Die Gartenlaube (1871)/Heft 47
[777]
No. 47. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Das Haideprinzeßchen.
„Schnell, schnell, Kind, die Prinzessin will Sie sehen!“ rief
Charlotte ungeduldig. „Sie sind nicht bei Trost, sich einzuschließen
und in eine wahrhaft ägyptische Finsterniß zu vergraben, und
das Alles, weil Sie eine hausbackene Moralpredigerin losgeworden
sind! … Gehen Sie doch mit Ihrer Sentimentalität!“
Sie fuhr mit den Fingern durch das Haar und zupfte mein arg gedrücktes Kleid zurecht, und der Arm, der sich um meine Taille legte, dirigirte so kräftig, daß ich mich sehr rasch auf dem Weg nach dem Vorderhause befand.
„Ich war mit Dagobert zufällig im Garten, als die Prinzessin nach den Treibhäusern ging,“ erzählte sie in fast nachlässiger Weise – bei all meiner Naivetät und meinem unbedingten Glauben an Alles, was sie sagte, sah ich doch ein wenig zweifelhaft an der ausgesuchten Eleganz nieder, in welche sie sich „zufällig“ gehüllt hatte – „und was sagen Sie dazu, Ihr zerstreuter Papa, der mich sonst schlechterdings nicht vom alten Erdmann zu unterscheiden vermag, hat es unternommen, uns vorzustellen, und denken Sie sich, es ging – es ging wirklich ganz vortrefflich, er hat mich nicht einmal mit Dagobert verwechselt!“
Das war wieder der alte, übermüthige Ton, der mich durch seine überlegene Sicherheit stets einschüchterte.
„Onkel Erich ist auch zwischen die Hofgesellschaft gerathen – natürlicherweise sehr gegen seine Absicht,“ fuhr sie fort; „er ließ gerade an der Felsenpartie im großen Warmhause etwas ändern, als die Prinzessin mit uns eintrat. Ich bin überzeugt, er verwünscht bereits in tiefster Seele die Localblätter unserer guten Residenz, die morgen den Besuch Ihrer Hoheit im Claudius’schen Etablissement des Langen und Breiten bringen werden – aber davon merkt man selbstverständlich Nichts; er hat sich mit aller Ruhe und Gelassenheit seiner Bürgertugenden umgürtet und sieht aus, als beehre er die hohe Gesellschaft. … Lächerlich, ich glaube gar, das imponirt der Prinzessin – sie hat womöglich an jedem Blümchen gerochen und ist nun nach dem Vorderhause gegangen, um das gesammte Etablissement pflichtschuldigst und gründlichst zu begucken – die gräßliche Hinterstube zum Beispiel. … Brr – na, das ist Geschmackssache!“
Wir betraten gerade die Hausflur, als die Prinzessin die Hinterstube verließ. Sie ging an Herrn Claudius’ Seite und hielt ein prachtvolles Bouquet in der Hand.
„Wo hat Haideprinzeßchen gesteckt?“ fragte sie und drohte mir lächelnd mit dem Finger. … Ach, Charlotte hatte bereits Gelegenheit gefunden, sie mit dem mir octroyirten Titel bekannt zu machen!
„In einem stockfinsteren Zimmer, Hoheit,“ antwortete die junge Dame an meiner Stelle. „Die Kleine ist traurig, weil sie sich heute von ihrer alten Magd trennen mußte.“
„Ich möchte Dich doch bitten, Frau Ilse anders zu bezeichnen, Charlotte,“ sagte Herr Claudius. „Sie hat Fräulein von Sassen an Liebe und treuer Sorge jahrelang die Mutter zu ersetzen gesucht.“
„Nun, dann verdient sie auch, daß Sie sich die Augen so roth geweint haben,“ sagte die Prinzessin liebreich zu mir und küßte mich auf die Stirn.
Fräulein Fliedner kam in diesem Augenblick mit einem rasselnden Schlüsselbund feierlich die Treppe herunter und meldete unter einer tiefen Verbeugung, daß Alles aufgeschlossen sei. Das alterthümliche Kaufmannshaus interessirte die Prinzessin lebhaft, sie wünschte, auch die obere Etage zu sehen, nachdem ihr Herr Claudius gesagt hatte, daß die Einrichtung zum größten Theil seit langen Jahren unangetastet geblieben sei. … Und jetzt trat auch mein Vater mit Herrn von Wismar und der Hofdame lachend aus Fräulein Fliedner’s Zimmer; sie hatten sich den mit Raritäten vollgestopften Glasschrank angesehen.
Meine Augen folgten unwillkürlich Herrn Claudius, als er neben der fürstlichen Frau langsam die Treppe hinaufstieg. Charlotte hatte Recht – in seiner stolzen Zurückhaltung und Würde sah „der Krämer“ aus, als beehre er die hohen Gäste, und mir war es plötzlich, wie wenn dieser Nimbus ungesuchter Hoheit auch über das alte finstere Haus seiner Väter flösse, über die gewaltigen Steinwölbungen, von denen jedes Wort, jeder Schritt majestätisch widerhallte, und die breite, massive Treppe mit dem wuchtigen, und doch so feingeschwungenen und gemeißelten Geländer.
Es waren freilich altbürgerlicher Geschmack und kaufmännisch praktischer Sinn gewesen, welche die Einrichtung der oberen Zimmer ausgewählt und „für alle Zeiten“ angeschafft hatten. Himmelweit entfernt von der sinnlich heiteren Pracht, welche die Karolinenlust charakterisirte, strotzten sie von innerem Reichthum. Da sah man keine hochaufspringenden Polster unter gleißenden, üppig weichen Atlasbezügen; aus den kostbarsten Holzarten geschnitzt, aber ungraciös, eckig und geradlinig, wie der starre Nacken Derer, die einst hier gehaust, standen die Geräthschaften umher, und von den Wänden blickten statt der Schelmenaugen nackter, [778] blumenwerfender Genien höchstens hie und da ein tief nachgedunkeltes Christusbild, oder eine sittige deutsche Frau von Holbein, mit gesenktem Blick und wundervoll gemaltem klaren Stirnschleier; aber es leuchteten auch die unvertilgbaren Farben echter Gobelins und das unverfälschte Gold gepreßter Ledertapeten, und die Fenster umstarrte Brokat in steifer, düsterer Pracht.
Der strenge Geist echt deutschen Bürgerthums, den die Wände hier gleichsam gefangen hielten, mochte die Prinzessin wohl wunderlich genug anmuthen. Sie trat durch die offene Thür des ersten Salons und ergriff mit beiden Händen einen silbernen Humpen, ein riesiges, monströses Gebild, das auf einem Eichentisch inmitten des Zimmers funkelte. Lachend versuchte sie ihn an die Lippen zu führen, – in diesem Augenblick stand Herr Claudius mit einem raschen Schritt neben ihr und erfing das schwere Gefäß – es war ihren Händen entglitten; sie aber starrte, zu Wachs erblichen, auf das Bild des schönen Lothar.
„Mein Gott, mein Gott!“ stammelte sie und legte die Hand über die Augen.
Wenn Etwas uns rasch die Besonnenheit in peinlichen Momenten zurückgiebt, so ist es der plumpe Ausdruck geheuchelter Besorgniß Anderer. … Fräulein von Wildenspring stürzte auf ihre Herrin zu und machte Anstalten, sie zu unterstützen. Die Prinzessin raffte sich auf und wies sie mit einer stolzen Bewegung zurück.
„Was fällt Ihnen ein, Constanze?“ fragte sie mit leise zitternder Stimme. „Bin ich denn so nervenschwach, daß Sie mir eine Ohnmacht zutrauen? Und darf man nicht bewegt sein, wenn man eine längst abgeschiedene Gestalt plötzlich in erschreckender Lebendigkeit vor sich sieht? … Im Glashaus muß mein Flacon liegen geblieben sein, es wäre mir lieb, wenn Sie es holen wollten.“
Das Hoffräulein und Herr von Wismar verschwanden sofort im Corridor. Dagobert und Charlotte zogen sich in eine Fensternische hinter die undurchdringlichen Vorhänge zurück, und mein Vater stand bereits im Nebenzimmer und betrachtete ein geschnitztes Crucifix. Das Zimmer war für einen Moment scheinbar leer geworden. Tief aufathmend trat die Prinzessin vor das Bild – nach einer Pause des lautlosesten Schweigens winkte sie Herrn Claudius neben sich.
„Hat Claudius das Bild für Sie malen lassen?“ fragte sie mit fliegendem Athem.
„Nein, Hoheit.“
„Dann wissen Sie auch nicht, wer es einst besessen hat?“
„Es ist der einzige Gegenstand, den ich aus der ehemaligen Wohnung meines Bruders an mich genommen habe.“
„Ah, die Wohnung in der Karolinenlust,“ athmete sie erleichtert auf; „also aus seinen eigenen Zimmern. … Wer mag es gemalt haben? Das ist nicht der Pinsel unseres alten, pedantischen Hofmalers Krause – der war niemals fähig, so überwältigend die Seele in das Auge zu legen.“ …
Sie schwieg einen Moment und preßte das Taschentuch an die Lippen.
„Es kann nicht lange vor seinem – Heimgang gemalt sein,“ fuhr sie in vibrirenden Tönen fort. „Dies Silbersternchen, das da zwischen seinen anderen Orden hervorsteht, hat meine Schwester Sidonie zwei Jahre vor ihrem Tode auf einer Landpartie in übermüthiger Laune gestiftet – es trug die Devise ‚Treu und verschwiegen‘ und hatte selbstverständlich für die Decorirten keinen anderen Werth, als die Erinnerung an einen froh verlebten Augenblick.“ …
Abermals Todtenstille, die nur ein schwaches Rauschen der Seidenvorhänge unterbrach.
„Seltsam,“ fuhr die Prinzessin plötzlich empor, „Claudius trug nie Ringe, man sagte ihm nach, aus Eitelkeit, damit die unvergleichlich schöne Form seiner Hand nicht beeinträchtigt werde, und da – da sehen Sie doch den Streifen am Goldfinger der linken Hand … ich habe diese Hand genau gekannt, ich habe sie oft gesehen, aber bis zu jenem unseligen Augenblick stets ohne diesen eigenthümlichen – einfachen Reifen – was soll er hier? Er sieht aus wie – ein Trauring.“
Herr Claudius antwortete mit keinem Laut – seine feinen Lippen, die sich stets fest aneinanderschlossen, wie man dies häufig bei tief nachdenkenden Naturen findet, bildeten eine noch schärfere Linie als sonst; ob er wohl, gleich mir, Charlottens Augen bemerkte, die förmlich glühend an seinem Gesicht hingen?
„Mein Gott, wohin versteigt sich meine Phantasie!“ sagte die Prinzessin nach einer kurzen Pause mit einem melancholischen Lächeln. „Er war ja nicht einmal verlobt – nein, nie, die ganze Welt weiß das. … Gleichwohl, sagen Sie mir aufrichtig, hat wirklich Niemand das Bild nach seinem Tode reclamirt?“
„Hoheit, es existirt Niemand außer mir, der irgend welchen Anspruch auf Lothar’s Nachlaß hätte.“
Was war das? … Die Antwort war so vollkommen unbefangen und trug so unverkennbar das Gepräge strenger Wahrhaftigkeit, daß ein Zweifel undenkbar schien. Charlotte fuhr mit bleichem Gesicht und allen Zeichen eines tödtlichen Schreckens unter der Gardine hervor – sie hatte offenbar denselben Eindruck empfangen wie ich. Nur Dagobert maß seinen Onkel mit einem langen verächtlichen Blick, und ein höhnisches Lächeln kräuselte seine Lippen – er war seiner Sache gewiß, er war der unumstößlichen Ueberzeugung, daß der Mann dort gelogen. … Welcher von Beiden war im Unrecht? Noch wünschte ich den Geschwistern den Sieg; aber ich meinte auch, nie in meinem Leben einem Menschen wieder glauben zu können, wenn es sich bestätigte, daß ein Mann wie Herr Claudius sich zu einer gemeinen Lüge herabgelassen habe.
Die zwei Abgesandten kamen achselzuckend und unverrichteter Sache aus dem Glashause zurück, und das Flacon fand sich schließlich in der Tasche der Prinzessin, die plötzlich ihre ganze imponirende Ruhe wiedergefunden hatte. Nur auf ihren Wangen, die sonst wie von einem zartrosigen Flaum überhaucht schienen, war ein tiefer Purpur liegen geblieben.
Fräulein von Wildenspring versicherte ängstlich, der Himmel hänge voll schwarzer Gewitterwolken, eine Aussage, die auch durch die sich auffallend verdichtenden Schatten in den Zimmern bestätigt wurde. Gleichwohl setzte sich die Prinzessin und nahm von den köstlichen Früchten, die ihr Fräulein Fliedner in einer silbernen Schale bot. Die Anwesenden gruppirten sich um sie her, nur mein Vater fehlte; weit drüben in einem der letzten Zimmer wanderte er forschend und betastend von Möbel zu Möbel – er schien total vergessen zu haben, mit wem er hierher gekommen, und man ließ ihn lächelnd gewähren.
Mir war so benommen und unheimlich zu Muthe, als müsse der ganze Plafond mit seinem schweren Stuck in den schwülen Salon hereinbrechen, oder auch, als könne sich jeden Augenblick das Unglaubliche ereignen, daß der schöne Lothar aus seinem Rahmen mitten in die Gesellschaft herabsteige. Wie furchtbar sprechend seine Augen niedersahen, und wie warm und lebendurchströmt „die unvergleichlich schöne Hand“, die den schmucklosen, verhängnißvollen Reif trug, sich von dem dunklen Sammet des Hintergrundes hob!
Vielleicht las die Prinzessin diese beängstigenden Gedanken auf meinem Gesicht; sie winkte mir.
„Mein Kind, Sie dürfen nicht so traurig sein,“ sagte sie mild und weich, während ich, eingeschüchtert durch die auf mich gerichteten Augen Aller, rasch und unwillkürlich vor ihr hinknieete – ich hatte das ja auch oft bei Ilse gethan. Sie legte die Hand auf meinen Scheitel und bog mir den Kopf in den Nacken „Haideprinzeßchen! Wie hübsch das klingt! … Aber Sie sind doch eigentlich kein Kind der nordischen Haide mit Ihrem braunen Gesichtchen und der kleinen, orientalisch gebogenen Nase, mit den dunklen, widerspenstig wilden Locken und dem scheuen Trotz in Ihren Zügen und Bewegungen – weit eher solch eine kleine Prinzessin der ungarischen Steppe, der am Abend die geraubten Schätze vor die Füßchen geschüttet werden, die sich mit köstlichen Perlen aus dem Orient behängt – ach, sehen Sie, wie Recht ich habe?“ lächelte sie und erfaßte die Perlenschnur, die mir tief über die Brust herabgefallen war; einen Augenblick ließ sie dieselbe überrascht durch ihre Finger rollen. „Aber das sind ja wirklich und wahrhaftig die schönsten Perlen die Sie da tragen!“ rief sie bewundernd. „Sind sie Ihr Eigenthum, und von wem haben Sie diese Schnur auserlesener Stücke?“
„Von meiner Großmutter.“
„Von der Mutter Ihres Vaters? … Ach ja, wenn ich nicht irre, war sie eine Geborene von Olderode, aus dem uralten, reichen Freiherrngeschlecht – nicht wahr, mein Kind?“
Eine Bewegung über dem Haupte der Prinzessin machte mich rasch aufblicken – da stand Dagobert mit gehobenem Zeigefinger und sein Blick traf magnetisch und durchbohrend den meinen. …
[779] „Nichts sagen!“ warnte mich die ganze ausdrucksvolle Geberde. Wie ein Traum flog es in meiner Seele auf, daß er mich schon einmal gewarnt hatte, aber ich fand in diesem häßlichsten Moment meines Lebens weder Zeit noch Klarheit, an das „Warum“ zu denken. Einzig und allein von dem Blick beherrscht und in eine unbeschreibliche Verwirrung versetzt, stammelte ich: „Ich weiß es nicht!“
Was hatte ich gethan? Mit dem letzten herausgestoßenen Worte wich der Zauber, und ich entsetzte mich vor meiner eigenen lügenhaften Stimme. … Wie, ich hatte eben vor all diesen Ohren erklärt, ich wisse nicht, ob meine Großmutter aus dem uralten, reichen Freiherrngeschlecht der Olderode stamme? Lüge, Lüge! Ich wußte es so genau wie die zehn Gebote Gottes, daß sie eine geborene Jakobsohn gewesen war – ich hatte sie als Jüdin sterben sehen und war ihr letzter Trost gewesen. … Zu welchem Zwecke diese entschiedene Verleugnung der Wahrheit? Noch heute muß ich sagen, „ich wußte es nicht.“ Ich hatte fast mechanisch unter fremdem Einflusse gesprochen und fühlte nur unter tiefem Jammer, daß ich mich Zeitlebens dieses Augenblicks schämen müsse. … Und wenn auch Alle, so wie eben Dagobert, mir Beifall zugenickt hätten – was half es? Einer richtete mich doch streng – er sah mich mit unverhohlener Bestürzung an, wandte sich ab und ging hinaus, und das war Herr Claudius.
Ich rang mit mir, aber ich fand nicht den Muth, durch sofortige Offenheit den Fehler zu sühnen. Scham und die Furcht, mich lächerlich zu machen, verschlossen mir die Lippen; auch wurde das momentane Schweigen, das meiner Antwort folgte, bald abgeschnitten – der erste Stoß des Gewittersturmes fuhr jäh durch die Straße und warf in erstickendem Wirbel dürre Halme und Blätter und die graue Staubschicht des sonnenheißen Pflasters gegen die Fenster. Noch einmal zerschlug er die schwarze Wetterwand droben, ein intensiv gelber Strahl brach herein – er funkelte blendend auf den Glasscheiben der gegenüberliegenden Häuser und warf fahle Reflexe schwankend über die dunklen Geräthschaften und Wände des dämmernden Salons.
Die Prinzessin erhob sich, während alle Anderen erschreckt an die Fenster eilten; auch mein Vater fuhr aus seinen interessanten Untersuchungen empor und kam schleunigst herüber. In meiner stillen Verzweiflung sah und hörte ich Alles, was um mich her vorging, wie im Traume. Ich sah Herrn Claudius wieder eintreten, hoch und fest und völlig unbewegt in den Linien seines Gesichts; aber ich wußte gerade in diesem Augenblick erst, weshalb ihn die Prinzessin so unverwandt ansah, wenn er zu ihr sprach – er hatte dann genau das Licht in seinen Augen, wie das Bild dort, das Licht, welches sie „die Seele“ nannte und das der alte pedantische Hofmaler nicht zu malen vermochte. … Sie legte die Hand auf seinen Arm und ließ sich die Treppe hinabführen; mechanisch nachfolgend, kam ich an Fräulein Fliedner vorüber, ihr milder Blick hatte etwas Kühles, Fremdes, als er mich traf – ach ja, sie hatte ja auch neulich im Glashause Dagobert’s Warnung mit angehört und sah nun das schwarze Siegel der Lüge auf meiner Stirn – ich biß die Zähne auf die Unterlippe und schritt über die Schwelle. … Die seidenen Schleppen der Damen rauschten die Treppen hinab, und dazwischen hinein klang die lieblich schmeichelnde Stimme der Prinzessin – mir schien es, als habe sie noch nie in so weichen, herzlichen Tönen gesprochen. … Sie wolle noch einmal in „das interessante Patricierhaus“ kommen, versicherte sie Herrn Claudius – Fräulein von Wildenspring und der Kammerherr steckten die Köpfe zusammen und dann nahm die impertinente Hofdame ihre Schleppe auf und warf mißtrauische Blicke auf die Treppenstufen, und Herr von Wismar fuhr fächelnd mit seinem Taschentuch durch die Luft, genau so wie Dagobert am Hügel gethan hatte – eine Demonstration gegen den fürstlichen Beschluß, wie sie sich drastischer nicht denken ließ. Charlotte ging hinter ihnen; ich sah von der Seite, wie ihr Gesicht aufglühte und die scharfgeschwungene Linie ihres Mundes sich in sprachloser Erbitterung verzerrte – auch das berührte mich augenblicklich nicht; aber jetzt fuhr ich empor aus der Betäubung, die mich gefangen hielt.
„Bravo!“ flüsterte es neben mir. „Haideprinzeßchen hat sich tapfer gehalten – nun bin ich ruhig in Betreff des Geheimnisses!“ Und Dagobert neigte sich so nahe und vertraulich zu mir, daß ich den Hauch seines Mundes fühlte. … Wäre mir plötzlich ein heimtückischer, schmerzlicher Schlag versetzt worden, es hätte mich nicht mehr aufbringen können als dieses Flüstern. Ich fühlte Groll gegen die braunen Augensterne, die mich anlachten – sie hatten mich zu der unbesonnenen Handlung hingerissen, und das Wehen des Athems, das lau meine Wange berührte, reizte und beleidigte mich – das war der Mann nicht mehr, für den ich jeder Anfeindung gegenüber muthig in die Schranken treten wollte – er war falsch, der schöne Tancred, und seine bewunderten kastanienfarbenen Locken waren Schlangen, die sich von der Stirn niederringelten – meiner nicht mächtig, stieß ich mit der Hand nach ihm, dann lief ich wie toll die Treppe hinab und hing mich an den Arm meines Vaters, der neben der Prinzessin eben die letzte Stufe verließ.
„Nun, nun, mein Kind, wir sind nicht in der Haide!“ verwies er mir lächelnd den Ungestüm. Das Höflingspaar war entsetzt zur Seite geprallt, als ich vorüberbrauste, und auch die Prinzessin wandte erstaunt den Kopf nach dem auffallenden Geräusch.
„Schelten Sie mir die kleine wilde Hummel nicht, Doctor,“ wehrte sie gütig. „Seien wir froh, daß ihr heiteres Naturell so rasch wieder durchbricht und den Abschiedsschmerz überwindet.“
Es war zum Verzweifeln – nun galt meine Empörung auch noch für kindischen Uebermuth, und Herr Claudius meinte es auch – er sah über meine kleine Person hinweg, sie schien für ihn nicht mehr zu existiren – recht so, die Strafe hatte ich ja verdient. …
Ein heißer Brodem schlug von draußen herein in die Hausflur – es war, als habe sich der Blumenathem der Gärten zu einer trägen unbeweglichen Masse verdichtet. Noch war kein Schlag gefallen, kein erlösender Regentropfen netzte die lechzende Erde, aber auf den Steinplatten des Hofes kräuselten sich kleine Spähne und verstreute Papierschnitzel in verhängnißvollem Reigen, und die Pappeln drüben am Fluß sträubten ihre glatten Wipfel – der Sturm holte lief aus, um von Neuem hervorzustürzen.
Die Prinzessin bestieg eiligst ihren aus der Seitenstraße hereinrollenden Wagen, und mein Vater, der zum Herzog beordert war, begleitete sie. Herrn Claudius reichte sie noch einmal die Hand heraus, Charlotte und Dagobert dagegen wurde ein freundlich vornehmes Kopfnicken zu Theil, für welches sie sich dankend tief zur Erde neigten. Meine kleine Person wurde in der Hast und Eile übersehen, – und es war ganz gut so, ich wandte Allen den Rücken, schritt über den Hof und öffnete die Gartenthür. Ich hatte Mühe mich auf den Füßen zu halten – der Sturm brach los und raste über den weiten Plan. Grimmig fiel er mich an und riß mir die Thür aus der Hand; alle meine Kraft aufbietend erfing ich sie wieder und warf sie hinter mir krachend in das Schloß – sie durfte ja nie offen bleiben nach den streng gehandhabten Hausregeln.
Nun vorwärts. Ich taumelte, nach Athem ringend, einige Schritte weiter und hatte das Gefühl, als sei ich plötzlich mitten in wogende Wasser geschleudert. … Wie es lebendig fließend über die Erde hinlief, das bunte Meer der Blumen, wie es zerwühlt zusammensank und auf Momente das fahle Grün der Stengel und Unterblätter zeigte, um dann wieder aufzuschwellen in farbenfunkelnder Pracht! Und wie sie toll und wild wurden, die schlanken, vornehmen italienischen Pappeln, wie sie sich bogen und wanden in rasendem Tanz mit dem Sturm und tosend einstimmten in sein Gebrüll!
Ich hatte plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen – zunächst flog ich mitten in das Heliotropenbeet, dann prallte ich gegen die Hofmauer zurück. Mit hochgehobenen Armen an die unebenen Steine mich anklammernd, drückte ich meinen Kopf gegen sie und ließ nun ausathmend die Wucht des Unwetters über mich ergehen. Scheu sah ich unter den Haarmassen hervor, die mir um das Gesicht flogen, denn die Thür nicht weit von mir fuhr rasselnd auf, und Herr Claudius trat heraus – er wandte suchend den Kopf nach allen Richtungen – da sah er mich.
„Ah, hierher hat Sie der Sturm verschlagen?“ rief er. Sofort stand er schützend vor mir – nicht eines meiner Haare hob sich mehr im Winde.
„Wahrhaftig, wie ein unglückliches Schwälbchen, das der [780] Sturm aus dem Neste gestoßen hat!“ lachte Dagobert, der ihm folgte und sich wankend am Thürpfosten festhielt.
Ich ließ rasch meine Arme von der Wand niedersinken und wandte das Gesicht weg – das war das Lachen, das mich in der Haide unter das Dach des Dierkhofes gejagt hatte.
„Kommen Sie in das Vorderhaus zurück; Sie erreichen die Karolinenlust nicht mehr,“ sagte Herr Claudius sanft zu mir.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nun, dann will ich mit Ihnen gehen – unbeschützt können Sie sich unmöglich auf Ihren kleinen Füßen erhalten.“
„Mit meinem Mantel vor dem Sturm – beschützt’ ich Dich!“ klang es durch meine aufgeregte Mädchenseele – nein, ich wollte nicht! mochten sie doch Beide gehen; den dort mit der Falschheit hinter der Stirne verabscheute ich, und vor Dem, der so geduldig und sanft zu mir sprach, fühlte ich tiefe Scham und Furcht.
„Ich brauche keinen Mantel, der mich beschützt – ich will mich allein durchkämpfen,“ sagte ich gepreßt und sah zu ihm auf – aber durch funkelnde, zitternde Thränen, die sich bei aller Anstrengung nicht niederschlucken ließen. Meine Zähne schlugen wie im Frost zusammen.
Herr Claudius sah mich an, während Dagobert abermals auflachte; eine unerklärliche Bewegung ging durch seine Züge. „Sie sind krank,“ sagte er, sich zu mir herabbückend, leiser. „Ich darf Sie nun erst recht nicht allein lassen. Seien Sie gut und gehen Sie mit mir.“
Diese nicht zu erschöpfende Geduld und Nachsicht mit dem kleinen unwürdigen Geschöpf, das er verachten mußte, und das bei alledem sich auch noch trotzig verhielt, brachen meinen Widerstand; zudem mäßigte sich das Toben in den Lüften für einen Moment, ich konnte mich recht gut allein auf den Füßen halten und verließ meinen Platz.
Noch stand Dagobert an der Thür. Jedenfalls hatten die wenigen Worte, die Herr Claudius leise zu mir gesprochen, und meine plötzliche Bereitwilligkeit, mitzugehen, sein Mißtrauen erweckt – er legte bedeutsam den Finger auf den Mund und hob in finsterer Drohung schüttelnd die Rechte. Dann trat er in den Hof zurück und schlug die Thüre zu. … Unnöthige Mahnung! Ueber meine Lippen kam kein Wort – erst gelogen und dann verrathen – Herr Claudius hätte mich selbst verabscheuen müssen, und wenn ihm auch meine Mittheilungen unberechenbar nützten. … Aber ich mußte zugleich tief niedergeschlagen an Heinzens schauerliche Erzählungen von verkauften Seelen denken – ich war auch so eine arme Seele, die ängstlich hin- und herflatterte und doch nicht weiter konnte.
Das vordere Glashaus erreichten wir im Sturmschritt, nicht einmal war ich genöthigt, mich unter den unmittelbaren Schutz meines Begleiters zu flüchten – mit hochaufgeblähten Kleidern, aber immer mit den Fußspitzen auf dem Boden flog ich neben ihm her. … Da fuhr schauerlich lang anhaltend, und als suche es unruhig einen Ausweg, ein glänzend rosenfarbenes Licht über die rauschende Pappelwand hin, beinahe zugleich krachte ein betäubender Schlag durch die Lüfte, und klatschend und trommelnd flogen die ersten Regentropfen gegen die Glaswände des Hauses. … Wir traten schleunigst in die Thüre, mitten unter die hochstrebenden, fremdartigen Pflanzengebilde hinein, die, für den tobenden Kampf unerreichbar, still und unbewegt dreinsahen. Ich blickte seitwärts an meinem schweigenden Begleiter empor – so isolirt stand auch er inmitten des Menschentumultes – geschah das wirklich, weil er düstere Geheimnisse in der Brust verschließen mußte? …
Er hatte meinen Blick aufgefangen und sah mir prüfend in das Gesicht. „Die rasche Bewegung hat Ihre Lippen wieder gefärbt – ist Ihnen besser?“ fragte er.
„Ich bin nicht krank,“ erwiderte ich seitwärts blickend.
„Aber tief erregt und in den Nerven erschüttert,“ ergänzte er. „Kein Wunder, es ist das Klimafieber – die junge Seele tritt nie ungestraft aus der stillen, versuchungslosen Einsamkeit in die laute Welt.“
Ich verstand ihn recht gut – wie mild beurtheilte er mein Vergehen! Gestern noch hätte ich denken müssen! „Weil er selbst die Welt belügt“ – jetzt konnte ich das nicht mehr!
„Ich möchte Ihnen so gern diesen Uebergang erleichtern,“ fuhr er fort. „Vorhin, droben im Salon, habe ich mir selbst sagen müssen, daß ich das nur kann, wenn ich Sie schleunigst fortbringe aus meinem Hause, aber ich bin ja nicht unfehlbar in meinem Urtheil, ich kann auch schwer irren bezüglich der Hände, in die ich Ihr Wohl und Wehe lege –“
„Ich gehe auch nicht,“ unterbrach ich ihn. „Glauben Sie denn, ich hätte auch nur eine Stunde nach der Abschiedsqual hier ausgehalten? Zu Fuße wäre ich Ilse nachgelaufen, bis in die Haide, wenn ich nicht – bei meinem Vater bleiben müßte. … Aber ich weiß recht gut, daß das Kind zum Vater gehört; und er braucht mich – so kindisch und unwissend ich auch bin, er hat sich doch schon an mich gewöhnt.“
Er sah mich überrascht an. „Sie haben mehr Kraft des Willens, als ich glaubte – es gehört schon viel dazu, ein in freier Ungebundenheit entwickeltes Naturell unter die Pflicht zu zwingen. … Gut denn, auch ich finde den Gedanken unausführbar; er kam mir ja auch nur in einem bösen Augenblick voll niederschlagender Eindrücke, in dem Augenblick, wo ich Sie straucheln sah. …“
Bei diesen Worten wandte er seine Augen weg und brachte eine fest gegen die Scheiben gedrückte prächtige exotische Blüthenglocke so vorsichtig in eine andere Lage, als fülle diese Beschäftigung seine ganze Seele aus. Er schien nicht sehen zu wollen, wie ich die Hände vor das Gesicht schlug, um die Gluth der Beschämung zu verbergen.
„Sie haben kein Vertrauen zu mir, das heißt, es ist systematisch in Ihnen zerstört worden, denn Ihr Gemüth hat sicher auch nicht das geringste Mißtrauen gegen Welt und Menschen mit hierhergebracht,“ sagte er mit tiefem Ernst weiter. „Ich habe es schwer, Ihnen gegenüber – die sehr undankbare Rolle des getreuen Eckhardt ist mir zugefallen, der die Menschen unermüdlich vor der schönen Sünde warnt und dafür schwerlich – geliebt wird. … Aber das soll mich nicht abhalten, mit dieser Stunde mein Amt anzutreten. Vielleicht, wenn sich Ihr Ausblick in das Weltgetriebe erweitert hat, vielleicht dann werden Sie einsehen, daß meine Hand eine treumeinende, so eine Art Elternhand gewesen ist, die sich schützend um die Tischecken legt, damit sich das Kind die Stirn nicht wund stoße – und diese Erkenntniß soll mir genügen. … Zählen Sie doch nicht gar so emsig die Sandkörner da zu Ihren Füßen!“ unterbrach er sich plötzlich selbst. „Wollen Sie nicht einmal aufsehen? Ich möchte wissen, was Sie denken.“
„Ich denke, Sie werden mir den Verkehr mit Charlotte verbieten,“ versetzte ich rasch und hob den Kopf.
„Nicht ganz – unter meinen Augen, oder in Fräulein Fliedner’s Gegenwart sollen Sie mit ihr verkehren, so oft Sie wollen. Aber ich bitte Sie ernstlich, das Alleinsein mit ihr zu vermeiden. Sie hat, wie ich Ihnen schon gesagt habe, den Kopf voll ungesunder Anschauungen, und ich darf es nicht leiden, daß Sie durch derartige Hirngespinste angesteckt werden. … Wie rasch gerade die unbefangene reine Menschenseele einem solchen Einflusse verfällt, das habe ich heute mit ansehen müssen. … Geben Sie mir das Versprechen, daß Sie mir folgen wollen!“ Er vergaß sich und streckte mir die Hand hin.
„Ich kann das nicht!“ stieß ich heraus, während er erbleichend und in jähem Schrecken die Hand zurückzog. „Mir wird heiß und angst hier in der schwülen eingeschlossenen Blumenlust“ – und wirklich schlug mir das Herz zum Zerspringen. „Sehen Sie, der Regen läßt nach – ich habe ja Baumschutz bis zur Karolinenlust – erlauben Sie, daß ich hinausgehe!“
Mit diesen Worten stand ich schon draußen und stürmte am Flusse hin; das Unwetter raste stärker als je, im Nu war ich von Wasserströmen überschüttet. Ich hielt schützend die Hand über die Augen, sonst wäre ich blindlings gegen die Bäume oder in den Fluß gerannt, und lief, bis ich athemlos die Halle der Karolinenlust erreichte. … Gott sei Dank, daß ich diese gelassene Stimme nicht mehr hörte, die mich trotz alledem berührte, als klopfe ein warmes bewegtes Herz hindurch.
Ich warf meine durchnäßte Muslinhülle ab, schlüpfte in mein verhöhntes schwarzes Kleid und stieß die Läden auf. Ich war mutterseelenallein in dem weiten Hause, nur draußen schrie und krakelte das Geflügel durcheinander, das vor dem rasch hereinbrechenden Gewitter in die Halle retirirt war. … In einer Fensternische kauernd, löste ich mit scheuen Fingern die Perlen von meinem Halse. Entsetzlich lebendig tauchten die halbgebrochenen
[781][782] Augen meiner Großmutter vor mir auf, und ich hörte ihre schwachröchelnde Stimme wieder sagen: „Ilse, lege die Schnur um den kleinen braunen Hals dort,“ und dann zu mir: „sie gehört zu Deinem Gesicht, mein Kind, Du hast die Augen Deiner Mutter, aber die Jakobsohn’schen Züge“ – der Name, den ich angeblich heute nicht gewußt hatte, er war mir sogar in das Gesicht geschrieben – ein verlogeneres treuloseres Geschöpf als mich gab es wohl nicht in der ganzen weiten Welt! … Auf welchem Wege war ich! Wie oft schon in den wenigen Wochen hatte ich mich hinreißen lassen, unrecht und kopflos zu handeln! Aber nun wollte ich gut werden – voll Inbrunst drückte ich die Perlen an meine Lippen – wollte nie wieder blind in den Tag hinein handeln, ohne zu fragen: wem thust du wehe damit? …
Draußen tobten Sturm und Regen ungeschwächt weiter – es schien, als kämpften zwei Gewitter zugleich in den Lüften. … Da sah ich auf einmal zu meinem Schrecken Gestalten drüben aus dem Bosquet treten und auf das Haus zulaufen – es waren die beiden Geschwister.
„Da, Kind, so muß man sich durchkämpfen, wenn man die Spuren seines Glückes sucht!“ sagte Charlotte athemlos im Eintreten. Sie schleuderte einen in Stücke zerbrochenen Schirm in eine der Zimmerecken, und auf das Sopha ihren wassertriefenden Shawl, darauf fuhr sie sich mit dem Taschentuch abtrocknend über Gesicht und Scheitel.
„Endlich!“ rief sie. „Wie haben wir auf der Folter gestanden, so lange Onkel Erich im Garten war und wir nicht vorüberkonnten! … Jetzt sitzt er in seiner Schreibstube und Eckhof auch, dem wir, auf Ihren Wunsch hin, nicht gesagt haben, daß Sie unsere Vertraute sind – Ihr Papa ist im Schloß, glücklicher konnte sich’s nicht fügen – wir sind Herren des Terrains. Vorwärts denn!“
„Jetzt?“ rief ich, mich schüttelnd. „Es muß zum Fürchten schrecklich droben sein!“
Dagobert brach in ein lautes Gelächter aus; Charlotte aber wurde dunkelroth im Gesicht und stampfte zornig mit dem Fuße auf.
„Gott im Himmel, seien Sie doch nicht solch ein Hasenfuß!“ schalt sie in ausbrechender Heftigkeit. „Ich sterbe vor Ungeduld, und Sie kommen mir mit solchen Faseleien! … Bilden Sie sich denn wirklich ein, ich ginge noch einmal fügsam und geduldig zu Bette, nachdem ich auf den Fortgang Ihrer fatalen, nicht fortzubringenden Ilse gehofft und geharrt habe, wie die Juden auf den Erlöser? Ja, ich ließe auch nur den Abend herankommen, ohne daß ich mich von den furchtbaren Zweifeln befreit hätte, die der Onkel heute mit seiner Erklärung in meine Seele geschleudert hat? – An meinem eigenen Herzschlag müßte ich ersticken! … Dazu geht Dagobert übermorgen in seine Garnison zurück – er muß sich erst noch überzeugen. Nicht eine Minute Frist geben wir Ihnen. Halten Sie Ihr Versprechen! Vorwärts, vorwärts, Kind!“
Sie ergriff mich an den Schultern und schüttelte mich. Bis dahin hatte ich dieses urkräftige energische Mädchen scheu geliebt und bewundert, jetzt fürchtete ich mich vor ihr, und die Art und Weise, wie sie von Ilse sprach, empörte mich; aber ich war still, ich hatte ja selbst den Kopf in diese Schlinge gesteckt und konnte nicht mehr zurück. Schweigend öffnete ich die Thür meines Schlafzimmers und zeigte nach dem Schranke.
„Wegrücken?“ fragte Charlotte, mich sofort verstehend.
Ich bejahte, und in demselben Augenblick schon hatten die Geschwister das Möbel erfaßt und seitwärts geschoben – die Tapetenthür wurde sichtbar … Charlotte schloß auf und trat auf die Treppe. Einen Moment blieb sie stehen und preßte tieferbleichend beide Hände auf das Herz, als müsse sie in der That an den heißen Blutströmen ersticken, die es pochen machten – dann flog sie hinauf, Dagobert und ich folgten.
Ich hatte Recht gehabt – es war schauerlich hier oben. Gerade um diese Ecke tobte der Sturm, als wolle er sie wegstoßen und die hier eingeschlossenen Erinnerungen und Ueberbleibsel geheimnißvoller Begebenheiten in alle Lüfte verstreuen. Hinter den schattenhaften Rosenumrissen der Rouleaux klirrten die Scheiben[WS 1] und schossen unermüdlich die brausenden und verdunkelnden Wasserströme nieder; selbst der verklärende Schein der rosenfarbenen Gazedraperie wurde von dem hereinbrechenden Dunkel aufgesogen.
Die Thür öffnen, eintreten und den über der Fuge hängenden Frauenmantel ergreifen, war für Charlotte Eins; sie nahm ihn vom Nagel und breitete ihn aus. –
„Es ist ein Domino, den ebenso gut ein Herr, wie eine Dame getragen haben kann,“ sagte sie tonlos und ließ das Kleidungsstück auf den Teppich fallen. … Achselzuckend trat sie an den Ankleidetisch und überflog in ängstlicher Musterung das Silbergeräth. „Pomade und Poudre de Riz, und hier verschiedene Flacons mit Schönheitswässern!“ warf sie hin, den dicken Staub wegblasend. „Wie es auf der Toilette eines schönen, jungen, von der Damenwelt angebeteten Officiers aussieht, wissen wir, gelt Dagobert? Der schöne Lothar war eitel trotz einer Dame – wenn Sie keine besseren Beweise bringen, Kind, dann steht es schlimm!“ sagte sie über die Schulter zurück in anscheinender Ruhe zu mir; aber ich sah etwas in ihren Augen glimmen, was mich doch wieder mit einer Art von Mitleiden erfüllte – es war Todesangst und die tiefste Entmuthigung.
Da stieß sie plötzlich einen zitternden Schrei aus, einen jubelnden Aufschrei, der mir durch Mark und Bein ging. Sie breitete die Arme aus, stürmte durch die offene Thür des Nebenzimmers und warf sich über die Korbwanne, die neben dem einen Bett unter dem violetten Baldachin stand.
„Unsere Wiege, Dagobert, unsere Wiege – o mein Gott, mein Gott!“ stammelte sie, während ihr Bruder an eines der Fenster sprang und die dunkeln Vorhänge zurückschlug. Fahl und ungewiß fiel das Tageslicht auf die kleinen vergilbten Polster, in die Charlotte ihr Gesicht vergraben hatte.
„Es ist wahr, Alles wahr, bis auf’s Jota!“ murmelte sie sich erhebend. „Ich segne die Frau im Grabe, die gelauscht hat! … Dagobert, hier hat unsere fürstliche Mutter unseren ersten Schrei gehört! Unsere fürstliche Mutter, die stolze Tochter der Herzöge von K., wie das berauschend klingt, und wie sie in den Staub sinken, die Aristokratentöchter, die über das Adoptivkind des Kaufmanns die Nase rümpften! … Gott im Himmel, mich erdrückt das Glück!“ unterbrach sie sich aufschreiend und preßte die Stirn zwischen die Hände. „Er hat Recht gehabt, unser grausamer Feind, der im Krämerhause, als er mir neulich sagte, ich müsse die Wahrheit erst ertragen lernen! – Ich bin geblendet!“
„Meinetwegen denn,“ sagte Dagobert trocken und ärgerlich, indem er den Vorhang wieder über das Fenster fallen ließ. „Tobe Dich aus! … Aber dann möchte ich doch ein wenig an Deine Vernunft appelliren, diese Ueberschwenglichkeit ist mir geradezu unverständlich. … Für mich bedurfte es solcher Beweise nicht mehr, Eckhof’s Mittheilung hat mir vollkommen genügt, und auch sie war nur der Sonnenstrahl, der das näher beleuchtete, was wir bereits in unserer Brust, in unserem Blut besaßen.“
Charlotte breitete zärtlich den grünen Schleier wieder über das kleine Bett.
„Danke Gott für diese Seelenruhe!“ sagte sie gefaßter. „Mein skeptischer Kopf hat mir schwer zu schaffen gemacht während der letzten Tage. … O, Sie liebe Unschuld,“ lachte sie mich spöttisch an, „Sie faseln mir von Schriftproben einer Damenhand und von Frauenmänteln, die sich als sehr zweifelhafter Gattung erweisen, und dieses Zimmer mit seinen Details entgeht Ihrem blöden Auge! … Sind Sie denn wirklich so entsetzlich – harmlos? … Mit einem einzigen Wort konnten Sie mir die Marter der letzten Zeit ersparen!“
Ich hörte kaum auf diese sarkastisch höhnende Stimme. Beklommen mußte ich an Eckhof’s pathetisch hingeschleuderte Worte von dem Lebendigwerden in den versiegelten Sälen denken. In diesem Augenblick wurde Alles aufgerüttelt und unter dem deckenden Staube hervorgezogen, was an dem Geheimniß zweier längst erloschener Menschenleben theilgenommen hatte. … Wie ängstlich war dieses Geheimniß gehütet worden! Selbst die Schwester der Prinzessin war ahnungslos daneben hingegangen – wer wußte denn, ob die Zwei nicht heiß gewünscht hatten, auch über den Tod hinaus den Schleier festzuhalten? … Nun lagen sie im Grabe, das schöne Prinzessinnengesicht und der Mann mit dem blutigen Maal auf der Stirn, und konnten fremden Augen und Händen nicht wehren – oder durften sie zurückkehren und warnen, wie der finstere Fanatiker gemeint hatte? Schauerlich lebendig war es ja geworden, da, wo ich nur den lautlosen Sonnenstrahl hatte spielen und weben sehen. Ja, draußen schmetterte freilich der Gewittersturm gegen die Mauern; aber hier zog es in leisem [783] Stöhnen verhauchend droben an der Decke hin. Langsam blähten sich die losen Gardinen auf und rieselten wie weitgebauschte Frauenkleider über die Dielen, hie und da einen bleichen Lichtflecken hindurchlassend, der unruhig die violetten Bettvorhänge betupfte und gespenstig durch die grauen Schatten der tiefen Ecken fuhr – gespenstig wie die arme Seele, die zwischen Himmel und Erde wandeln muß. …
Erlauben Sie mir, Ihnen nachfolgend einen Bericht von dem größten Waldbrande Nordamerikas zu geben, der je hier gewüthet hat. Um den Bericht gründlich zu verstehen, ist es nothwendig, daß sich die Leser der „Gartenlaube“ mit der Lage der Wälder, Flüsse und Städte in Nord-Wisconsin etwas vertraut machen. Ganz Nord-Wisconsin war vor Zeiten ein dichter Urwald, durchkreuzt vom Foxriver und weiter hinauf von der Green-Bay (grünen Bai). Die ersten Ansiedler hier, meistens Deutsche und Belgier, bahnten sich Wege durch die Wälder und ließen sich dann mitten im Walde an irgend einem Platze nieder, der sich für den Ackerbau am besten eignete. Alsdann bauten sie sich Hütten aus Holzstämmen und machten einige Acker Land um sich brauchbar zum Ackerbau, was entweder durch Fällen der Bäume oder durch Abbrennen derselben geschieht. Im letzteren Falle muß sehr vorsichtig zu Werke gegangen werden; denn wenn ein solcher Waldbrand um sich greift, ist kein Mensch im Stande, ihm Einhalt zu thun, und nur ein frühzeitiger Regen vermag dem Abbrennen des ganzen Waldes nebst allen darin befindlichen Häusern vorzubeugen.
Im Laufe der Jahre haben sich nun auch in Nord-Wisconsin an Stelle des ausgerotteten Urwaldes Städte gebildet und zwar sind die hauptsächlichsten entweder am Foxflusse oder an der Green-Bay gelegen, einestheils des Handels und der Schifffahrt wegen und anderntheils um im Falle eines Waldbrandes vom Feuer nicht eingeschlossen zu werden.
Die Einwohner von Nord-Wisconsin leben fast sämmtlich direct oder indirect vom Ackerbau, oder von der Zubereitung des Holzes. In der Umgegend von Green-Bay befinden sich ungefähr fünfzig Sägemühlen, welche die Bäume zu Brettern und Schindeln schneiden. Die letzteren sind kleine Brettchen, welche zum Dachdecken gebraucht werden. Da wenigstens die Hälfte aller Häuser in den Vereinigten Staaten von Holz gebaut ist, so kann man sich den Verbrauch in Brettern und Schindeln nicht großartig genug denken, und selbige werden in Schiffsladungen von hier nach Chicago, St. Louis und andern östlichen Plätzen versandt. Da meistens gute Preise dafür erzielt werden, so läßt sich begreifen, daß alle Holzdistricte ziemlich wohlhabend sind. Die Arbeiter in den Mühlen bekommen durchschnittlich ein sehr gutes Gehalt (von zwei bis vier Dollars pro Tag) und die meisten haben sich in einiger Entfernung von den betreffenden Mühlen ein kleines Häuschen gebaut, worin sie im Kreise ihrer Familie glücklich und zufrieden leben.
Der diesjährige Sommer war ein außergewöhnlich heißer und trockener, und fast schien es, als ob der Regen seine Thätigkeit für immer eingestellt habe, denn in drei Monaten wurde nur ein einziges Mal der sehnlichste Wunsch Aller nach Regen befriedigt. Die ältesten Einwohner Wisconsins können sich nicht einer solchen Trockenheit erinnern, welche so groß war, daß Sümpfe, die gewöhnlich ungefähr zwei Fuß Wasser halten, ganz austrockneten. Da wir hier gewöhnlich im Herbst viel Regen haben, so wählen die Landleute meistens diese Jahreszeit, die Bäume und Büsche von ihren Ländereien abzubrennen, um dann im nächsten Frühjahr darauf zu säen. Auch dieses Jahr wurden von mehreren Landleuten Feuer zu diesem Zwecke angelegt, in der Hoffnung, daß ein baldiger Regen selbige löschen würde. Anstatt Regen kam jedoch ein starker Wind, welcher das Feuer mit Riesenschnelle weiter trug, so daß innerhalb einer Woche eine Strecke von tausendfünfhundert englischen Quadratmeilen in Flammen stand. Green-Bay war ungefähr der Mittelpunkt des ganzen Feuers und aus diesem Grunde kamen alle Berichte hier zusammen. Da ich an der hiesigen englischen Zeitung, dem „Green-Bay-Advocate“ angestellt bin und es dies- wie jenseits des Oceans eine alte Gewohnheit ist, einer Zeitung alle Glücks- oder Unglücksfälle zuerst zu berichten, so hatte ich die beste Gelegenheit, alle Einzelnheiten in Betreff des Feuers zu erfahren. Das Feuer fing ungefähr am 15. September an und ist heute, am 13. October, noch im vollsten Gange. Es wurde von keinem Tropfen Regen unterbrochen bis augenblicklich, wo ein leichter Regen fällt.
Unser erster Berichterstatter war ein dichter Dampf, der die ganze Umgegend einhüllte, und welcher so dicht war, daß man kaum zehn Schritt vor sich sehen konnte. Sonne, Mond und Sterne waren nur dann und wann sichtbar, wenn ein starker Wind die Dampfwolken auf kurze Zeit verjagte. Obgleich es hier im September und October gewöhnlich schon ziemlich kalt ist, hatten wir dieses Jahr eine fortwährende Wärme von ungefähr neunzig Grad Fahrenheit (25° R.).
Gleich in den ersten Tagen des Feuers bekamen wir Berichte von allen Seiten, daß einzelne Häuser, Scheunen mit Heu und Korn, Umzäunungen, Eisenbahnschwellen und Thiere verbrannt seien. In allen Ortschaften, welche im Walde lagen, wurden die Einwohner durch Feueralarm aufgeschreckt und Jung und Alt, Männer und Frauen eilten an diejenigen Plätze, wo das Feuer am meisten drohte. Alsdann wurden große Gräben gezogen, volle Wasserfässer um den ganzen Ort gestellt, und überhaupt jede Anstalt getroffen, die den Lauf des wüthenden Elementes hemmen konnte. Bald darauf erfuhren wir, daß trotz der größten Vorsichtsmaßregeln doch schon einige Sägemühlen abgebrannt seien. Die Aufregung über diese Verluste war groß, aber die Nachrichten sollten noch schlimmer kommen.
Ein kleiner Ort, auf der Ostseite der Bai gelegen, brannte ganz und gar ab und ungefähr zwanzig Familien flüchteten sich bis zum Ufer der Bai, wo sie einen Tag unter freiem Himmel und ohne Nahrung zubrachten und dann von einem vorbeifahrenden Dampfboote aufgenommen wurden. In den nächsten Tagen wurden die Berichte von den durch das Feuer heimgesuchten Plätzen immer häufiger. Fast alle Brücken, über zweihundert Wohnhäuser, Scheunen mit großen Massen Weizen, einige Mühlen und Tausende von Klaftern Holz waren verbrannt. Hunderte von Familien wurden von ihren brennenden Häusern verjagt, worin sie noch vor einigen Tagen sorgenfrei gelebt hatten. Die meisten retteten weiter nichts, als das Zeug, was sie trugen, und so sah man sie in den Straßen umherziehen, vor den Thüren Anderer ihr Brod bettelnd. Alle Vorsichtsmaßregeln waren vergebens gewesen, denn nichts konnte die Flammen zurückhalten, ihre Opfer zu verschlingen. Sogar Bäche und Flüsse wurden von dem Feuer übersprungen und keine Menschenhand war mehr im Stande, demselben Einhalt zu thun. Viele Leute, die mitten im Walde wohnten, verließen ihre Häuser, ehe das Feuer sie noch erreicht hatte, und suchten sich Plätze, wo sie wenigstens ihres Lebens sicher waren, ihr Eigenthum den Flammen überlassend. Die Posten hörten nach und nach auf zu kommen, da die Wege mit brennenden Baumstämmen bestreut waren; ebenso hörte die Telegraphenverbindung gänzlich auf, da die Stangen abbrannten und die Drähte von der Hitze zersprangen.
Bis jetzt hatten wir noch von keinem Verluste von Menschenleben erfahren, aber auch dieser blieb nicht aus. Die Aufregung in Green-Bay vergrößerte sich bei diesen Botschaften mehr und mehr, alle Geschäfte ruhten und auf den Straßen sah man einzelne Haufen Menschen stehen, aus Neugierde sowohl, wie auch, um sich über Vorsichtsmaßregeln gegen die annahenden Flammen zu besprechen. Jede Nacht war der Horizont erhellt von dem Feuer um uns her, und am Tage erfüllte ein dichter Dampf die Stadt und Umgegend.
Am Sonntag den 8. October erhob sich gegen Abend ein sehr starker Wind, welcher bis Mitternacht zu einem wahren Orcan ausartete. Die Gefahr für Green-Bay war groß, und schon kamen Leute von naheliegenden Ortschaften, um von hier mehr Hülfe gegen die schnell um sich greifenden Flammen zu holen. [784] Jung und Alt eilte hinaus, um diesen Leuten zu helfen, aber ohne Erfolg. Es war, als ob der letzte Tag für uns Alle gekommen, als ob die Luft in Flammen sei und Alles in sich verschlingen wollte. Wo die Bäume den Flammen keine Nahrung boten, brannte der Erdboden, zuweilen einen bis zwei Fuß tief.
Glücklicherweise für Green-Bay legte sich der Wind, ehe die Flammen es erreicht hatten; die Berichte aber, welche uns am Montag erreichten, waren so entsetzlich, daß sie einer jeden Wiedergabe spotten. Viele Leute, die bei uns ankamen, glaubten nicht anders, als daß irgend etwas Uebernatürliches über sie gekommen sein müsse, und wollten nicht einsehen, wie die Flammen allein in so kurzer Zeit Alles verzehren konnten, so daß auch kein Haus, Scheune, Kirche, Baum und in der That Nichts stehen geblieben sei. Der Verlust an Menschenleben und Eigenthum ist großartig. Ueber tausend Menschen fanden in fast einer Stunde ihren Tod in den unerbittlichen Flammen. Viele zwar wurden vom Rauche erstickt, aber auch sehr viele wurden lebendig gebraten, ehe der Tod ihren Qualen ein Ende machte. Viele Hunderte liegen an ihren Brandwunden darnieder und viele davon erliegen täglich denselben. Ueber tausend Häuser, Kirchen, Mühlen wurden ein Raub der Flammen, und außerdem ist der Verlust an Korn, Heu, Ackerbaugeräthschaften etc. großartig. Der Schaden wird auf ungefähr zehn Millionen Dollars berechnet. Beinahe fünftausend Menschen irren obdachlos umher, noch vor einer Woche sorgenfrei und zufrieden in ihren Wohnungen lebend und jetzt nicht wissend, wo sie Nahrungsmittel und Obdach finden sollen. Leute, die noch vor einer Woche über Tausende zu verfügen hatten, sind jetzt Bettler. Worte reichen nicht hin, einen Begriff von dem Schaden zu geben, den das Feuer in dieser Gegend angerichtet hat. Das Holz, von dem fast ganz Nord-Wisconsin seinen Lebensunterhalt sucht, ist abgebrannt, und es ist wenig Aussicht, daß es je wieder wachsen wird, da das Feuer sogar die Wurzeln der Bäume in der Erde vernichtet hat.
Ganze Städte und Dörfer am Ost- und Westufer der Green-Bay sind total zerstört, so daß auch nicht ein Haus stehen geblieben ist.
Am Ostufer verbrannte die Stadt Brussels, ungefähr zweihundert Familien obdachlos hinter sich lassend. Die Dörfer Rosiere und Messiere existirten am Montag Morgen nicht mehr, während den Tag zuvor noch hundertachtzig Häuser dort standen und über zweihundert Familien in diesen wohnten. In einer kleinen Ansiedelung verbrannten neun von zehn Familien und außerdem eine Familie von vier Deutschen, welche todt im Keller aufgefunden wurden. In dem Dorfe Forestville verbrannten achtzig Häuser und vierzig Menschen, welche meistens vom Rauche erstickten, ehe das Feuer sie erreichte.
In dem Orte Redriver verbrannten fast alle Häuser, Kirchen und Mühlen, und es irren dort über achthundert Personen obdachlos umher. Der Verlust an Menschenleben war im Verhältniß zu anderen Plätzen nur sehr gering, denn nur neun Personen verbrannten und nur sehr wenige erhielten ernstliche Brandwunden. Einer der am schwersten Verwundeten hatte mitten im Walde gewohnt und war, als er die Flammen herannahen sah, zu Pferde gestiegen, um denselben zu entgehen. Das Feuer jedoch lief schneller als sein Pferd, und es blieb ihm nichts übrig, als herunterzuspringen und sich flach auf den Erdboden zu legen. Sein Hinterkopf und Rücken sind sehr verbrannt, doch ist Aussicht, daß er am Leben erhalten wird.
In dem Dorfe New-Franken ist kein Haus oder sonst ein Zeichen der ehemaligen Existenz aufzufinden. Obgleich die Einwohner dieses Platzes fast von jeder Gelegenheit abgeschnitten waren, ihr Leben zu retten, so ging doch kein Menschenleben verloren. Der Platz ist ganz von Bäumen eingeschlossen, und als er ringsum in Flammen stand, gelang es sämmtlichen Bewohnern, sich durch das Feuer nach einer großen Wiese durchzuschlagen, wo sie über einen Tag verweilten, bis ihnen Hülfe und Lebensmittel von Green-Bay zugeschickt wurde.
Der schlimmste Bericht von der Ostseite der Bai kommt aus einem Orte, genannt Williamsonville. Mein Bruder ist nicht weit von dort Geschäftsführer in einer Mühle, welche merkwürdiger Weise von den Flammen verschont blieb, und schickte mir folgenden Bericht:
„Am Sonntag Abend umringten uns die Flammen so nahe, daß es mir und unseren Leuten nur durch Aufbieten aller Kräfte gelang, unsere Mühle sowie den ganzen Ort vor der gänzlichen Zerstörung durch Feuer zu retten. Männer, Frauen und Kinder schleppten fortwährend Wasser heran, um den Boden feucht zu halten, und einige Männer waren fortwährend beschäftigt, Wasser auf die Mühle und umliegenden Häuser zu spritzen, damit dieselben von den dicht regnenden Funken nicht Feuer fingen. Es gelang uns auch, unsern Platz zu retten; aber schlimmer erging es unseren Nachbarn. Am nächsten Morgen kamen hier zwei Leute von Williamsonville an, welche die traurige Botschaft brachten, daß der ganze Ort und alle Einwohner, sie und ungefähr zehn schwer Verwundete ausgenommen, ein Raub der Flammen wurden.
Sofort machten sich fünfundzwanzig von uns auf den Weg, um mit Aexten sich durch die noch brennenden Bäume durchzuschlagen. Nach ungefähr fünf Stunden erreichten wir endlich die Stelle, wo einst Williamsonville stand. Der Anblick, der sich uns bot, ist nicht zu beschreiben. Auf einer Stelle von ungefähr zehn Quadratfuß fanden wir neunundzwanzig Todte. Alle waren schrecklich entstellt und einige so verkohlt, daß sie nicht mehr zu erkennen waren. Der ganze Platz war mit verbrannten Körpern besäet und in kurzer Zeit hatten wir neunundfünfzig Leichen an einer Stelle zusammengebracht. Wir fanden den Leichnam einer Frau mit einem Kinde fest in ihren Armen und legten beide in dieser Lage in einen Sarg, vereint im Tode, wie im Leben.
Von sechs Menschen, welche in einem Baume Rettung gesucht hatten, waren vier verbrannt und zwei noch am Leben, jedoch verwundet. In einem andern Baume fanden wir einen Vater mit seinem Kinde, letzteres noch am Leben. Einige hatten versucht, durch den brennenden Wald nach einem freien Platze zu gelangen, waren jedoch fast Alle verbrannt. – Wir schafften siebenundvierzig Särge herbei und legten die Leichname hinein, Mutter und Kind, Vater und Sohn zusammen. Wir scharrten alsdann die Todten an demselben Platze ein, wo das Unglück geschah, und bezeichneten die Plätze durch kleine mit den Namen der Unglücklichen beschriebene Bretter, die wir auf die Gräber steckten. Ich habe noch nie etwas Schauerlicheres gesehen und hoffe auch nicht, je wieder bei einer ähnlichen Scene zugegen zu sein. Wir nahmen die Verwundeten mit uns und kehrten zu unserer Mühle zurück.“
Die Berichte vom Westufer der Bay sind noch schrecklicher als die obigen. Von all den Verheerungen, welche das Feuer angerichtet hat, ist kein Platz so entsetzlich mitgenommen als Peshtigo – entsetzlich wegen des Verlustes von Menschenleben und Zerstörung von Eigenthum. Viele Einwohner (darunter über zweihundert Deutsche) büßten ihr Leben ein und die Arbeit und die Ersparnisse vieler, vieler Jahre wurden in einer Stunde zerstört.
Das Feuer wurde ungefähr um neun Uhr zwei bis drei englische Meilen entfernt gesehen und Niemand dachte daran, daß Peshtigo in irgend welcher Gefahr sei. Kurz darauf aber erhob sich ein ziemlich starker Wind, welcher bald in einen Orcan und Wirbelwind ausartete. Nur ein dumpfes Brüllen, fernem Donnerrollen ähnlich, war der Vorbote des Orcans und mit ihm des Feuers. Leute von Peshtigo erzählten mir, wie sie nicht anders glaubten, als daß das Feuer vom Himmel gestürzt sei, so schnell sei es gekommen und habe den ganzen Ort als Opfer gefordert. Peshtigo ist an einem kleinen Flusse, dem Peshtigo-River, gelegen, welcher den einzigen Zufluchtsort für alle Einwohner bot, ungefähr fünfzehnhundert an der Zahl. An Retten des Eigentums war gar nicht zu denken. Mütter schrieen nach ihren Kindern, die sie in der Verwirrung verloren hatten, Männer nach ihren Frauen, Kinder nach ihren Eltern und zuletzt eilte Alles, um dem Feuertode entgehen und den Fluß zu erreichen. Der dichte Rauch aber und die heiße Luft erstickte Hunderte, ehe sie sich ins Wasser retten konnten. In dem Flusse lagen zahlreiche Baumstämme, welche in der Sägemühle verschnitten werden sollten, an diesen hielten sich viele, da der Fluß an einigen Stellen sehr tief ist, um so dem Tode durch Wasser zu entgehen. Aber auch diese letzte Hoffnung wurde vereitelt, denn viele Baumstämme fingen Feuer und so blieb Hunderten nur die Wahl, zu verbrennen oder zu ertrinken. Dabei zwangen heiße Luft und die dichten Funken die Leute, fast fortwährend ihren Kopf unter Wasser zu halten, und erlaubten ihnen nur dann und wann Luft zu schöpfen. Die Gluth dauerte von zehn bis drei Uhr, daß demnach Alle an fünf Stunden im Wasser zuzubringen gezwungen waren.
[785] Von den Leuten, welche in der Umgegend von Peshtigo im Walde wohnten, haben sich nur wenige gerettet und diese allein dadurch, daß sie Löcher in die Erde gruben, und sich dann mit nassen Decken zudeckten. Nur ein Haus im Walde ist stehen geblieben, die sämmtlichen Einwohner davon sind jedoch verbrannt, da sie sich nach dem Flusse durchzuschlagen suchten, aber von den Flammen eingeholt wurden. In Peshtigo ist von zweihundert Häusern kein einziges stehen geblieben, und deutet überhaupt auch nicht das kleinste Zeichen mehr an, daß dort je eine Stadt gewesen sei. Die Hitze war so groß, daß ein Faß Nägel zu einem Klumpen Eisen zusammenschmolz. Bis gestern waren fünfhundertfünfunddreißig Leichen beerdigt, und man glaubt noch über zweihundert theils im Walde, theils im Flusse zu finden. Von einer Familie, aus acht Mitgliedern bestehend, blieb nur ein Kind von zwei Jahren übrig, – eine andere Familie von dreizehn Personen verbrannte ganz und gar. Ein Deutscher, welcher schwer verwundet nach Green-Bay gebracht wurde, erzählte mir, daß er seine Frau, fünf Kinder und seine alte Mutter in den Flammen verloren habe, und sein sehnlichster Wunsch war, daß der Tod auch ihn als Opfer gefordert haben möchte. Ein Mann, dessen Frau krank war und sich nicht selbst retten konnte, nahm selbige auf seinen Rücken und eilte dem Flusse zu. Auf dem Wege wurde er von der Menschenmenge umgestoßen, raffte sich jedoch gleich wieder auf, hob seine vermeintliche Frau wieder auf seinen Rücken und entging glücklich den Flammen. Wie groß aber war am andern Morgen sein Schrecken, als er sah, daß er eine andere Frau gerettet habe, während die seinige im Feuer umgekommen war! Viele Menschen verloren ihr Leben noch dadurch, daß das vom Feuer wild gewordene Vieh sich ebenfalls ins Wasser stürzte und sie in diesem erdrückte.
Die Schreckensscene nach der Nacht, welcher Peshtigo zum Opfer gefallen war, ist kaum zu beschreiben. Der Erdboden war mit verkohlten Leichnamen bestreut. Das Skelet eines Knaben wurde gefunden, einen Griffel, Messer und ein Stück Gummi in der Hand haltend. Einige Skelete wurden auf der Erde knieend und mit gefalteten Händen gefunden. Der Verlust an Eigenthum übersteigt eine Million, wovon eine Firma allein eine halbe Million verlor. Unter andern verbrannte einer einzigen Firma ein Stall mit fünfzig Pferden.
Der Ort Menekaunee wurde ebenfalls gänzlich durch Feuer zerstört und hinterließ über hundert Menschen obdachlos. Glücklicherweise wurde hier kein Menschenleben verloren.
So groß auch das Unglück, so groß war auch die Unterstützung der Obdachlosen und das eifrige Bestreben Aller, die Leiden der Verwundeten zu lindern. Sobald wir in Green-Bay von den entsetzlichen Verheerungen hörten, die das Feuer angerichtet hatte, wurde vom Mayor der Stadt eine Versammlung berufen und Comités ernannt, um Gelder, Lebensmittel und Kleidungsstücke für die Leidenden zu sammeln. In einem Nachmittage wurden in Green-Bay allein zehntausend Dollars und Massen Lebensmittel und Kleidungsstücke beigesteuert und in einer Woche kamen vom Staate Wisconsin ungefähr fünfzigtausend Dollars zusammen. Außerdem trafen hier Hunderte von Eisenbahnwagen ein, beladen mit Lebensmitteln und Kleidungsstücken. An einem Tage gingen von hier drei große Schiffsladungen direct nach den Unglücksstätten, wo sie mit offenen Armen empfangen wurden. Der Gouverneur von Wisconsin telegraphirte, auf ihn selbst für zweitausend Dollars und auf den Staat Wisconsin für zwanzigtausend zu ziehen. Er reiste alsdann sofort nach den Unglücksstätten, um sich selbst von der Wirklichkeit zu überzeugen, und erließ schließlich einen Aufruf an alle Einwohner Wisconsins, nach besten Kräften zu unterstützen. Die Unterstützung war auch von allen Seiten so großartig, daß anzunehmen ist, daß nicht allein für die jetzige Zeit, sondern auch für den ganzen Winter für die vom Feuer Heimgesuchten gesorgt ist. Ganze Ladungen Oefen, Aexte, Nägel, Glas etc. kommen hier an, damit die Abgebrannten sofort wieder ihre Häuser aufbauen können. Das Holz dafür ist von einigen Mühlenbesitzern „frei“ angeboten.
Auch die zahlreichen Verwundeten finden die beste Wartung und Pflege. Am Tage nach dem Feuer fanden sich hier ungefähr zwanzig Doctoren aus umliegenden Plätzen ein, um sich nach den Unglücksorten zu begeben und die Verwundeten zu verbinden. Der deutsche Green-Bay-Turnverein überließ den Verwundeten seine geräumige Halle als Hospital. Es sind bis jetzt über hundert Verwundete dort untergebracht, und die Einwohner von Green-Bay ermüden nicht, die Leiden derselben nach Kräften zu lindern. Die Verwundungen sind sehr mannigfaltig, aber fast alle entsetzlich. Den Einen sind die Füße verbrannt, Anderen die Hände, Anderen das Gesicht und Einige am ganzen Körper. Heute wurde Jemand gebracht, welchem Hände und Füße zugleich verbrannt waren und der fünf Tage ohne Lebensmittel im Walde herumgekrochen war, bis es ihm endlich gelang ein Haus zu erreichen. Sein Aufkommen wird sehr bezweifelt.
Dieser Waldbrand nebst seinen schrecklichen Verheerungen steht gewiß einzig in der Weltgeschichte da und ich will nicht hoffen, daß mir oder irgend Jemandem wieder eine Gelegenheit gegeben wird, etwas Aehnliches zu berichten.
Green-Bay, am 13. October 1871.
Noch immer steigt die Fluth der Kriegsliteratur. Fast jede Woche bringt uns neue Beiträge zur Groß- und Kleingeschichte unseres letzten Feld- und Siegeszuges, aber die Spenden fließen jetzt weniger aus deutschen, als aus französischen Federn. Wie gemüthlich man in den meisten dieser wälschen Stilübungen mit uns Deutschen umspringt, läßt sich begreifen. Lassen wir indeß diese Liebenswürdigkeiten heute bei Seite – und befassen uns dafür lieber mit einer Schrift, die zwar auch in die Kategorie jener Kriegsliteratur fällt, aber ausgesprochener Maßen „die Politik nicht als ihr Geschäft betrachtet“, sondern einfach die „Erinnerungen eines Luftschiffers während der Belagerung von Paris“ veröffentlichen will.
Der Verfasser unseres Buchs ist eine Autorität auf dem Gebiete der Aëronautik, Gaston Tissandier. Professor der Chemie an der „Association polytechnique“ und Vorstand des Laboratoriums der „Union Nationale“ in Paris, hat er nicht nur der Theorie der Luftschifffahrt seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit zugewandt, sondern auch, in Gemeinschaft mit anderen Aëronauten, eine Reihe von Ballonreisen unternommen, die seinen Namen in weiten Kreisen bekannt machten. Als daher trotz aller militärischen Versicherungen vom Gegentheil Paris sich als in optima forma blokirt betrachten mußte; als Graf Moltke das unerhörte Problem gelöst, eine Stadt von zwei Millionen Menschen einzuschließen – da tauchten plötzlich die so lange vergessenen Luftschiffe, die merkwürdige Erfindung Montgolfier’s, wieder auf. Sie sollten mitarbeiten an der Vertheidigung des Vaterlandes, indem sie diesem durch die Lüfte die Seele seiner Hauptstadt zutrugen … denn Paris konnte sich unmöglich lebendig begraben lassen. Ohne die Ballons wäre ja kein Brief über die Enceinte der Forts hinaus- und nicht eine einzige Depesche über dieselbe hineingedrungen! Rasch würde die geknebelte Stadt um Gnade gebeten haben.
So ward die wunderbare Luftpost organisirt, die, einschließlich der gefiederten Briefboten, der Tauben, in der That weit mehr geleistet hat, als man anfangs für wahr zu halten geneigt war. Vom 23. September an, wo Duruof vom Montmartre aus mit hundertfünfundzwanzig Kilogrammes Depeschen sich in die Lüfte erhob, um nach elfstündiger Fahrt bei Evreux unversehrt wieder auf die Erde hinabzugelangen, bis zum 28. Januar 1871, wo General Cambronne vom Pariser Ostbahnhof aus aufstieg, um der Provinz die Nachricht vom Abschluß des Waffenstillstandes zu bringen, haben im Ganzen nicht weniger als vierundsechszig Luftfahrten stattgefunden. Diese vierundsechszig Ballons haben außer den Aëronauten selbst einundneunzig Passagiere, dreihundertunddreiundsechszig Brieftauben und neuntausend Kilogramme Depeschen befördert, welche letztere ungefähr drei Millionen gewöhnlicher Briefe im Gewichte von drei Grammes das Stück repräsentiren. Fünf Ballons sind den deutschen Truppen in die Hände gefallen und zwei andere im Meere zu Grunde gegangen; alle übrigen haben mehr oder weniger ihren Zweck erfüllt. Mithin darf man den Franzosen wohl das Recht zugestehen, sich dieses Zweiges [786] ihrer Kriegsführung zu rühmen. Natürlich ließ sich die französische Regierung einen theoretisch so gebildeten und praktisch so erfahrenen Astronauten wie Professor Gaston Tissandier nicht entgehen. Schon am 29. September ward er vor die Oberpostbehörde citirt.
„Sind Sie geneigt, sich als Luftschiffer uns zur Verfügung zu stellen?“ frug man ihn.
„Sobald und so oft Sie es wünschen.“
„Gut. So rechnen wir auf Sie morgen früh sechs Uhr in der Gasanstalt von Vaugirard. Dort werden Sie Ihren Ballon gefüllt und die zu befördernden Depeschen bereit finden.“ –
„Mit zweien meiner Brüder, welche mir bis zur Station das Geleite geben wollten, verlasse ich denn früh um fünf Uhr meine Wohnung,“ erzählt Tissandier. „In der angewiesenen Gasanstalt sehe ich allerdings meinen Ballon, allein er liegt auf der Erde gleich einem Haufen Lumpen. Es ist der ‚Céleste‘, ein kleines Vehikel von siebenhundert Kubikmetern, den sein Eigenthümer der Regierung überlassen hat. Mir ist’s ein alter Bekannter, welcher mir im verflossenen Jahre beinahe den Hals gebrochen hätte. Ich betrachte ihn deshalb mit einer gewissen Pietät. Aber in welcher entsetzlichen Verfassung muß ich ihn erblicken! Es hat letzte Nacht gereift, und der Bursche ist ganz gefroren, sein Zeug steif und brüchig. Guter Gott! und bei dem Ventile sehe ich Löcher, in welche man den Finger legen kann. Rundherum aber zieht sich ein Kranz von kleineren Oeffnungen. Das ist ja kein Ballon mehr! Das ist ein Schaumlöffel!
Mittlerweile erscheinen die Aëronauten, die den Ballon füllen sollen. Sie bringen eine brave Näherin mit, welche die Beschädigungen ausbessert, während mein Bruder alle jene kleinen Oeffnungen mit Papierstreifen überklebt. Das Alles kann mich jedoch noch nicht groß beruhigen, wenn ich bedenke, daß ich in diesem elenden Gefährt allein in die Lüfte emporsteigen soll. Meine Phantasie zeigt mir schon die Preußen auf mich wartend. Ich sehe, wie sie ihre Gewehre auf mich anlegen und mein armseliges, von Alter und Gebrauch hinfällig gewordenes Luftschiff mit einem Kugelregen überschütten.
Als ich das letzte Mal mit dem Céleste aufstieg, konnte ich mich blos fünfunddreißig Minuten in der Luft erhalten! Alle diese Erinnerungen und Perspectiven waren eben nicht tröstlicher Art.
Meine Freunde gaben sich deshalb auch alle Mühe, mich von dem Wagniß mit einem solchen Ballon zurückzuhalten. Schon beginne ich zu schwanken, da trifft die Post mit ihren Briefschaften ein. Ueberdies ist der Wind sehr günstig. Er weht aus Osten, und so werde ich mich in der Normandie wieder zur Erde herablassen können. Währenddem erscheint noch Ernst Picard und überbringt mir ein kleines Bündel wichtiger Depeschen für Tours, welche ich im Falle der Noth, so empfiehlt er mir, entweder verschlucken oder verbrennen solle. Mithin gilt es kein Zaudern mehr! Mit offenen Augen, mit tapferem Herzen und Armen gebe ich mich meinem Schicksal anheim. Bis jetzt ist ja Gott noch immer mit uns Aëronauten gewesen!
Um neun Uhr ist der Ballon gefüllt. Das Schiffchen wird an ihm befestigt. Ich lege die Ballastsäcke und drei Briefpakete, zusammen ein Gewicht von achtzig Kilogrammen, hinein. Eben will ich einsteigen, als noch ein Herr angekeucht kommt, einen Käfig mit drei Tauben unter dem Arme. Es ist Van Roosebeke, dem die officielle Sorge für diese kostbaren Boten obliegt.
‚Haben Sie ja recht Obacht auf meine Pfleglinge,‘ sagt er mir. ‚Sowie Sie sich zur Erde niedergelassen haben, geben Sie ihnen zu trinken und einige Körner Gerste. Wenn sich die Vögel gesättigt haben, lassen Sie zwei davon fliegen, um uns durch sie die Meldung von Ihrer glücklich vollbrachten Luftfahrt zu senden. Die dritte Taube, die mit dem braunen Kopfe – sie hat schon große Reisen gemacht und wäre mir nicht für fünfhundert Franken feil – nehmen Sie mit nach Tours. Sehen Sie aber ja darauf, daß sie sich auf der Eisenbahn nicht zu sehr ermüdet.‘
Endlich stehe ich in der Gondel. Ich umarme meine Brüder und Freunde. Der Augenblick ist ernst und feierlich; das Herz klopft mir laut vor Aufregung, nicht vor Angst. Denn der Gedanke, daß das Vaterland in Gefahr ist, daß um mich herum brave Soldaten für dasselbe bluten, erfüllt mir die Seele.
‚Los!‘ rufe ich und schwebe schon mitten in der Luft! –
Der Ballon erhebt sich mit sehr mäßiger Geschwindigkeit. Die Gasanstalt von Vaugirard und die Gruppe der Freunde, welche mir wieder und immer wieder ihre Abschiedsgrüße zuwinken, schwinden mir nur langsam aus den Augen. Energisch schwenke ich meinen Hut zum Gegengruße, – bald indeß erweitert sich der Horizont. Zu meinen Füßen dehnt sich das ungeheure Paris aus; die Festungswerke umgeben es wie eine Schnur. Dort, bei Vaugirard, unterscheide ich den Dampf der Geschütze, deren Donner dumpf und düster bis zu mir heraufschallt. Die Forts von Issy und Vanves erscheinen mir wie Miniaturfestungen. Jetzt schwebe ich über der Seine, Angesichts der Insel Billancourt.
Es ist neun Uhr fünfzig Minuten; schon bin ich dreitausendfünfhundert Fuß hoch. Meine Augen können sich nicht trennen von der Landschaft. Doch welch herzzerreißendes Schauspiel bietet sich meinen Blicken dar! Ich werde es nimmermehr vergessen! Sind das die sonst so lachenden und belebten Umgebungen von Paris? Ist das die Seine mit ihren Booten und Nachen? Nein, das ist die Wüste in aller ihrer Oede und Entsetzlichkeit! Kein Mensch auf den Straßen, kein Wagen, kein Bahnzug. Alle Brücken zerstört, Trümmer über Trümmer! Kein Soldat, keine Schildwache, nichts, nichts, überall das Schweigen des Kirchhofs. Man könnte sich vor die Thore einer durch die Zeit zerstörten Stadt des Alterthums versetzt glauben; man muß sein Gedächtniß anstrengen, um sich zu erinnern, daß neben dieser Wüste zwei Millionen Menschen hinter einer ungeheuren Mauer eingekerkert sind!
Zehn Uhr. Die Sonne glüht und leiht meinem Ballon Schwingen. Unter der Einwirkung der Sonne dehnt sich das Gas im Céleste aus. Mit reißender Geschwindigkeit strömt es über meinem Kopfe durch den sogenannten Anhang aus und belästigt mich momentan durch seinen Geruch. Neben mir ertönt ein leises Girren. Es sind meine Tauben, die sich in ihrer Lage nichts weniger als behaglich zu fühlen scheinen und mich ängstlich ansehen.
Der Zeiger meines Breguet-Barometers dreht sich ziemlich rasch um das Zifferblatt. Er kündet mir an, daß ich ununterbrochen höhwärts steige. Mit Einem Male bleibt er stehen bei dem Punkte, der einer Höhe von sechstausenddreihundert Fuß über dem Meeresspiegel entspricht.
Die Hitze wird wahrhaft unerträglich. Die Sonne sendet mir ihre Strahlen voll in’s Gesicht und verbrennt mich; kaum, daß ich mich mit etwas Wasser kühlen kann. Ich ziehe meinen Palelot aus, setze mich auf meine Depeschensäcke, stütze den Ellenbogen auf den Rand meines Schiffchens und betrachte schweigend das wundervolle Panorama, welches sich vor mir ausbreitet.
Der Himmel ist indigoblau. Seine Klarheit, sein intensiv warmer Ton könnten mich denken lassen, ich befinde mich in italienischer Atmosphäre. Schöne Silberwolken schweben über den Landschaften in der Tiefe; manche so weit unter mir, daß es scheint, als ruhten sie weich auf den Bäumen aus. Ein paar Augenblicke überlasse ich mich einer sanften Träumerei, jenem eigenthümlichen Reize der Luftfahrten; es ist mir, als glitte ich in einem Zauberlande dahin, in einer Welt ohne lebende Wesen, der einzigen, die der Krieg noch nicht heimgesucht hat mit seiner Geißel. Der Anblick von Saint Cloud jedoch, welches ich jetzt zu meinen Füßen erkenne, drüben am andern Seineufer, führt mich in die Wirklichkeit zurück, in die traurige Gegenwart. Ich lenke meine Blicke der Richtung von Paris zu, allein dort liegt Alles schon unter einem Nebelschleier verborgen.
Indessen treibt mich der Wind constant vorwärts, wie ich aus meinem Compasse ersehe. Unter mir beginnt Versailles, die Wunder seiner Bauten und Gärten zu entfalten.
Bis hierher habe ich nur Wüsten und Einöden geschaut. Jenseit des Parkes von Versailles ändert sich das Bild. Die Preußen sind es, welche ich tief unter meinem Schiffchen sich bewegen sehe. Ich bin fünftausendsechshundert Fuß über dem Niveau der See, keine Kugel also könnte mich erreichen. So nehme ich denn mein Augenglas und beobachte aufmerksam diese Soldaten, die, von meinem Luftschiffe aus gesehen, sich noch winziger darstellen als die Krieger eines liliputanischen Heeres. Deutlich bemerke ich, wie von Trianon Officiere auf die Straße heraustreten und mich mit ihren Lorgnetten fixiren. Sie verfolgen mich lange Zeit, – und allenthalben zeigt sich eine gewisse Bewegung. Sie recken sich in die Höhe und erheben die Köpfe nach meinem Céleste. Welcher Trost für mich, daß ich ihren Gelüsten entrückt bin, daß sie meine Briefe nicht abfangen und meine Depeschen nicht lesen können! Doch da fällt mir ein, daß mir zehntausend Proclamationen in deutscher Sprache an die Adresse der feindlichen Armee übergeben worden sind.
[787] Schnell nehme ich einige Hunderte davon in die Hand und schleudere sie hinab. Ich sehe sie in die Luft flattern und langsam zur Erde niederfallen. So werfe ich nach und nach wohl tausend Stück hinab; den Rest meines Vorraths bewahre ich für die anderen Preußen, denen ich unterwegs vielleicht begegne.
Was enthielt diese Proclamation? Einige einfache Worte, die da sagten, daß wir weder Kaiser noch König mehr hätten, und daß, wenn die Preußen so vernünftig wären, dies unser Beispiel nachzuahmen, man sich nicht länger gleich wilden Bestien abzumorden brauchte. Die Worte mochten an sich nicht übel sein – aber sie waren in den Wind gesprochen und wurden vom Winde hinweggeweht, so wie sie gekommen. …
Der Céleste hält sich in einer Höhe von fünftausendsechshundert Fuß. Auch nicht eine Handvoll Ballast habe ich auszuwerfen, so heiß ist die Sonne. Es ist nicht mehr zweifelhaft, mein Ballon schneidet mit Windesschnelle durch die Luft; ohne die außerordentliche Wärme aber würde mein elendes Fahrzeug bald genug gesunken und ich vielleicht mitten unter den Preußen zur Erde hinabgekommen sein. Hinter Versailles schwebe ich über einem kleinen Gehölz, dessen Name und genaue Lage mir unbekannt sind. Alle Bäume sind gefällt, der Boden ist geebnet, und eine doppelte Reihe von Zelten erhebt sich auf zwei Seiten des Parallelogrammes.“ (Hat unser Aëronaut hier wohl recht gesehen? Wir bezweifeln es. So viel wir wissen, hat das deutsche Heer nirgends Zelte gehabt.) „Kaum stehe ich über diesem Lager, so bemerke ich, wie die Soldaten aufmarschiren; ich sehe von Weitem ihre Bajonnete funkeln. Die Gewehre werden erhoben, und aus einer Rauchwolke zuckt es auf von hundert Blitzen. Erst einige Secunden darauf höre ich unter meinem Schiffchen das Zischen der Kugeln und die Detonation der Musketen. Noch eine zweite Fusilade wird mir zugesandt, und so weiter, bis der Wind mich diesen ungastlichen Gebreiten entführt. Statt jedweder Erwiderung überschütte ich meine Angreifer mit einem wahren Platzregen von Proclamationen.
Das Panorama, welches sich den Augen des Aëronauten entrollt, erneut sich mit jeder Minute. Im unendlichen Raume schwimmend, sieht er unter seiner Gondel die Erde sich höhlen wie ein ungeheures Becken, dessen Ränder in der Ferne mit dem Himmelsgewölbe verschmelzen. Ist der Wind rapid, so hat man keine Zeit, sich die Landschaft mit Muße zu beschauen; mit jedem Augenblicke ist die Scene unten auf der Erdoberfläche eine neue. Bald sind mir die Preußen, die ihr Pulver umsonst nach mir verschossen haben, aus den Blicken entschwunden; andere Bilder harren meiner. Ich entdecke einen Wald, auf den ich mit großer Geschwindigkeit zutreibe, nicht ohne eine gewisse Unruhe, denn der Céleste beginnt zu sinken. Ballast auf Ballast werfe ich aus, und mein Vorrath ist kein überreichlicher. Indeß kann ich von Paris noch nicht sehr weit entfernt sein. Der Empfang, welchen mir der Feind zu Theil werden läßt, wenn ich über einem seiner Lager hinschwebe, macht mir keine Lust, schon niederzusteigen.
Mit Erstaunen habe ich immer beobachtet, daß der Aëronaut, selbst in ziemlich beträchtlicher Höhe, in sehr fühlbarer Weise den Einfluß des Terrains verspürt, über welchem er in den Lüften dahinsegelt. Schwebt er über den Kreidesteppen der Champagne, so empfindet er eine intensive Wärme; zu ihm herauf dringt der Reflex der Sonnenstrahlen. Zieht er über einem Walde hin, so fächelt den Luftreisenden plötzlich eine merkwürdige Kühlung an, als träte er zur Sommerzeit in einen Keller. Dieser Eindruck wird mir, während ich drei Viertel nach zehn Uhr in einer Höhe von ziemlich fünftausend Fuß über Bäumen hinwegschwimme, die ich alsbald als dem Walde von Houdan angehörig erkenne. Compaß und Landkarte gestatten mir in dieser Hinsicht keinen Zweifel. Allein das Gas empfindet gleich mir den Einfluß dieser plötzlichen Frische nach glühender Ausstrahlung. Es kühlt sich ab und sinkt zusammen; der Ballon sinkt, als riefen ihn die Bäume zu sich, als wollte er sich wie ein Vogel auf ihnen niederlassen.
Ungestüm stürze ich mich auf einen meiner wenigen Ballastsäcke und entleere ihn über Bord; mein Barometer zeigt mir jedoch an, daß ich fortwährend sinke. Die Kälte dringt mir an Mark und Bein. Dreitausendfünfhundert, dann zweitausendachthundert, jetzt gar nur zweitausend Fuß – so tief bin ich in wenigen Secunden hinabgekommen; und noch fällt der Céleste fort und fort! Ich entleere nach einander drei Säcke Ballast, um meinen Ballon wenigstens in achtzehnhundert Fuß Höhe zu erhalten, denn von Steigen ist keine Rede mehr!
In diesem Moment schwebe ich über einem Kreuzwege. Ein Haufen Menschen hat sich daselbst versammelt. Gott im Himmel! es sind Preußen. Etwas weiter hin stehen noch mehrere; dort sind gar Ulanen, die von allen Seiten angesprengt kommen! Und ich besitze blos noch einen einzigen Sack Ballast! Ich schleudere mein letztes Bündel Proclamationen hinunter; inzwischen sinkt der Ballon immer tiefer und tiefer. Seine Steigungskraft ist durch den Verlust und die Abkühlung des Gases gleich Null geworden.
Ich befinde mich nur noch etwa fünfzehnhundert Fuß hoch. Eine Kugel könnte mich leicht erreichen.
Aufmerksam blicke ich hinab. Wenn ein Soldat das Gewehr auf mich anlegt, werde ich ihm ein ganzes Briefpaket von vierzig Kilogrammes an den Kopf schleudern. Von solcher Last erleichtert, wird mein armes Luftschiff bald seine Flugkraft wieder gewinnen. So lebhaft mich der Wunsch beseelt, meine Sendung pünktlich erfüllen zu können, so werde ich doch sofort meine sämmtlichen Depeschen opfern, wenn ich dadurch mein Leben retten kann.
Zum Glück ist der Wind sehr heftig. Wie ein Pfeil sause ich über den Bäumen dahin. Erstaunt sehen mir die Ulanen nach, ohne daß mich eine einzige Kugel bedroht. Ueber grüne Wiesen geht es fort, über Gebüsch und Weißdornhecken. Es ist gleich Mittag; schon bin ich der Erde sehr nahe. Wiederum sind Menschen versammelt und sehen zu mir herauf. Diesmal aber sind’s französische Bauern, in Blousen und Holzschuhen. Sie recken die Arme in die Höhe, als winkten sie mir. Doch ich bin noch dem Walde zu nahe. Ich setze daher meine Fahrt lieber noch fort, so lange wie immer möglich. Dafür werfe ich den Leuten einige Exemplare einer Pariser Zeitung hinab, die mir der Redacteur derselben beim Abfahren übergeben hat. Wie die Bauern nach diesen Blättern springen, welche in ihrem Falle auseinander gegangen sind und vom Winde getrieben umherwirbeln!
Da erscheint am Horizont eine kleine Stadt. Es ist Dreux mit seinem dicken viereckigen Thurm. Jetzt hindere ich das Sinken meines Céleste nicht länger. Eine Menschenwoge wälzt sich mir entgegen. Ich rufe mit aller Anstrengung meiner Lunge hinab:
‚Liegen Preußen in der Gegend?‘
Tausend Stimmen antworten zugleich:
‚Nein, nein. Kommen Sie herab!‘
Ich befinde mich nur noch hundertundfünfundsiebenzig Fuß über der Erdoberfläche. Mein Leitseil streift schon die Bäume – da aber packt mich ein Windstoß und schlägt mich jählings wider einen Hügel. Der Ballon neigt sich. Ich empfange einen furchtbaren Stoß, der mir heftige Schmerzen verursacht. Meine Gondel schlägt um und mein Kopf prallt an den Boden an. Ich will meinen letzten Sack Ballast auswerfen, um das allzurasche Fallen zu paralysiren, in diesem Augenblicke aber entgleitet das Messer, mit dem ich die Ankertaue von den sie zusammenhaltenden Bändern zu lösen im Begriff bin, meinen Händen. Von Neuem erhebt sich der Céleste plötzlich auf zweihundert Fuß, dann stürzt er schwerfällig zur Erde nieder. Diesmal ist es mir gelungen, den Anker hinabzulassen und die Ventilschnüre zu zerschneiden. Der Ballon steht. In Schaaren kommen die Bewohner von Dreux herbeigeströmt. Ich selbst habe mir zwar einen Arm verstaucht und eine Beule am Kopf, aber voller Freude steige ich an’s Land – denn ich bin unter Freunden.
Alles will mir die Hand drücken. Wie steht es in Paris? Was denkt man in Paris? Wird Paris sich halten können? So gehen die Fragen durcheinander. Ich antworte, so gut ich kann, und lasse eine kleine gefühlvolle Rede vom Stapel. Dann entleere ich den Céleste und ein Wagen nimmt uns Alle auf, mich, meine Depeschen und meinen Taubenbauer. Die armen Thiere scheinen sich von ihrer Aufregung noch immer nicht erholt zu haben!
Im Postamte gebe ich meine Briefschaften ab. Ich kann sie nicht ohne eine gewisse Rührung betrachten. Da liegen vor meinen Augen mehr als dreißigtausend Briefe aus Paris! Dreißigtausend Familien werden dem Ballon danken, der ihnen hoch über Wolken hinweg Kunde von den Belagerten gebracht hat! Welche Freudenthränen umschließen diese Briefbündel! Welche Romane, welche Geschichten, welche Tragödien vielleicht bergen sich unter der groben Hülle des Postsackes! …
Jetzt zu meinen Tauben. Ich eile denn zum Souspräfecten, bei dem ich meine geflügelten Boten in Sicherheit gebracht habe. Sie sind inzwischen gespeist und getränkt worden und regen munter die Flügel in ihrem Käfig. Willig läßt sich die eine von [788] mir ergreifen. Nachdem ich ihr unter das Gefieder meine Miniaturdepesche festgebunden habe, lasse ich sie los. Aber – ruhig setzt sie sich zu meinen Füßen nieder und bleibt hier sitzen. Ich wiederhole das gleiche Manöver mit der zweiten Taube – sie nimmt neben ihrer Gefährtin Platz. Wir betrachten sie aufmerksam. Ein paar Augenblicke rührt sich keine von der Stelle. Plötzlich beginnen beide mit den Flügeln zu schlagen und schießen mit einem Schwunge hoch in die Luft empor, wohl dreihundert Fuß hoch. Dort kreisen sie zunächst nach allen Richtungen der Windrose herum, um sich zu orientiren. Ihr Schnabel oscillirt wie die Magnetnadel eines Compasses, als suche er einen geheimnißvollen Punkt. Bald aber haben sie den Weg erkannt, welchen sie einschlagen müssen; wie Pfeile fliegen sie davon, in gerader Linie gen Paris.“
Das Gebiet der Astronomie, einer Wissenschaft, deren Resultate zu den glänzendsten Errungenschaften des menschlichen Geistes gehören, hat in der Neuzeit bedeutende Erweiterungen erfahren.
Die Entwickelung anderer Theile der Naturwissenschaft blieb nicht ohne Einfluß auf die Sternkunde, und es gelang Fragen zu lösen, welche man früher kaum aufzustellen gewagt hätte.
Während man sich bisher auf die Bestimmung der Bewegung, Gestalt, Größe und Farbe der Himmelskörper beschränken mußte, so ist man jetzt mit Hülfe der Spectralanalyse im Stande zu erforschen, aus welchen Stoffen dieselben bestehen, und ob diese Stoffe mit den auf unserer Erde vorhandenen übereinstimmen.
Ferner mißt man mit empfindlichen Photometern (Lichtmesser) die Helligkeit der Gestirne und bestimmt auf diese Weise, ob dieselbe sich verändert oder nicht, und macht photographische Aufnahmen von Sonne und Mond, die zu genauen Messungen dienen können und außerdem der Nachwelt ein getreueres Bild dieser Körper überliefern, als es der beste Zeichner im Stande sein würde zu fertigen.
Es ist gelungen, die interessantesten Aufschlüsse über die Natur und physische Beschaffenheit der Himmelskörper zu erzielen, und es eröffnet sich die Aussicht auf eine Menge neuer Entdeckungen und Wahrnehmungen. Die Astronomie ist in ein ganz neues Stadium getreten und schon ist es nicht mehr möglich, daß ein Astronom das ganze Gebiet beherrscht. Es wird auch hier eine Theilung der Arbeit eintreten müssen, zumal da die astronomischen Instrumente, welche zu diesen neueren Beobachtungen Verwendung finden sollen, nicht unwesentliche Veränderungen und Neugestaltungen erfahren müssen.
Hieran, sowie an dem Umstande, daß die meisten älteren Sternwarten von ihren bisherigen Beobachtungsplänen, welche gewöhnlich schon auf Jahre hinaus fixirt sind, nicht plötzlich abweichen können, mag es wohl liegen, daß es bis jetzt nur wenige Stationen in Deutschland giebt, auf welchen derartige Beobachtungen ausgeführt werden.
Mit um so mehr Freude muß die Gründung einer Sternwarte begrüßt werden, welche bestimmt ist, hauptsächlich zum Ausbau dieser neuen Richtung der Astronomie beizutragen. Die [789] bedeutenden Mittel, welche hierzu mit großartiger Freigebigkeit bewilligt wurden, machten es möglich, allen Anforderungen, die man nach dieser Richtung hin stellen kann, Genüge zu leisten, ja alles bereits in Deutschland Bestehende zu übertreffen.
Die neue Sternwarte wurde gegründet von Herrn Kammerherrn F. v. Bülow, welcher, die vielen mit einem derartigen Unternehmen verbundenen Schwierigkeiten und Geldopfer nicht achtend, ein Werk in’s Leben rief, welches eine beredtes Zeugniß seines hohen Interesses für Astronomie ist, und wodurch sein Name in der Geschichte
dieser Wissenschaft eine bleibende Stelle finden wird.
Die Leitung dieses Institutes, von welchem wir in Folgendem versuchen wollen eine kurze Beschreibung zu geben, wurde in die Hände eines geborenen Leipzigers, des Herrn Dr. H. Vogel (Bruder des bekannten Afrikareisenden) gelegt, an dessen Arbeiten, besonders in chemischer Beziehung, thätigen Antheil zu nehmen dem Referenten die dankenswerthe Aufgabe zu Theil wurde.
Die Privat-Sternwarte des Kammerherrn v. Bülow liegt zwei Meilen südlich von Kiel, dicht neben den herrschaftlichen Wohngebäuden des Gutes Bothkamp, an einem jener großen Seen, deren Holstein so viele besitzt, und die wesentlich dazu beitragen, dem Lande seinen eigenthümlichen Charakter zu verleihen. Die überaus große Solidität der Ausführung berechtigt zu der Annahme, daß, wenn keine gewaltsame Zerstörung des Gebäudes stattfindet, dasselbe viele Jahrhunderte überdauern kann. Man muß daher um so mehr wünschen, daß dieser Privat-Sternwarte ein besseres Schicksal beschieden sei, als den meisten derartigen Instituten Deutschlands bisher zu Theil wurde. Dieselben hatten fast alle nur ein kurzes Bestehen, und gingen der Wissenschaft bald wieder verloren.
Das Aeußere dieses Bauwerks, welches von dem üblichen Sternwartenstile nicht unwesentlich abweicht, macht mehr den Eindruck eines Bollwerkes als den eines astronomischen Observatoriums. Selbst Fachkundige waren bei ihrer Ankunft in Bothkamp in Zweifel, ob dieser Bau wohl die Sternwarte sei oder nicht. Die an der Westseile befindliche Freitreppe, welche theilweise durch einen gothischen Ueberbau bedeckt wird, steigen wir hinauf und gelangen, nachdem wir eine kleine Vorhalle durchschritten haben, in einen hohen runden Raum, die Rotunde. In der Mitte derselben bemerken wir einen großen gemauerten Pfeiler, der durch die Decke hindurchgeht und bestimmt ist, das in dem obern Raum befindliche Fernrohr zu tragen. Sein Fundament befindet sich fünf und einen halben Meter unter dem Fußboden, und sein mittlerer Durchmesser beträgt vier Meter.
Dieser unerschütterliche Koloß steht mit dem übrigen Gebäude in gar keiner Verbindung; er ist vollständig isolirt und mit Wasser umgeben, welches durch eine beständig fließende Quelle fortwährend erneuert wird. Diese Vorsichtsmaßregeln sind wichtig, da alle Erschütterungen von astronomischen Fernröhren möglichst ferngehalten werden müssen.
Von dem frühern Verfahren, Sternwarten auf Thürmen anzubringen, ist man aus eben diesem Grunde jetzt vollständig abgekommen, da die Schwankungen derartiger Bauten, selbst wenn sie sehr massiv ausgeführt sind, genaue Messungen der Gestirne unmöglich machen.
Sehen wir uns weiter in der Rotunde um, so gewahren wir zwei astronomische Uhren, ein sogenanntes Box-Chronometer und eine Pendeluhr mit Quecksilber-Compensation*. Letztere zeigt Sternzeit** und geht so vorzüglich, daß etwaige Unregelmäßigkeiten nur Hundertstel von Secunden betragen. Der genaue Gang einer solchen Uhr ist für eine Sternwarte von großer Wichtigkeit, aus welcher, wie es in Bothkamp der Fall, nicht fortwährend Zeitbestimmungen gemacht werden können.
* Da bekanntlich die Schwingungsdauer eines Uhrenpendels mit der Länge desselben wächst und die Wärme alle Körper ausdehnt, so muß dafür gesorgt werden, daß bei einer genauen Uhr, wie sie für astronomische Beobachtungen erforderlich ist, dieser Einfluß aufgehoben oder compensirt wird. Solche Pendel, bei denen diese Einrichtung getroffen ist, nennt man „Compensations-Pendel“. Sehr einfach läßt sich zum Beispiel eine solche Compensation dadurch herstellen, daß man an Stelle der metallenen Scheibe am Ende des Pendels ein cylindrisches Glasgefäß mit Quecksilber anbringt. Durch die Wärme dehnt sich das Quecksilber nach oben aus und verrückt dadurch den sogenannten Schwerpunkt der Quecksilbermasse nach oben, während durch die Verlängerung der Pendelstange nach unten wieder der Schwerpunkt herabgerückt wird. Man sieht, daß es hierdurch möglich wird, bei passender Wahl des Quecksilbergefäßes den erwähnten Einfluß der Wärme auf die Pendelschwingungen aufzuheben und dadurch ein Pendel mit Quecksilber-Compensation herzustellen.
** Die Zeit, welche ein Stern vermöge der täglichen Erdbewegung braucht, um von seinem höchsten Rande in der Mittagslinie oder im Meridian (seiner sogenannten „Culmination“) wieder in dieselbe Lage zurückzukehren, nennt man „Sternen-Tag“. Die Dauer eines solchen Tages ist durchschnittlich etwa vier Minuten kürzer als ein „Sonnen-Tag“, das heißt als diejenige Zeit, welche die Sonne gebraucht, um von einer Culmination zur andern in derselben Höhe zu gelangen. Es kommt dieser Unterschied einfach daher, daß die Sonne durch ihre jährliche scheinbare Bewegung langsam in entgegengesetzter Richtung den Himmel durchwandert, als durch ihre tägliche Bewegung. Der Punkt also, wo sie heute am Himmel zu einer bestimmten Zeit steht, liegt gegen denjenigen, wo sie gestern [790] Ganz in der Nähe der Uhren steht eine dorische Säule von Sandstein, welche ebenfalls ein besonderes Fundament hat, und vom Fußboden isolirt ist. Sie trägt ein äußerst zartgebautes Instrument, dessen Bestimmung ist, zur Messung der Sternenwärme zu dienen. Ein Beginnen, welches vielleicht mancher der Leser für unausführbar halten dürfte, dessen Ausführbarkeit jedoch von dem um die Spectral-Analyse der Himmelskörper so hoch verdienten Engländer W. Huggins dargethan worden ist.
Die Begrenzung der Rotunde nach außen bilden sieben gleich große Zimmer und die bereits erwähnte Vorhalle. Zwei dieser genannten Zimmer dienen als Arbeitsräume für den Director und seinen Assistenten, in einem andern befindet sich das photographisch-chemische Laboratorium, und wieder andere dienen zur Aufstellung kleiner Hülfsinstrumente und Apparate. Die innere Einrichtung dieser Räume ist ebenso gediegen wie geschmackvoll ausgeführt, und die mit gothischer Malerei gezierten Wände, sowie das in Eichenholz ausgeführte Mobiliar verleihen denselben ein äußerst freundliches Aussehen.
Um in den eigentlichen Beobachtungsraum der Sternwarte zu gelangen, ersteigen wir eine kunstvoll gearbeitete Treppe, die an der innern Mauerseite der Rotunde angebracht ist. Wir stehen nun vor dem Refractor,* der, getragen von einer mächtigen gußeisernen Säule, sowohl durch seine Größe, als auch durch eine dem Laien unverständliche Masse von Beiwerk einen außerordentlich imponirenden Eindruck hervorbringt. Aber auch für den Fachmann, der die Bestimmung der einzelnen Theile des Instrumentes kennt und deren Ausführung zu beurtheilen versteht, ist es ein Meisterstück deutschen Fleißes.
Ehe wir zur nähern Beschreibung des Fernrohrs übergehen, betrachten wir den Raum, in welchem dasselbe aufgestellt ist. Dieser zeichnet sich durch seine Geräumigkeit vortheilhaft vor anderen derartigen Räumen aus. Er wird bedeckt von einem drehbaren kegelförmigen Dach, welches große Stabilität und das enorme Gewicht von vierzigtausend Pfund besitzt. Trotzdem ist dasselbe mit Hülfe einer Zahnräderübertragung leicht mit einer Hand in Bewegung zu versetzen, eine Arbeit, die beim Beobachten öfter verrichtet werden muß, um die Lukenöffnung nach dem zu beobachtenden Gestirn hinzudrehen. Mit diesem Dach in fester Verbindung steht eine Galerie, welche gestattet, auch in der Nähe des Horizontes Sterne zu beobachten.
Wenn wir den Beobachtungsraum durch eine im Osten befindliche Thür verlassen, so treten wir hinaus in’s Freie, auf die Plattform, die sich direct über den oben beschriebenen sieben Zimmern befindet. Hier genießen wir nach sämmtlichen Himmelsgegenden eine weithinreichende Aussicht. Wir sehen im Norden, dicht am Ufer des Bothkamper Sees gelegen, das Dörfchen Kirchbarkau, weiter nach Westen eine weite Wasserfläche, deren Begrenzung ein bewaldeter Höhenzug bildet. Im Westen und Südwesten bemerken wir das herrschaftliche Wohnhaus, die landwirthschaftlichen Gebäude und die Parkanlagen. Im Osten eröffnet sich uns die Aussicht auf einen zweiten See, welcher mit dem ersten durch einen Canal in Verbindung sieht. Diese gedrängte Schilderung wird vielleicht schon genügen zu zeigen, daß diese Sternwarte eine ganz reizende Lage besitzt, die mit einer freien Aussicht nach allen Himmelsrichtungen hin verbunden ist.
Doch kehren wir wieder zurück in den Beobachtungsraum, um das große Fernrohr einer kurzen Betrachtung zu unterwerfen.
Dasselbe ist hervorgegangen aus der optischen Werkstatt von Hugo Schröder in Hamburg, dessen Name vielleicht noch nicht so allgemein bekannt ist, wie er es in der That verdient. Nach dem Urtheile von Sachverständigen muß die Ausführung des Bothkamper Refractors sowohl in optischer als mechanischer Beziehung als etwas ganz Vorzügliches hingestellt werden, und dürfte dieses Instrument in Deutschand seines Gleichen suchen.
Schröder legt vor Allem großen Werth darauf, daß die Gläser, welche zu einem Fernrohr Verwendung finden sollen, ihrer Form und Oberflächenbeschaffenheit nach genau mit der vorher zu diesem Zwecke angestellten Rechnung stimmen – ein Verfahren, welches sich dadurch reichlich belohnt, daß die durch das Fernrohr erzeugten Bilder an Schärfe und Klarheit gewinnen. Um zu ergründen, ob eine Linse obigen Bedingungen genügt, wendet er sogenannte Fühlhebel an, die so empfindlich sind, daß sie Unterschiede von einem Milliontel Zoll anzeigen. Man ist im Stande, mit Hülfe eines solchen Fühlhebels diejenige Durchbiegung einer Glasplatte zu messen, welche durch ihr eigenes Gewicht entsteht, wenn sie nur an beiden Enden unterstützt ist.
Interessant ist auch seine Art und Weise, die Gläser zu schleifen und zu poliren. Das Schleifmaterial wird nämlich hierbei nicht wie gewöhnlich in Kreisen auf der Glasfläche bewegt, sondern in Cycloiden-Linien.* Dadurch werden die oft vorhandenen Zonen in den Glaslinsen, welche der Schärfe der Bilder nachtheilig sind, vollständig vermieden.
Was die mechanische Ausführung des Bothkamper Refractors betrifft, so ist dabei äußerste Genauigkeit mit großer Stabilität und Dauerhaftigkeit verbunden. Die gußeiserne Säule A, welche das Instrument trägt, hat eine Höhe von 2,6 Meter und einen Durchmesser von 0,53 Meter. Direct auf derselben sitzt der Rectascensionskasten B, welcher die Lager für diejenige Axe des Fernrohrs trägt, die immer nach dem Polarstern gerichtet ist, also der Weltaxe parallel läuft. Die Drehung des Fernrohrs um diese Axe bewirkt, daß dasselbe Bogen beschreibt, welche gleichlaufend mit denjenigen Bogen sind, die die Sterne scheinbar am Himmel zurücklegen.
Mit dieser Axe in fester und zwar rechtwinkeliger Verbindung steht die Büchse für die Declinationsaxe C.** Letztere ist in dieser Büchse drehbar und trägt an dem einen Ende das eigentliche Fernrohr, während das andere Ende entsprechend mit Gewichten versehen ist, um das Ganze auszubalanciren.
Mit Hülfe dieser beiden Axen ist es möglich, das Rohr nach allen Stellen des Himmels mit Leichtigkeit zu richten und dem Laufe der Gestirne zu folgen. Letzteres kann auch durch ein Uhrwerk E geschehen, welches seine Arbeit mit außerordentlicher Sicherheit verrichtet. Dasselbe wurde von Eichens in Paris geliefert und ist ein wahres Meisterwerk der Uhrmacherkunst. Das Objectiv oder die große Glaslinse des Fernrohrs, der wichtigste Theil des ganzen Instruments, hat einen Durchmesser von 0,293 und eine Brennweite von 4,912 Meter; es ist somit für jetzt das größte Glas, welches in Deutschland zu astronomischen Beobachtungen Verwendung findet. Der Schliff und die Politur desselben ist meisterhaft ausgeführt. Die Vergrößerung der in seinem Brennpunkte entstehenden Bilder kann mit Hülfe der Oculargläser soweit gesteigert werden, daß uns die zu beobachtenden Objecte hundert[BER. 1] Mal näher gerückt erscheinen, als sie es in Wirklichkeit sind.
Einige wenige Manipulationen genügen, um die verschiedensten Apparate und Vorrichtungen, statt der Oculare, am Fernrohr zu befestigen. Wir erwähnen das Spectroskop, das Positionsmikrometer, das Sonnenprisma und eine photographische Camera, letztere der Leichtigkeit wegen von Cedernholz ausgeführt.
Die Verwendung des Spectroskops in der Astronomie ist eine sehr vielseitige. Wie schon Eingangs bemerkt wurde, kann es dienen, die Stoffe zu erkennen, aus welchen die Himmelskörper bestehen, wobei jedoch vorausgesetzt werden muß, daß letztere eigenes Licht aussenden und nicht, wie die Körper unseres Planetensystems, nur durch die von der Sonne reflectirten Lichtstrahlen hell erscheinen. Die Fixsterne entsprechen obiger Bedingung, und ihre spectroskopische Beobachtung hat sehr interessante Resultate ergeben,
—
um diese Zeit stand, ein Stückchen weiter nach Osten. Hätte also an der Stelle, wo sie sich gestern befand, gerade ein Fixstern gestanden, so würde derselbe heute um ein gewisses Stück der Sonne vorangehen und daher früher als jene den höchsten Stand im Meridian erreichen. Dieser Unterschied beträgt, wie bemerkt, durchschnittlich ungefähr vier Minuten und bedingt die Verschiedenheit der Sonnen- und Sternzeit. Man wählt am Fixsternhimmel für diese Rechnung nach Sternzeit (welche für astronomische Beobachtungen sehr bequem ist) einen Punkt, an welchem die Sonne zur Frühlingsnachtgleiche (21. März) steht.
* „Refractor“ wird ein großes Fernrohr genannt, bei welchem, wie bei den Opernguckern und gewöhnlichen Fernröhren, eine Glaslinse benutzt wird, im Gegensatz zu den „Reflectoren“, bei welchen Hohlspiegel angewandt werden. Fernröhre mit Hohlspiegeln nennt man gewöhnlich „Teleskope“.
* Cycloide ist diejenige krumme Linie, welche ein bestimmter Punkt auf dem Umfange eines Rades in Beziehung zu dem Wege beschreibt, auf welchem der Wagen sich fortbewegt.
** Unter Declination eines Gestirns versteht man denjenigen Winkel, um welchen dasselbe über oder unter dem Kreise am Himmel steht, welchen die Sonne zur Zeit der Nachtgleichen (21. März, 22. September) am Himmel beschreibt. Ein Fernrohr muß, um der täglichen Bewegung der Sterne folgen zu können, erstens um die sogenannte Stundenaxe beweglich sein, welche parallel der Weltaxe steht, zweitens aber auch um die Declinationsaxe, damit auf Sterne verschiedener Declination eingestellt werden kann. [791] trotzdem daß sich dieselben in Entfernungen befinden, von denen es schwer ist, sich eine rechte Vorstellung zu machen. So braucht das Licht, welches bekanntlich zweiundvierzigtausend geographische Meilen in der Secunde zurücklegt, ungefähr drei und ein halb Jahre, um von dem nächsten der Fixsterne, α im Centaur, bis zur Erde zu gelangen, während die große Zahl der meisten übrigen in unermeßlichen Weiten schwebt. Und doch sagt uns die spectralanalytische Untersuchung dieser Sterne, daß Eisen, Calcium, Natrium, Magnesium etc. auf denselben vorkommen, Körper, die auch auf der Erde eine allgemeine Verbreitung haben.
Diese Anwendung des Spectroskops zur Nachweisung der Stoffe, aus denen die Himmelskörper gebildet sind, würde schon allein genügen, dasselbe zu einem der wichtigsten astronomischen Instrumente zu machen. Wie vielmehr ist dies dadurch der Fall, daß seine Verwendbarkeit in der Astronomie in stetem Wachsen begriffen ist. So gelang es vor einigen Jahren, dasselbe zur Beobachtung der Protuberanzen, jener gasartigen Eruptionen, welche auf der Sonne stattfinden, nutzbar zu machen. Dieselben konnten früher nur bei totalen Sonnenfinsternissen gesehen werden, und bis vor Kurzem war man über die Natur dieser Erscheinungen vollständig im Unklaren. Bei der Sonnenfinsterniß im Jahre 1868, welche in Asien vielfach beobachtet wurde, und zu welcher auch der norddeutsche Bund eine Expedition ausgerüstet hatte, machte man die Entdeckung, daß diese Protuberanzen gasartiger Natur seien und größtentheils aus Wasserstoffgas bestünden. Hierauf fußend gelang es Janssen in Paris und Lockyer in London unabhängig von einander eine Methode zu finden, mit deren Hülfe man sich jederzeit auch ohne Verfinsterung der Sonne von der steten Anwesenheit der Protuberanzen überzeugen konnte, eine Methode, die kurze Zeit darauf durch eine einfache Modification von Professor Zöllner in Leipzig fast gleichzeitig mit Lockyer derartig vervollkommnet wurde, daß man gegenwärtig im Stande ist, jene bisher so räthselhaften Gebilde in ihrer ganzen Ausdehnung und wechselvollen Gestaltung an jedem heiteren Tage zu beobachten. Dieselben zeigen entweder springbrunnen- und baumartige Formen, oder sie schweben als abgesonderte Wolken in einer gewissen Höhe über der Sonnenoberfläche. Meistentheils sind sie einer sehr raschen Veränderung unterworfen. Das glühende Wasserstoffgas, aus dem sie bestehen, wird zuweilen bis zu einer Höhe von fünftausend Meilen aus der Sonne hervorgeschleudert und zwar mit einer Geschwindigkeit von vier bis fünf Meilen in der Secunde. Die Bestimmung derartiger großer kosmischer Geschwindigkeiten geschieht ebenfalls mit Hülfe des Spectroskops, und die Grenzen seiner Verwendbarkeit erweitern sich dadurch ganz beträchtlich.
Es ist hier nicht der Ort näher auf die Theorie spectralanalytischer Beobachtungen von Gestirnen einzugehen, daher haben wir uns darauf beschränkt, der wichtigen erzielten Resultate zu gedenken, und wenden uns jetzt zu dem bereits erwähnten Positionsmikrometer des Fernrohrs.
Da wir nicht voraussetzen können, daß allen Lesern dieses Instrument bekannt ist, so soll hier bemerkt werden, daß dasselbe dazu dient, die gegenseitige Lage der Gestirne am Himmel genau zu messen. Diese Messung geschieht im Allgemeinen durch feste und bewegliche Spinnenfäden, welche in diesem Instrumente ausgespannt sind. Dieselben können sowohl hell auf dunklem Grunde, als dunkel auf hellem Grunde erscheinen, je nachdem es die verschiedene Lichtstärke des zu beobachtenden Objectes benöthigt und man das Licht einer seitlich am Fernrohr angebrachten Lampe F. regulirt. Ein derartiger Positionsmikrometer muß selbstverständlich mit außerordentlicher Genauigkeit ausgeführt sein; hauptsächlich gilt dies von einer feinen Schraube, deren Umdrehungen der Maßstab für die Messungen sind.
Der dem Fernrohr beigegebene photographische Apparat dient zur Aufnahme von Sonne, Mond, Planeten und größeren Fixsternen. Die Photographie von Himmelskörpern, ausgenommen die Sonne, welche Momentbilder liefert, ist mit einer Schwierigkeit verbunden, deren vollkommene Ueberwindung durchaus nicht leicht ist. Es ist dies die Drehung unserer Erde um ihre Axe, jene continuirliche Bewegung, welche das Auf- und Untergehen der Gestirne bewirkt. Es wird dadurch das Bild in der Camera obscura immer an eine andere Stelle rücken, und die Erzeugung einer scharfen Photographie unmöglich machen, wenn das Fernrohr nicht mit einem sehr guten Uhrwerk in Verbindung gebracht werden kann, welches bewirkt, daß es immer genau nach dem betreffenden Himmelskörper gerichtet bleibt.
Das bereits erwähnte Uhrwerk von Eichens in Paris erfüllt diese Bedingung in seltener Weise. Die Bewegung, welche es hervorbringt, ist trotz der großen Massen, die bewegt werden müssen, und die nicht immer einen gleichen Widerstand bieten, so gleichförmig und sicher, daß das Bild eines Sternes unverändert an ein und derselben Stelle bleibt. Es ist dies nicht nur zu photographischen Zwecken, sondern auch für die Ausführung feiner Messungen an Himmelskörpern wichtig.
Am 10. November 1870 in Frankreich. Aus den Erinnerungen eines jüdischen Kriegsfreiwilligen. Die erste Stunde des jungen Tages war kaum angebrochen, als die Stimme des „Tagesdiensthabenden“ uns aus festem Schlummer weckte. „Um vier Uhr wird Reveille geblasen, Jeder kocht ab, von fünf Uhr ab ist Alarmbereitschaft.“ So lautete die nicht eben erfreuliche Mittheilung, die er uns machte, und die uns die Aussicht auf einen schweren, vielleicht blutigen Tag eröffnete. Pünktlich um vier Uhr blies der Trompeter, uns blieb nichts übrig, als aufzustehen und abzukochen. Ehe es fünf Uhr war, waren wir alarmbereit. Du weißt wohl nicht, lieber Leser, was das für eine langweilige Sache ist, diese Alarmbereitschaft. Mit Sack und Pack in vollständiger Ausrüstung heißt es da jeden Augenblick zum Abmarsch bereit sein, kaum daß Kartenspiel oder ein Buch die Langeweile und dann wieder die Unruhe vertreiben.
Indeß, es verfloß eine Stunde nach der andern und der Befehl kam nicht, endlich aber der „Tagesdienst“, der die Bereitschaft abcommandirte. So verfloß der Tag – es war derselbe, an dem von der Tann seinen glorreichen Rückzug antrat, und ein vermutheter Vorstoß der Nordarmee gegen unsere Stellung hatte uns zu der Alarmbereitschaft verholfen –, und im langsamsten Tempo wälzten sich die Stunden vorüber. Es war ein häßlicher trüber Tag; durch die dichten Wolken vermochte kein Sonnenstrahl zu dringen, ein kalter unfreundlicher Wind strich durch das Land, und als sich die Wolken öffneten brachten sie den ersten Schnee. Wie oft hatte ich ihn in Kindertagen froh begrüßt, und heute mußte ich mich zusammennehmen, daß mir bei diesem Anblick nicht der Muth sinke. Denn wer konnte sich jetzt noch des Gedankens erwehren an die Drangsale, die der Winter in diesen menschenleeren unwirthlichen Orten mit sich bringen mochte, und wenn wir auch, Gott sei Dank, damals noch nicht wußten, wie Schweres uns bevorstünde, welch harte Entbehrungen wir noch zu ertragen haben würden, so war doch der Tag nicht geeignet dazu, trübe Gedanken in uns wachzurufen.
Für heute mindestens sollte die Wirklichkeit sie Lügen strafen. Noch saßen wir ja in einem Hause, das ganze Fensterscheiben hatte, noch war der Mangel an Feuerholz nicht so groß, die Kälte nicht so bedeutend, daß uns mehr als die Ahnung von den Schrecken des Winters entgegentrat, und so gewann der leichte Jugendmuth bald wieder die Oberhand.
Da man im Felde solche Kleinigkeiten wie Wochentag und Monatsdatum nur schwer weiß, so war es für mich eine wahre Entdeckung, als ich zufällig im Laufe des Tages erfuhr, daß wir heute den 10. November hätten, und allmählich kam mir denn auch die Erinnerung daran, daß der heutige Tag der Geburtstag Luther’s und Schiller’s sei, und mit ihr der Wunsch, diesem Tage auch seine Weihe zu geben. Aber wie? Mannigfache Schwierigkeiten stellten sich der Ausführung entgegen, und nur das erleichterte sie, daß hier, wo wir in Reserve, also in verhältnißmäßiger Ruhe lagen, die Mannschaft schon längst den Wunsch geäußert hatte, einmal eine Abendunterhaltung zu veranstalten. Mit zwei früheren Einjährigen, die als Unterofficiere bei der Compagnie waren, einigte ich mich dahin, daß einem ernsten, dem Andenken der großen Todten gewidmeten Theil ein heiterer und diesem ein „Tanzvergnügen“ folgen solle.
Am wenigsten Sorge machte uns der zweite Theil, denn ein paar Spaßvögel der Compagnie, die auch in der schlimmsten Zeit ihre gute Laune nicht verloren, erklärten sich gern bereit, ihre Schnurren an dem Abende zum Besten zu geben; zum Tanzvergnügen, das ja nun einmal „ohne den Damen“ undenkbar war, schufen wir uns, da im ganzen Dorfe außer den Soldaten kein Mensch war, die schöneren Hälften, indem wir die eine Hälfte der Tanzlustigen mit Papierstreifen verzierten, und schließlich stellten wir für den ersten Theil das Programm so auf, daß zum Anfang und Ende ein Lied gesungen werden solle, dazwischen eine Festrede und Declamation von einem oder zwei Schiller’schen Gedichten.
Unsere „Einjährigen“ hatten fest zugesagt, jeder ein Schiller’sches Gedicht zu declamiren, als sie aber nach einem halben Stündchen Beide erklärt hatten, daß sie nur noch einige Bruchstücke wüßten, da war das verehrliche Festcomité in großen Nöthen, und wir hätten wohl zur Schillerfeier ein Gedicht Schiller’s entbehren müssen, wenn uns nicht die Volksschule gerettet hätte.
Denn als die Noth am größten war, trat mein Putzer, ein sehr intelligenter Mann und mir der liebste, beste Camerad, mit stolz bescheidener Miene auf mich zu, und erklärte mir, er könne die „Bürgschaft“ wohl hersagen, wenn ihm auch einige Verse fehlten. Mit der freudigsten Ueberraschung hörte ich diese Mittheilung, die uns eins der nothwendigsten Bestandtheile unseres Festes sichern sollte. Aber war es wirklich möglich? sollte der einfache Handwerker, der vor zwölf Jahren die Schule verlassen hatte, wirklich so fest das Schiller’sche Gedicht sich eingeprägt haben? Aber als [792] er nun anfing und mir zur Probe das Gedicht fast ohne Stocken vortrug, da schwanden meine Zweifel. Die Lücken, die sich noch fanden, konnten wir alle ergänzen bis auf eine und auch die wurde glücklich verdeckt, und so hatten wir es der Volksschule zu danken, daß wir auch diesen Zoll unserm großen Todten entrichten konnten.
Aber die Festrede machte mir große Sorgen. Denn als ich nach einigem Widerstreben die Aufgabe übernommen hatte, da ahnte ich nur ihre Schwierigkeiten. Doch je mehr ich mich mit ihr beschäftigte, desto deutlicher erkannte ich sie. Der Ort, an dem wir das Fest feierten, die kleine Gemeinde, die an dieser Feier theilnahm, und unzertrennbar hiervon die Erinnerung an die jüngsten Ereignisse, alles das waren Schwierigkeiten, von denen ein Schillerfestredner in Frack und weißer Binde keine Ahnung hatte. Und so hin- und herschwankend zwischen der Scylla, mich von meinen Gefühlen hinreißen zu lassen und dadurch meinem Publicum unverständlich zu werden, und der Charybdis, nur Redensarten zu machen, um dieser Gefahr zu entgehen, betrat ich den Saal um sieben Uhr.
Ein ungewohnter Lichterglanz erhellte ihn; auf Bänken und Stühlen, die aus allen Quartieren zusammengetragen waren, hatte sich die größere Hälfte der Compagnie versammelt. Im Hintergrund rahmten zwei Gardinen, die jüngst in Gagny erbeutet waren, eine kleine Bühne ein, auf der sich die Vortragenden produciren sollten, und das Ganze machte, besonders in Anbetracht unserer ärmlichen Verhältnisse, einen sehr freundlichen Eindruck.
Programmgemäß sollte ein Lied die Feier eröffnen, und als ich nun – denn ich galt für den am meisten Musikalischen in der Compagnie – das alte Luther’sche Kampf- und Siegeslied intonirte, als ich, der Jude, anstimmte: „Ein’ feste Burg ist unser Gott, ein’ gute Wehr und Waffen“ und die Grenadiere kräftig einfielen, da dachte ich nicht an Mühler, noch an den Papst, auch nicht an den Haß, mit dem Luther einst meine Glaubensgenossen verfolgt hatte, geschweige denn an die Gefahr, die uns täglich umgab, da schwand jeder andere Gedanke vor dem einen, den der Prophet Ezechiel so schön ausdrückte: Haloh aw echod lechullonu, haloh el echod beroonu? Haben wir nicht alle Einen Vater, hat uns nicht alle Ein Gott erschaffen?
Als das Lied, von dem ich einige Verse ausgewählt hatte, verklungen war, trat ich denn vor.
Der alte böse Feind
Mit Ernst er’s jetzt meint,
Groß Macht und viel List
Sein grausam Rüstung ist,
Auf Erd’ ist nicht sein’s Gleichen.
Und so erzählte ich, wie Deutschland seit Jahrhunderten von den Franzosen die viele, schwere Unbill erlitten habe, deren Erinnerung jetzt wieder frisch auflebte im ganzen Reiche, wie endlich nach jahrzehntelangem Ringen und Kämpfen das geeinte Deutschland diesem Gegner ebenbürtig und dann so glorreich überlegen wurde; kam so auf Luther und Schiller, als die zwei hervorragenden Vertreter zweier Epochen, deren jede uns von dem geistigen Joche der Wälschen befreit hatte, als die Helden des Geistes, denen wir es vor Allem zu danken haben, daß wir heute so siegreich und glänzend die lange Schmach abgewaschen und den Platz errungen haben, der uns gebührt. – Weil mir das so von Herzen ging, so verfehlte es auch seine Wirkung nicht ganz, und es gelang mir, meinen Zuhörern eine Vorstellung zu geben von der Bedeutung des Tages, von der Größe der Männer, die wir feierten, von dem Glanz und Ruhme des geliebten Vaterlandes.
Dann trat mein Putzer vor und mit schlichtem, warmem Ton declamirte er ohne Stocken und Zagen die Geschichte vom Möros, der zu Dionys dem Tyrannen schlich, und erntete wohlverdienten Beifall.
Mit dem Sang der Wacht am Rhein und einem Hoch auf das Vaterland schloß der erste Theil.
Und auch ich will meinen Bericht hier schließen. Möge er den Lesern dieses Blattes Kunde geben von der Liebe, mit der wir „draußen“ die Erinnerungen an die Heimath pflegten, und von der Eintracht, die siegreich alle die Schranken überwand, welche sonst das Leben zwischen uns aufgerichtet hatte.
Ein deutscher Erzengel bei den Magyaren. Vor einiger Zeit wurde im Feuilleton der „Neuen freien Presse“ in Wien ein ungarisches Volksmärchen in einer launigen Form mitgetheilt, die wohl vom Zweck des betreffenden Artikels dictirt gewesen sein mag, aber vom naiven Ton des Originals nichts übrig behielt. Wir erachten es daher nicht für überflüssig, hier eine wörtliche Uebersetzung des in Rede stehenden Märchens mitzutheilen, wie es von den Ungarn in Siebenbürgen unter dem Titel „Die drei Erzengel“ erzählt wird:
„Als Gott der Herr entschlossen war, Adam und Eva aus dem Paradies zu jagen, schickte er zu diesem Zweck zuerst den ungarischen Engel Gabriel zu ihnen. Adam und Eva waren durch die Frucht des verbotenen Baumes sehr klug geworden, und strebten auf jede Weise sich zu helfen. Sie empfingen den Engel Gabriel mit einem großen Gastmahl, mit schönen Reden und mit Schmeicheleien, um sich ihn auf irgend eine Weise zu verpflichten. Sie erreichten auch ihren Zweck; denn dem Engel Gabriel that es allmählich so leid, seine freundlichen Wirthe aus ihrem Aufenthalt treiben zu sollen, daß er zurückging und Gott den Herrn bat, einen Anderen mit der leidigen Sache zu betrauen.
Da schickte Gott den walachischen Engel Florian, denn er wußte, daß dieser viel gehorsamer und nicht so großmüthig sei. Adam und Eva saßen gerade bei Tisch, als Florian ankam, in Bundschuhen, den Hut unten, und einen Stock in der Hand. Er wünschte unterwürfig guten Tag, und sagte, weshalb er gekommen sei. Hierauf schreit Adam ihn an, und fragt ihn ‚Hast Du eine Schrift?‘
‚Nein,‘ stammelte Florian, erschrak und ging zurück in den Himmel.
Jetzt schickte Gott den deutschen Engel Michael hinunter. Vor diesem erschraken Adam und Eva, und sie richteten eine noch größere Mahlzeit an, um ihn zu erweichen. Sie trugen Alles auf, besonders gute Würste und starkes Bier. Der Engel Michael ließ sich beides schmecken; als er sich dann bis hinauf satt gegessen hatte, zog er sein Schwert heraus und sagte: ‚Na, jetzt packt Euch hinaus!‘
Adam und Eva baten ihn sehr, er möge barmherzig, er möge gnädig sein, er möge bedenken, wie gut sie ihn bewirthet hätten.
Engel Michael aber ließ sich nicht erweichen, sondern sagte: ‚Mußáj,‘ und trieb sie hinaus.
Seitdem muß Jedermann dem ‚Mußáj‘ gegenüber nachgeben.“
„Mußáj“ ist ohne Frage das deutsche „Es muß sein“, und in dieser Bedeutung in der ungarischen Volkssprache eingebürgert.
Die deutsche Presse in Metz. Vom 18. October 1871 datirt die erste reindeutsche „Metzer Zeitung“. Wir begrüßen diesen Kämpfer für die geistige Wiedereroberung des alten, durch die Waffen neugewonnenen Reichslandes um so freudiger, als wir damit ein unabhängiges Blatt mehr gewonnen haben, das, frei von jeder Regierungs-Subvention, allein im Volke seinen Halt suchen muß. Vor der Hand ist das deutsche Volk in Metz nur durch eine Colonie vertreten, die mitten zwischen dem Franzosenthum einen festen Kern einnimmt. Welcher vaterländische Geist in diese Colonie aus der Heimath mit hereinzieht, dafür liefert die „Gartenlaube“ selbst ein überraschendes Beispiel; denn während vor dem Kriege kein einziges Exemplar derselben nach Metz ging, zählt sie jetzt schon weit über sechshundert Abnehmer dort und erfreut sich einer wöchentlichen Zunahme. Dennoch würde unter den dermaligen Bevölkerungsverhältnissen die Gründung einer reindeutschen Zeitung ein gewagtes Unternehmen sein, wenn die deutsche Colonie in Metz allein deren Leser liefern sollte; das Blatt konnte nur mit der Hoffnung gegründet werden, daß Deutschland selbst ihm seine Theilnahme zuwenden werde, und dies wird sicherlich geschehen, falls die Redaction sich diese Theilnahme zu verdienen versteht. Das wird ihr am leichtesten dadurch gelingen, daß sie der deutschen Theilnahme für Lothringen mit recht frischen eingehenden Schilderungen und Belehrungen aus dem lothringischen Volksleben der Vergangenheit und Gegenwart entgegenkommt; solche Belehrungen werden dort wie hier die Leser am raschesten beiziehen. Die tägliche und alltägliche politische Berichtweise, die uns in Hunderten von Zeitungen geboten ist, thut das allein nicht. Um aber Das leisten zu können, muß die Redaction von Deutschland aus sofort unterstützt werden. Die „Metzer Zeitung“ hat so reiches, uns jetzt so nahe am Herzen liegendes Material um sich herum, daß sie bei rechter Ausbeute desselben ein ebenso genuß- als verdienstreiches Unternehmen werden kann.
Mitten in Deutschland verschollen! Es ist ein Nothschrei herzbedrängter Eltern, welcher uns zu folgender Mittheilung veranlaßt: Julius Eduard Freier, der Sohn des Bergarbeiters Karl Heinrich Moritz Freier in Freiberg, 1850 geboren, war vom 1. October 1868 bis zum letzten October 1869 in Dresden Copist des Advocaten Hähnel, begab sich am ersten November nach Leipzig, wo ihm angeblich in einer Buchhandlung Anstellung zugesagt war. Einige Tage später schrieb er den Seinen, daß er, wegen Geschäftsveränderung seines Principals, seine Stelle erst am fünfzehnten antreten könne, währenddeß aber in einer andern Buchhandlung Stellung habe – in welcher? das haben die Eltern nie erfahren können. Am 18. November meldete er sich bei der Leipziger Polizeibehörde nach Magdeburg ab, am 21. November empfingen seine Eltern eine Postkarte aus Eilenburg mit der Bemerkung „Brief folgt bald“ – und damit ist dieser junge Mann bis heute spurlos verschwunden. In Magdeburg und Eilenburg haben die Behörden keine Kunde von ihm erhalten, und alle sonstigen Schritte der beklagenswerthen Eltern sind ohne Erfolg geblieben. Vielleicht findet sich doch unter den Lesern der Gartenlaube Einer, der Licht in dieses Dunkel bringen kann.
Eine Leserin d. G. in Kasan. Sie befragen uns über die Entstehung und Bedeutung des Wortes „Frauenzimmer“. Darüber giebt die leider eingegangene Monatsschrift Karl Frommann’s „Die deutschen Mundarten“ folgende Belehrung: Frauenzimmer hieß im sechszehnten und siebenzehnten Jahrhundert das fürstliche Wohn- und Versammlungszimmer der den weiblichen Hofstaat der Fürstin bildenden Hoffräulein, Töchter adeliger Familien des Landes, die zu ihrer Ausbildung in feiner Sitte und weiblichen Arbeiten an den Hof gebracht wurden, wo sie unter Oberaufsicht des Hofmeisters (das heißt des Obervorstehers der ganzen fürstlichen Dienerschaft, des ersten Leibdieners der Fürstin) in Verbindung mit der Hofmeisterin standen, die gewöhnlich adeligen Standes, auch Wittwe oder eine bejahrtere Person war. Daher Bezeichnungen wie zum Beispiel „Marie von Weisbach, eine Jungfrau aus dem Frauenzimmer zu Koburg“, oder „die edle und ehrentugendsame Jungfrau in der Herzogin Frauenzimmer“. Aus dieser Bedeutung entwickelte sich die zweite, nach welcher mit diesem Worte die Gesammtheit der im Frauenzimmer wohnenden Hoffräulein bezeichnet wurde. Zum Beispiel: „Als die lange Reihe der Männer vorbei war, kam das Frauenzimmer, die Edlen, und auch sonst die Jungfern bei der Stadt.“ Hieraus entspann sich dann für das Wort die Bedeutung „des gesammten weiblichen Geschlechts“ überhaupt und daraus zuletzt der jeder einzelnen weiblichen Person.
M. in Z. Schweizer Reisetouren und Erlebnisse sind in so vielerlei Formen als Bücher und Journalartikel auf den literarischen Markt gekommen, daß wir in der That in Zweifel sind, was wir Ihnen davon empfehlen sollen. Eine sehr angenehme Lectüre für Alle, welche noch einmal in Schweizer Erinnerungen schwärmen wollen, bilden die von Max Ring unter dem Titel „In der Schweiz“ in Leipzig erschienenen Reisebilder und Novellen. Als eifriger Leser der Gartenlaube kennen Sie ja unsern langjährigen Mitarbeiter und wissen, wie angenehm und liebenswürdig er zu plaudern versteht.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Schreiben