglücklichsten der Königinnen, auf das Schlachtfeld gefolgt war. Während des folgenden Jahres wurde derselbe bekannt mit einer Reihe von berühmten Männern, Kaisern, Königen, Erzherzögen, Prinzen und, was damals von größerem Gewicht war, französischen Marschällen, deren Namen noch jetzt die Welt mit Bewunderung erfüllen. In Coburg lernte er Blücher kennen, der damals so arm an Glücksgütern war, daß er kaum die Mittel zum Leben hatte, aber trotzdem niemals daran zweifelte, daß Preußens Schwert bestimmt sei, volle Rache an Frankreich zu nehmen. Er stand an den Ufern des Niemen und war Augenzeuge jener denkwürdigen Zusammenkunft Napoleon’s mit Alexander, welche dem Friedensschluß von Tilsit vorausging. Damals [340] befand sich Napoleon auf dem Zenith seiner Macht, Preußen aber schien so tief gedemüthigt zu sein, daß Viele zweifelten, ob es sich jemals werde wieder aufraffen können. Als später trotz alledem für den blutigen Corsen die Stunde des Unterganges schlug, da war Capitain Lahrbush einer derjenigen, denen das schwierige Amt beschieden wurde, Napoleon in St. Helena zu bewachen, denselben Napoleon, welchen er acht Jahre vorher den Frieden von Tilsit hatte unterzeichnen sehen. Er hat auch gelebt, um zu sehen, wie die 1807 so tief gedemüthigten Deutschen allein und ohne Hülfe Paris eingenommen und sich zu der Stellung aufgeschwungen haben, welche von 1805 bis 1812 Frankreich inne gehabt hatte. Er hat gelebt, um zu sehen, wie der Sohn jenes Friedrich Wilhelm, mit welchem er von Jena floh, die seinem Vater und seiner Mutter angethanen Unbillen vollgültig gerächt hat, und was mehr ist, er hat gesehen, wie der König von Preußen, dessen Vorfahren verpflichtet waren, bei der Krönung dem Kaiser von Deutschland die Kanne und das Waschbecken zu halten, durch den einstimmigen Willen der Fürsten und des Volkes selbst zum Kaiser von Deutschland erhoben worden ist, nachdem er in zwei mächtigen Kriegen zwei Kaiser besiegt hat, deren einer der Neffe jenes Napoleon war, dessen Brutalität die Königin Louise zum Opfer fiel.

Dieses sind mächtige Wandlungen, und unwillkürlich wird man zum Nachdenken angeregt, wenn man bei einem Manne sitzt, welcher ehrwürdige Königreiche, gigantische Kaiserreiche und mächtige Republiken überlebt hat. Aber es ist noch merkwürdiger, zu denken, daß wir soeben die Gesundheit eines Menschen getrunken haben, der zehn Jahre älter ist, als die Vereinigten Staaten, deren Bürger wir sind, eines Menschen, welcher trotz aller Veränderungen, deren Zeuge er in Europa gewesen war, niemals während der Rebellion der Sclavenhalter an der Republik verzweifelte. Als der Capitain 1766 geboren wurde, hatte Frankreich gerade seinen Halt im Norden Amerikas verloren; dagegen blieb es im Besitz Louisianas noch länger als ein halbes Jahrhundert. Unser Gast hatte fast Dreiviertel eines Jahrhunderts gelebt, ehe die goldenen Thürme Spaniens dem Sternenbanner in Florida Platz machten. Als derselbe in der Blüthe seiner Kraft stand, waren die Colonien noch nicht ihren Flegeljahren entwachsen, unser Volk vertheilte sich entlang der atlantischen Küste auf wenige Städte und schwache Ansiedelungen, welche zerstreuter umher lagen, denn die Städte und Dörfer jener Staaten, welche in den Verband der Union zu einer Zeit aufgenommen wurden, als der Capitain bereits jenes Alter erreicht hatte, welches der Psalmist als die äußerste Grenze des menschlichen Lebens bezeichnet. Er hatte in Wahrheit bereits die Mannesjahre hinter sich, als das ganze Land jenseits der Alleghanies noch eine große Wildniß war. Doch ich will Sie nicht weiter mit Anspielungen auf den Fall und das Entstehen von Reichen ermüden und nur noch hinzufügen, daß Capitain Lahrbush gelebt hat, um zu sehen, wie dieselbe Nation, welche zur Zeit ihrer Kindheit bei England vor den Franzosen und Indianern Schutz suchte und später Frankreichs Hülfe gegen England und seine wilden Alliirten anrief, durch die bloße Macht ihres Wortes den Despoten Frankreichs, vor dem sich damals ganz Europa beugte, zwang, seine räuberische Hand von Mexico zurückzuziehen.

Welch eine Erfahrung ohne Gleichen, die jener Mann dort aufzuweisen hat, der mit einem selten erreichten Gedächtniß alle diese Ereignisse in fünf Sprachen zu erzählen weiß! Noch größere Wunder liefert die Geschichte seines eigenen Lebens. Er hat sich unbesiegbar gezeigt gegenüber den Gefahren des Krieges, der Krankheit, des Landes und der See. Auf dem Schlachtfelde als todt zurückgelassen, durch den Ocean bewußtlos wieder ausgespieen, auf das Krankenbett durch die Pestilenz geworfen, sitzt er dort mit Augen so klar, als ob er auf seinen großen Führer Wellington blicke, als ob er soeben von demselben das Ehrenzeichen empfinge, welches auf seiner Brust glänzt.

Wenn wir bedenken, daß derselbe seit mehr als fünfzig Jahren sein Leben durch den Genuß von Laudanum erhalten hat, welches er in täglichen Dosen genießt, die ausreichen würden, um zweimal so viel Menschen, als hier um den Tisch sitzen, zu tödten, so scheint dieses fast unglaubhaft. Aber was sollen wir erst sagen, wenn wir erfahren, daß der Capitain einst aus Gesundheitsrücksichten in einer einzelnen Dosis so viel Körner Opium nahm, als genügen würden, um eine der Zahl seiner Lebensjahre entsprechende Menge gewöhnlicher Menschen in die Ewigkeit zu spediren! Lassen Sie Denjenigen, welcher hieran zweifelt, den Capitain auffordern, ihm Bescheid zu thun in dem größten Becher voll Laudanum, und er wird sehen, daß unser Gast so ungestraft denselben leert, wie andere Leute ihr Glas Claret oder Burgunder. Doch ich habe bereits zu lange ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und räume Anderen das Feld. Ich schließe mit dem Wunsche, daß der Capitain noch bei vielen ähnlichen Gelegenheiten präsidiren und daß der Himmel uns Allen die Gesundheit und die Lust verleihen möge, über’s Jahr uns an derselben Stelle wieder zu versammeln.“

Wen von uns ergreift nicht Erstaunen, wenn er ein derartiges Leben, wie es uns in den soeben citirten Worten vorgeführt wird, im Geiste überschaut! Hinzufügen wollen wir noch, daß die Freunde des Capitain Lahrbush an demselben während der langen Jahre, die sie ihn kennen, auch nicht die geringste Spur eines Verfalls seiner körperlichen oder geistigen Kräfte bemerkt haben und durchaus nicht daran zweifeln, daß der unverwüstliche Capitain, der eben aus einem ganz anderen Stoffe geschnitzt zu sein scheint als die übrigen Sterblichen, noch oft seinen Geburtstag in heiterer Gesellschaft erleben wird.


Eine Wehrmannswaise gesucht! Ein kinderloses Ehepaar in gesicherten Verhältnissen spricht uns einen Wunsch aus, den wir mit Freude hiermit veröffentlichen: den Wunsch, ein gesundes Mädchen, wenn möglich im Alter von ein bis drei Jahren, Kind eines gebliebenen Wehrmanns und aus dem Rheinlande, zu adoptiren. Unsere verehrten Leser sorgen gewiß dafür, daß dieser Wunsch zum Glück eines verlassenen Kindchens und des kinderfreundlichen Ehepaars recht bald in Erfüllung gehe.


Zu der „Fahrt des Kaisers nach Longchamps“, wo auf der Rennbahn am ersten März dieses Jahres die berühmte Heerschau stattgefunden hat, welche dem Einzug unserer Truppen in Paris voranging, erhalten wir von unserem Feldmaler F. W. Heine noch folgende Zeilen:

„Ich habe Ihnen bereits in Nr. 14 der Gartenlaube meinen Marsch am Morgen des ersten März nach Paris erzählt und dabei auch erwähnt, wie ich gerade recht kam, bei Surênes den von Versailles kommenden Kaiser über die nach Paris führende Seinebrücke fahren zu sehen. Wenn ich Ihnen heute noch eine Illustration schicke, welche diesen Moment veranschaulicht, so thue ich dies nur deshalb, weil mir eben von all den einzelnen Momenten, welche zusammengefaßt die großen historischen Ereignisse jenes Tages bilden, keines unbedeutend und jedes werthvoll genug erscheint, auch jetzt noch, da Paris durch Katastrophen ganz anderer Art schon wieder die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht, mit Stift und Griffel dargestellt zu werden.

Dem Bilde selbst habe ich eigentlich wenig Worte mehr beizufügen, die Scene spricht für sich selbst, wie ich denn auch sonst einfach genug auf eben meinen Feldbrief, der, wie schon erwähnt, in Nr. 14 dieses Jahrganges zum Abdruck gekommen ist, verweisen könnte.

So will ich denn hier nur noch erwähnen, daß die für die Benutzung des Kaisers bestimmte Pontonbrücke unterhalb der bekannten Kettenbrücke hergestellt war, welche letztere im Laufe der Belagerung die vollständigste Zerstörung durch Feuer erfahren hatte. Die Ueberfahrt selbst ging ohne vieles Gepränge und ohne jedes prunkhafte Aufsehen, nur von den unumgänglich nöthigen Sicherheitsmaßregeln begleitet, vor sich. Der Kaiser, neben welchem ein Flügeladjutant Platz genommen hatte, trug die Generalsuniform mit Helm, Waffenrock und Schärpe; der Wagen war von vier feurigen Rappen gezogen, eine kleine Suite folgte ihm. Daß der Kaiser in solcher Stunde freundlich und heiter aussah, versteht sich von selbst, während auch andererseits die stürmischen ununterbrochenen Hochrufe der Soldaten wohl Zeugniß davon ablegten, wie sehr sie die Bedeutung des Tages zu fassen und zu würdigen wußten.“


Ein vermißter deutscher Soldat. Hermann Höritzsch aus Kössern bei Grimma hat bei der 12. Compagnie des königlich sächsischen Infanterieregiments Nr. 106 gestanden. Er wurde am 30. November bei den großen Ausfallsgefechten vor Paris durch einen Schuß in den Schenkel verwundet und auf Anfrage von dem Auskunftsbureau in Berlin als im Lazareth von Lagny liegend bezeichnet, auf den Verlustlisten aber als „vermißt“ aufgeführt. Alle Nachforschungen der Angehörigen haben bis heute keine Spur über das Schicksal des geliebten Sohnes und Bruders finden lassen, und so sprechen wir für sie die öffentliche Bitte an Jedermann aus, der mit Hermann Höritzsch im Felde in Berührung kam und einen Fingerzeig geben kann, um über Leben und Tod desselben sichere Kunde zu erlangen, diese Mittheilungen an die Redaction der Gartenlaube zu richten.


Der Dank der Wiedersehensfreude wird uns von dem Sohne, der nach sechszehn Jahren seine Mutter wieder gefunden, und von dieser Mutter und ihren übrigen Kindern gemeinsam ausgesprochen. Sie saßen am 21. April zum ersten Male alle wieder um einen Tisch beisammen. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit, daß Sohn und Mutter schon oft in Zeitungen sich gesucht, daß sie endlich alle Hoffnung, sich wieder zu finden, aufgegeben. Das ist für unsere von der Polizei in allen deutschen Ländern so sorgfältig registrirte Nation jedenfalls neu und fordert mindestens unser Erstaunen heraus.


Kleiner Briefkasten.

M. L–nt in München. Sie dürfen dieses neue Unternehmen in Salzburg nicht mit dem dort bereits seit Jahren bestehenden „Mozarteum“ verwechseln. Letzteres ist allerdings auch tüchtig geleitet; es dient aber doch nur localen Zwecken und ist vom Domstift abhängig. Anders verhält es sich mit der in Salzburg neugegründeten „Internationalen Mozartstiftung“. Diese ist von eurer Reihe angesehener Männer aus allen Ständen in’s Leben gerufen und verfolgt Zwecke, welche denen der Schillerstiftung durchaus analog genannt werden können. Außerdem hat sich die „Internationale Mozartstiftung“ die Aufgabe gesetzt, in Salzburg eine musikalische Hochschule im großen Stile zu gründen, ein Mozarthaus zu bauen und durch einen jährlich abzuhaltenden Mozarttag den Tondichtern und Tonkünstlern aller Länder Gelegenheit zur Besprechung musikalischer Fragen und Interessen zu bieten.

K. in St. Im Elsaß kennen wir nur ein Mädchen-Institut, das wir Ihnen in jeder und namentlich in der von Ihnen ausdrücklich bekannten nationalen Beziehung empfehlen können. Fräulein Meinhold in Ribeauville, jetzt Rappoltsweiler, in deren reizend gelegenem Etablissement viele deutsche, holländische, französische und englische Jungfrauen ihre Bildung vollendeten, war trotz aller französischen Umgebung und Conversation stets eine gute Deutsche, die deutsch dachte, lehrte und bildete und deshalb von französischer Seite manche Anfeindungen erfahren mußte. Daß diese sich jetzt noch um ein Bedeutendes gesteigert haben, bedarf wohl keiner besondern Versicherung; indeß werden solche ohnmächtige Mückenstiche bei den obwaltenden Umständen der Blüthe des Instituts wenig Abbruch thun.

G. R–lt in P. Das von Berthold Woltze nach seiner eigenen, in Nr. 3 der Gartenlaube zur Veröffentlichung gekommenen Skizze „Die Feldpost“ gefertigte Oelbild ist allerdings von dem Großherzog von Weimar angekauft worden.

Zur Notiz. Anfragen und Zuschriften wegen des Artikels in Nr. 16, „Wirthschaftschaftliche Freimaurerei“ sind an den Director des deutschen Centralbauvereins, Herrn Dr. E. Wiß in Charlottenburg bei Berlin, zu richten.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Weil es bei dem jetzt schon von mehrerlei unumgänglichen Quittirungen in Anspruch genommenen Raum der „Gartenlaube“ wirklich nicht möglich war, über alle Gaben vollständige Quittung in derselben abdrucken zu lassen, eine Empfangsbescheinigung aber für sehr viele der Geber und Gabenbesorger ein geschäftliches Erforderniß ist, so haben wir eine solche vollständige Quittung besonders drucken lassen und senden dieselbe den uns bekannten Adressen unter Kreuzband zu. Die nicht wenigen anonymen Einsender, welche sich dennoch von dem richtigen Empfang ihrer Gaben überzeugen wollen, bitten wir, in frankirten Briefen ihre Adresse uns anzugeben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schöpff