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Die Gartenlaube (1871)/Heft 29

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[481]
Ich weiß.[1]

Ich weiß es, deine frommen Augen lügen,
Und was so stolz von deiner Stirne thront,
Als Lüge wandelt es in deinen Zügen,
In deinem Herzen hat es nie gewohnt.

Ich weiß, ich weiß, dein Lächeln kindeshelle
Ist nur ein Lichtstrahl, der auf dir erfror,
Und deiner Locken spielgehobn’e Welle
Verbirgt ein heimlich sündenhorchend Ohr.

Und ob die Scham dir weilet auf der Wange,
In seiner keuschen Hülle ungesehn
Regt sich dein Leib wie eine weiße Schlange,
Und du bist schlecht, ich weiß, doch du bist schön!

Ich will den goldnen Schleier nimmer heben,
Der deiner Seele schwarze Nacht verdeckt,
Und den das Licht erröthend dir gegeben,
Damit dein nacktes Herz sich drin versteckt.

Ich will in deinen Zügen gläubig lesen
Der Schönheit ew’ges himmlisches Gedicht
Und will versuchen drüber zu vergessen,
Daß Gott dir mehr gab als ein Angesicht.


  1. Aus dem poetischen Nachlasse des Freiherrn Karl von Fircks.
    D. Red.

Die stumme Signora.
Erinnerungsblatt aus der Mappe eines ehemaligen Leipziger Studenten.
Von Karl Wartenburg.
1.

Eine der interessantesten Straßen Leipzigs ist der Brühl mit seinen zahllosen Gasthöfen zweiten und dritten Ranges, seinen Trödlerläden und polnischen Juden, und zu den interessantesten Häusern in diesem alten Brühl gehörte im Anfang der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts der blaue Karpfen oder die Rauchwaarenhalle, ein großes weitläufiges Gebäude mit einem tiefen düsteren Hof. Das Haus liegt fast unmittelbar neben der altbekannten jüdischen Garküche „zum Tiger“ und war zu jener Zeit eine Art Karawanserai, in welchem Leute aus aller Herrn Länder Unterkommen suchten und fanden. Besonders beliebt war die Rauchwaarenhalle als Absteigequartier der polnischen Israeliten. Doch nicht nur Bekenner des alten Testamentes, auch Christen aller Glaubensbekenntnisse logirten in dem Hause, dessen erste vordere Etage mit dem linken Seitenflügel im Hofe ein Restaurateur gepachtet hatte, der die Menge der kleinen Zimmer an Fremde vermiethete. Aber ich muß gestehen, daß abgesehen von der Religion auch noch ein anderer großer Unterschied zwischen den jüdischen und christlichen Miethswohnern, die in der Rauchwaarenhalle hausten, bestand. Die polnischen Juden, die dort einkehrten, waren zwar alle in ihrer äußeren Erscheinung nicht sehr elegant, aber sonst wohlgestellte Leute mit vollen Geldkatzen, während meine christlichen Glaubensgenossen oft nicht viel properer in ihrem äußeren Menschen, aber in der Regel bedeutend zahlungsunfähiger waren. Die Mehrzahl waren höhere Vagabonden, überfirnißte Bummler, verkommene Künstler, engagementslose, verlüderte Schauspieler dritten und vierten Ranges, Spieler von Profession, oft noch zweifelhaftere Existenzen. Alle diese Herrschaften machten keine Ansprüche auf großen Comfort, sondern sahen vielmehr auf eine wohlfeile Miethe und eine gewisse Verborgenheit, die sie hier auch genossen. Die Leipziger Polizei, die damals von dem Hofrath Stengel geleitet wurde, schien die Rauchwaarenhalle als eine Art Freihafen zu betrachten, in welchem sie den schiffbrüchigen Passagieren des Lebens das Einlaufen und ruhigen Aufenthalt gestattete – vielleicht aus höheren polizeilichen Rücksichten. Giebt es ja auch in anderen Großstädten solche Sammelpunkte der verlorenen Kinder, welche von den Sicherheitsbehörden genau gekannt sind, aber geduldet werden, weil sie unter Umständen sehr nützlich für criminalpolizeiliche Zwecke sind.

Die respectabelsten Hausgenossen in diesem Flügel der Rauchwaarenhalle waren unstreitig wir Drei: mein Stubenbursche Georg Alt aus Coburg, Student der Medicin, ich und mein [482] Tiras, ein schöner, großer, starker englischer Wasserhund. Tiras war ein prächtiges Thier, klug, discret, tapfer und von einer rührenden Treue, die nur einmal nicht Stand hielt, als ihn die Liebe zu einer schönen Hündin im Besitze des Fürsten L.-E. fesselte, der zu Gefallen er sich von mir trennte. Dicht neben uns, die wir am Ende eines langen, düsteren Corridors wohnten, logirte ein alter, eisgrauer Jude, der den sonderbaren Namen Katzenellenbogen führte. Er war aus Lemberg in Galizien, ein kleines, vertrocknetes Männchen, in schwarzseidenem glänzendem Talar, der immer nach Zwiebeln roch, und trieb einen Handel mit Juwelen und feinem Pelzwerk. Er hatte seinen Wohnsitz im blauen Karpfen, (so hieß früher die Rauchwaarenhalle) genommen und schien viel Geld zu verdienen, lebte aber dabei äußerst sparsam. Wenn ich noch erwähne, daß dieses interessante Gebäude einen immer trunkenen Hausmann hatte und daß die Rauchwaarenhalle insofern dem Meere ähnelte, als sie Ebbe und Fluth hatte, so habe ich Alles erwähnt, was zu seiner Charakterisirung nöthig ist. Die Ebbe trat nach den Messen ein, zu welcher Zeit immer einige der Zimmer leer standen; während der Messe aber war Hochfluth und die Rauchwaarenhalle von Passagieren überfüllt wie ein portugiesisches Sclavenschiff …

Auf derselben Seite des Brühls, nur am obersten Ende, unweit des alten Stadttheaters, lag ein anderes in seiner Art auch eigenthümliches Local: das Café chinois. Es existirt heute ebensowenig mehr als die Rauchwaarenhalle in ihrer früheren Gestalt, und wir können daher von dem Local mit jener objectiven Unbefangenheit sprechen, die der Geschichtserzähler nicht entbehren kann, wenn er treu schildern will. Das Café chinois war damals ein Ort, der in gewisser Beziehung an den Eingang der Hölle in Dante’s „Göttlicher Komödie“ erinnerte. Jedem der hier arglos Eintretenden hätte man zurufen mögen: „Die Ihr hier eintretet, lasset Eure Portemonnaies draußen!“ Außer einigen Studenten, die sich abgeschlossen von der übrigen Gesellschaft hielten, verkehrten in dem Café meistens Männer mit feinem Rock und durchlöchertem Gewissen, Spieler, Wüstlinge, reiche Müßiggänger, zu welchen sich einige wenige Schauspieler gesellten. Wehe dem Unerfahrenen, der in die Hände der Spieler dieses Cafés fiel, die hier in mitternächtiger Stunde Bank hielten! Er konnte sicher sein, beim Nachhausegehen den Groschen nicht mehr zu haben, den er seinem Portier für das Aufschließen der Thür geben mußte! Glücklich, wenn er dann einen Hausmann besaß wie der durstige Flickschuster in der Rauchwaarenhalle war, der sich in der Regel Abends gegen acht Uhr in Branntwein betrank und das Zuschließen vergaß …

Es war also im November 185* zur Zeit der Ebbe in der Rauchwaarenhalle. Leer und öde standen die Zimmer in unserm langen, düstern Corridor; Tiras hatte Platz für die Rattenjagd, die er öfters in diesem Gange trieb. Wir und der kleine alte Katzenellenbogen, der Juwelen- und Pelzhändler mit den eisgrauen Löckchen, die unter der runden schwarzen Sammetkappe hervorquollen, waren jetzt die einzigen Miethsleute. Ich brachte die langen Abende meistens allein zu Hause zu, Pandekten studirend, während Freund Georg entweder auf die Kneipe oder in’s Theater und von da in’s Café chinois ging, wo sich, wie schon oben bemerkt, ein kleiner studentischer Kreis, den literarische Zwecke verbanden – sie nannten sich die Pleißenbündner – mehrmals in der Woche versammelte. So saß ich auch eines Abends allein bei der Lampe, von der Pfordten’s Pandektenheft vor mir, das ich in jenem schönen Sommercollegium nachgeschrieben, in welchem der spätere königlich bairische Premierminister noch ein bescheidener Professor in Leipzig war. Tiras saß in der Nähe des Ofens, den großen, dicken, braunen Kopf auf den Teppich gestreckt, den er nur erhob, wenn eine nachzüglerische Fliege, die dem Herbst noch nicht zum Opfer gefallen, zudringlich seine Ohren umsummte. Es war ein schöner, ruhiger Abend, kalt und neblig, aber trocken, der Himmel leicht bewölkt und vom Neumond schwach beleuchtet. Von den Berlin-Magdeburger und Dresdener Bahnhöfen schrillte das Pfeifen der ankommenden Dampfzüge herüber. Das war aber auch das einzige Zeichen des Lebens, welches ich hörte. Sonst war Alles still und öde um mich her. Diese Ruhe, die Wärme des Zimmers, vielleicht auch das Studium der Servitutenlehre übten schließlich eine einschläfernde Wirkung aus. Ich hörte noch, daß es elf Uhr schlug, ich vernahm noch das Pfeifen der Locomotive, die den letzten Dresdener Zug brachte, und dann schlief ich mit Tiras um die Wette. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber plötzlich weckte mich ein wüthendes Gebell; ich fahre empor, meine Lampe brennt düster glimmend und vor mir steht ein großer Mann mit blassem Gesicht, schwarzem Haar und Locken, den bloßen, weißen, kräftigen Nacken von einem rothen Hemde umschlossen, über welches er einen Pelz geworfen hatte, eine Kerze in der Linken, während er sich mit der Rechten mühsam des Hundes erwehrte, der seine Tatzen auf seine Schultern gelegt und ihn gestellt hatte. Sobald der Hund mich wieder sah, verstummte sein Gebell und seine großen braunen Augen richteten sich wie fragend auf mich: „Soll ich dem Menschen da die Gurgel zerreißen?“ Auch der Fremde war über die Attaque in zorniger Aufregung, seine Augen schossen einen zornigen Wuthblick auf den Hund. Ich rief Tiras zurück; knurrend legte er sich zu meinen Füßen.

Der Fremde entschuldigte sich wegen seines nächtlichen Eindringens in das Zimmer in fremd klingendem, aber ganz gut verständlichem Deutsch. Er sei in der Nacht angekommen mit seiner Frau. Die Signora – er gebrauchte dann immer diesen Ausdruck, wenn er von ihr sprach – sei krank geworden; er habe den Wirth herausgeklingelt, der habe ihm gesagt, daß nebenan in Nr. 14 ein Doctor wohne, und nun komme er und bitte um Beistand. Die letzten Worte sprach er zögernd und mit einem zweifelnden Blick. Er hatte sich jedenfalls einen weniger jugendlichen Arzt vorgestellt und zum Ueberfluß hatte er sich in mir geirrt; der Wirth, welcher jeden bei ihm länger als ein halbes Jahr wohnenden Studenten zum Doctor avanciren ließ, hatte Georg gemeint, der immer noch nicht zu Hause war. Da hörte ich Schritte auf dem Gange und Herrn von Mühler’s, des Cultusministers, lustiges Lied; „Grad’ aus dem Wirthshaus komm’ ich heraus, Straße, wie wunderlich siehst du mir aus.“ Das war Georg.

„Das ist der Doctor …,“ sagte ich lächelnd zu dem Fremden, den Georg überrascht anblickte. Ein paar Worte erklärten meinem Freunde die Sache.

„Ach,“ lachte er, „was wird es weiter sein? Ihre Frau Gemahlin wird sich erkältet haben in den luftigen, ungeheizten Coupés. Hier haben Sie etwas Rum und meine Kaffeemaschine, da ist Zucker, brauen Sie der Patientin ein Glas Grog, und ich versichere Ihnen, sie wird morgen gesund wie ein Fisch sein.“

Der Fremde nahm die sonderbare Arznei, bedankte sich höflichst und ging.

„Ein eigenthümlicher Kauz,“ sagte Georg, als sich die Thür hinter dem Fremden geschlossen hatte, und durchschritt dabei lebhaft das Zimmer, mit einem Mensurschläger Lufthiebe austheilend, „er hat ein Gesicht, das zum Aufbrummen förmlich einladet. Diese giftigen schwarzen Augen, dieser höhnische Zug um den Mund, und doch liegt auch eine gewisse Schönheit in dem blassen Gesicht …“

„Aber diese niedrige Stirn und das hervortretende Kinn,“ fiel ich ein; „er sieht aus wie ein verkörperter berühmter Criminalfall, eine cause célèbre.

„Wahrhaftig, Du hast Recht,“ lachte mein Freund, „aber neugierig bin ich doch auf Deine Signora; wenn die Herrschaften morgen noch da sind, so mache ich ihr einen Besuch und frage, wie ihr mein Grog-Recept bekommen ist. … Aber jetzt wollen wir schlafen, Du weißt doch, daß morgen Specht mit den Meißner Corpsburschen die Säbelpaukerei in Schleußig hat, und daß ich Specht secundire.“

Am andern Morgen hatten wir über der Paukerei, die in einem Gasthofssaale des Dorfes Schleußig vor sich ging und bei welcher der Corpsbursche gründlich abgeführt wurde mit einem sehr unangenehmen Schmiß quer über das Gesicht, den Fremden sammt seiner Signora vergessen und keiner von uns Beiden dachte wieder an den nächtlichen Besuch, zumal da wir auch von den Fremden weder etwas sahen noch hörten. Vielleicht drei Tage später kam Georg eines Abends in lebhafter Erregung nach Hause.

„Weißt Du, wen ich im Café chinois getroffen habe?“ rief er. „Den Fremden mit seiner Signora. Aber welch ein Weib! Doch nein, Weib kann ich sie nicht nennen, das giebt ein falsches Bild. Eine Madonna dolorosa, eine schmerzensreiche Jungfrau …“

„Genug, genug,“ unterbrach ich ihn, „ich kenne diese Uebertreibungen der Verliebten. Hast Du mit ihr gesprochen?“

„Nein, sie sah so traurig, so tieftraurig aus, daß ich sie nicht anzureden wagte. Auch mit keinem Anderen habe ich sie sprechen sehen.“ [483] „Auch nicht mit ihrem Manne?“

„Nenne den Menschen nicht so,“ fuhr Georg auf; „wie der Kerl so neben ihr saß mit dem blassen Gesichte, dem schwarzen Barte und den heftig funkelnden dunklen Augen, deren Blicke scharf wie Dolchspitzen sind, kam er mir vor wie ein Vampyr, der sich ein Opfer gefangen hat, dem er das Herzblut aussaugt, oder wie Satan, der eine verlorene Engelseele mit sich herumschleppt.“

Ich zuckte die Achseln.

„Dummes Zeug; wurde heute Abend nicht ‚Robert der Teufel‘ im Stadttheater gegeben? Nun siehst Du, Du hast Bertram und Alice in den Beiden gesehen.“

„Nein, nein, mach’ keine schlechten Witze, er macht ganz den Eindruck, wie ich ihn Dir schilderte. Was der Mensch im Café chinois wollte? Er schien Niemand dort zu kennen.“

„Wo das Aas ist, da sammeln sich die Adler, oder auch die Raben. Er wird dort bald genug Bekannte finden.“

„Thue mir den Gefallen und gehe morgen Abend mit mir in’s Café,“ bat Georg, „die Fremden werden gewiß dort sein.“

Spät Abends am anderen Tage kam ich in das Café chinois. Georg war schon da, und an dem runden Spieltische im Hintergrunde sah ich auch den Fremden und neben ihm in einen weißen Ueberwurf gehüllt, still, stumm und unbeweglich ein Frauenbild von einer wunderbar schwermüthigen Schönheit. Die Formen ihrer Gestalt ließen sich wegen des Ueberwurfs nur undeutlich erkennen. Doch konnte man sehen, daß sie von mittlerer Größe war. Der Kopf erinnerte an eine Antike. Er war von dichten Flechten wie von glänzenden, schwarzen Schlangen umwunden. Die dunklen Augen mit den langen Wimpern blickten traurig und klagend in’s Weite. Der Mund war festgeschlossen, das marmorblasse Gesicht mit der sanften Stirn regungslos wie das einer Statue. Ihr Begleiter spielte, wie mir schien, nicht mit glücklichem Erfolg. Der Bankhalter war ein alter, in Leipzig wohlbekannter pensionirter Schauspieler, der nebenbei, wie man sich erzählte, ein Gelddarlehnsgeschäft trieb, ein geriebener Fuchs, der hinter seiner goldenen Brille mit mephistophelischem Blicke die Spieler musterte. Ich sah, wie der Fremde wiederholt verlor, wie er seine Brieftasche herausnahm und eine Anzahl österreichischer Banknoten auf den Tisch legte, die aber bald verschwunden waren. Seine Zähne, die weiß und scharf wie die eines Wolfes waren, nagten an seiner Unterlippe, und wenn der Bankhalter gewann und den Einsatz einstrich, was häufig vorkam, flog ein Blick wie ein scharfes Messer hinüber zu dem glücklichen Spieler.

Indessen hatte sich Georg dem Platze der Signora genähert. Seine Augen ruhten leidenschaftlich auf dem schönen jungen Wesen. Er beugte sich vor, ich sah, wie er einige Worte, die ich aber nicht verstehen konnte, an sie richtete. Sie schwieg und verharrte in ihrer unbeweglichen Stellung, nicht einmal den Kopf wandte sie seitwärts. Georg wurde lebhafter, dringender. Diese stumme Kälte schreckte ihn nicht ab, sie entflammte ihn nur noch mehr. Doch auch auf seine neuen Versuche, eine Unterhaltung anzuknüpfen, antwortete ihm dasselbe hartnäckige Schweigen. Aber ich bemerkte, wie ihre Augen und Züge einen Ausdruck der Furcht und Angst annahmen und wie ein scheuer flüchtiger Blick den Mann an ihrer Seite streifte. Der Fremde war aber so mit dem Spiel beschäftigt, daß er für das schöne junge Weib an seiner Seite nicht einen Gedanken zu haben schien – und doch war es mir wieder, als lausche er auf jedes Wort, das Georg der Dame zuraunte. Plötzlich brach der Fremde auf, so rasch und ungestüm, daß es seinen Mitspielern auffiel. Er reichte seiner Frau – sie mußte es wohl sein – den Arm und verließ, ohne uns weiter zu beachten, das Café. Georg wollte ihm folgen. Ich hielt ihn zurück.

„Es ist nicht möglich, daß sie seine Frau ist,“ sagte er, „eine Taube kann sich nicht mit einem Geier paaren. Ich weiß nicht, in welchem Verhältniß sie zu ihm steht, aber sein Weib ist sie nicht.“

Ich gab Georg den Rath, sich vor dem Fremden in Acht zu nehmen.

„Ach was,“ rief er, „ich fürchte mich nicht und wenn er ein zehnfacher Othello ist, ich hasse ihn, obwohl er mir nichts zu Leide gethan, ich könnte mich mit ihm über’s Taschentuch schießen.“

Ich zuckte die Achseln und nahm mir vor, Georg zu überwachen.

Am andern Abend waren wir wieder im Café chinois, und wie wir es vermuthet, auf dem nämlichen Platze, neben sich die Signora, saß unser Nachbar vom Corridor in der Rauchwaarenhalle. Heute versuchte Georg es ernstlich, die Signora zum Reden zu bringen. Er erinnerte sie an die Nacht ihrer Ankunft, an ihr Unwohlsein, an das studentische Recept, das er ihr verordnet, er frug wie es ihr bekommen sei, er entschuldigte sich, daß er nicht des andern Tages seine Patientin besucht und sich nach ihrem Befinden erkundigt habe, er frug, warum man sie nicht sehe, warum immer die Thür verschlossen sei – – aber Alles war vergebens. Sie blieb so stumm, als spreche er zu einer Marmorstatue, und nur der Ausdruck ihres Gesichts verrieth die innere Unruhe und Angst, die sie bei den Worten meines Freundes empfand.

Da wandte sich plötzlich der Fremde, der bis dahin ganz in das Spiel vertieft zu sein schien, nach Georg um und mit einem Blicke, den ich nicht beschreiben kann, der mir aber unvergeßlich ist, so giftig, drohend und grausam war er, sagte er zu Georg:

„Bemühen Sie sich nicht, mein Herr die Signora ist stumm und zuweilen ist das eine Krankheit, die ansteckt, hüten Sie sich, daß Sie nicht auch stumm werden.“

Ich fürchtete einen leidenschaftlichen Ausbruch meines Freundes und trat einen Schritt näher. Aber Georg blieb ruhig und antwortete nur mit einem verächtlichen Lächeln, das aber noch beleidigender war, als ein zorniges Aufwallen:

„Verstehen Sie vielleicht die Kunst, die Leute stumm zu machen?“

Der Fremde fuhr zusammen, er wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war; der Signora stockte der Athem, ihre Augen hafteten auf dem Boden. Aber die Erregung des Fremden dauerte nur einen Moment. Mit einem nachlässigen Achselzucken wandte er sich wieder dem Spiele zu. Doch nicht lange. Er warf die Karten weg, schützte gegen seine Mitspieler ein plötzliches Unwohlsein vor und verließ mit der stummen Signora, wie wir die Dame von nun an unter uns nannten, das Café.

Georg war in heftiger Erregung. Er blieb dabei, daß die Signora nicht die Frau des Mannes sein könne, daß hier ein Geheimniß obwalte, welches die Unglückliche an den Fremden fessele. Mißmuthig und verdrießlich verließen wir das Café.

Am Spätnachmittag des andern Tages saßen wir zusammen arbeitend auf unserm Zimmer, als der Briefträger hereintrat und ein an meinen Freund adressirtes Briefchen brachte. Das kleine schmale Couvert, die zierliche Aufschrift verriethen sofort, daß er von einer Dame kam. Hastig erbrach er das Billet und las:

„Bei Allem, was ihnen heilig und theuer ist, bitte ich Sie nicht wieder zu versuchen, mich anzusprechen. Er ist voller Groll gegen Sie, er hat geschworen Sie umzubringen, wenn Sie noch einmal sich mir nahen sollten. Machen Sie eine Unglückliche nicht noch unglücklicher.“

Leider haben derartige Bitten und Mahnungen immer den entgegengesetzten Erfolg. Georg erklärte mir, das nächste Mal, komme auch was da wolle, die Signora zum Reden zu bringen. Daß sie nicht die Frau des Fremden sei, glaube er nun um so gewisser. „Er“ nannte sie ihn – sie hatte nicht geschrieben „mein Mann“ oder „mein Gatte“. Unerträglich langsam verstrich ihm die Zeit bis zu der Stunde, zu der er gewöhnlich den Fremden mit seiner Begleiterin im Café chinois traf. Aber wir warteten heute vergebens. Sie kamen nicht. Dagegen begegneten wir am andern Tage zu unserer Ueberraschung dem Fremden im Brühl mit dem kleinen eisgrauen Juden Katzenellenbogen, und zwar in eifrigem vertraulichen Gespräch. Wie mochte er zu dem gekommen sein? Georg frug unsern Wirth. Der zuckte als vorsichtiger Geschäftsmann mit den Schultern.

„Bedaure sehr,“ Herr Doctor, Ihnen nicht dienen zu können. Weiß gar nicht, in welchen Connexionen er zu Katzenellenbogen steht. Er hat sich als Ignaz Matuscheck, Privatmann mit Gemahlin aus Wien, in mein Fremdenbuch geschrieben, übrigens bezahlt er alle drei Tage seine Rechnung.“

Wir waren so klug wie zuvor. Im Café chinois sahen wir die Fremden nicht wieder, dagegen begegneten wir öfters Herrn Ignaz Matuscheck im Gespräch mit dem alten Katzenellenbogen, einmal sah ich ihn sogar aus des Juden Stube herauskommen.

So vergingen vielleicht acht Tage. Georg, der nicht die Hoffnung aufgegeben hatte, doch wieder einmal im Café seine stumme Unbekannte, die ihn tiefer, als ich es vermuthet, interessirte, zu treffen, ging allabendlich dahin, zuweilen begleitet von Tiras, der ein Feinschmecker war und leidenschaftlich gern die kleinen französischen Pastetchen aß, die im Café chinois trefflich bereitet wurden [484] und mit welchen einige hundefreundliche Gäste öfters den gebildeten Tiras bewirtheten.

So war Georg auch heute mit Tiras fortgegangen und ich saß wieder allein zu Hause. Es war Anfangs December. Schnee war gefallen und der Mondschein fiel hell und voll auf die weißen Dächer. Ich saß in der Nähe des Fensters, den Schreibtisch vor mir, gerade gegenüber der auf den Corridor hinausführenden Stubenthür, zu deren Linken sich Georg’s Pult befand, neben welchen ein paar Mensurschläger hingen. Ich las Zeitungen. Zu den wenigen freisinnigen Blättern, die dem damaligen Reactionssystem noch nicht zum Opfer gefallen waren, gehörte der in Berlin erscheinende „Urwähler“, ein damals unter der liberalen studentischen Jugend Leipzigs viel gelesenes Blatt. In einer Nummer dieses Blattes las ich nun an jenem Abende folgende mich sofort höchlichst interessirende Correspondenz aus London: „London im November. Seit einiger Zeit ist, wie uns berichtet wird, in einigen größeren Städten Norddeutschlands jener Procop Makovetzky wieder aufgetaucht, der den Mitgliedern der ehemaligen Wiener akademischen Legion und den ungarischen Honved-Officieren der Armee Bem’s als gefährlichster Spion des Fürsten Windischgrätz und Feldzeugmeisters Haynau aus den Jahren 1848 und 1849 bekannt ist. Fürst Schwarzenberg verabschiedete ihn, da man ihn nicht mehr brauchte, und er treibt sich jetzt unter den verschiedensten Masken umher. In seiner Begleitung befindet sich ein junges, schönes Mädchen, von dem man nicht recht weiß, in welchem Verhältniß sie zu dem Makovetzky steht. Vielleicht bedient er sich ihrer, um Arglose in sein Netz zu locken. Makovetzky ist in Ungarn wegen Meuchelmords und Raubs, an einem Stabsofficier der Honved-Armee begangen, in contumaciam zum Tode verurtheilt worden. Haynau cassirte nach der Katastrophe von Vilagos das Urtheil, weil es von einer revolutionairen Behörde gefällt sei und weil man Feinde des Kaisers auf jede Weise tödten könne. Wir warnen vor diesem gefährlichen Menschen.“ Darauf folgte in der Correspondenz, die jedenfalls aus Londoner deutschen oder ungarischen Flüchtlingskreisen stammte, eine Personalbeschreibung, die mich keine Minute in Zweifel ließ, daß Procop Makovetzky und Ignaz Matuscheck ein und dieselbe Person sei! Die Nachricht regte mich lebhaft auf. Ein Spion und Meuchler war der Mensch! Darum war er neulich bei den Worten Georg’s über die Kunst, die Menschen stumm zu machen, erschrocken zusammengezuckt. Und die Signora war, nach der Correspondenz, nicht seine Frau. Aber was war sie dann? Zuneigung, Liebe, Achtung konnten sie unmöglich an den Menschen fesseln. Ich grübelte über diese Räthsel nach, ich hörte nicht, wie es elf vom Nicolaithurm schlug und wie vom niedern Park herüber das Horn der Nachtwächter klang. Da öffnete sich plötzlich rasch die Thür und herein stürzte auf mich zueilend und dicht vor meinem Sitz in die Kniee fallend die Signora.

„Hülfe … Rettung! Er will ihn ermorden!“ stammelte sie athemlos und die Hände flehend emporstreckend mit dem Ausdruck der Verzweiflung in den todtblassen Zügen. Sie war im Nachtgewand, das lange Haar fiel aufgelöst über ihre Schultern. Und dabei deutete sie nach dem Zimmer, das sie bewohnte.

„Ermorden? Wen? Georg?“

Sie schüttelte in wahnsinniger Angst das Haupt.

„Nein, nicht Ihren Freund, den alten Mann, den Juden, der neben uns wohnt. Er ist reich, er hat Edelsteine, Geld, und heute Nacht will er mit ihm ausgehen und ihn umbringen.“

Eine furchtbare Ahnung dämmerte in mir auf.

„Katzenellenbogen will er ermorden?“

„So heißt der alte Mann, glaube ich,“ fuhr sie athemlos fort, „dann will er fort, fort mit mir nach Amerika, aber ich gehe nicht mit … mir schaudert vor ihm … ich sterbe eher… Jetzt schläft er, um sich zu stärken für den Mord. Wenn er wüßte, daß ich hier wäre, ich müßte sterben …“

„Ja, verdammte Verrätherin, Du sollst sterben und der dort mit Dir,“ sprach eine vor Wuth heisere Stimme, bei deren Klang die Signora einen Schrei entsetzlicher Angst ausstieß und dann ohnmächtig zusammenbrach. Auf der Schwelle stand der Fremde, gerade so, wie ich ihn in jener ersten Nacht gesehen, den Pelz über das rothe wollene Hemd geworfen, aber statt des Leuchters ein scharfes, blinkendes Handbeil in der Rechten. Er musterte mich mit einem finsteren, stechenden, unheilvollen Blick.

„Ach, es ist nicht der Doctor,“ grinste er höhnisch, „es ist schade, ich wollte, er wäre es, aber es ist einerlei, wer mein Geheimniß kennt, muß sterben,“ und er that einen Schritt auf mich zu, ohne jedoch die hinter ihm offene Thür zu schließen.

(Schluß folgt.)


Wieder unter dem Lindenbaum.

Wieder unter dem Lindenbaum!
Glück, nicht zu nennen und sagen,
Da auf der Erde lieblichstem Raum
Unsere Herzen – es ist kein Traum –
Wieder zusammenschlagen.
Halt’ ich nach bitterem Trennungsleid
Dich ja nun wieder, du herzige Maid,
Halte und küss’ dich und fass’ es doch kaum –
Wieder unter dem Lindenbaum.

„Wieder unter dem Lindenbaum!“
Sprachst du – o schwerste der Zeiten,
Da mich zum letzten dein Arm umschlang,
Trommeln dröhnten den Markt entlang,
Hörner riefen zum Streiten.
„Glück zerfließt wie der Welle Schaum,“
Klagtest du Abends beim Lindenbaum –
Fernher tönte „die Wacht am Rhein“,
Du aber saßest betrübt und allein.

Und mir, je heißer ich deiner gedacht,
Stählt’ es das Herz und die Glieder –
Beim Feuer des Lagers, auf nächtlicher Wacht,
Mitten im wilden Gewühle der Schlacht
Rief ich: Wir sehen uns wieder.
Wir sehen uns wieder, wir bleiben uns treu,
Wir küssen, wir herzen, wir kosen auf’s Neu,
Wir sehen uns wieder am Waldessaum,
Wieder unter dem Lindenbaum.

Nun denn, wir kehrten aus blutiger Schlacht
Heim in den Tagen der Rosen;
Die stehen und duften in glühender Pracht,
Das ist die Zeit wie zum Küssen gemacht,
Zum Küssen, zum Herzen, zum Kosen,
Blüthenbedeckt auch der Lindenbaum
Wiegt uns die Herzen in wonnigem Traum,
Wir können nicht froher und glücklicher sein,
Als hier versteckt und verborgen zu Zwei’n.

Aber sieht dort nicht ein Kirchlein hervor,
Thurm und geheiligter Zwinger?
Wahrlich, schon steht auch der Pfarrer am Thor,
Hebt jetzt – was soll das? – die Rechte empor,
Lächelt und droht mit dem Finger.
Ei, ei, Herr Pfarrer, was soll uns das Droh’n?
Sachte, nur sachte, wir kommen ja schon;
Ist doch für mehr als für Zweie noch Raum
Heut’ über’s Jahr unter’m Lindenbaum.

Hermann Oelschläger.
[485]

Wieder unter dem Lindenbaum.
Für die Gartenlaube componirt von B. Woltze in Weimar.

[486]
Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses.
Von Pfarrer Ferdinand Lucius.
(Schluß.)


Nach Friederikens Abreise gehörte Goethe wieder ganz seinen Studien, ungetheilt seinen Freunden an; seine letzten Vorbereitungen zum Examen waren bald beendet; die Disputation über Theses „ging mit großer Lustigkeit, ja Leichtfertigkeit vorüber“; am 6. August 1771 ertheilte ihm die juristische Facultät der Straßburger Akademie die Würde eines Licentiaten der Rechte – und die Zeit war da, wo er von Straßburg scheiden sollte. Doch konnte er’s nicht, ohne Friederike wenigstens noch einmal zu sehen. Aber unter welchen Umständen und in welcher Gemüthsverfassung? Das erfahren wir von ihm nicht. So umständlich er früher die kleinsten Vorfälle, die unbedeutendsten Ereignisse, die geringfügigsten Nebenumstände weitläufig zu erzählen wußte, ebenso zurückhaltend ist er jetzt in seinen Mittheilungen; er stellt sich ebensowenig als schuldig dar, als er es versucht, sich zu rechtfertigen; er hüllt sich vielmehr in ein – ich will nicht sagen, vornehmes, doch jedenfalls bedeutungsvolles Schweigen ein und überläßt es dem Leser, eine beliebige Erklärung sich selber herauszubilden. „Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist“ – das ist Alles, was er uns zu sagen hat, bevor er uns die Trennung von Friederike erzählt. „Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Thränen in den Augen und mir war sehr übel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim …“ Der Vorhang fällt, das Drama ist zu Ende! – –

Wir haben es uns angelegen sein lassen, mit möglichster Treue über das Verhältniß zu berichten, in welchem Goethe zu Friederike gestanden, und, nach unserm unmaßgeblichen Dafürhalten, die Ursache darzulegen versucht, welche dessen Auflösung herbeigeführt. Wir schreiben einen geschichtlichen Aufsatz und keine moralische Abhandlung, und haben darum auch hier nicht zu untersuchen, ob der Dichter mit Recht des Treubruchs beschuldigt oder seine Handlungsweise durch ausreichende Gründe gerechtfertigt werden könne. Die Erörterung dieser Frage würde uns überdies zu weit führen und wäre jedenfalls hier nicht an ihrer Stelle.

Noch einmal jedoch sollte Goethe mit Friederike zusammenkommen. Es war im September 1779, als er den Herzog Karl August auf seiner Schweizerreise begleitete. Ueber diesen Besuch schreibt er an Frau von Stein: „Den Neunundzwanzigsten Abends ritt ich nach Sessenheim und fand daselbst eine Familie, wie ich sie vor acht Jahren verlassen hatte, beisammen und wurde gar freundlich und gut aufgenommen. Da ich jetzt so rein und still bin wie die Luft, so ist mir der Athem guter und stiller Menschen sehr willkommen. Die zweyte Tochter vom Hause hatte mich ehemals geliebt, schöner als ich’s verdiente, und mehr als andere, an die ich viel Leidenschaft und Treue verwendet habe; ich mußte sie in einem Augenblick verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete, sie ging leise darüber weg mir zu sagen, was ihr von einer Krankheit jener Zeit noch überbliebe, betrug sich so allerliebst, mit so viel herzlicher Freundschaft vom ersten Augenblick da ich ihr unerwartet auf der Schwelle in’s Gesicht trat und wir mit den Nasen aneinander stießen, daß mir’s ganz wohl wurde. Nachsagen muß ich ihr daß sie auch nicht die leiseste Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken unternahm. Sie führte mich in jede Laube und da mußt’ ich sitzen und so war’s gut. Wir hatten den schönsten Vollmond; ich erkundigte mich nach allem. Ein Nachbar der uns sonst hatte künsteln helfen wurde herbey gerufen, und bezeugt daß er noch vor 8 Tagen nach mir gefragt hatte: der Barbier mußte auch kommen, ich fand alte Lieder die ich gestiftet hatte, eine Kutsche die ich gemalt hatte, wir erinnerten uns an alte Streiche jener guten Zeit und ich fand mein Andenken so lebhaft unter ihnen, als ob ich kaum ein halb Jahr weg wäre. Die Alten waren treuherzig, man fand ich war jünger geworden. Ich blieb die Nacht und schied den andern Morgen bey Sonnenaufgang von freundlichen Gesichtern verabschiedet, daß ich nun auch wieder mit Zufriedenheit an das Eckchen der Welt hindenken, und in Frieden mit den Geistern dieser ausgesöhnten in mir leben kann.“

Fortan gingen Beider Lebenswege auseinander; sie trennten sich auf Nimmerwiedersehen. Er folgte seinem Sterne, der ihm voranleuchtete auf glänzenden Bahnen zu Ehren und Würden und Ruhm. Sie wandelte einsam und entsagend ihren stillen Pfad, um ihrer Liebe treu zu dulden und zu sterben.

Und ihr Liebeshandel mit Lenz? – könnte man fragen. Aber ich frage wieder: Hat ein solcher denn wirklich bestanden, – hat Friederike die Liebe erwidert, welche Lenz für sie empfunden und so selbstgefällig in seinen Briefen an den Actuar Salzmann geschildert und zur Schau getragen hat? Die Frage ist wohl einer kurzen Antwort werth.

Jacob Michael Reinhold Lenz, der ebenso geniale wie unglückliche Dichter, war im Jahre 1771, selbst noch ein Jüngling (er wurde geboren zu Seßwegen in Liefland den 12. Januar 1750 und war der Sohn eines mit einer zahlreichen Familie gesegneten, aber spärlich besoldeten Landgeistlichen), als Hofmeister zweier jungen liefländischen Edelleute nach Straßburg gekommen und hatte dort Goethe’s Bekanntschaft gemacht, ohne jemals wirklich dessen Freund zu werden. Goethe sagt von ihm: „Wir sahen uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit, uns zu treffen.“ – Als im darauf folgenden Jahre Herr v. Kleist, der eine seiner Zöglinge, in französische Dienste trat, begleitete er diesen nach Fort Louis, wo dessen Regiment in Garnison lag, und besuchte von da aus das nahegelegene, ihm wohl schon von Straßburg her bekannte gastliche Sessenheimer Pfarrhaus. Friederike fing eben an (Juni 1772) sich zu erholen von der schweren Krankheit, welche sie nach Goethe’s Abreise befallen und ihr ganzes Nervensystem durch und durch erschüttert hatte. Theilnehmend, tröstend und ermuthigend suchte Lenz ihr nahe zu kommen und ihre Zuneigung zu gewinnen; er wiederholte seine Besuche, und je öfter er kam, je genauer er sie kennen lernte, desto unwiderstehlicher fühlte er sich, überspannt und leichtbeweglich, wie er war, in feuriger Liebe zu ihr hingezogen. Der liebreiche Zuspruch dieses geistvollen, feingebildeten jungen Mannes, der besser als ihre Angehörigen ihren Schmerz verstand und nach seiner ganzen Größe zu würdigen wußte, mochte ihrem verwundeten, noch immer blutenden Herzen unendlich wohl thun; sie wies darum seine Huldigungen nicht von vornherein entschieden und bestimmt zurück. Es war vielleicht ein Fehler, daß sie’s nicht that; aber der eitle, so gewaltig von sich eingenommene Lenz sah darin eine stillschweigende Hinnahme seiner Bewerbung und stand nicht an, die Freude über seine erträumte Eroberung seinem väterlichen Freunde Salzmann in Straßburg triumphirend mitzutheilen.

Nach dem, was ich weiter oben von Pfarrer Brion’s Charakter und Lebensweise mitgetheilt, wird es nicht befremden, wenn ich sage, daß er seinen Kindern wenig oder kein Vermögen zurückgelassen hat. Doch hatte er Sorge getragen, daß seine Familie nach seinem Tode ein Unterkommen fände, und zu diesem Ende in der an der Landstraße gelegenen Filialgemeinde Dengolsheim ein passendes Haus entweder gebaut oder angekauft. Es steht heute noch, und nach der Aussage des vorletzten Besitzers war der dazu gehörige Baumgarten in früherer Zeit mit vielen ausgezeichnet gutes und feines Obst tragenden Bäumen bepflanzt. Die beiden Schwestern Friederike und Sophie scheinen es jedoch nicht lange bewohnt zu haben, sondern bald nach des Vaters im Jahre 1787 erfolgtem Tode nach Rothau in’s Steinthal gezogen zu sein, wo ihr Bruder Christian Pfarrer war. Hier fingen sie einen kleinen Handel mit Weberzeugen (siamoises) und irdenen Töpferwaaren an, der ihnen jedoch keinen großen Gewinn abgeworfen zu haben scheint und darum bald wieder von ihnen aufgegeben wurde, und verfertigten allerlei weibliche Arbeiten; auch nahmen sie Mädchen aus Sessenheim und der Umgegend bei sich auf. Dies ist aber nicht so zu verstehen, als ob sie eine Töchterschule oder ein Institut gegründet oder geleitet hätten; die Mädchen waren ihnen vielmehr in der Haushaltung behülflich und besuchten nebenbei, wie Sophie Brion schreibt, „Herrn Boeckel’s Schule“ zur Erlernung der französischen Sprache, in welcher sie auch im täglichen Verkehr sich zu üben Gelegenheit hatten, da sie bekanntlich im Steinthal allgemein gesprochen wird. Aus dieser Zeit stammt denn auch der vom 9. Nivose VII. (30. December 1798) datirte und „an Bürger Heintz, Agent und Anckerwirth in Sessenheim“ gerichtete [487] Brief von Sophie Brion, welchem Friederike einige Zeilen beifügt. Diese Nachschrift bietet an sich durchaus kein Interesse dar, ist aber darum doch höchst werthvoll und wird von dem jeweiligen Sessenheimer Pfarrer wohl verwahrt, weil es eines der wenigen authentischen Schriftstücke ist, die, von Friederikens Hand geschrieben, bis heute erhalten worden sind. Ein Facsimile desselben ist dem Schauspiel „Friederike“ von Alb. Grün beigegeben. Es lautet also: „Prosit’s neu Jahr, Ihr Lieben. Ja gewiß muß euch in diesem Jahre ein besonderer Seegen zufließen, weil Ihr uns mit so vielen Wohlthaten im verflossenen beschenkt hat (sic), – und doch muß ich euch gestehen, das unter allem Lieben und guten mir doch euer Rickchen[1] das Liebste ist so wir von euch erhalten. Das ist Wahrheit von euern treuen dankbaren Gevatterin Fried. Brion.

P. S. Rickchen wünscht sein groß Persenes Halstuch zu haben, in einem Land wo niemand Kleine trägt.“

Der Steinthaler Aufenthalt währte nicht viel länger als bis zum Anfang dieses Jahrhunderts. Die Behauptung, Friederike sei vorher in Paris und Versailles gewesen und habe daselbst sogar in der großen Welt eine gewisse Rolle gespielt, gehört einfach in das Reich der Sage, wie überhaupt so manches Sagenhafte über sie in Umlauf gesetzt worden ist. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diese und andere ebenso unbegründete Aussagen hier weitläufig zu erörtern und zu widerlegen. Schon im Jahre 1801 zog Friederike in’s Badische (Sophie wahrscheinlich zu gleicher Zeit nach Niederbronn) und zwar zu ihrem Schwager, dem Pfarrer Marx in Diersburg, mit welchem sie denn auch im Jahre 1805 auf die neue Pfarrei Meissenheim bei Lahr übersiedelte, und in dessen Familie sie mit längern oder kürzern Unterbrechungen bis zu ihrem Ende verblieb. Wenn man sagt, sie sei im Hause des Pfarrer Fischer gestorben, so ist dies nur halb wahr, denn Fischer hatte am 22. Februar 1813[2] Friederike Caroline, die zweite Tochter von Marx, geheirathet und war bei seinem Schwiegervater als Adjunctus angestellt bis zu dessen am 15. Januar 1819 erfolgten Tode, um welche Zeit er erst definitiver Pfarrer daselbst wurde. Hier in Meissenheim war sie nach der Aussage von Personen, die sie noch selbst gekannt oder doch mit der Familie Fischer in so vertrauter Verbindung gestanden, daß sie unzweideutigen Aufschluß geben können, unter dem Namen „die große Tante“ bekannt, während Sophie, ihre ebenfalls ab und zu im Pfarrhause sich aufhaltende Schwester, „das Täntele“ hieß. Die Leute schildern Friederike als eine schlanke, hagere, ziemlich hochgewachsene Figur mit schönen freundlichen Augen. Sie lebte still und zurückgezogen, von Armen und Reichen gleich lieb und werth gehalten; allenthalben spendete sie bereitwillig Rath und Trost, und ihr größtes Glück war das, Bedürftigen und Nothleidenden Hülfe zu bringen, oft ohne Rücksicht auf die geringen Mittel, die ihr zu Gebote standen. Von ihrer Jugendliebe und ihrem Verhältniß zu Goethe – es ist dies eine vielbezeugte Thatsache – hat sie in dieser letzten Periode ihres Lebens nie und zu Niemand gesprochen, und es fehlt jeder Anhaltspunkt, dieses beharrliche Stillschweigen auf die eine oder andere Weise zu erklären.

Auch in ihren vorgerückteren Jahren noch hatte sie etwas so Freundliches, Liebevolles und Herzliches in ihrem Benehmen, daß sie ohne Mühe die Zuneigung aller Derer gewann, welche mit ihr in Berührung kamen. Auch schreibt mir eine Dame, an welcher Friederike während etwa anderthalb Jahren (1804 und 1805) Mutterstelle vertrat und die Aufsicht über das Hauswesen führte:

„Sie war sehr gut mit uns Kindern und behandelte uns außerordentlich liebevoll. Noch lange, wenn ich als Kind von einem Engel reden hörte, so dachte ich ihn mir wie Tante Brion, in einem weißen Kleide. Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie sie heftig weinte, als sie uns nach Ankunft meiner Stiefmutter verließ und mich zu wiederholten Malen in die Arme nahm und küßte. Ihr Verhältniß in meines Vaters Hause war ein sehr achtungsvolles.“

Ueber ihren Todestag giebt das Meissenheimer Kirchenprotocoll folgende Nachricht: „Samstag den 3. April Nachmittags um 5 Uhr starb dahier Friederika Elisabetha Brion, des weil. Joh. Jac. Brion, gewesenen Evangel. Luther. Pfarrers in Sessenheim und weild. Maria Magdal. einer geborenen Schoell ehel. erzeugte ledige Tochter in einem Alter von ohngefähr 58 Jahren; es wurde dieselbe heute den 5. April 1813 Abends um 5 Uhr begraben. Die Zeugen waren:

1) Christian Friedrich Gockel, Pfr. zu Ichenheim und Neffe der Verstorbenen.
2) Philipp Jacob Redslob, Pfr. in Allmannsweier und Neffe der Verstorbenen.

Meissenheim den 5. April 1813. M. Gottfried Marx, Pfr.“

Vor wenigen Jahren noch suchte man ihr Grab vergebens auf dem Gottesacker von Meissenheim; kein Kreuz, kein Stein bezeichnete es.“ Wohl hatte ihr Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ ein Denkmal gesetzt, schöner und dauerhafter als irgend ein in Erz gegossenes oder in Stein gehauenes, und so lange der Name des großen Dichters genannt wird, so lange wird auch Friederikens Name unvergessen bleiben. Doch auch von ihrem Grabe (sagt Leyser, Goethe zu Straßburg, S. 189 und 190; s. Gartenlaube 1869, S. 702) sollte der Bann genommen werden. Zwei wackere deutsche Männer, der rheinische Dichter Hugo Oelbermann und Friedrich Geßler von Lahr, wanderten in der Mitte der sechsziger Jahre zur verlassenen Grabstätte und beschlossen dort, einen Aufruf ergehen zu lassen zur Herstellung eines einfachen Denksteins. Ihr geflügeltes Wort ward rasch und weithin verkündet von den feurigen Zungen der Presse; bald wurden Gaben gespendet aus allen Gauen deutschen Landes, selbst aus Rußland und Siebenbürgen, und nach mancherlei Kämpfen mit dem leidigen Philisterthum wurde endlich dem Lahrer Comité die Freude zu Theil, am 19. August 1866 in einfacher, aber ergreifender Feier den Friederiken-Denkstein, ein Meisterwerk Hornberger’s, enthüllt zu sehen. – An die östliche Mauer des Kirchleins lehnt sich das einfache, doch edel gehaltene Denkmal: aus Goldgrund heraus grüßt uns eine Marmorbüste: es sind Friederikens Züge, wie sie der Phantasie des Künstlers entstiegen; Züge, auf denen bereits das Morgenroth der Verklärung zu spielen scheint, und doch mit jener ganzen Anmuth und Lieblichkeit geschmückt wie damals, als der Musensohn von Straßburg zum ersten Male sie erblickte. Die höchst sinnige Inschrift von Eckard lautet:

          Friederike Brion
     von Sesenheim gewidmet.

Ein Strahl der Dichtersonne fiel auf sie,
So reich, daß er Unsterblichkeit ihr lieh.

Hier angelangt, lege ich – ohne andere einschlägige Fragen zu berühren oder weiter zu besprechen – die Feder nieder, die ich, ich darf’s wohl sagen, nicht eitel mich selber überschätzend ergriffen. Ich hätte wahrlich nicht daran gedacht, aus meiner stillen mir liebgewordenen Verborgenheit heraus, mit meiner geringen und unvollkommenen Arbeit vor ein größeres Publicum hinzutreten, wenn ich nicht vielfach wäre aufgefordert worden, zusammenhängend niederzuschreiben, was ich über die Familie Brion und besonders über Friederike in Erfahrung gebracht, und, meine Stellung benutzend, historische und locale Einzelnheiten mitzutheilen, die man wohl anderswo vergeblich suchen dürfte. Ich habe dies bestmöglichst zu thun versucht; ob und in wie fern ich mein Ziel erreicht, mag der geehrte Leser selbst nun beurtheilen, indem er das hier Gebotene mit dem vergleicht, was Andere schon [488] früher über denselben Gegenstand der Oeffentlichkeit übergeben. – Es sei mir noch vergönnt, zum Schluß das gelungene Sonett folgen zu lassen, in welchem unser sangreicher Mühlhauser Dichter Friedrich Otte (Zetter) das liebliche Bild der Sessenheimer Pfarrertochter so schön[3] und treffend gezeichnet hat:

Das ewig Weibliche, das ewig Schöne,
Du holdes Kind! laß mich’s in dir begrüßen,
Ob auch der Haß, die schnöde Lust zu büßen,
Dein Leben und dein Lieben noch verhöhne!

Horch! sind das nicht des Kirchleins Glockentöne?
Die Laube rauscht und sieh’! Dir liegt, der Süßen,
In seiner Liebe Seligkeit zu Füßen
Der glücklichste der deutschen Musensöhne,

Erröthend neigst du, zwischen Ernst und Scherzen,
Dein Haupt hernieder zum geliebten Gaste,
Dem unumschränkten Herrn in deinem Reiche.

Genügsam thront er noch in deinem Herzen,
Er, dessen Herz, das hohe, göttergleiche,
In spätern Zeiten eine Welt umfaßte.




Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
Nr. 8. Aus den Aufzeichnungen einer Pflegerin.[4] I.


Achtundfünfzig Stunden hatte ich nun schon mit siebenzehn anderen Pflegerinnen, die gleich mir in T. die Weisung erhalten hatten, sich schleunigst in die Nähe von Saarbrücken zu begeben, wo die Kämpfer von Speichern mit zerschossenen Gliedern der Hülfe harrten, auf den harten Bänken der Eisenbahnwaggons zugebracht, als wir am Abend eines der ersten Augusttage ermüdet und ausgehungert endlich im St. Johanner Bahnhofe ankamen, wo uns der Befehl ward, weitere Aufträge abzuwarten. Noch während wir den von den Franzosen zerschossenen südwestlichen Flügel des Bahnhofes mit seinem zerstörten Damensalon und ausgebrannten Speisesaal in Augenschein nahmen, brachte jeder ankommende Zug ganze Schaaren von freiwilligen Pflegerinnen. Da hatten die Bonner, die Kölner, die Mainzer etc. ihre jungen Mädchen in’s Feld gesandt, leider, wie sich später herausstellte, ohne Auswahl, ohne die so nothwendige Prüfung der Kräfte und der Sittlichkeit. Wer sich meldete, wurde unbedenklich angenommen, und nur in Folge dessen ist später die freiwillige Krankenpflege so stark und, leider muß ich bekennen, so sehr mit Recht geschmäht worden. Wie sehr schon hier in Saarbrücken das rothe Kreuz verpönt war, lernten wir bald erkennen, so daß wir uns später scheuten, mit der einst so stolz zur Schau getragenen Binde das Haus zu verlassen.

Tief erschüttert verließen wir das Schlachtfeld, das wir am zweiten Tage unseres unfreiwilligen Aufenthalts besuchten. Drunten im Thale ragt ein großes Kreuz zum Himmel. Zwei rohe Balken mit Stricken verbunden bezeichnen die Stätte, wo General François mit seinem Sohne schläft. Ohne Sarg ruhen die Beiden in kühler Erde, um sie her die Tapferen von Speichern, die in den Hospitälern ihren Wunden erlegen.

„Hundertvierundfünfzig Mann, sechszehn Officiere liegen bereits hier,“ spricht einer der Todtengräber, in seiner Arbeit innehaltend, als wir uns nähern. „Seit der furchtbaren Schlacht schaufeln wir Tag für Tag und können nicht genug Hände finden, die Todten zu begraben. Sehen Sie, dort werden schon wieder welche herbeigebracht.“

Von der Landstraße ab lenkt in vollen Lauf ein mit zwei Pferden bespannter Wagen auf uns zu. Zwischen dem dünnen Stroh liegen, in Leintücher gehüllt, vier stille Gestalten. Der Wagen hält vor der Verwesung aushauchenden Grube. – Die starre Hülle eines Preußen sinkt hinab. Eine Hand voll Stroh, eine Schaufel Erde darüber und ein Franzose mit von geronnenem Blute überzogenem Antlitz wird auf ihn gebettet. Wieder Stroh und wieder Erde: ein Franzose mit einem Bein, ein Anderer mit durchschossener Brust folgen nach. Kalk und Sand rollen über die Todten hinab, – die Männer schaufeln weiter an dem Riesengrab, und fort eilt der Wagen, der gähnenden Gruft weitere Opfer zuzuführen. –

Am 15. August durchläuft ein dumpfes Gerücht von einer blutigen Schlacht bei Metz die Stadt. Der Abend bringt die Nachricht des Sieges bei Pange. Voll Ungeduld erwarten wir den Befehl zur Abreise nach dem Schlachtfelde. Unsere Hoffnung ist vergeblich. Schon hat der 16. August Tausende dahingerafft, und noch immer müssen wir unbeschäftigt in Saarbrücken bleiben. Einige von uns sind bereits entschlossen, den Rückweg anzutreten, als endlich am 17. August der Befehl kommt, in einer Stunde uns am Bahnhofe einzufinden, um in der Nähe der blutigen Wahlstatt den Verwundeten die nöthige Hülfe zu bringen. Eilig nehmen wir Abschied von unseren freundlichen Wirthen; diejenigen, welche das Glück haben, ihr Gepäck noch zu besitzen, raffen das Nothwendigste an Kleidern und Wäsche in leichten Reisetaschen zusammen und so stürmen wir zum Bahnhofe. Welch ein Gedränge! Alle Städte scheinen freiwillige Pfleger gesandt, alle Klöster ihre Bewohner ausgespieen zu haben. Unsere staunenden Blicke begegnen außer Militär aller Waffengattungen nur Trägern des rothen Kreuzes, die Alle, gleich uns, auf das Zeichen der Abfahrt harren. Wie das wogt und tost und durcheinander eilt!

Ein schlanker braunlockiger junger Mann mit siegesgewisser Haltung, in untadelhaftem Schlachtenbummlercostüm schreitet vornehm grüßend an uns vorüber. Verblüfft schaut eine unserer Begleiterinnen, eine blonde Pfarrerstochter, ihm nach.

„Es ist wahrhaftig meines Bruders Barbier,“ ruft sie endlich lachend aus, „und der Dicke neben ihm unser Tapezierer; was wollen die im Felde?“

Ja, was wollen sie Alle im Felde, die duftenden und wohlfrisirten Herrchen in hellen Glacés und die jungen Damen in coquettem Pflegercostüm? Wie wenig sie an die Erfüllung ihrer schweren Pflichten denken, zeigt schon jetzt das laute Lachen, die herausfordernden Blicke und das ganze tactlose Benehmen dieser Pflegerschaar. Mein Held vom Kräuseleisen mag indessen ein ganz vorzüglicher Krankenträger sein, trotz der gebrannten Locken und dem gewichsten Schnurrbart. Ich kenne ihn nicht; ich tadle nur Diejenigen, die, wie bereits gesagt, ohne Auswahl Jedweden in’s Feld schickten, der sich zur Pflege anbot, mochte er nun eine interessante, billige Vergnügungstour dabei im Auge, oder wirklich den festen Willen zu helfen gehabt haben.

Nachdem wir eine ganze Nacht und einen ganzen Tag theils frierend, theils hungernd gefahren, erreichten wir endlich Abends unsern Bestimmungsort Remilly. Schon vorher war uns Zug um Zug mit Verwundeten von den schrecklichen Tagen bei Metz begegnet. Hier in Remilly aber bedeckte Mann an Mann auf nothdürftiges Stroh gebettet den Perron und den eilig errichteten Verbandplatz, erschöpft von Blutverlust, halb verschmachtet von Hunger und Durst – Vielen ist volle drei Tage lang kein Bissen Brod, kein Trunk Wasser über die bleichen Lippen gekommen. Hier thut Hülfe noth und wir Alle greifen bis in die tiefe Nacht hinein zu, wo und wie wir können. Endlich denken auch wir daran, eine Lagerstätte für unsere müden Glieder aufzusuchen; keine leichte Aufgabe in dem von Truppen überfüllten Flecken. Es muß einst ein herrliches Stückchen Erde gewesen sein, ehe der blutige Krieg dasselbe überzog. Jetzt sind die reizenden Schlößchen von ihren Bewohnern verlassen und theilweise zerstört, die wohlgepflegten Parks verwüstet, die niedlichen Landhäuser von tapfern, aber nicht eben schonungsvollen Kriegern überfüllt. In einem solchen Landhause finden auch wir ein Obdach.

Um sieben Uhr Morgens brechen wir zum Verbandplatz auf. Es ist der 19. August und Tags vorher die furchtbare Schlacht bei Gravelotte geschlagen worden. Noch sind die Schlachtfelder vom 14. und 16. August nicht geräumt und schon liegen abermals Tausende auf der blutgetränkten Erde und verlangen schleunige Hülfe. Was transportirt werden kann, wird in Eisenbahnwaggons und Leiterwagen weiter gesandt und macht Halt in Remilly, um sich verbinden und speisen zu lassen. Hier stehen Waggon an Waggon, Wagen an Wagen mit Verwundeten, hier ist das Hauptdepôt [489] der Johanniter, und Vorräthe genug, die Ausgehungerten zu sättigen. Welch ein Uebermaß von Jammer und Leid begegnet dem Auge!

„Einen Bissen Brod, seit sechsunddreißig Stunden sind wir ohne Nahrung,“ bittet ein bleicher Krieger, wie ich eben mit gefülltem Korbe zum Verbandplatz eile. Ich reiche ihm schnell ein wohlbelegtes Butterbrod hin, aber keine Hand streckt sich aus dem staubbedeckten Mantel, es in Empfang zu nehmen.

„Meine beiden Arme sind zerschmettert,“ entgegnet er traurig meinem fragenden Blick und sinkt seufzend auf sein Lager. Ich beuge mich herab, ihn zu füttern, aber es dauert gar zu lange, bis er gesättigt ist, endlich erbietet sich ein mitleidiger Camerad mit zerschossenem Unterschenkel, der neben ihm im Stroh liegt, mein Amt zu übernehmen, denn immer neue Verwundete treffen ein und nehmen Hülfe in Anspruch.

Eine Jammergestalt schwankt heran. In dem weitgeöffneten Munde liegt schwarz und aufgedunsen die Zunge; noch stecken die Zähne darin, die eine in die Backe gedrungene Kugel aus den Kiefern gerissen. Den Armen hungert furchtbar, und doch kann er Nichts essen. Der Versuch, ein rohes Ei ihm einzuflößen, mißlingt; erst müssen die Zähne heraus, alsdann probiren wir’s mit Bouillon. Ein Feldkessel wird heimlich annectirt, und während das Wasser kocht, werden die Zähne aus der Zunge entfernt. Jetzt geht’s, und gierig schlürft er die von Fleischextract bereitete Suppe.

Horch, welch ein gräßlicher Schrei! – Ein Unglücklicher windet sich unter den Händen der Aerzte, die ihm mit raschen Schnitten die Kugel aus dem Unterleibe trennen.

Heiß brennt die Mittagssonne herab, doch den, der dort auf dürftigem Stroh liegt, erwärmt ihr Strahl nie mehr, todt hob man ihn vom Wagen herab. –

Keuchend und schweißtriefend eilen wir unter den Verstümmelten umher; keine Müdigkeit wird empfunden, Hunger und Durst mit einem Stückchen Brod, einem Glase Rothwein befriedigt.

„Milch! um Gotteswillen, eine Tasse heiße Milch!“ stürzt athemlos ein Trainsoldat heran.

„Was ist geschehen?“

„Man hat einen Soldaten vergiftet, ein französisches Weib soll die Mörderin sein.“

„Herr Gott, wo ist die Furie?“

„Ja, wo ist das olle Weibsbild?“

„Bereits festgenommen!“

„Hurrah! hat ihm schon, das französische Racker.“

„Ohne Gnade muß sie erschossen werden!“

„Nein, gehangen, eine Kugel ist zu gut für die Megäre.“

„Die muß ich baumeln sehn!“

„Ich auch!“

„Ich ebenfalls!“

So tobt die forteilende Menge in wildem Durcheinander und stürzt nach allen Seiten, Opfer und Mörderin zu suchen, ohne an Hülfe zu denken. – Im Hauptdepôt ist condensirte Milch, heißes Wasser findet sich glücklicherweise auch vor; – indessen jeder Beistand kommt bei dem Unglücklichen zu spät, in einer Stunde ist Alles vorüber.

„Was war’s, was man dem Armen gereicht?“

„Unverdünnte Carbolsäure hat der Unvorsichtige getrunken,“ entgegnete der Arzt. „Ein Nachlässiger hat die beim Verband gebrauchte Säure im Stroh liegen lassen. Der durstige Soldat trinkt in der Meinung, die Flasche sei mit rothem Wein gefüllt, und merkt erst seinen Irrthum, nachdem es zu spät ist.“

„So hat ihn keine Französin vergiftet?“ fragen die Umstehenden enttäuscht. Sie haben sich vergeblich auf eine interessante Hinrichtung gefreut.

Zwischen den Leiterwagen mit ihrer blutigen Last halten die Marketender. Sie machen glänzende Geschäfte. Körbe voll Butterbrod mit und ohne Schinken stehen auf dem vordersten Sitz, rother Wein lockt die Durstigen herbei. Ich staune über die Vorräthe und die merkwürdige große Aehnlichkeit, welche sie mit den im kleinen Depôt fabricirten Butterbroden haben.

„Das ist kein Wunder,“ lacht ein junger Mann, den ich darauf aufmerksam mache, „soeben noch war ich ungesehen Zeuge, wie eine niedliche Pflegerin ihren Korb voll Brod um geringen Preis einem Marketender verkaufte, statt ihn den Verwundeten auszutheilen. Es war nicht die Erste, die es that, und wird auch nicht die Letzte sein, so wenig wie jener elegante Krankenträger der Einzige ist, der die Weinflaschen aus dem Depôt escamotirt, um sie mit seinen Cameraden zu trinken oder für wenig Geld hier zu verhandeln.“ –

Ein Gewitter ist heraufgezogen, der Donner brüllt, die Blitze zucken und dunkle Wolken zucken mit strömendem Regen. Den ganzen Tag sind Arbeiter beschäftigt gewesen, ein Bretterdach über den mit Verwundeten angefüllten Perron zu schlagen, aber nicht die Hälfte kann dort geborgen werden. Auch auf dem Verbandplatz liegen weitaus die Meisten unter freiem Himmel, trotzdem mehrere Hunderte Raum in der dort aufgeschlagenen Baracke finden. Schon fallen einzelne Tropfen. Ob verbunden oder nicht, gesättigt oder hungernd, die Verwundeten müssen schleunigst in die Waggons geladen werden. Ab und zu eilen die Krankenträger mit ihren Bahren. Auf den verschlungenen Händen tragen die Gesunden ihre verwundeten Cameraden, auf ihren Krücken und Stöcken schleppen die Anderen sich herbei; dort stützt ein Stöhnender mit zerschossenem Fuß sich auf die Schulter eines starken Wehrmannes, dem eine Kugel das rechte Auge verletzte, – Blinder und Lahmer sich gegenseitig unterstützend. –

Schon fließt der Regen in Strömen, ehe sie Alle untergebracht sind. Bis auf die Haut durchnäßt eile ich bei einem der harrenden Züge von Waggon zu Waggon mit Körben voll Brod und Kannen Wein oder Limonade. Trotz der oft fürchterlichen Wunden sind die meisten Kranken guten Muthes; geht es doch nun der lieben Heimath zu, wo sorgfältige Pflege sie bald wieder herstellen wird. Wie Wenige ahnen, daß die liebevollsten Bemühungen sie nicht mehr dem Tode entreißen können! – Langsam setzt sich endlich der Zug in Bewegung, fort, der Heimath zu, und ich eile nach unserer Wohnung, eine warme Hülle über die durchnäßten Kleider zu werfen, denn das Gewitter hat die Luft bedeutend abgekühlt. Aber schon kommt die Hauptstraße herab Wagen auf Wagen mit den Opfern von Gravelotte, durchnäßt, zitternd vor Kälte, gequält von Hunger und Durst und stöhnend vor Schmerz bei jedem Stoß des schwerfälligen Fuhrwerks. Ueber diesem Elend vergißt man die eigenen Unbequemlichkeiten. Wieder geht’s hinab in’s kleine Depôt und zurück zu den überfüllten Wagen. Der ganze Marktplatz ist mittlerweile von Fuhrwerken angefüllt. Zwischen Rädern, unter Pferdebäuchen hindurch, über Steine und glimmende Wachtfeuer eilen wir mit gefüllten Körben zu den Jammernden. – Die Nacht sinkt kalt und sternlos herab; dicht werden die Unglücklichen in den Baracken gebettet, dicht auf dem feuchten Stroh unter freiem Himmel und dicht auf der kalten nackten Erde, und noch immer rasseln die schrecklichen Wagen heran.

Hinter den Baracken des Verbandplatzes, in einem einst sorgfältig angelegten Garten, lodern riesige Feuer zum düstern Himmel empor. Tag und Nacht dampfen die Kessel über demselben, Tag und Nacht sind Soldaten zum Kaffeekochen dorthin commandirt. Ein Unterofficier leitet die Arbeit und prüft das Fabrikat. Gemeine schleppen Holz, Wasser und Kaffee herbei und zerstoßen ihn in großen eisernen Mörsern. Krankenträger und Pflegerinnen schöpfen in Eimer, Gießkannen, Milchtöpfe, Flaschen und Krüge und selbst in kostbare, aus den Schlössern genommene Vasen den wärmenden Trank, und wo die dampfenden Gefäße erscheinen, bildet sich ein dichter Kreis und hundert braune Hände strecken sich mit Bechern, Tassen, Näpfchen, Feldkesseldeckeln aus; selbst aus Mützen und Mantelzipfeln wird der heiße Labetrunk geschlürft. Zwanzig bis dreißig Schritte vom Verbandplatz brodelt in ungeheurem Kessel die Zwiebacksuppe. Dorthin werden die geleitet, die durch den Mund geschossen keine consistente Nahrung zu sich nehmen können. Mit Wein, Ei und Zucker gewürzt ist dies das erste Stärkende, was die Armen seit mehreren Tagen genießen können. Wie dankbar sind sie, wie geduldig tragen sie ihr Leid, zufrieden, ihre nassen Kleider trocknen, ihre erstarrten Glieder am Feuer wärmen zu können.

Wie die Nacht vorrückt, hellt sich der Himmel auf und der Vollmond gießt sein bläuliches Licht über die nächtliche Scene. Auf dem Markte ist es stiller geworden. Noch füllen die Wagen, welche die blutige Ernte des Krieges herbeigebracht, den düstern Platz; aber sie stehen nun leer und schlafend liegen die Fuhrleute zwischen den todmüden Pferden. Unter den dunkeln Kastanienbäumen in der Mitte des Marktes ruhen an den verglimmenden [490] Feuern die Obdachlosen in ihre Mäntel gehüllt. Zum Tode erschöpft von ihrer blutigen Arbeit gleitet eine Dame mit feinen Zügen von einem Verwundeten zum andern; sie will nicht rasten, bis Alle verbunden und der kommende Tag die Leidenden nach den deutschen Lazarethen entführt. Mit festem Willen besiegt sie jede Anwandlung von Schwäche und erfüllt heldenmüthig ihre Pflicht. Durch die thürartigen Ausschnitte der Baracken sieht man die lodernden Feuer der Kaffeeküche und die sie umgebenden Gruppen, Soldaten, Leichtverwundete und Pflegerinnen der untern Stände. Sie haben das Elend um sich her vergessen; frivole Redensarten beleidigen das Ohr, rohes Gelächter erschallt, und erschrocken wendet sich das Auge von Scenen, welche die Gemeinheit dieser fühllosen Naturen bekunden.

Je mehr die Nacht dem Morgen sich nähert, je kälter wird die Luft. Kaum können meine erstarrten Hände noch die Vorräthe halten. Wie im Nebel sehe ich das grelle Roth der Fackeln, die durcheinander eilenden dunkeln Gestalten, die ganze bewegte Scene, über welche der Mond sein silbernes Licht vom klaren Himmel herabgießt. Halb bewußtlos schreite ich über die am Boden Liegenden; ihre Bitte um eine warme Decke, einen Mantel, nur eine Handvoll Stroh, schlagen dumpf an mein Ohr; unter Wagen und Pferden hindurchkriechend, erreiche ich unser Quartier und sinke erschöpft auf das harte Lager.

Die überstandene Anstrengung hält mich auch den ganzen nächsten Tag auf dem Lager; ich bin krank. Aber ich muß gesund werden und zwar ohne Arzt; denn keiner von all’ den Gerufenen kommt. Die Einen sind bei den Verwundeten und die Anderen müssen ihre ärztliche Hülfe den Port- und Xeresweinen in der kleinen Stube des großen Johanniterdepôts angedeihen lassen. Wie gesagt, ich wurde trotzdem wieder gesund und begab mich sofort am zweiten Tage zur Nachtwache im Ruhr- und Typhuslazareth, dessen schrecklicher Dienst alle Nerven anspannte und einen kaum glaublichen Grad von Selbstüberwindung erforderte.

Den folgenden Tag, es war am 23. August, strömte der Regen unaufhaltsam nieder, die Straßen sind eine fortlaufende Kothlache, Stroh und Matratzen durchnäßt, auf denen die unausgesetzt ankommenden Verwundeten untergebracht werden sollen. Es sind meist Franzosen, oft schauderhaft verstümmelt.

Bei der feuchtkalten Witterung ist das Erneuern der Verbände an den Wunden unzulässig. Nur nach Speise und Trank verlangen die Eintreffenden und im Depôt sind nicht Hände genug, Alles zu liefern.

Einem schlanken jungen Mann ist die oberste Leitung desselben übertragen, eine Wittwe aus Köln hat die Aufsicht über die Vertheilung der Vorräthe und nennt sich mit Stolz „Directorin“. Die Stube, aus welcher fortwährend ungeheure Vorräthe gebracht und an die Hungernden vertheilt werden, war das Schlaf- und Wohnzimmer des frühern französischen Bahnwärters. Jetzt haben sich die Leute in den obern Theil des kleinen Häuschens zurückgezogen, den untern, Küche und Wohnstube, den Johannitern überlassen. Noch stehen die zwei breiten Betten in dem Raum, jetzt die Behältern aller möglichen Sachen. Zuckerhüte, Citronen, Cigarrenkisten, Schweizerkäse, Cognacflaschen, Kasten etc. füllen in wirrem Durcheinander das eine; auf dem Rande des andern sitzen vor einer großen Kiste Tag und Nacht zwei Soldaten und schneiden in dieselbe Stücke Brod von dem am Boden aufgethürmten Vorrath ab. Fünfhundert Brode sind so an einem Tage verschnitten und auf dem am Fenster stehenden Tisch mit Butter bestrichen, mit Schinken belegt worden, und doch reichte dies nicht aus, Alle zu sättigen. Neben der Thür steht die Limonade in großen Kübeln, den Raum zwischen den Betten nimmt ein mit einer Mischung von Rothwein, Zucker und Wasser gefülltes Faß ein, und jede Ecke ist mit Körben voll Eier, Schinken, Buttertöpfen und Weinflaschen vollgepfropft.

„Ach, Gott sei Dank, hier giebt’s was zu essen!“ mit diesem Ausruf stürzt eine Schaar junger Männer in das enge Gemach.

„Ja wohl, aber nur für Verwundete,“ tritt ihnen die Wittwe mit Directormiene entgegen. „Drüben im Hauptdepôt konnen Sie vielleicht Etwas bekommen.“

„Da waren wir schon und man hat uns hierher gewiesen,“ entgegnet einer der rothbekreuzten Jünglinge.

„Ja, sehen Sie, meine Herren,“ beginnt die Wittwe mit Würde, „ich bin hier als Directorin angestellt und darf –“

„Ach was, hier, essen Sie nur,“ falle ich der würdigen Dame in die Rede und theile schnell aus, was eben vorhanden. „Ein Glas Rothwein sollen Sie auch haben unter der Bedingung, daß einige von ihnen sich des Brod- und Schinkenschneidens annehmen, unsere Mädchen haben bereits die Hände voll Blasen und unsere soldatische Hülfe ist eben abgerufen.“

Ein kurzer, dicker Sohn Hamburgs meldet sich zum Schinken; da sein Vater Hôtelbesitzer sei, verstehe er das Tranchiren. Ein junger Oekonom aus der Nähe der Hansestadt setzt sich an den Brodkasten, ein Kaufmannssohn folgt ihm und unter ihren starken Händen füllen die Stücke rasch den Behälter.

„Das hätten wir Hamburger Krankenträger nicht erwartet, zu solcher Arbeit commandirt zu werden,“ lacht der junge Kaufmann und besieht seine zarte Hand, deren innere Fläche dunkel geröthet ist.

„Auch nicht, daß wir einmal gründlich das Hungern lernen müßten,“ entgegnet sein Nebenmann; „aber sieh nur dort, wie schrecklich!“ unterbricht er sich und deutet nach der Thür.

Langsam schreitet ein Verwundeter herein mit schlotternden Knieen, gänzlich entkräftet, das Haupt mit blutigen Tüchern umwunden, das Antlitz gedunsen und furchtbar entstellt. Noch hängt auf der Backe das rechte Auge, das eine Kugel ihm herausgerissen, und gewährt einen scheußlichen Anblick. Kaum verständlich bittet der arme Hannoveraner um etwas Nahrung. Brod vermag sein verschwollener Mund nicht hinunter zu bringen, ein rohes Ei und etwas Suppe ist das Einzige, was er genießen kann. Glücklicherweise ist dieses schnell herbeigebracht, denn seit das kühle Wetter eingetreten, dampft der Suppenkessel beständig über dem Feuer.

„Haben Sie nicht etwas warme Nahrung für zwei kleine Ausreißer?“ fragt herzutretend ein Unterofficier. „Die armen Kerle sind halbverhungert.“

Ich fülle einen herrenlosen Feldkessel mit Suppe und folge in das kleine Bahnhofgebäude. Auf der Bank im Hintergrunde des frühern Gepäckzimmers – ich glaube jetzt Etappenbureaus – sitzen zwei Knaben von vierzehn bis fünfzehn Jahren, zerrissen, schmutzig, hohläugig, mit halb trotzigen, halb weinerlichen Gesichtern. Es sind die kleinen „Ausreißer“, Knaben aus guter Familie, die heimlich das elterliche Haus verlassen hatten, um mit den Soldaten in den Krieg zu ziehen. In der Nähe des Schlachtfeldes von Gravelotte fand man die zu früh flügge gewordenen Vögel, die offenbar jetzt froh waren, wieder in das elterliche Nest zurückgebracht zu werden. Neben diesen verlorenen Söhnen sitzt ein Mann in blauer Blouse, kothbedeckt, zerzaust, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit mit Beulen, Schmutz und Blutflecken bedeckt; die blutunterlaufenen Augen blicken scheu umher und haften zuletzt begehrlich auf der dampfenden Suppe. Der augenscheinlich vom Hunger gequälte Mensch jammert mich; eben will ich forteilen, auch ihm etwas Speise zu bringen, als der hereintretende Officier mit den Worten auf ihn deutet:

„Also dies ist der Leichenräuber?“

„Zu Befehl, Herr Hauptmann, man hat einen Sack unter seinem Marketenderwagen gefunden, voll von Werthsachen, Uhren, Ketten, Ringe, in deren zwei noch die abgeschnittenen Finger steckten. Sie sehen, unsere Leute haben ihn gerade nicht sanft bei der Entdeckung behandelt.“

Der Officier blickte finster im das von Mißhandlungen entstellte Gesicht, und scheu rücken die Knaben von dem Elenden zur Seite, der auf solche Weise den deutschen Namen schändete. –

Auf dem Perron werden die mit Speise und Trank erquickten Verwundeten in die Waggons geladen. Freiwillige Krankenträger aus allen Ständen, aus allen Theilen unseres deutschen Vaterlandes betten ihre stöhnende Last in die mit Stroh belegten Packwagen. Wer gehen, ja wer nur mühsam an Stöcken fortkriechen kann, schleppt sich vom Verbandplatz herauf. Ein schrecklicher Zug von Jammer und Elend, diese bleichen hohläugigen Gestalten in den bunten, jetzt zerrissenen und schmutzbedeckten französischen Uniformen. Aber so viel ihrer auch eingeladen werden, leer wird es nicht auf dem Platze drunten, immer Neue werden herbeigefahren. Schon strecken sich wieder hundert Hände nach Nahrung aus, und die angestrengteste Thätigkeit weiß kaum sie alle zu füllen. Die „Directorin“ ist knurrig, denn die Hungernden stürmen förmlich das kleine Häuschen, und die Krankenträger und Pflegerinnen schleppen solche Massen von Vorräthen heraus, daß der Verdacht entsteht, ein Theil derselben verkaufe das Brod an die Marketender oder verschenke Cigarren, Eier etc. an ihre besonderen Freunde.

[491] Aber kaum sehen die Verdächtigen die begehrten Vorräthe sich auf solche Weise verweigert, so erbeben sie einen furchtbaren Tumult und schreiend und ihre Unschuld betheuernd stürmen sie in dem engen Raume umher. Unsere wieder eingerückten militärischen Brod- und Schinkenschneider drängen sie bald zur Thür hinaus und schließen ab. Eine junge üppige Blondine, in elegantem Pflegercostüm, mit Hut und Schleier, die sich für die Wittwe eines 1866 gefallenen schlesischen Barons ausgiebt und unter dem besondern Schutze einiger Johanniter steht, schleudert noch eine Fluth der gemeinsten Schimpfreden im reinsten Berliner Straßenjargon durch die zerbrochene Scheibe der Stubenthür und bekundet dadurch eine Abstammung, die wenig der „Baronin“ einspricht. –

„Nur herein, meine jungen Freunde, immer mir nach, hier werden Sie schon was zu essen finden,“ schnarrt eine verrostete Stimme im kleinen Hausflur, und ein gedunsenes Gesicht mit dunkelgefärbter Porternase starrt durch die Scheiben der geschlossenen Thür. Die „Directorin“ sieht finster drein, sie kennt den Oberst, der stets hungrig und durstig hundert Mal des Tages mit jungen oder alten Freunden erscheint, sich gerirt, als wäre das ganze Depôt sein Eigenthum, und dieses opferfreudig den Freunden zur Verfügung stellt, dabei das Beste aber mit überlegener Klugheit sich selbst aneignend.

„So, nehmen Sie Platz, machen Sie sich’s bequem, meine Herren,“ wendet er sich zu den ihm folgenden jungen Officieren, sobald die Thür geöffnet ist, und zieht rücksichtslos den beschäftigten Pflegerinnen die Stühle fort. „Befehlen Sie Cognac, Rum, Xeres oder alten Portwein? Sie haben doch alten Portwein, meine Liebe?“

Die Wittwe bejaht mit sauersüßem Lächeln.

„So würde ich Ihnen diesen edeln Spanier empfehlen, nehmen Sie Portwein, ganz vortrefflich,“ und er schnalzt mit der Zunge und gießt ein Glas des feurigen Tranks auf einen Zug hinunter. „Hier sind Butterbrode, meine Herren, wünschen Sie Schinken oder feinen Schweizerkäse? Geniren Sie sich nicht, denken Sie, Sie seien zu Hause,“ ruft er mit Gönnermiene, während unglaubliche Quantitäten Käse, Portwein und selbst Cognac hinter seinem struppigen Schnurrbart verschwinden. Endlich scheint der Oberst gesättigt und zieht mit seinen Pflegebefohlenen ab, aber nur um in kurzer Zeit mit anderen Freunden wiederzukommen und dasselbe Manöver von Neuem zu beginnen. – –
F. K.




Aus den Tagen des Berliner Jubels.
Vier bedeutungsvolle Freitage. – Die Krone des Ganzen. – Specielle Erinnerungsperlen. – Festgäste und pommersche Ochsen. – In Krone und Hermelin. – Ein unpassender Vergleich. – Die Triumphstraße. – Ein Wort über das künstlerische Element des Festes. – Unter den Linden. – Kanonenstudien. – Auf der Königbrücke. – Nur nicht drängeln. – Siemering’s Relief.

Bekanntlich galt schon den Alten der Freitag als ominös, und auch bei den neueren Völkern, germanischer, romanischer, slavischer Race, hegt man bis zur heutigen Stunde vor dem Freitage eine abergläubische Scheu. Man hält ihn für einen Tag des Unglücks, an welchem es nicht gerathen, irgend eine wichtige Handlung vorzunehmen, ein neues Werk zu beginnen, eine Reise anzutreten, einen Entschluß zu fassen und dergleichen mehr. Für das neue deutsche Reich hingegen und die neue deutsche Reichshauptstadt insonderheit scheint der Freitag in einen Tag günstigster Vorbedeutung, einen Tag höchsten Erfolgs und höchster Begeisterung, in einen epochemachenden Merk- und Marktag umgewandelt zu sein. Ein Freitag war es, der 15. Juli 1870, als König Wilhelm, vom Jubel der Nation umbraust, heimkehrte von Ems, um den ihm und in ihm dem deutschen Volke geflissentlich angethanen Schimpf mit muthigem Herzen und starkem Arme zu rächen. An einem andern Freitage, am 3. März des gegenwärtigen Jahres, schwamm die Residenz an der Spree in Lust und Lichterglanz, um den ruhmvoll erkämpften Frieden zu feiern. Ein dritter Freitag, der 17. März, sah Berlin in einem Enthusiasmus ohne Gleichen, denn sein greiser König betrat lorbeerbelastet zum ersten Male als Kaiser Deutschlands den angestammten Boden der heimathlichen Mark. Ein Freitag endlich war jener ewig denkwürdige 16. Juni, an dem Alldeutschlands Heere, als ein einig Volk von Brüdern, ihren Siegeseinzug hielten in die Hauptstadt des auf den französischen Schlachtfeldern neuaufgebauten Reiches.

Wir würden mehr als überlästig werden, wollten wir nach Monatsfrist noch einmal auftischen, was nahezu eine Million Festgenossen von nah und fern mit eigenen Augen geschaut und mit eigenen Ohren gehört und Hunderte von Blättern und Zeitungen des In- und Auslandes bereits bis zum Ueberdruß erzählt und beschrieben haben. Andrerseits jedoch ist der Tag ein zu viel bedeutsamer, ein für alle Zeiten zu unvergeßlicher gewesen, als daß man, nachdem der Festjubel verklungen und das gemeine Leben längst wieder in seine Rechte getreten ist, sich nicht an einen und den andern Moment jener überreichen Stunden gern von Neuem erinnern ließe. Ohnedem hat wohl jeder der Mitfeiernden seine besonderen Beobachtungen gemacht und seine besonderen Eindrücke empfangen, und diese verschiedenen Einzelbilder, Episoden, Scenen, Zwischenspiele sind den Facetten eines Steingeschmeides zu vergleichen. Durch sie erst empfängt das Gesammtgemälde seine Vollendung, sein rechtes, charakteristisches Licht, seinen hebenden Rahmen.

„Nun, was erklären Sie für die Krone des Ganzen?“ rief’s uns von einem Dutzend Stimmen entgegen, als wir uns, Einer nach dem Andern, todmüde an Leib und Seele von den Begebnissen und Wahrnehmungen der letzten zweimal vierundzwanzig Stunden, am gewohnten Abendtische in unserm ländlichen Sommersitze wieder einfanden. Allsogleich wurden die mannigfaltigsten Meinungen laut. Jeder hatte sich seine specielle Erinnerungsperle aus dem Oceane von Eindrücken herausgefischt und nach Hause getragen. Dieser schwärmte von den chignonlosen weißblauen Ehrengretchen und neidete dem jungen Berlin die Zukunft, welche an ihrer Seite seiner wartete. Jener fühlte sich gehoben von dem Bewußtsein, daß er Tausende von Schritten zwischen einem Spaliere von eroberten Kanonen gewandelt und daß mit solchem Reichthum der Trophäenschatz des Zeughauses doch noch lange nicht erschöpft war. Dem Dritten ist die majestätische und dabei so herzgewinnende Erscheinung des Kaisers selbst der Mittelpunkt alles Interesses gewesen und seine Augen haben sich nicht satt weiden können an dem prächtigen Weißbart, der, ein Vorbild germanischer Kraft und preußischer Straffheit, auf seinem schönen Trakehner Rosse so gerad’ und fest einhergeritten kam wie der jüngste seiner Ulanenofficiere. Einem Vierten liegt noch das Hurrah im Sinn und den Ohren, welches ringsum aus zehntausend Kehlen losbrach, als das erste Bataillon des Garde-Füsilierregiments, Berlins tapfere Söhne, die vielgeliebten „Maikäfer“, in Sicht kam und frischen Schritts und lachenden Mundes, als rücke es von Potsdam zur üblichen Maiparade ein, zwischen den kranzwerfenden Menschenhecken dahinmarschirte und unter Scherzen und Kalauern die natürlichen und künstlichen Lorbeerkronen auffing und an Helmen und Bajonneten befestigte. Dem Fünften hat es die Statuengruppe vor dem Potsdamer Thor angethan, – der kolossale Kanonenberg unter der hohen Victoria, mit seinen neun französischen Riesengeschützen und den sie umgebenden Tricoloren aus der Werkstatt des bekannten Thronausschlagers Hiltl, – und die beiden Standbilder Straßburg und Metz, in deren üppigen Formen er den Werth des wiedergewonnenen alten Reichslandes sinn- und geschmackvoll ausgedrückt findet. Der Sechste kann den Anblick der menschenerfüllten Tribünen nicht vergessen, der emporgestaffelten Damenterrassen mit den lichten Sommerkleidern und den bunten Sonnenschirmen als beweglichen heiteren Dächern darüber und hoch über dem farbenreichen Bilde den wolkenlosen blauen Himmel, welchen er als „ein günstig Zeichen“ nimmt für die Zukunft des neugeeinten Deutschland. Der Siebente erklärt dies Alles zwar für unbeschreiblich schön und imposant, – allein „die Linden“, meint er, „die Linden mit ihrem Ausschmuck, den Doppelsäulen je an den fünf Straßenübergängen und den künstlerisch gedachten und von Meisterhänden ausgeführten allegorischen Compositionen dazwischen, den ununterbrochenen Reihen von ersiegten Feuerschlünden, den lampionbehangenen Laubbalustraden, der wunderherrlichen Akademiefronte mit ihren Feldherrenportraits und Sinnversen, den decorirten Häuserfaçaden und auf den Trottoirs, in den Schauläden, an den Fenstern[WS 1], auf den Dachfirsten, auf den Schornsteinen,

[492]

Auf dem Pariser Platz in Berlin am 16. Juni 1871.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Feldmaler F. W. Heine.

[493] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [494] in den Zweigen der Bäume selbst dem Meere von Köpfen jauchzender und tücherschwenkender Menschen – das ist die Glorie der Glorie gewesen. Vor ihr müssen sich alle anderen Prospecte und Scenen neigen.“

Und so gehen die Meinungen weiter. In einem Punkte aber sind Alle einig: Nicht der äußere Glanz des Festes, so zauberhaft und sinneblendend dieser auch auf uns eindrang, ist es gewesen, was den mächtigen, unverlöschlichen Eindruck hinterlassen hat, sondern die ideale Bedeutung des Tages, und wenn sich von den zuschauenden Hunderttausenden auch so manche von dieser geistigen Tragweite nicht klare Rechenschaft gegeben haben mögen, – instinctiv empfunden hat sie gewiß die Mehrzahl der Versammelten. Wohl Jeder fühlte, daß das Fest Anderes und Höheres bedeute, als den solennen Einzug eines in mehr als zwanzig Schlachten siegreichen Heeres und dessen weltberühmter Führer. In den einrückenden Soldaten ehrte er nicht blos die lorbeerumkränzten Krieger, die erste Armee der Welt, er grüßte in ihnen seine Söhne und Brüder, seine Väter und Gatten, die, wie sie freudig Haus und Hof verlassen, das Vaterland vor dem ruchlosen Angreifer zu beschirmen, jetzt freudiger noch heimkehrten zur friedlichen Arbeit des Bürgers, von welcher sie feindlicher Frevelmuth jählings aufgescheucht hatte. Verschwunden war jeglicher Unterschied zwischen Volk und Heer. Wenige nur mochten sein, die sich nicht bewußt waren, daß der sechszehnte Juni die aus der Waffengenossenschaft erwachsene nationale Einheit besiegelte, Wenige, die ihrem Kaiser nicht entgegenjubelten, weil sie in ihm wie den Neuerbauer, des Reiches, so auch, seinem Worte vertrauend, den Mehrer von des Volkes Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung erblickten. Allen bezeichnete der Tag die feierliche Eröffnung einer neuen Aera, welche Deutschland an die Spitze der Staaten, die deutsche Nation zur Gebieterin der Erde emporhob.

Es war Mittwochs, als wir auf einem der nördlichen Bahnhöfe in der Kaiserstadt anlangten. Die Gegend lag weitab von der Triumphbahn, nicht ein einziger Mann der einziehenden Truppen wurde mit uns ausgeschifft, wohl aber Waggon auf Waggon voll pommerscher und mecklenburgscher Ochsen, die dem Feste zum Opfer fallen sollten – doch auch hier in dieser feierfernen Zone, wo dicht neben den Schläfern der Friedhöfe die Hämmer der großen Eisenwerke und Maschinenfabriken pochen, welche festliche Bewegung und Wandelung rundum! Wie wir selber, waren auch alle unsere Coupégenossen Festreisende, und nun auf dem Perron was für ein unendlicher Bewillkommnungsjubel! Wie frohgemuthet und rosiggelaunt zogen die Einen ab im Geleite der sie erwartenden Gastfreunde und Wirthe, wie bänglich und verlegen schauten in das ungewohnte Gewühl jene Anderen, welche sich keine Droschke und, schlimmer noch, vielleicht auch keine Stätte gesichert haben, wo sie für die nächsten zwei, drei Nächte ihre müden Häupter zur Ruhe legen können!

Die hohen Schlote der umstehenden Industriepaläste dampften wie immer, wie immer gingen die rußigen Cyklopen der Borsig und Wöhlert, der Hoppe und Engel zu den Thüren aus und ein, allein durch den schwarzen Kohlenqualm hindurch schlug’s uns wie Festluft entgegen, und siehe da! nach langer Abwesenheit kam in diesem winterlichen Sommer auch die liebe helle Sonne wieder einmal zum Vorscheine, ein Symbol von Kaiser Wilhelm’s sprüchwörtlichem Wetterglücke. Ueber Borsig’s gothischer Fabrikburg rauschte bereits ein Hain von schwarzweißen und schwarzweißrothen Bannern, unten in Nischen der Vorhalle schimmerten aus Tannengrün die Büsten der großen Staats- und Heereslenker hervor, beide Seiten der Straße faßte schon eine lange Zeile bebänderter Mastbäume ein, und überall war man beschäftigt, noch immer neue aufzupflanzen und durch Laubgewinde zu verbinden. Auch die Häuser selbst fingen bereits an ihr Festgewand umzuthun; ihre Eigener und Bewohner überboten sich in Ornamenten und Drapirungen, in Transparents und Illuminationsvorkehrungen, und wenn die Leistungen nicht allemal auf der Höhe der Kunst standen, wenn namentlich das perpetuirlich wiederkehrende Kaiserbildniß mit Krone und Hermelinmantel skatliche Erinnerungen an Eckern- oder Grünkönig erweckte, man erkannte die gute Absicht und ließ sich nicht verstimmen. Selbst daß einer der benachbarten Grundbesitzer seiner Festbegrüßung nicht anders Luft machen zu können glaubte, als indem er die Mauern seines Dominiums in orangerother Oelfarbe erglühen ließ, von der er soeben höchsteigenhändig die letzten Pinsellagen applicirte, nehmen wir auf, wie es gemeint ist: Alles zur größeren Ehre des Festtages ohne Gleichen.

Dazwischen welch Getümmel von Menschen aller Stände und Schichten! Der Strom stopft sich mehr und mehr und nur im langsamsten Tempo kann die ununterbrochene Wagencolonne noch vorwärts; zuletzt staut sich Alles, Menschen- und Kutschenfluth – wir nahen der eigentlichen Festbühne, der Promenade Unter den Linden! Welcher Wechsel erst hier seit den acht Tagen, daß wir den Berliner Lust- und Lieblingscorso nicht gesehen haben! Da ist Alles schon nichts mehr als Festvorfeier und Festvorbereitung vom gottlosen Standbilde des alten Fritz bis zum frommverschämten Mühlerkloster hinab. Selbst Adelheid hat sich zu den Aufklärern gesellt und sorgt dafür, daß helles Licht ausstrahle aus ihrem unbezwinglichen Malapartus der Finsterniß, obschon sie im Stillen vielleicht wehklagt: „Straße, wie wunderlich siehst du mir aus!“ und wahrnimmt, welche Hauptrolle bei dem Festausschmucke die Stadt den anstandsbaren Akademikern zuertheilt hat.

Mehr getragen als wandelnd, münden wir endlich in die Triumphstraße ein, und nun schauen auch wir mit staunenden Augen umher. Beschreiben aber, was wir sehen, wir können’s nicht: es ist einfach unbeschreiblich, weil sich das innere Leben, die Seele, welche all die überreiche Pracht verklärt und weiht, blos empfinden, nicht schwarz auf weiß wiedergeben läßt. Welche Lust, einzutauchen in diese Fluth lauterer Freude und Begeisterung, in die sich nicht der leiseste Mißklang, nicht der Schatten von Schuld und Unthat, nur das Bewußtsein treu erfüllter Pflicht gegen das Vaterland und gerechten Sieges mischte! Welche Lust, in dem Strome festgestimmter Menschen umherzutreiben und den Eifer zu beobachten, mit welchem allenthalben die letzte Hand an die großartigen Feierveranstaltungen gelegt wurde! Wie viel aber blieb noch zu thun übrig in den anderthalb Tagen bis zum Morgen des Sechszehnten! Und wie unbegreiflich Schönes und Mannigfaltiges war doch in der kurzen Vorbereitungsfrist schon in’s Werk gerichtet! Man sah, daß das Herz bei der Sache gewesen war.

Gerade vor unserm vorläufigen Standpunkte, am Ausgange der Friedrichsstraße, ragen aus einem Menschenknäuel zwei schlanke Siegessäulen auf, blos Theatererz, Holz und Pappe, aber vollkommen monumentalen Eindrucks. Mit einem Male erschallt aus dem bunten Haufen heraus das kennzeichnende Schlagwort unserer Kriegs- und Siegesperiode, das Zuaven und Turcos erzittern gemacht hat und, nach dem Irokesen des Kladderadatsch, zur landüblichen Begrüßungsformel geworden ist. „Hurrah!“ riefen hundert Stimmen, „Hurrah!“ ging’s wieder und immer wieder – Ewald’s schönes Tableau ward zwischen den beiden Säulen aufgezogen, und mit sichtlicher Andacht las die jauchzende Menge die altdeutschen Lettern seiner Inschrift: „Allzeit Mehrer des deutschen Reichs, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens, auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.“

„Amen!“ sprachen wir still vor uns hin. Möge des Kaisers Verheißung in Erfüllung gehen und diese der Preis sein der schwer erkämpften Siege. Dann nur ist das theure Blut unserer Helden nicht umsonst geflossen.

„Augen links!“ stießen wir den mit uns flanirenden Specialartisten der Gartenlaube an. „Die Akademie der Künste!“ Noch war die sinnige Decoration der langen Façade nicht vollendet, noch stand die plastische Gruppe des Mittelbaues vor der Normaluhr verhüllt, noch blieben rechts und links an der Fronte große graue Lücken, die nachher die Figurenportraits der beiden Hauptgründer der neuen Epoche aufnehmen sollten, die Medaillonbildnisse der Corpsführer jedoch und die Gestalten der fürstlichen Oberbefehlshaber glänzten in frischem Farbenglanze schon fix und fertig von der Mauer herab. Auch die Mehrzahl der historischen Compositionen, durch welche die verschiedenen Truppentheile in charakteristischen Scenen und Situationen veranschaulicht werden, bedeckte bereits die Zwischenpfeiler, – da reicht der preußische Ulan dem sächsischen Reiter vom Pferde herab die erbeutete Champagnerflasche; auf der andern Seite schwingt der Gardefüsilier die eroberte französische Fahne, während vor ihm der preußische Landwehrmann am Boden ausruht und im Hintergrunde badische Schützen auftauchen, und dort ganz zur Linken wälzen sich sterbende Turcos auf der blutgetränkten Erde zu Füßen preußischer Jäger und Artilleristen, die mit Hurrahruf die ersiegte feindliche Kanone [495] begrüßen, – über den herrlichen Totaleffect des von den bedeutendsten Mitgliedern der Berliner Künstlerzunft geschaffenen Ausschmucks konnte bereits kein Zweifel mehr sein. Vor dem permanenten Bewunderungsjubel, welcher aus den das Gebäude belagernden Volksmassen laut wurde, musste alle Kritik verstummen. Was wir bei den letzten ähnlichen Berliner Festen so befremdet und schmerzlich vermißt hatten, das künstlerische Element, – diesmal war es glänzend und unübertrefflich zur Geltung gelangt. Das in der Eile und blos zu ephemerer Zier Hergestellte, es trug den Stempel der Meisterschaft und hatte Anrecht auf dauernde Erhaltung.

Es ging auf den Abend, und immer dichter wurde das Volksgewühl. Werkstätten, Bureaux, Fabriken, Schreibstuben, sie alle sandten ihre Arbeiter auf die Straßen und zunächst nach den „Linden“. In dem Mittelgange zwischen den Bäumen, auf welchem übermorgen die Truppen marschiren sollten, hörte zeitweilig jede Fortbewegung auf. Da sind nun namentlich die französischen Kanonen die Zielpunkte der allgemeinen Völkerwanderung. Als sei die ganze Stadt plötzlich zu einem großen Artilleriecorps formirt, so drängt sich Groß und Klein um die jetzt so friedsam schweigenden Feld- und Wallschlangen von dem verschiedenartigsten Bau und Kaliber, giebt kriegswissenschaftliche Urtheile ab über die „Stücke“ von Sedan, Straßburg, Toul, Pfalzburg, Mézières etc., deren einstige Standorte mit weißen Buchstaben auf den Rohren und Lafetten vermerkt sind, und lugt in die grimmen Feuerschlünde hinein, welche so manches wackere deutsche Herz zum ewigen Stillstand gebracht haben, wie wenn die schwarze Nacht da drinnen das Räthsel des Daseins lösen könne. Vor Allem aber wird’s bei den Mitrailleusen nicht leer von Beschauern. Dem Berliner sind die eleganten Engros-Mordinstrumente schon alte Bekannte, auf den größten Theil der eingerückten Provinzial- und Fremdenlegion dagegen üben sie noch den vollen Reiz geheimnißreicher Neuheit aus. Sie werden befühlt, beklopft, behorcht, berochen, beleckt sogar, scheinen jedoch die Erwartungen einigermaßen zu täuschen – die spukhaften Knatterbüchsen sehen ja den vertrauten Gestalten der übrigen Geschütze so unverzeihlich ähnlich.

Doch weiter! Wir haben noch ein großes Beobachtungsfeld zu durchwandern, wollen wir nur halbwegs einen Ueberblick über die Festzurüstungen und Festvorfreude gewinnen. Auf der Königsbrücke, vor deren vielbesprochenen Marmorgruppen weiße Blechschilde aufgestellt sind, um am Illuminationsabende helles Licht auf die weißen Bildwerke zu werfen, wird der Vormarsch lebensgefährlich. Alles drängt, stößt, schiebt dem Lustgarten zu, wo die letzte Festscene, die Enthüllung der Reiterstatue Friedrich Wilhelm’s des Dritten, sich abspielen soll. „Nicht drängeln! Nicht drängeln!“ ruft’s fortwährend aus dem Gewirr heraus; doch wer hat Ohren für diese Bitte? Nach dem imposanten Königsschlosse ergießt sich der Hauptarm der Fluth; auch wir wenden uns dorthin, denn hier giebt’s einen neuen Glanzpunkt der Festdecoration zu bewundern – die nach dem Entwurfe der Professoren Gropius und Wolff modellirte Germania mit den der Mutter endlich wiedergegebenen Kindern Elsaß und Lothringen. Sie bildete den würdigen Abschluß der prachtvollen Triumphbahn, von den plastischen Festzierden unstreitig die gelungenste und anmuthendste.

Noch ist indeß auch hier Alles im Werden begriffen. Noch ist das Baugerüste um das Kunstwerk nicht beseitigt und auf ihm hantiren noch die Bildner umher mit weißbepuderten Mützen und bestäubten Haaren und Kitteln, kneten in dem nassen Gypse und fügen bald einen Kopf, bald einen Arm, da eine Waffe, dort eine Trommel an das den hohen Sockel umziehende Relief. Dies Relief ist’s, was die Hauptanziehungskraft ausübt; das bringt ja gewissermaßen ein Stück aus dem Leben jedes Einzelnen zur Darstellung, indem es in einem Cyclus zusammenhängender Bilder die Wirkung des königlichen „Aufrufs an Mein Volk“ in ihren verschiedenen Phasen veranschaulicht. Wer noch daran zweifeln möchte, daß die Idee der allgemeinen Wehrpflicht in Fleisch und Blut des preußischen Volkes übergegangen ist – die bis in die Nacht hinein Siemering’s köstliches Relief umstehenden Menschenschaaren und ihre enthusiastische Bewunderung würden ihn eines Andern belehren. Wie verzückt hingen die Augen an den so frisch und markig versinnlichten Scenen aus dem häuslichen Leben der Nation, hier an dem bärtigen Landwehrmann, welcher seinem Jüngsten, das ihm die weinende Gattin emporreicht, den Abschiedskuß auf den Mund drückt, während der Aelteste das Knie des Vaters umklammert; dort an dem Reservisten, der mit schon kriegerisch geschwellter Lippe sein Liebchen beruhigt, daß die Trennung nicht lange währen und er sicher mit heilen Gliedern und ruhmgekrönt wieder heimkehren werde; weiter drüben an dem kecken Bruder Studio, welcher im Kampfeseifer sich schon mit dem Schwerte umgürtet, ehe er noch das flotte Cereviskäppchen von den Locken genommen hat; auf der andern Seite an den ehrwürdigen Gestalten der Veteranen aus den Jahren 1813 und 15, die mit begeisterten Blicken und verjüngten Herzen den an die Mauern gehefteten Aufruf des Königs lesen, welcher sie rückversetzt in ihre eigene Heldenzeit, oder an dem biederben Schmiede, der seinen zu den Fahnen eilenden Gesellen, welcher anstatt des Schurzfelles eben den Waffenrock anlegt, mit Ermahnungen und guten Lehren entläßt. Mit Einem Worte: die Bilder, wie sie mit dem Herzen erdacht sind, greifen zum Herzen, und während die Zahl ihrer Beschauer von Minute zu Minute noch immer wächst, halten sie auch uns gefesselt, bis völlige Dunkelheit und plötzlich einfallender Regen uns daran erinnert, daß es endlich Zeit ist, einen möglichst ruhigen Winkel zum Nachtimbiß aufzusuchen – was freilich erst nach vielen fruchtlosen Bemühungen gelingt.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Von der entsetzlichen Ueberschwemmung, welche am 25. Juni die Stadt Tachau im Egerer Kreis in Böhmen betroffen, haben unsere Leser gewiß schon gehört. Neuerdings erhalten wir eine eingehende Schilderung dieses verheerenden Elementarereignisses zugeschickt und wir glauben dieselbe wenigstens auszugsweise umsomehr zur Kenntniß unserer Leser bringen zu sollen, als Tachau eine kerndeutsche Stadt ist und alles Recht hat, auf die werkthätige Theilnahme in Deutschland zu zählen.

Daß die Ueberschwemmung weniger in Folge des am genannten Abend um neun Uhr niedergegangenen Wolkenbruchs erfolgte, ist bekannt. Dieselbe wurde vielmehr dadurch herbeigeführt, daß der Damm des achtzehn Joch Grundfläche umfassenden ungewöhnlich tiefen Albersdorfer Teiches, welcher seit Wochen durch die anhaltend starken Regen bis zum Ueberlaufen gefüllt war, an mehreren Stellen durchbrochen wurde, zuletzt gänzlich wich und daß die entfesselten Wogen auf ihrem Wege noch mehrere weitere Teiche entleerten. Der Wolkenbruch war eigentlich bei Albersdorf, eine halbe Stunde von Tachau, niedergegangen, und als der Regenguß sich in Strömen über letztgenannte Stadt ergoß, war diese selbst schon im nämlichen Augenblick halb unter Wasser gesetzt.

Die Miesa, welche Tachau in zwei Hälften theilt, wälzte, klafterhoch angeschwollen, auf ihren Wogenmassen entwurzelte Bäume, Bauhölzer, Thüren, Thore und Gartenzäune einher, die, nachdem schon die steinerne Brücke in den Fluthen versunken war, nun die der Brandung zunächst ausgesetzten Gebäude mit dem Untergange bedrohten. Von allen Seiten vernahm man durch das undurchdringliche Dunkel der Schreckensnacht Hülferufe und sah bei dem unheimlichen, lange anhaltenden Leuchten der Blitze bald da, bald dort ein Haus zusammenstürzen und in den Fluthen verschwinden.

Der angerichtete Schaden beläuft sich auf mehr als eine halbe Million. Hundertvierundsechszig Häuser mit elfhundert Bewohnern sind beschädigt; davon sind sieben ganz, vierundzwanzig zum größten Theile eingestürzt, siebenundzwanzig sind total baufällig geworden, einundneunzig bedenklich und fünfzehn minder beschädigt; acht Scheunen sind spurlos verschwunden, der Verheerung auf Feldern, Wiesen und Gärten gar nicht zu gedenken.

Wir ersparen uns eine Schilderung des grauenvollen Anblicks, den am andern Tage die nun vom Wasser wieder verlassene, in ihren Straßen mit Möbeltrümmern, fußhohem Schlamm, Thierleichen bedeckte Stadt bot. Halbentblößte, in Lumpen gehüllte, wehklagende Menschen gingen ab und zu und hier und dort lag eine Menschenleiche mit verzerrten Gliedern und Gesichtszügen. Neben diesen knieeten die als Bettler zurückgebliebenen Familienangehörigen. – Eine Großmutter hielt ihre Enkelin fest umschlungen, in einem Hause der Wassergasse war von sechs Bewohnern nur ein siecher Mann übrig geblieben. Der Tod hatte eine reiche Ernte gehalten. Nicht wiederzugeben sind die Erzählungen der Unglücklichen, wie sie in Todesangst und Qual die Schreckensnacht verbrachten. Indem sie ihr Vieh und sonstige werthvollere Sachen in Eile retten wollten, stieg ihnen das eindringende Wasser bis an die Brust, bis an den Mund. Sie retteten sich auf Tische, Schränke und zumeist auf die großen Backöfen. Durch die Thüren war häufig nicht mehr zu entkommen, die Treppe nicht mehr zu erreichen, und als auch hier das todbringende Element sie erreichte, da hieben sie sich, wo man deren hatte, mit Beilen Oeffnungen in die Zimmerdecken oder stießen diese sonst mit der letzten Anstrengung menschlicher Kräfte durch. Hier mußten sie oftmals durch kleine Oeffnungen durchgepreßt werden, wobei sie sich die Gesichtshaut aufschürften, die letzte Kleidung vom Leibe rissen und sonstigen Schaden an ihrem Körper erlitten.

Im einem der letzten Häuser der Wassergasse, das zunächst vom Wasser erfaßt wurde, flüchteten sich die Bewohner auf den Boden, als sie auch da nicht mehr sicher waren, auf das Dach, und als auch das Dach zu stürzen [496] drohte, durchbrachen sie die Dachwand des Nachbargebäudes und retirirten auf diese Weise bis zum sechsten oder siebenten Hause, in welchem sich die Zahl der Flüchtenden bis auf siebenunddreißig Köpfe gesteigert hatte. Nur der kalten Todesverachtung Einzelner ist das Leben vieler Menschen zu verdanken. So rettete mit unglaublicher Bravour der selbst hart betroffene Kaufmann Joseph Steiner drei, der Uhrmacher Joseph Menzel sogar zwölf Personen vor dem sichern Tode. Rühmlichst zu erwähnen ist auch Andreas Gartner, welcher fünf Menschen, halb ohnmächtig, durch die grausen Fluthen trug.

Ein Wort über die Noth in Tachau brauchen wir nach Alledem kaum beizufügen; wenn auch in nächster Nähe Manches zur ersten und augenblicklichen Linderung geschah, so langt dies natürlich noch bei weitem nicht aus und es ist noch nichts gehan, was namentlich die Armen und die brodlos Gewordenen für die Gegenwart vor der bittern Entbehrung schützen und ihnen zugleich neuen Muth für die Zukunft geben könnte. Hier thut Hülfe im weitesten Sinne noth. Sollte sich die Gartenlaube vergebens an ihre Leser wenden, wenn es sich darum handelt, einer kerndeutschen Stadt im Czechenland beizustehen?

Wir freuen uns, unsere Sammlung heute schon mit fünfzig Thalern „vom ovalen Tisch bei Kaltschmidt“ eröffnen zu können; die Redaction der Gartenlaube selbst schließt sich dieser ersten Gabe mit einer zweiten von fünfundzwanzig Thalern an und ist gerne bereit, weitere Spenden entgegenzunehmen.


Ein Postengel. Es war im Jahre 18.. in einer kleinen neumärkischen Stadt. Der Postverkehr ist auch heute noch in ihr nicht eben groß. Eine Eisenbahn läßt dort noch nicht ihr Geräusch vernehmen, eine Locomotive ist den alten höchst conservativen, für Knak schwärmenden Ackerbürgern des Städtchens eine unbekannte Erscheinung, der Postenlauf ein höchst einförmiger: eine zur nächtlichen Zeit kommende und bald darauf wieder abgehende Post beunruhigt die Einwohnerschaft wenig, da ihr die Post ihre Gaben, d. h. Briefe, Pakete und Gelder in der That schlafend giebt. Der Expeditions-Vorsteher braucht daher dort nicht ein mit allen Chicanen gehetzter Beamter zu sein; es reicht schon eine mit leidlichen postalischen Kenntnissen ausgerüstete Persönlichkeit aus. In der Regel wird dazu ein Mann befördert, der in seiner bisherigen Lebensstellung Unglück gehabt hat und nun, nachdem schnell die nöthigen Kenntnisse erworben sind, in den Hafen der Post als in seinen Glückshafen einläuft, was die von unten auf dienenden Postbeamten manchmal wunderbar finden. So war auch in jenem Städtchen ein ältlicher Herr im Postdienst und hatte eine Reihe von Jahren seinem Amte pflichttreu vorgestanden. Er wurde allmählich gebrechlich, und es wollte mit seiner postalischen Thätigkeit nicht mehr so recht gehen. Dennoch wollte er, da er noch mehrere unversorgte Kinder hatte, noch nicht auf Pension gehen, die gewiß noch dürftiger ausfallen mußte, als sein ohnehin schon schmales Einkommen. Es wuchs ihm nun eine Gehülfin heran in einer jugendlich schmucken Tochter. Diese erachtete es als ihre Kindespflicht, der Familie das Einkommen des Vaters so lange als möglich zu erhalten. Mit Leichtigkeit eignete sie sich die nöthigen Kenntnisse an und besorgte fortan alle Schreibereien und inneren bureaulichen Geschäfte, so daß der Vater im Grunde nur nach außen hin das Postamt repräsentirte und sich zeigte, wenn ein Postrevisor eintraf. Da begab es sich, daß der Vater sogar bettlägerig wurde und sich nicht im Geringsten mehr um sein Amt kümmern konnte. Die gute Tochter verdoppelte nun ihren Eifer und versah das ganze Postgeschäft mit großer Sorgfalt und Treue, fertigte die Posten ab mit einer Gewandtheit, als ob sie ein routinirter Postbeamter wäre. Das ging eine geraume Zeit so fort, ohne daß das Geringste im Amte versehen worden wäre.

Da war eines Tages im Städtchen ein Ball arrangirt, immerhin ein wichtiges Ereigniß für die tanzlustige Jugend einer kleinen Stadt. Auch unsere Posthalterin hatte eine Einladung dazu erhalten. Ihre Gegenwart wurde sehr gewünscht, nicht blos, weil sie gegenwärtig gleichsam die Spitze einer Behörde darstellte und das Publicum in Stadt und Umgegend in gewissem Sinne von ihr abhängig war, sondern weil sie ein hübsches, tanzlustiges, frohes, heiteres Mädchen war. Aber sie gedachte an ihre Pflicht. Die Post mußte bis sieben Uhr Abends geöffnet bleiben, die laufenden Geschäfte mußten besorgt, die Post in der Nacht expedirt werden. Der Dienst stand dem Mädchen schlechterdings höher als das Vergnügen, soviel Beamtengeist war schon in sie gedrungen. Und doch regte sich in ihrer Brust der Wunsch, den Ball mitzumachen und die Huldigungen zu empfangen, die ihr in Aussicht gestellt waren. Es ließ sich am Ende Beides vereinigen, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, was schon Horaz angerathen hat. Gedacht, gethan. Sie machte alle Vorbereitungen dazu, legte den Ballstaat zurecht, saß bis sieben Uhr im Postbureau, legte darauf schnell das Ballkleid an, flocht die Blumen in ihr schöngelocktes Haar und eilte in die Tanzgesellschaft. Daß sie im Tanz der Post, der schnell dahineilenden, alle Ehre machte, versteht sich von selbst. Es wurde zum Cotillon angetreten. Auch unsere Postaspirantin war unter den Engagirten. Aber trotz der Musik im Saale hatte sie ihre Ohren auf jedes Geräusch draußen gerichtet. Und als sie, wenn auch aus weiter Ferne, die Töne eines Posthorns hörte, für die alle Orangefarbenen ein feines Gehör haben, da wandte sie sich an ihren Tänzer und flüsterte leise, sie kann’s nicht verschweigen: „Entschuldigen Sie mich eine kleine Weile, ich bin bald wieder an Ihrer Seite.“ Und schnell eilte sie, in ein Umschlagetuch gehüllt, hinaus, hin zu dem nicht fern gelegenen Postbureau. Sie saß bereits mit ehrbarer Amtsmiene auf ihrem gewöhnlichen Sitze, als der Postwagen vorfuhr. In gewohnter Weise nahm sie die Meldungen entgegen, ertheilte den Postbedienten die nöthigen Weisungen, ließ die Pakete zuwiegen und was sonst zur Expedition einer Post gehört.

In ihrem Amtseifer beachtete sie nicht sonderlich die mitgekommenen Passagiere. Unter diesen befand sich ein Herr, der in einen weiten Mantel gehüllt war. Er wollte eben durch die halbgeöffnete Thür in das Bureau eintreten, als er ganz betroffen stehen blieb. Was sich seinen Augen darstellte, war ihm, der schon manches Postbureau betreten, in der That noch nicht vorgekommen. Er war der Postinspector des Bezirks und auf einer Inspectionsreise begriffen; er wollte auch die Krankheitsangelegenheit des Expeditionsvorstehers ordnen, und hatte schon unterwegs an einen Stellvertreter desselben gedacht. Und jetzt sah er, wie der kranke Mann sich einen Vertreter aus dem Himmel verschrieben hatte. Denn für einen Gast aus den Himmelshöhen mußte er die Erscheinung halten, die ihn so betroffen machte, und die er durch die Thürspalte beobachtete. Er sah dort ein weibliches Wesen, gekleidet in weiße Seide, Blumen in den lockigen Haaren, ein niedliches Sträußchen vor der Brust, einen Anflug von Röthe im Gesicht, kurz so wie ihm im Jugendunterricht, als es noch keine Regulative gab, die Engel geschildert worden waren. Und dieser leibhaftige Engel saß in der Poststube und fertigte die Post ab mit der Gewandtheit des routinirtesten Beamten. Er wußte in der That nicht, ob er wachte oder träumte. Er hörte die Stimme dieses Engels im Postfach, lieblich, holdselig, aber es war doch die deutsche Sprache, sogar im neumärkischen Dialekt. Spricht man denn droben bei den Himmlischen neumärkisch? Ueberhaupt legt man sich im Himmel auf das Postfach? Werden die Engel im Postdienst einexercirt? Solche Fragen gingen ihm durch den Kopf, als er diesen Engel im Bureau vom Flur aus beobachtete. Er wartete noch so lange, bis die Post expedirt war, dann trat er ein, begrüßte die holdselige Erscheinung und fragte nach dem Postvorsteher. Die blumenbekränzte, schöngelockte Postdame witterte natürlich sofort etwas Höheres vom Postfach, entschuldigte den Vater auf das Beste, erklärte das Auffallende ihrer Erscheinung mit etwas verlegener Miene, und war bereit, als der fremde Herr sich als den Postinspector kundgegeben, Alles zur Revision vorzulegen. Der Inspector hatte indeß aus dem Wenigen, das er beobachtet, die Ueberzeugung geschöpft, daß in dieser Postanstalt Alles in bester Ordnung sein müsse, und daß er dem kranken Expeditionsvorsteher keine bessere Vertretung senden könne, als er schon habe.

Ob jener Engel aus der Poststube, nachdem die Revision beendet, wieder den unterbrochenen Cotillon aufgenommen, weiß Berichterstatter nicht zu sagen. Sicher ist nur das Eine, daß der blonde Engel, dessen Herz auf jenem Balle den süßen Regungen der Minne nicht ganz fremd geblieben zu sein scheint, den liebgewordenen Dienst am Schalter einer noch mächtigeren Liebe halber quittirte und, den Vater mit sich nehmend, einem Manne folgte, der sie noch heute den Engel seines Lebens zu nennen pflegt.


Damen-Gasthäuser. Das Organ des allgemeinen deutschen Frauenvereins „Neue Bahnen“ spricht einen Wunsch aus, den wir vollkommen gerechtfertigt finden. Wie auf den besseren Eisenbahnen längst besondere „Damen-Coupés“ eingerichtet sind und sich als eine Wohlthat der reisenden Frauenwelt bewährt haben, ebenso, und in noch weit höherem Grade sind ganz besonders für und von Frauen und Mädchen eingerichtete Absteigequartiere, Gasthäuser, Chambres garnies (möblirte Zimmer) etc. ein Bedürfniß der Gegenwart geworden.

Selbstverständlich bezieht sich dies nur auf alleinreisende Damen. Aber gerade die Zahl dieser vermehrt sich von Tag zu Tag, während die Rücksichtslosigkeit, mit welcher in sehr vielen Gasthöfen und Gasthäusern Damen, die ohne den Schutz von Männern reisen, von männlichem wie weiblichem Dienstpersonal und nicht selten selbst von anderen Gästen behandelt werden, keineswegs in demselben Maße abnimmt. Für solche Reisende würden Damen-Gasthäuser eine außerordentliche Wohlthat sein, und zugleich könnten sie für eine nicht geringe Zahl von Frauen und Mädchen zu recht sicheren und erträglichen Erwerbsquellen werden.


Ein alter Vater sucht seinen Sohn. Der im Jahre 1832 geborene Michael Pohle, der aus seinem Geburtsorte Pönitz bei Gögnitz in Altenburg mit seinen Eltern nach Blumroda bei Borna in Sachsen übersiedelte, wanderte von da als Schmiedegeselle im August 1856 mit neun andern seiner Gewerbsgenossen über Hamburg nach Brasilien aus. Zwei Jahre später begab er sich nach Newyork, und von dort erhielt sein hochbetagter Vater die letzte Nachricht von ihm. Jede Nachfrage war vergeblich, wie nothwendig auch eine Erbschaftsangelegenheit die Kunde über sein Schicksal machte. Vielleicht gelangen doch diese Zeilen in die rechte Hand, die auf eine Spur des Vermißten zu führen im Stande ist.



Kleiner Briefkasten.

A. F. D. in Interlaken. Wenn der Berichterstatter über das durch eigene Schuld vielgenannte „Centralbureau Felicitas“ seinen Unwillen darüber nicht unterdrückte, daß gerade die freie Schweiz derlei Unternehmungen wiederholt Obdach geboten, so konnte das, in der gedrängten Fassung, wohl zu Mißdeutung Anlaß geben; gegen letztere müssen wir uns jedoch verwahren. Daß uns gerade in der Schweiz derlei Vorkommnisse Aerger erregen, hat einfach seinen Grund darin, daß wir überhaupt an die Schweiz einen höheren Maßstab anzulegen gewöhnt sind, weil gerade sie, dem Geist und der Form ihres Staatswesens angemessen, Staats- und Volksehre nach jeder Richtung mit allem Eifer zu hüten berufen ist. Will man uns entgegenhalten, daß gerade die freie Bewegung im schweizerischen Volks- und Staatsleben solche Auswüchse erleichtere, will man sich darauf berufen, daß, wo viel Licht ist, auch viel Schatten sein muß, so mögen sich die Schweizer damit begnügen; wir werden, ihnen zur Ehre, der höheren Auffassung ihres Berufs treu bleiben.

A. B. in Breslau. Wir können Ihre Frage nicht ohne Weiteres beantworten, sondern müssen Sie um genaue Bezeichnung der Novelle bitten, da wir erst mit dem Autor derselben Rücksprache zu nehmen haben.

Lehrer R. in W. Solcher Schwindel ist freilich nicht verwendbar. Schade um die Zeit, die Sie damit todtgeschlagen haben, ihn niederzuschreiben.

Ex-Student Masurens. Ehe wir Antwort auf Ihre Anfrage ertheilen können, müssen wir die Leistungen der empfohlenen Lehrerin kennen.

H. P. in St. Sie haben die Wette gewonnen, es ist ein baierischer Officier. Wie konnten Sie nur zweifeln?



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Dieses Rickchen, die Tochter des Ankerwirths Heintz und Friederikens Pathenkind, ist eins jener Mädchen, welche die beiden Schwestern bei sich aufgenommen hatten, um deren weitere Erziehung und Ausbildung zu überwachen.
  2. Gegen diese Zeitangabe, welche jedoch dem Meissenheimer Kirchenbuch entnommen ist, scheint ein durch Vict. Wittmann in der Gartenlaube (1864, Nr. 21) mitgetheilter Stammbuchvers zu sprechen, den Friederike am 14. October 1807 für Pfarrer Fischer geschrieben und also unterzeichnet hat: „Dies aus dem Herzen Ihrer Sie liebenden Tante Fried. Br.“ Ob dieses Datum, 14. October 1807, richtig ist, kann ich nicht sagen, wenn aber auch, so braucht man an demselben in seiner Verbindung mit der Unterschrift „Tante“ doch keinen Anstoß zu nehmen. Fischer ist in Meissenheim geboren, und als der Sohn des damaligen Amtsschulzen wurde er frühzeitig von der Grundherrschaft zum Nachfolger von Marx im Pfarramte designirt und war wahrscheinlich schon frühzeitig mit dessen Tochter verlobt. Wenn nun Friederike bereits im Jahre 1807 den in Aussicht stehenden Gatten ihrer Nichte als Tante anredet, so darf man sich darüber um so weniger verwundern, wenn man zugleich weiß, daß sie den Namen Tante nicht nur in der Familie, sondern auch in der Gemeinde führte. – Das in Rede stehende Albumblatt wurde lange Zeit in der Familie Fischer aufbewahrt, bis es einem Verehrer Friederikens zur Einsicht mitgetheilt – aber nicht mehr zurückgegeben wurde.
  3. Vorlage: „schon“
  4. Wir entnehmen die obige Skizze den interessanten Aufzeichnungen einer Dame, welche während des Krieges als Pflegerin gedient und die gemachten Erfahrungen und Beobachtungen nunmehr zu einem Ganzen gesammelt hat, das demnächst bei C. Troschel in Trier erscheinen wird.
    Die Redaction.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Festern