Die Gartenlaube (1871)/Heft 50

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[825]

No. 50.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
28.

Am anderen Morgen, als ein bleicher, kalter Sonnenstrahl auf mein Bett fiel, da zerstob freilich der wonnige Spuk nach allen vier Wänden. Ich schämte mich und wußte doch eigentlich nicht weshalb. … Fräulein Fliedner protestirte energisch, aber das half Alles nichts – ich sprang aus dem Bett, kleidete mich eiligst mit bebenden Händen an und lief nach der Karolinenlust – ich floh aus dem Vorderhause. … Allein dem scharfen Blick, unter dem ich mit einem Mal wehrlos zitterte, konnte ich doch nicht mehr entfliehen, und seltsam – Herr Claudius, der bis dahin meinem abweisenden Benehmen eine ruhig ernste Stirn, eine völlig reservirte Haltung entgegengestellt hatte, er wich nicht um Haaresbreite mehr von dem Standpunkte zurück, auf welchem er an jenem Abend Fuß gefaßt. … Er hatte mich einmal stützend umschlungen, und nun war es, als geschähe das unsichtbar fort und fort, bis in alle Ewigkeit. Meine scheue Flucht bei seinem Erblicken, meine consequent gesenkten Augenlider, wenn er mit mir sprach, mein Schweigen in seiner Nähe, das Alles blieb ohne Wirkung – er sprach unverändert in den warmen Tönen zu mir, die er einmal angeschlagen, und seine strahlend heitere Stirn furchte sich nicht. Er hielt mich eisern fest, ohne mich zu berühren, und den Ausspruch, daß er mich zu beschützen wissen werde, machte er in jeder Beziehung wahr. Er war beinahe mehr in der Sternwarte, als in seiner Schreibstube; Theeabende gab es nicht mehr im Vorderhause – dafür saß Herr Claudius oft an unserem kleinen Theetisch in der Bibliothek, und während der Wintersturm draußen um die Ecken heulte, und die herabgelassenen grünen Wollvorhänge leise in das Zimmer hereinblies, hielt mein Vater vor seinen zwei Theetischgenossen einen seiner weltberühmten Vorträge. Tief nachsinnend hörte Herr Claudius zu; nur dann und wann fiel ein Einwurf von seinen Lippen – dann fuhr der Redner betroffen zurück, denn es war neu und originell, was er da hörte, und stützte sich auf einen Wissensschatz, den er bei „dem Krämer“ am allerwenigsten vermuthet hatte.

Unser Uebereinkommen, bezüglich meiner schriftlichen Leistungen für die Firma, war auch in Kraft getreten. Ich erhielt die Arbeit durch Fräulein Fliedner und lieferte sie in ihre Hände glücklich wieder zurück und war sehr erstaunt, daß man mit Schreiben so unmenschlich viel Geld verdienen könne; denn die Sorgen traten nie mehr an mich heran, und doch blieb mir immer noch ein kleiner Schatz zur Verfügung.

Welche Veränderung! Ich fühlte mich unrettbar umstrickt und festgebunden an eine andere Seele, und doch beneidete ich den Vogel nicht mehr, der frei über die heimische Haide streifen durfte – ich hätte aufjubeln und es allen Winden erzählen mögen, daß ich gefangen sei, und meine Stirn mochte ich in der That an den Bäumen wund stoßen, nur um noch einmal wonnig zu fühlen, wie die andere Seele um mich leide. Um des Einen willen vergaß ich mich und die ganze Welt und auch die Thatsache, daß ich zwei Sünden auf dem Gewissen hatte – die der Lüge und der verschwiegenen Mitwissenschaft eines ihn so tief berührenden Geheimnisses. Wie fiel ich dann aus all’ meinen Himmeln, wenn Charlottens Stimme mein Ohr traf, oder ihre gewaltige Erscheinung in meinen Gesichtskreis trat! Zwar sie hüllte sich jetzt in eine stolze Zurückhaltung. Am Tag nach jenem stürmischen Abend war sie in mein Zimmer gekommen. – „Ich will Sie nicht mit meinen Fingerspitzen, ja nicht einmal mit dem Hauch meines Mundes berühren!“ hatte sie mir von der Schwelle aus bitter zugerufen. – „Ich will nur Frieden mit Ihnen machen, Prinzeßchen! – Verzeihen Sie mir, was ich Ihnen angethan!“ – Ich war auf sie zugesprungen und hatte gerührt ihre Hand ergriffen.

„Haben Sie gesehen, wie ich unsern Tyrannen gestern auf die Zinne führte? … Er ist verloren! … Ich gehe mit geschlossenem Mund und unterdrücktem Herzschlag im Krämerhause herum – jeden Bissen, den ich esse, vergällt mir der Ingrimm, die innere Empörung; aber ich halte aus – ich muß unseren kostbaren Schatz im Schreibtisch hüten, ich darf nicht gehen, ehe Dagobert kommt! … O, wie will ich aufjubeln, wenn ich endlich die Thür der Krambude für immer hinter mir zuschlagen und meinen Fuß auf den Boden des Elternhauses setzen werde!“

Bei diesem leidenschaftlichen Ausbruch hatte ich scheu ihre Hand sinken lassen und war zurückgetreten. Seit jenem Augenblick trafen wir uns selten allein; nur wenn ich im Hofwagen von der Prinzessin zurückkehrte, da kam sie in den Hof und begleitete mich durch den Garten, und ich mußte ihr erzählen und berichten. … Kurz nach dem Besuch im Claudius-Hause war die fürstliche Frau an einem rheumatischen Leiden erkrankt und hatte K. behufs einer schleunigen Cur verlassen müssen. Während ihrer Abwesenheit war ich selbstverständlich nicht an den Hof gekommen, nun aber mußte ich allwöchentlich zwei Mal erscheinen – das waren die einzigen Momente, wo Herr Claudius mit kaltfinsterem Gesicht umherging.

[826] So unter Glück und herzbeklemmender Angst, unter innerem Kampf und doch auch wieder seligem Ausruhen, war Woche um Woche verstrichen, und nun kamen die letzten Tage des Januar, und mit ihnen Dagobert. … Ein tödtlicher Schrecken durchfuhr mich, als es hieß, der Herr Lieutenant sei mit Sack und Pack angekommen – so nahe, stieg der gefürchtete Moment tiefdunkel und riesengroß vor mir auf, ich mochte die Augen schließen, um ihn nicht zu sehen; und doch sagte ich mir, daß ein rasch befreiender, schmerzhafter Schnitt dem Schweben zwischen Fürchten und Hoffen vorzuziehen sei. Mochte doch die Entscheidung fallen, wie sie wollte, ich war dann meiner unseligen Mitwissenschaft ledig, ich durfte sprechen und meinen Leichtsinn reuig bekennen.

Das waren schwere Tage für mich; denn auch noch eine andere Last bedrückte meine Seele – mein Vater erschien mir plötzlich unheimlich verändert. Sein ganzes Thun und Wesen erinnerte mich an die Zeit, wo es sich um den Ankauf der Münzen gehandelt hatte; er aß nicht, und des Nachts hörte ich ihn ruhelos umherwandern. Eine befremdliche Fluth von Briefen aus allen Richtungen her überschwemmte ihn, und mit jedem neuen, den er hastig erbrach, erhöhte sich die Fiebergluth auf seinem eingefallenen Gesicht. Er schrieb anhaltend, aber nicht an dem Manuscript, das den Fund in der Karolinenlust behandelte – es lag unberührt auf dem Schreibtisch. … Angestrengt lauschte ich auf das Gemurmel seiner Selbstgespräche, unter denen er oft das Zimmer durchmaß, aber ich konnte kein Wort verstehen, und zu fragen wagte ich nicht, um ihn nicht ungeduldig zu machen. …

Nie werde ich die Stunden vergessen, in denen seine gewaltsam beherrschte innere Unruhe endlich zum Durchbruch kam! Es war an einem jener trüben, dunklen Winternachmittage, die sich wie Blei über die Erde und die Menschenseelen legen. Mein Vater hatte sich nach Tische in sein Zimmer zurückgezogen und die eben eingelaufenen Zeitungen mitgenommen. Schon nach wenigen Minuten hörte ich ihn drinnen aufspringen, er schlug die Thür krachend zu und rannte hinauf in die Bibliothek. Angstvoll ging ich ihm nach.

„Vater!“ rief ich bittend und umschlang ihn, als er, ohne mich zu bemerken an mir vorüberstrich.

Ich mußte wohl sehr erschrocken aussehen; denn er fuhr mit beiden Händen durch die Haare und bemühte sich sichtlich, ruhig zu scheinen.

„Es ist nichts, Lorchen“ sagte er gepreßt. „Gehe nur wieder hinunter, mein Kind. … Die Leute lügen! Sie gönnen Deinem Vater den Ruhm nicht – sie wissen, daß sie ihm den Todesstoß versetzen, wenn sie ihm seine Autorität antasten. … Und nun kommen sie zu Haufen, und Jeder hat einen Stein in der Hand. … Ja, steinigt ihn, steinigt ihn! Er hat schon allzulange geleuchtet!“

Er schwieg plötzlich und sah über meinen Kopf hinweg nach der Thür. Eine Dame war geräuschlos eingetreten, eine hohe Erscheinung in schwarzem Sammetmantel und breitem Hermelinkragen. Sie schlug einen weißen Schleier zurück – Himmel, welche Schönheit! Ich mußte an Schneewittchen denken – Augen, schwarz wie Ebenholz, die Stirn weiß, und auf den Wangen lag eine sanfte Rosengluth.

Mein Vater starrte sie befremdet an, während sie mit schwebenden Schritten auf uns zukam. Ein feines Lächeln flog um ihren Mund, und schelmisch blinzelnd streifte ihr Seitenblick meinen Vater – das sah reizend, fast kindlich ungezwungen aus; und doch meinte ich, hinter den harmlosen Geberden müsse ein ängstliches Herz klopfen, die kirschrothen Lippen zuckten in nervöser Aufregung.

„Er kennt mich nicht,“ sagte sie in wohllautenden Tönen, als mein Vater consequent schwieg. „Ich werde ihn wohl an die Zeit erinnern müssen, wo wir im Garten zu Hannover gespielt haben, wo die ältere Schwester willig als Pferdchen umhergaloppirte und Wilibald’s Peitsche zu fühlen bekam – weißt Du noch?“

Mein Vater wich zurück, als kämen aus dem Sammetmantel der wunderschönen Frau die Krallen eines Ungeheuers. Mit einem eisigen Blick maß er sie von Kopf bis zu Füßen – nie hätte ich gedacht, daß dieser stets so unsicher umherhastende Mann ein so festes Gepräge abweisender Härte und Kälte anzunehmen vermöchte!

„Ich kann mir unmöglich denken, daß Christine Wolf, die allerdings einst im Hause meines Vaters, des Herrn von Sassen, gelebt hat, in der That meine Schwelle betritt,“ sagte er streng.

„Wilibald –“.

„Ich muß sehr bitten,“ unterbrach er sie und hob abwehrend die Hand, „wir haben Nichts mit einander gemein! Wäre es nur die Verirrte, die aus unbesiegbarer Neigung zur Kunst heimlich das mütterliche Haus verlassen hat – ich nähme sie sofort auf – mit der Diebin aber will ich nichts zu schaffen haben.“

„O mein Gott!“ Sie schlug die Hände zusammen und sah schmerzhaft gen Himmel – ich begriff nicht, wie er diesem Madonnenblick widerstehen konnte, wenn mich auch das Wort „Diebin“ wie ein elektrischer Schlag berührt hatte. – „Wilibald, sei barmherzig! Richte nicht so streng diese eine Jugendsünde!“ flehte sie. „Konnte ich denn die heißersehnte Laufbahn mit leeren Händen beginnen? Die Mutter bewilligte mir keinen Pfennig, das weißt Du, und es war doch so wenig, so geringfügig, was ich von der reichen Frau verlangte –“

„Nur zwölftausend Thaler, die Du aus ihrem festverschlossenen Secretär mitnahmst –“

„Hatte ich nicht doch ein Recht darauf, Wilibald? … Sage selbst.“ –

„Auch auf die Brillanten unseres damaligen Gastes, der Baronin Hanke, welche mit Dir spurlos verschwanden, und die meine Mutter mit den größten Opfern ersetzen mußte, nur um unser Haus vor der öffentlichen Schande zu bewahren?“

„Lüge, Lüge!“ schrie sie auf.

„Gehe hinaus, Lorchen – das ist nichts für Dich!“ sagte mein Vater zu mir und führte mich nach der Thür.

„Nein, gehe nicht, mein süßes Kind! Sei barmherzig und hilf mir ihn überzeugen, daß ich schuldlos bin! … Ja, Du bist Lenore! … O, ihr süßen, wonnigen Augen!“ Sie zog mich in ihre Arme und küßte mich auf die Lider – der weiche Sammetmantel fiel über mich her, ein köstlicher Veilchenduft entströmte ihrem Busen und berauschte mich förmlich.

Mit harter Hand riß mich mein Vater von ihr los. „Bethöre mir mein unschuldiges Kind nicht!“ rief er heftig und führte mich hinaus.

Ich ging die Treppe hinab und kauerte mich auf der untersten Stufe wie betäubt nieder. … Das war also meine Tante Christine, „der Schandfleck der Familie,“ wie sie Ilse, „der Stern“, wie sie sich selbst genannt hatte! … Ein Stern war sie, diese hinreißend schöne Frau! … Alles, was ich an weiblicher Lieblichkeit bis jetzt gesehen, es erblaßte neben dem Farbenreiz, dem Jugendhauch auf dem Gesicht meiner Tante! … Wie schwer und wuchtig lagen die schwarzen Locken auf dem weißen Hermelin! Wie glänzte diese ungefurchte Stirn, von der feine Adern in zartem Blau sich über die Schläfen herabringelten! Ach, und diese köstlich schmeichelnde Stimme, sie war wieder da, die Cur hatte geholfen! … Die schlanken Hände, die mich so weich und lind angefaßt und an den Busen der bezaubernden Frau gezogen hatten – sie sollten gestohlen haben! … Nein, nein, die Entrüstung meiner Tante widerlegte diese Beschuldigung vollständig – sah ich doch Thränen in ihren Augen blitzen!

Mit klopfendem Herzen horchte ich auf den Wortwechsel droben in der Bibliothek – ich konnte kein Wort erhaschen und er dauerte auch nicht lange an. Die Thür wurde geöffnet – „Gott mag Dir vergeben!“ hörte ich meine Tante sagen, dann rauschte ihre Schleppe die Treppe herab. … Ihre Schritte wurden immer matter und langsamer – plötzlich legte sie die Hand über die Augen und lehnte sich an die Wand. Ich sprang die Stufen hinauf und faßte ihre Rechte.

„Tante Christine!“ rief ich tief ergriffen.

Sie ließ die Hand langsam von den Augen sinken und sah mich mit einem traurigen Lächeln an.

„Mein kleiner Engel, mein Augentrost, gelt, Du glaubst nicht, daß ich eine Verbrecherin bin?“ sagte sie, mir sanft das Kinn streichelnd. „Die bösen, bösen Menschen, wie hetzen sie mich mit ihren Verleumdungen durch das Leben! … Was Alles habe ich schon erdulden müssen! Und in welcher entsetzlichen Lage bin ich nun, wo Dein strenger Vater mich unerbittlich verstößt! Kind, ich habe kein Dach über mir, keinen Pfühl, auf den ich Nachts mein Haupt legen kann! Mit dem letzten Groschen in der Tasche habe [827] ich K. mühsam erreicht – ich wollte ja Dich sehen, Dich, meine kleine Lenore! … Gott im Himmel, nur für einige Tage ein Obdach, dann werde ich mir ja weiterhelfen!“

Das war eine peinliche Lage für mich! … Ich hätte ihr sofort mein eigenes Bett eingeräumt und auf dem Stroh geschlafen – so sehr umstrickte mich der Zauber dieser Frau, aber gegen den Willen meines Vaters durfte ich sie doch nicht im Hause behalten. Ich dachte an Fräulein Fliedner – sie war so gut und bereitwillig zu helfen, vielleicht wußte sie Rath. … Ach, alle meine schönen Vorsätze, nach welchen ich stets zuerst überlegen und dann handeln wollte, wo waren sie hin? …

Ohne ein Wort zu sagen, führte ich meine Tante die Treppe hinab und hinaus über den Kiesplatz – sie folgte mir lenksam wie ein Kind. Wir wollten eben in das Bosquet einbiegen, da traten uns die Geschwister entgegen – Charlotte in weißglänzender Atlaskapuze und den violetten kostbaren Sammetpelz um die Schultern geschlagen – sie wollten offenbar promeniren.

Ich hatte „den Herrn Lieutenant“ noch nicht gesehen, denn ich war ihm consequent ausgewichen, so oft er auch Tags über die Karolinenlust aufsuchte. Nun erschrak ich vor ihm bis in das innerste Herz und fuhr zurück. Aber auch er schien überrascht – seine braunen Augen, vor denen ich mich seit jenem Auftritt im Saal der Beletage stets entsetzte, hingen mit einem seltsamen Aufblitzen an meinem Gesicht. Ich that, als sähe ich die Hand nicht, die er mir lächelnd hinreichte, und stellte Charlotten meine Tante vor. Mit Befremden sah ich, daß eine heftige Bewegung blitzschnell durch die schönen Züge der unglücklichen Frau lief – sie wollte sprechen, und doch kam kein Laut über ihre Lippen.

Charlotte neigte flüchtig und vornehm den Kopf, während ein ziemlich hochmüthig musternder Blick die vor ihr stehende Erscheinung streifte.

„Fräulein Fliedner wird Ihnen schwerlich rathen können,“ sagte sie kalt zu mir, als ich ihr mein Vorhaben mit einigen Worten andeutete. „Und helfen noch viel weniger – wir haben sehr wenig Platz im Vorderhause. … Wenn ich Ihnen rathen soll, so gehen Sie zu Ihren Freunden Helldorf – die haben doch gewiß ein Stübchen, wo Sie Ihre Frau Tante unterbringen können.“

Ich wandte mich empört ab, und meine Tante ließ hastig ihren Schleier über das Gesicht fallen.

In dem Augenblick ging der Gärtner Schäfer grüßend an uns vorüber. Das Schweizerhäuschen war sein Eigenthum, und ich wußte, daß er die sogenannte Putzstube seiner verstorbenen Frau öfter an Fremde vermiethete. Ich lief ihm nach und fragte ihn – er war sofort bereit, meine Tante aufzunehmen, und bat sie, gleich mitzukommen, es sei Alles „in schönster Ordnung“.

Ohne noch einen Blick auf die Geschwister zu werfen, ging sie neben dem alten Manne her, der in seiner gutmüthig sanften Weise zu ihr sprach und sie nach der Thür führte, zu welcher ich den Schlüssel hatte. … War es doch, als triebe sie eine gewaltige innere Aufregung vorwärts – Schäfer vermochte kaum, Schritt mit ihr zu halten, und ich blieb, trotz aller Bemühungen, eine ziemliche Strecke hinter ihnen zurück.

„Um Gotteswillen, schaffen Sie sich diese hereingeschneite Tante vom Halse!“ raunte mir Charlotte zu. „Mit der legen Sie keine Ehre ein – die Schminke sitzt ihr ja fingerdick auf dem Gesicht! … Und dieser immitirte Theaterhermelin! Fi donc! … Kind, Sie haben ja eine merkwürdige Verwandtschaft – eine Großmutter, die eine geborne Jüdin ist, und nun gar diese über und über gefirnißte Komödientante! … Apropos, kommen Sie nicht zu spät heute Abend – Onkel Erich läßt es sich, wider Erwarten, ein tüchtiges Stück Geld kosten – das Glashaus wird brillant beleuchtet – mag es ihm gut bekommen!“

Sie lachte auf und ergriff den Arm Dagobert’s, der meiner Tante forschend nachsah.

„Ich weiß nicht – ich – muß der Frau schon einmal begegnet sein,“ sagte er und legte die Hand nachsinnend an die Stirn. „Gott mag wissen, wo –“

„Nun, das ist doch sehr leicht zu sagen – Du wirst sie auf der Bühne gesehen haben,“ meinte Charlotte und trieb ihn ungeduldig weiter.

Tief erbittert sah ich ihnen nach. … Arme Tante! Ja, sie war eine unglückliche, von den Menschen verfolgte Frau – nun sollte gar auch das Einzige, was sie noch besaß, ihre Schönheit, eine – gemalte sein.

Ich fand das Erkerstübchen, in welches uns Schäfer führte, überaus hübsch und gemüthlich. In wenigen Minuten hatte der alte Mann Feuer im Ofen gemacht und auf die Fenstersimse vollblühende Rosen- und Resedastöcke gestellt.

„Eng und niedrig,“ sagte meine Tante und hob den Arm, als wolle sie an die schneeweiße Zimmerdecke greifen „Ich bin das nicht gewohnt, aber ich werde schon aushalten – mit gutem Willen kann man Alles, gelt, mein Engelchen?“

Sie warf Hut und Mantel ab und stand in königsblauem Sammetkleide vor mir. An den Nähten und Ellenbogen war das Prachtgewand freilich verblichen und abgeschabt, aber es umschloß einen tannenschlanken Wuchs; die kleine Schleppe vervollständigte den wahrhaft fürstlichen Anstand der ganzen Erscheinung, und aus dem tiefen herzförmigen Ausschnitt leuchtete Schneewittchens blendende Brust. … Und welch ein Haar! Ueber der Stirn kräuselten sich die blauschwarzen Locken, sie fielen lang und voll über Rücken und Brust hinab, und doch umschlangen noch die reichsten Flechten den feinen Kopf – wie er diese märchenhafte Pracht ertrug, begriff ich nicht, noch weniger aber, daß er sich dabei so rasch und anmuthig bewegte.

Diese unverhohlene Bewunderung las sie jedenfalls auf meinem Gesicht.

„Nun, kleine Lenore, gefällt Dir Deine Tante?“ fragte sie schelmisch lächelnd.

„Ach, Du bist zu schön!“ rief ich enthusiastisch. „Und so jung, so jung – wie ist das nur möglich? Du bist doch drei Jahre älter als mein Vater!“

„Närrisches Ding, das schreit man nicht so in alle vier Winde hinaus!“ rief sie gezwungen lachend und legte ihre zarte Hand auf meinen Mund.

Ihre Augen fuhren suchend im Zimmer umher und blieben auf dem kleinen Spiegel an der Fensterwand hängen.

„Ach, das geht aber nicht, nein – das geht wirklich nicht!“ fuhr sie ganz erschrocken auf. „In dieser Scherbe sieht man ja kaum die Nasenspitze! … Wie soll ich denn die Toilette machen? Ich bin doch keine Bauernfrau, Kind – ich bin gewohnt, fürstlich zu leben! … Man fügt sich ja gern einmal, aber – das kann ich nicht! … Gelt, Du verschaffst mir ein anderes, anständiges Glas, damit ich wenigstens annähernd meine gewohnte Ordnung habe? … Da drüben in dem Schloße, wo Du augenblicklich wohnst, giebt es gewiß irgend einen überflüssigen Trumeau. … Kindchen – im Vertrauen – jede Aufmerksamkeit, die Du mir in diesem vorübergehenden Moment des Gedrücktseins erzeigst, sie wird Dir später von einer andern Seite tausendmal gedankt werden. … Lasse getrost herüberschaffen, was ich zur Bequemlichkeit nöthig habe – ich werde es verantworten.“

„Wie kann ich denn das, Tante?“ antwortete ich ganz verdutzt. „Die Möbel in unseren Zimmern gehören ja Herrn Claudius!“

Sie lächelte.

„Ich möchte nicht einen Stuhl anders stellen, als ich ihn gefunden habe,“ fuhr ich ernstlich protestirend fort. „Aus der Karolinenlust kann ich Dir mit dem besten Willen nichts verschaffen, aber vielleicht giebt die Frau Helldorf, was Du brauchst – wir wollen hinaufgehen.“

Es schlug mich sehr nieder, als auch die kleine Frau meine schöne, prächtig geschmückte Protégée mit einem sichtlich befremdeten Blicke empfing. Es half nichts, daß ihr meine Tante mit unwiderstehlich süßer Stimme tausend Schönheiten sagte und die beiden im Zimmer spielenden Kinder goldgelockte Engel nannte. Das feine Gesicht meiner Freundin verlor nichts von seiner kühlen, mißtrauischen Zurückhaltung, und als ich schließlich mit der Bitte um den Spiegel zögernd herausrückte, da wurde sie steif wie eine Statue, nahm den ziemlich großen Spiegel – ihren einzigen – von der Wand, übergab ihn der schönen Frau und sagte mit unverkennbarem Spott: „Ich kann mich auch so behelfen.“

„Seien Sie vorsichtig, Lenore, ich bitte Sie dringend! Ich werde auch wachen,“ flüsterte sie mir auf dem Vorsaale zu, während das blaue Sammetkleid im Treppenhause verschwand.

Sehr kleinlaut legte ich drunten meine kleine Börse auf den Tisch. Ich erhielt dafür einen Kuß und die Versicherung, daß mir in jedenfalls kurzer Zeit „alle meine kleinen Opfer“ tausendfache [828] Zinsen eintragen würden. Dann aber machte sich meine Tante emsig daran, den Spiegel so günstig wie möglich zu placiren, und ich kehrte mit doppelt schwerem Herzen in die Karolinenlust zurück.




29.

Die Abenddämmerung brach leise herein, als ich wieder in die Bibliothek trat. Mein Vater wanderte im Antikensaal unter all den stillen bleichen Gestalten umher und erwähnte die verstoßene Schwester mit keinem Worte gegen mich – er mochte denken, sie sei fort für immer, werde seinen Weg nie wieder kreuzen, und ich sollte den Auftritt so schnell wie möglich vergessen. Frierend zog ich den Ueberwurf auf der Brust zusammen – es war bitterkalt in dem ungeheizten, weiten Saal, und ein beginnendes feines Schneegestöber umflog draußen die Glaskuppel.

„Du wirst Dich hier erkälten, Vater,“ sagte ich, und ergriff seine Hand – sie glühte wie eine Kohle; ach, und wie brannten die Augen in den tiefen Höhlen!

„Erkälten? … Es ist wonnig hier – mir ist so wohl, als sei mir ein kühler Umschlag auf das Gehirn gelegt worden.“

„Aber es ist schon spät“ – versetzte ich zögernd – „und ein klein wenig ordnen mußt Du Deinen Anzug doch. … Du hast wohl vergessen, daß die Prinzessin heute kommt, um das große Glashaus auch einmal in Gasbeleuchtung zu sehen?“

„Ach mein Gott, was soll ich im Glashause!“ rief er ungeduldig. „Wollt Ihr mich verrückt machen mit den vielen Lichtern und dem Blumenbrodem, der mir stets die Gehirnnerven afficirt? … Nichts, nichts! – Was geht mich die Prinzessin an, was der Herzog!“

Mit seiner heftigen Armbewegung stieß er unversehens eine reizende kleine Statue von ihrem Postament – seltsam – er, der sonst die Antiken nur mit zärtlich schmeichelnder Hand berührte, er wandte kaum den Kopf nach dem angerichteten Schaden hin und ließ die mißhandelte Göttergestalt achtlos liegen.

Tief erschrocken suchte ich ihn zu beruhigen. „Ganz wie Du willst, Vater,“ sagte ich. „Ich werde sogleich in das Vorderhaus schicken und für uns Beide absagen lassen –“

„Nein, nein, Du gehst auf jeden Fall, Lorchen!“ unterbrach er mich milder. „Ich wünsche es um der Prinzessin willen, die Dich lieb hat, und möchte auch gern heute Abend allein sein.“

Er trat wieder in die Bibliothek und machte sich an seinem Schreibtische zu schaffen. Ich schloß die Thüren, schürte das Feuer im Ofen und arrangirte den Theetisch; dann ging ich beklommenen Herzens hinunter und machte Toilette, das heißt, ich nahm zum ersten Male wieder die Perlen meiner Großmutter aus der Schachtel und schlang die lange Schnur durch meine Locken. In fast märchenhaftem Glanze, aber auch weit auffallender und anspruchsvoller als am Halse, lagen die feucht und bläulich schimmernden Tropfen schwer in dem dunklen Haar – und das wollte ich eben; wer wußte, wann die Prinzessin einmal wieder in das Claudiushaus kam! …

Es war spät geworden, als ich endlich über die Brücke nach dem Glashause schritt. Einen Augenblick blieb ich geblendet stehen. Leise überrieselten mich die letzten Flocken der droben sich lichtenden und zerstäubenden Wolken; unter meinen Schritten kreischte der gefrorene fußtiefe Schnee, und wohin ich sah, streckten sich mir die starren, weißen Gespensterarme der schneebeladenen Bäume und Büsche entgegen – und dort breiteten sich prächtig gefiederte Palmenwipfel in stolzer Grazie über die Farren- und Cacteenwildniß und den grünen Federduft kleiner freigelassener Rasenflächen, und dazwischen sprang und troff in silbernen Strähnen die Cascade. In dem Lichtbade der verborgenen Gasflammen zerfloß das Grün in tausendfache Nüancen, vom phosphorescirenden Maigrün an bis zum düstern Tannendunkel herab – das Glashaus lag inmitten des mattdämmernden Schneefeldes, wie eine Smaragdrosette auf weißem Sammet.

„Ah, guten Abend, meine Kleine!“ rief die Prinzessin, als ich auf sie zuschritt. Sie saß inmitten der Farrengruppe, auf derselben Stelle, wo ich eines Abends von meiner Großmutter erzählt hatte. Herr Claudius stand etwas seitwärts hinter ihrem Stuhle und sprach mit ihr, während ihr Gefolge und die Geschwister in zwanglosen Gruppen zu beiden Seiten Platz genommen hatten. „Haideprinzeßchen, wie nixenhaft kommen Sie daher!“ scherzte sie. „Sollte man nicht meinen, die Cascade hier habe Sie plötzlich emporgehoben? … Kind, Sie wissen wirklich nicht, was für einen kostbaren Schatz Sie da so harmlos und ungezwungen in Ihren prächtig wilden Locken tragen!“

„Ja, Hoheit, ich weiß es – die Perlen sind der letzte Rest eines großen Reichthums,“ versetzte ich und suchte mit Gewalt meiner Stimme einen ruhig sonoren Klang zu geben. „Meine arme Großmutter sagte, als sie mir auf ihren Wunsch um den Hals gelegt wurden, daß sie viel Familienglück gesehen hätten, daß sie aber auch mitgeflohen seien vor dem Scheiterhaufen und anderen Martern welche die christliche Unduldsamkeit über die Juden verhängt hat – denn meine liebe Großmutter war eine Jüdin, Hoheit, eine geborene Jakobsohn aus Hannover.“

Ich hatte die letzten Worte scharfmarkirend mit lauter Stimme gesprochen und sah dabei zu Herrn Claudius auf. … Was kümmerte es mich, daß sich Herr von Wismar verlegen räusperte und scheu nach der Prinzessin hinschielte, während Fräulein von Wildenspring eine triumphirende Geste machte, als wolle sie sagen! „Habe ich nicht Recht gehabt, als meine hochadelige Nase das bürgerliche Element in diesem Geschöpf witterte?“ … Was lag mir daran, daß der schöne Tancred grimmig seinen feinen Lippenbart drehte und mit einer verächtlichen Wendung seines Kopfes Charlotten einige Worte zuflüsterte? – Sah ich doch das jubelnde Aufschrecken in Herrn Claudius’ Gesicht – meinte ich doch, er wolle seine Hände zu mir herüberstrecken und mich aus der erbärmlichen Gesellschaft an sein starkes, stolzes Herz ziehen, weil ich die falsche Scham überwunden, weil ich muthig die Verachtung der aristokratischen Kaste auf mich nahm, um seine Achtung wieder zu gewinnen!

„Ach sieh da, das ist ja eine sehr pikante Entdeckung!“ rief die Prinzessin heiter und völlig unbefangen. „Nun weiß ich doch auch, wie mein Liebliug zu diesem echt orientalischen Profil kommt! … Ja, ja, solch ein schwarzlockiges Mädchen mit quecksilbernen Füßen mag es wohl auch gewesen sein, das dem Herodes den Kopf des Johannes abgeschmeichelt hat! … Wenn Sie wieder zu mir kommen, dann will ich mehr über die interessante Großmutter wissen – hören Sie, mein Kind?“ Sie zog mir die Perlenschnur tiefer in die Haare und ließ dann die Finger sanft durch mein loses Haar gleiten „Ich habe sie herzlich lieb, diese kleine Rebecca mit dem reinen Kindessinn und dem harmlos plaudernden Mund!“ setzte sie mit herzlicher Innigkeit hinzu und küßte mich.

Ach, diesmal war meine Plauderei durchaus keine harmlose gewesen, das wußte er, dessen Blick nicht mehr von mir wich, am besten! …

Die Prinzessin zog mich auf ein Bänkchen zu ihren Füßen, und da blieb ich schweigend und zuhörend sitzen, bis Fräulein Fliedner kam und meldete, daß im Vorderhause Alles bereit sei. Die fürstliche Frau hatte sich eine Tasse Thee „im alten, interessanten Hause“ ausgebeten – ihres rheumatischen Leidens wegen mochte sie sich nicht allzulange in der feuchten dunstigen Atmosphäre des Warmhauses aufhalten. Sie hüllte sich in ihren Pelz, ergriff Herrn Claudius’ Arm und schritt der vermummten, lebhaft plaudernden Gesellschaft voraus durch den beschneiten Garten. Es bedurfte der begleitenden Laternenträger nicht – die Wolken am Himmel waren zerstoben, durch das dürre Geäst der Pappelwand floß es hell herein und warf groteske silberne Lichter auf die Schneefläche – der Mond ging auf.

Ich lief noch einmal über die Brücke zurück und sah hinauf nach den Fenstern der Bibliothek. Die Vorhänge waren nicht zugezogen; auf dem Schreibtisch meines Vaters brannte das ruhige Licht der Lampe und drüben in der entgegengesetzten dunklen Ecke des weiten Saales, in der Nähe des Ofens, wo der Tisch mit dem Abendbrod stand, spielte ein leichter, bläulicher Schein auf und ab – es war die Spiritusflamme unter der Theemaschine. Das sah gemüthlich aus. Zum Ueberfluß schlüpfte ich noch in das Haus, die Treppe hinauf, und horchte an der Thür. Es war still drinnen; mein Vater schrieb jedenfalls. Völlig beruhigt ging ich nach dem Vorderhause.

Heute mochten sich wohl die alten Hausgeister der Firma Claudius scheu und grimmig in die dunkelsten Ecken verkriechen – das war ja ein Lichterglanz, wie ihn einst die wohledlen Kaufherren sicher nicht einmal bei der Taufe eines künftigen Chefs sich erlaubt hatten!

„Was ist mir denn das, Fräulein Fliedner? Der Herr kann ja heute gar nicht genug Licht kriegen!“ brummte der alte Erdmann

[829]

Ein lebendiges Spielzeug für den Weihnachtstisch.

[830] verwundert und lehnte oben eine Leiter an die Wand des oberen Corridors, als ich die Treppe herauf kam. „Muß ich doch gar auch noch die großen Lampen aus den Geschäftslocalen hier herauf hängen!“

„Lassen Sie das doch, Erdmann,“ meinte die alte Dame, die aus dem ersten Salon trat – eine wahre Lichtfluth quoll mit ihr heraus. „Ich bin glücklich, daß es endlich einmal hell wird im alten Claudiushause.“ Mit einem feinen, schelmischen Lächeln. fuhr sie mir über das Haar und eilte in die Hausflur hinab.

Dieses Lächeln trieb mir das Blut in die Wangen. Scheu ließ ich die Hand von dem Drücker der Salonthür niedersinken – ich meinte, in diesem Augenblick könne ich mich unmöglich von den zahllosen Kerzen des Kronleuchters da drin anstrahlen lassen. Ich trat in Charlottens Zimmer. Es war leer; auf dem aufgeschlagenen Flügel brannten zwei Lampen, und aus dem Salon, wo das Bild des schönen Lothar hing, scholl das Klirren der Theetassen und lautes Sprechen herüber. Noch stand ich und überlegte, wie ich meinen Eintritt am wenigsten auffallend bewerkstelligen könne, da rauschte es durch das Nebenzimmer, und Charlotte trat in Begleitung ihres Bruders herein.

„Die Prinzessin will mich singen hören,“ sagte sie zu mir und wühlte in den Noten. „Wie kommen Sie denn hierher, und wo haben Sie bis jetzt gesteckt, Kleine? – Man vermißt Sie drüben.“

„Ich war besorgt um meinen Vater und habe nach ihm gesehen – er ist unwohl –“

„Unwohl?“ lachte Dagobert leise auf – er saß bereits am Flügel und präludirte. „Ja, ja, ein schlimmes, ein sehr bedenkliches Unwohlsein! Ich habe vorhin im Club diese interessante Neuigkeit erfahren – man sprach von nichts Anderem, und durch die Stadt geht es im Jubel wie ein Lauffeuer, daß der Archäologieschwindel in den letzten Zügen liege. … Binnen Kurzem werden wir eine andere Mode haben, Charlotte! Gott sei Dank, daß man dies griechische, römische und ägyptische Kauderwelsch nicht mehr zu radebrechen braucht – es ist Einem sauer genug geworden!“ Er fuhr mit beiden Händen über die Tasten und erging sich in den brillantesten Läufern, während mir der Herzschlag stockte vor Bestürzung. – „Und in dem Augenblick, wo Ihr Papa im Sattel wankt und bügellos wird, erzählen Sie auch noch mit köstlicher Naivetät, daß er schnurstracks von den Juifs abstamme – das bricht ihm vollends das Genick!“

„Ja, das war eine kleine Dummheit, nehmen Sie mir’s nicht übel!“ schalt Charlotte und legte ein Notenheft auf das Pult des Flügels. „Ich verlange nicht, daß Sie geradezu lügen sollen, ich thue es ja auch nicht – aber in solchen Fällen hält man sich an die Mittelstraße – man schweigt.“

Dagobert begann die Introduction, und gleich darauf schlug Charlottens mächtige Stimme gegen die Wände.

Was war geschehen? Es hatte Alles so dunkel geklungen, was der schöne Tancred in nachlässig spöttischem Ton gesprochen und mit allen möglichen Läufern und Trillern auf dem Flügel begleitet hatte. Mit unsäglicher Bitterkeit sah ich nach dem Elenden hin, – „Archäologieschwindel“ hatte er das Wirken meines Vaters genannt, er, der sich als unterwürfiger „Famulus“ an den berühmten Mann herangedrängt und ihm oft genug beschwerlich gefallen war; wie manchmal hatte ich ihn über den zudringlichen, verständnißlosen Störer klagen hören! … So viel begriff ich, die Stellung meines Vaters bei Hofe war erschüttert, und nun wandte sich die feige Meute, die ihn einst umschmeichelt, kläffend gegen den Stürzenden. …

Die Prinzessin war noch nie so liebevoll und gütig gegen mich gewesen, als an diesem Abend; und doch konnte ich mich augenblicklich nicht überwinden, ihr wieder nahe zu kommen. Ich schlich in den anstoßenden Salon und setzte mich in eine dunkle Ecke, während Charlotte mit schmetternder Stimme weiter sang. … Von meinem Platz aus konnte ich den Theetisch sehr gut übersehen. Die Prinzessin saß ein wenig seitwärts unter Lothar’s Bild, jedenfalls nicht nach ihrem Wunsche, denn ich sah, wie sie sich verstohlen bemühte, einen vollen Anblick des Portraits zu gewinnen. Ihr Nachbar zur Linken war Herr Claudius. Ein einziger Blick auf dieses edle ruhige Gesicht besänftigte mein grollendes, geängstigtes Herz. … Welch ein Sonnenglanz lag heute auf seiner Stirn! … Der prachtvolle Soldatenkopf mit dem Blick voll Seele über ihm, vielleicht war er schöner in den Linien, überwältigender im feurigen Ausdruck – aber was hatte ihm all sein herausfordernder Soldatenmuth genützt? Den Kampf mit dem Leben hatte er doch nicht aufzunehmen vermocht – der frevelhafte Selbstzerstörer war untergegangen, während der stillgelassene Mann dort das halbentrissene Steuer mit einem kräftigen Aufraffen wieder erfaßt und sich selbst gerettet hatte. …

„Sie haben eine schöne Stimme, Fräulein Claudius,“ sagte die Prinzessin, als Charlotte nach beendigtem Gesang wieder an den Theetisch trat. „Besonders in der Mittellage erinnert sie mich lebhaft an den Mezzosopran meiner Schwester Sidonie. … Auch Ihr lebendig feuriger Vortrag mahnt mich an längstvergangene Zeiten – meine Schwester zog rauschende, wildoriginelle Weisen dem einfach elegischen Lied vor.“

„Wenn Euer Hoheit gnädigst erlauben wollen, dann möchte ich eine solche wildoriginelle Weise singen,“ versetzte Charlotte rasch. „Ich liebe die Tarantella – sie berauscht mich. … Già la luna –“

„Ich möchte Dich bitten, die Tarantella nicht zu singen, Charlotte,“ unterbrach sie Herr Claudius ruhig ernst – seine Stimme bebte nicht, aber eine tiefe Blässe bedeckte sein Gesicht, und die Brauen falteten sich finster und drohend.

„Sie haben Recht, Herr Claudius,“ sagte die Prinzessin lebhaft. „Ich theile Ihre Antipathie. Diese Tarantella grassirte förmlich zu meiner Zeit – sie war das Paradepferd aller Sängerinnen von Fach, und auch Sidonie sang sie zu meinem Verdruß leidenschaftlich gern. Mir ist sie zu bacchantisch wild!“

Sie schob ihre Taste zurück und erhob sich. „Ich meine, wir gehen jetzt ein wenig auf Entdeckungen aus,“ sagte sie lächelnd. „Ich will mir einmal recht gründlich diese wundervoll alterthümliche Einrichtung ansehen – ist mir doch, als läse ich in einem uralten Buche, so oft ich den Blick erhebe. … Herr von Wismar, sehen Sie dort den prachtvollen Hirschkopf?“ – Sie deutete nach dem letzten Zimmer der langen Flucht. – „Das ist Etwas für Ihr Waidmannsherz!“

Der Kammerherr wirbelte davon und die Hofdame desgleichen – Ihre Hoheit wollte ja allein sein. … In diesem Augenblick wandte Charlotte den Kopf, so daß ich ihr voll in das Gesicht sehen konnte; beim Anblick dieser gespannten Züge, dieser flackernden Unruhe und Leidenschaft in den Augen, sagte ich mir sofort, daß das junge Mädchen noch an diesem Abend entschlossen auf ihr Ziel loszuschreiten gedenke. Jetzt freilich folgte sie an der Seite ihres Bruders pflichtschuldigst den zwei Hofschranzen nach dem von fürstlichem Finger gebieterisch bezeichneten Hirschkopf, während die Prinzessin allein in dem an den Salon stoßenden kleinen Zimmer zurückblieb und anscheinend mit großem Interesse die Leidensgeschichte der Genoveva auf der farbenprächtigen, alten Wolltapete betrachtete.

„Wisten Sie nicht, wo Fräulein von Sassen geblieben ist?“ fragte Herr Claudius hastig Fräulein Fliedner, die eben in das Zimmer eintreten wollte, wo ich mich aufhielt.

„Hier bin ich, Herr Claudius,“ sagte ich mich erhebend.

„Ach, meine kleine Heldin!“ rief er und trat rasch auf mich zu, ohne zu berücksichtigen, daß Anderen dieses ungewohnte Feuer in Stimme und Bewegungen auffallen müsse. … Fräulein Fliedner zog sich sofort wieder in den Salon zurück und machte sich am Theetisch zu schaffen.

„In die dunkelste Ecke haben Sie sich vergraben, heute, wo ich Haideprinzeßchen mit allem Licht, das das alte Haus zu geben vermag, überschütten möchte?“ sagte er mit gedämpfter Stimme.

„Wissen Sie auch, daß ich in diesen köstlichen Abendstunden eine Art Wiedergeburt feiere?. … Ich war noch sehr jung, als ich mich selbst dazu verurtheilte, in den bedächtigen Geleisen des Alters zu wandeln. Rauh und unerbittlich habe ich die hochaufspringenden Quellen der Jugend in meinem Herzen niedergehalten – ich wollte nicht mehr jung sein. … und nun, wo ich es in der That nicht mehr sein sollte, brechen sie unaufhaltsam hervor und verlangen ihr Recht, ihr verjährtes und verfallenes Recht! … und ich gebe mich ihnen willenlos hin – ich bin unaussprechlich glücklich, mich wieder jung zu fühlen, als hätten dieses köstliche Kleinod in meiner Brust weder die Jahre, noch schlimme Erfahrungen berührt – ist das nicht thöricht von ‚dem alten, uralten Mann‘, den Sie zuerst in der Haide gesehen?“

[831] Ich senkte den Kopf auf die Brust, die sich unter fliegenden Athemzügen hob. Die Sorge um meinen Vater, die Angst vor Charlottens Beginnen, die Menschen, die sich um uns her bewegten, Alles, Alles versank vor den bebenden Tönen, die halb geflüstert an meinem Ohr hinstrichen. … Und er mit seinem scharfen Blick, er mochte wohl wissen, was in mir vorging. …

„Lenore,“ sagte er, sich über mich herabbeugend, „wir wollen denken, wir Beide seien mutterseelenallein im alten Kaufhause und hätten mit all Denen“ – er deutete in die Zimmer hinein – „nichts zu schaffen. … Ich weiß, wem Ihr mutiges Bekenntniß heute Abend galt – ich nehme die Wonne jenes Augenblicks für mich, mich allein in Anspruch, gegen die ganze Welt, ja, gegen Sie selbst, wenn Sie im alten Trotz zu leugnen versuchen wollten! … Unsere Seelen berühren sich, mögen Sie auch, hart genug, mir wehren, die Hand in Wirklichkeit zu fassen, die mir einst mein Geld trotzig vor die Füße geworfen hat.“

Mit wenigen raschen Schritten stand er drüben am Flügel, und gleich darauf klangen Harmonien an mein Ohr, die mich in eine Art von Taumel versetzten. … Diese wundervollen Klänge gehörten mir, dem kleinen unbedeutenden Geschöpf allein – sie hatten „nichts mit Denen zu schaffen“, deren Geplauder aus dem letzten Zimmer fern herüberscholl! … Ja, hochauf sprangen die erlösten Quellen der Jugend im Herzen des so schwer Gekränkten, der eine kurze Zeit maßlos aufschäumender Leidenschaft durch Entsagung und vollständige Resignation auf Lebensglück und Lebensgenuß hatte sühnen wollen. … Und die Hände, „die nie wieder eine Taste berührt hatten“, jetzt schlugen sie das Thema an, das die geheimnißvoll vermittelnde Beziehung zwischen seinem gereiften, starken Geist und meiner schwachen, schwankenden Kinderseele aussprach:

„O säh’ ich auf der Haide dort
Im Sturme dich!
Mit meinem Mantel vor dem Sturm
Beschützt’ ich dich!“ –

„Gott im Himmel, ist das nicht Herr Claudius, der spielt?“ fuhr Fräulein Fliedner aus dem Salon herein und schlug bei Erblicken des am Flügel Sitzenden in freudiger Bestürzung die Hände zusammen.

Ich ging an ihr vorüber – ich konnte sie unmöglich in mein Gesicht sehen lassen. In eine der tiefen Fensternischen des Salons flüchtete ich mich, hinter die dicken seidenen Vorhänge, die ich bis auf einen schmalen Spalt zusammenzog – mochten doch da meine Wangen glühen und meine Augen glückselig aussehen; Niemand kümmerte sich um mich, selbst Fräulein Fliedner nicht mehr, die sich jetzt mit gesenktem Kopf und auf dem Schooß gefalteten Händen in die dunkle Ecke gesetzt hatte und regungslos dem Spiel lauschte.

Einen Augenblick blieb es still im leeren Salon. Jeder Ton, auch der Schwächste, schwebte vom Flügel zu mir herüber, und aus dem Zimmer mit dem Hirschkopf klang dann und wann ein Auflachen oder ein lauter gesprochenes Wort dazwischen.

Da kam plötzlich die Prinzessin mit leisen Sohlen über die Schwelle; ich sah, wie sich ihre Brust gleichsam befreit hob unter der Gewißheit, endlich allein zu sein. Sie nahm den verdunkelnden Schirm von der auf dem Theetisch stehenden Kugellampe, so daß auch dieses Licht voll auf Lothar’s Bild fiel. Noch einmal ließ sie ihren Blick rasch und mißtrauisch durch den Salon und das Nebenzimmer streifen, dann trat sie vor das Bild, zog ein Buch aus der Tasche und warf in fliegender Hast mit dem Stift Linien auf das Papier – sie suchte offenbar die Umrisse des schönen Männerkopfes, vielleicht auch nur „die Augen voll Seele“, in diesem unbelauschten Moment zu erhaschen.

Ich erschrak in meinem Versteck, denn ich sah plötzlich bestürzt in das Herz der stolzen fürstlichen Frau und sagte mir selbst, daß sie sicher Lebensjahre darum geben würde, wenn sie das Bild als ihr eigen von der Wand nehmen dürfe. … Niemand fühlte wohl in diesem Augenblick tiefer und inniger mit ihr, als ich, die Glückliche, zu der „die andere Seele“ eben in tiefergreifenden Melodien sprach! … War es mir doch, als müsse ich hervorspringen und ihr Buch und Stift aus der Hand nehmen, um Beides zu verbergen, denn sie hörte nicht, daß nahende Schritte durch die lange Flucht der Zimmer kamen; sie sah nicht auf, als Charlotte, einen Seitenblick auf sie werfend, lautlos durch den Salon huschte, und maßlos erstaunt zurückfuhr, als sie in dem Spielenden am Flügel Herrn Claudius erkannte. Ehe ich mich dessen selbst versah, hatte sie die Thür leise zugedrückt, so daß die Musik nur noch gedämpft herüberklang – dann stand sie mit wenigen Schritten hinter der Prinzessin.

Dieses Geräusch ließ endlich die hohe Zeichnerin aufsehen – purpurn schoß ihr die Röthe des Erschreckens über das ganze Gesicht; aber sie sammelte sich unglaublich rasch, klappte das Buch zu und maß die Störerin über die Schulter mit einem indignirten stolzen Blick.

„Hoheit, ich weiß, daß ich eine schwer zu entschuldigende Tactlosigkeit begehe,“ sagte Charlotte – an dem starken zuversichtlichen Mädchen bebte jede Fiber, ich hörte es an ihrer Stimme. – „Es ist ein günstiger Augenblick, den ich kühn erhasche, ohne die Erlaubniß zu haben, zu Euer Hoheit sprechen zu dürfen, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen! … Wenn Hoheit mir auch zu jeder Stunde eine Audienz im Schlosse gewähren wollten, ich glaube, ich würde den Muth nicht finden, das auszusprechen, was ich hier, unter dem Schutze dieser Augen“ – sie zeigte nach Lothar’s Bild – „getrost wage.“

Die Prinzessin wandte ihr im höchsten Erstaunen nun voll das Gesicht zu. „Und was haben Sie mir zu sagen?“

Charlotte sank in die Kniee, ergriff die Hand der fürstlichen Frau und zog sie an ihre Lippen. „Hoheit, verhelfen Sie mir und meinem Bruder zu unserem Rechte!“ flehte sie mit halberstickter Stimme. „Wir werden um unsern wahren Namen betrogen, wir müssen das Gnadenbrod essen, während wir vollgültige Ansprüche auf ein bedeutendes Vermögen haben und längst auf eigenen Füßen stehen könnten. … In unseren Adern fließt stolzes edles Blut, und doch fesselt man uns förmlich mit Ketten an dieses Krämerhaus und zwingt uns gewaltsam in bürgerliche Verhältnisse –“

„Stehen Sie auf und sammeln Sie sich, Fräulein Claudius,“ unterbrach sie die Prinzessin – die hoheitsvolle tiefernste Geberde, mit der sie winkte, hatte durchaus nichts Ermuthigendes. „Sagen Sie mir vor Allem, wer betrügt Sie?“

„Es will mir nicht über die Lippen, denn es sieht aus wie schwarzer Undank. … Die Welt kennt uns nur als die Adoptivkinder eines großmüthigen Mannes –“

„Ich auch –“

„Und doch ist er’s, der uns beraubt!“ fiel Charlotte wie verzweifelt ein.

„Halt – ein Mann wie Herr Claudius raubt und betrügt nicht! Da glaube ich weit eher an einen schweren Irrthum Ihrerseits!“

Ich hätte hervorstürzen und die Kniee der Dame umfassen mögen für diesen Ausspruch.

Charlotte hob den Kopf – man sah, sie raffte all’ ihren Muth zusammen. Mit einer raschen Bewegung stieß sie auch die Thür zu, durch welche ein lautes neckendes Gespräch zwischen der Hofdame und Dagobert herüberscholl. – „Hoheit, es handelt sich hier nicht um Geld – das ist vorläufig völlig Nebensache,“ sagte sie fest. „Herr Claudius liebt den Besitz, aber ich selbst bin fest überzeugt, daß er streng jedweden unrechtlichen Erwerb von sich weist. … Dagegen werden Hoheit mir zugeben, daß schon mancher tüchtige Charakter in leidenschaftlicher Verfolgung einer Idee, einer hartnäckig verblendeten Ansicht zuerst zum Selbstbetrüger und schließlich zum Verbrecher an Anderen geworden ist!“

Sie preßte die Hand auf die Brust und schöpfte tief Athem, während drüben die wundervollen Melodieen hochauf rauschten – er ließ ahnungslos seine strengverschlossene Seele zum ersten Male nach langen Jahren wieder in Tönen ausströmen, und hier wurde sein reiner Name an den Pranger gestellt – und ich durfte ihn nicht einmal warnen, ich mußte aushalten auf dieser Folter! Wie haßte ich in diesem Moment unbeschreiblicher Qualen die Anklägerin dort!

„Herr Claudius mißachtet den Adel, ja, er haßt ihn!“ fuhr sie fort. „Er ist selbstverständlich zu einflußlos, um an dem Bestehenden rütteln zu können; aber wo es in seine Hand gelegt ist, das Erstarken der Aristokratie zu verhindern, da thut er es aus allen Kräften, ja, eben in diesem Punkte scheut er selbst den Betrug nicht. … Hoheit, mit meinem Bruder tritt ein neues Adelsgeschlecht in das Leben, und, ich sage es mit Stolz, eine [832] neue feste Stütze in das Fundament der maßlos beneideten hohen Kaste; denn wir Geschwister sind durch und durch aristokratisch gesinnt. … Aber gerade deshalb sollen wir nie erfahren, wer uns das Leben gegeben hat – Herr Claudius will das Wappenschild an dem alten Krämernamen nicht dulden.“

Das Gesicht der Prinzessin wurde plötzlich weiß wie Wachs. Sie hob hastig unterbrechend die Hand und deutete nach Lothar’s Bild. „Und weshalb wollten Sie mir das Alles gerade unter dem Schutze dieser Augen sagen?“ stieß sie mit völlig veränderter heiserer Stimme heraus.

„Weil es die Augen meines lieben Vaters sind – Hoheit, ich bin seine Tochter!“

Die Prinzessin taumelte zurück und hielt sich an der Tischecke.

„Lüge, abscheuliche Lüge! … Sagen Sie das nicht noch einmal!“ schrie sie auf – wie entsetzlich veränderte sich das liebliche Gesicht, wie hart und eckig hob sich der drohende Arm! – „Ich dulde keinen Flecken auf seinem Namen! … Claudius war nie verheirathet, nie – das weiß die ganze Welt! … Er hat nicht einmal geliebt, nie geliebt – o mein Gott, nur diesen einen Trost raube mir nicht!“

„Hoheit“ –

„Schweigen Sie! … Wollen Sie wirklich behaupten, daß er sich vergessen habe, der stolze, unnahbare Mann? … Und wenn – o Gott im Himmel, es ist ja nicht wahr – aber wenn auch, möchten Sie in der That auf Rechte pochen, die Sie einer augenblicklichen Verirrung, nicht aber der Liebe danken?“

Mit welch beißendem Hohn warfen die schmerzhaft zuckenden Lippen diese Worte hin! … Charlotte war sprachlos vor Bestürzung in sich zusammengesunken; die Beleidigung aber traf sie wie ein Schlag in das Gesicht und gab ihr die Fassung zurück.

„Er habe nie geliebt?“ fragte sie. „Wissen Hoheit nicht, weshalb er freiwillig in den Tod gegangen ist?“

„Aus plötzlicher Schwermuth – er war krank – fragen Sie Alle, die ihn gekannt haben,“ murmelte sie und legte die Hand über die Augen

„Ja, er war krank, er war wahnsinnig vor Verzweiflung über den Tod –“

„Ueber wessen Tod? Ha, ha, ha!“

Charlotte sank abermals auf den Boden und umfaßte mit hervorstürzenden Thränen namenloser Angst die Kniee der Prinzessin.

„Hoheit, ich beschwöre Sie, hören Sie mich nur einen Augenblick ruhiger an!“ flehte sie. „Ich bin bereits zu weit gegangen, um zurückweichen zu können. Ich muß die Wahrheit sagen, schon um meines Bruders willen, denn ich darf nicht dulden, daß Sie in dem Glauben beharren, wir seien illegitime Kinder. … Lothar von Claudius war verheirathet – in geheimer, aber von der Kirche eingesegneter, rechtmäßiger Ehe hat er in der Karolinenlust gelebt – da sind wir geboren.“

„Und wer war die Glückliche, die er so heiß geliebt hat, daß er um ihretwillen gestorben ist?“ fragte die Prinzessin mit unheimlicher Ruhe – wie eine Statue von Marmor stand sie da, und die Worte zischten klanglos von ihren Lippen.

„Ich finde nicht den Muth, ihren Namen auszusprechen,“ stammelte Charlotte wie erschöpft. „Hoheit haben meine Mittheilungen zu ungnädig aufgenommen – ich darf nicht weiter gehen! … Der Mann da drüben,“ sie deutete über die Schulter zurück nach ihrem Zimmer, „darf vorläufig nicht erfahren, daß ich um das Geheimniß weiß – haben wir doch ohnehin unseren Anker verloren, da Hoheit sich von uns verfolgten und verlassenen Geschwistern abwenden. … Ich habe vorhin bei jedem heiligen Wort, bei jedem Laut angstvoll gezittert und gefürchtet, daß sie dort hinüber dringen würden. … Ich weiß es, Sie werden den Namen nicht mit Ruhe anhören –“

„Wer sagt Ihnen denn das, Fräulein Claudius?“ unterbrach sie die Prinzessin sich hoch aufrichtend – die letzten Worte Charlottens hatten genügt, den ganzen Fürstenstolz in ihr wach zu rufen. – „Sie sind auf völlig falschem Wege, wenn Sie meiner augenblicklichen Hast einen anderen Grund, als den einer allerdings maßlosen Ueberraschung zuschreiben! … Was geht es mich schließlich an, wer die Frau gewesen ist? … Ich würde es Ihnen erlassen, den Namen zu nennen, wenn ich nicht gerade beweisen möchte, daß ich ihn sehr ruhig anhören kann; und somit befehle ich Ihnen, Ihre Bekenntnisse mit dem Namen zu schließen!“

„Nun denn, ich gehorche Hoheit!     Die Frau war die Prinzessin Sidonie von K.“ –

Sie hatte sich vermessen, die stolze Fürstin! Sie hatte gewähnt, sie könne das verächtliche Lächeln auf den Lippen festhalten, das Blut gebieterisch in die Wangen beschwören, wie auch der Name lauten mochte – und jetzt fiel er wie ein Blitzstrahl auf ihr Haupt, und sie sank mit versagenden Blicken an die Wand zurück und stöhnte auf, als sei ihr ein Messer durch die Brust gestoßen worden.

„Das ist wohl der grausamste Betrug, dem je ein Frauenherz verfallen mußte!“ hauchte sie. „Pfui, pfui, wie schwarz und falsch!“

Charlotte wollte sie stützen.

„Fort! Was wollen Sie?“ zürnte sie und stieß die Hände des jungen Mädchens zurück. „Ein Dämon muß Ihnen den teuflischen Gedanken eingegeben haben, mich, gerade mich zu Ihrer Vertrauten zu machen! … Gehen Sie! Ich gebe Ihnen Ihr Geheimniß wieder in die Hände – ich will Nichts gehört haben, Nichts! Denn ich kann und werde mich nie damit befassen, Ihnen zu Ihren sogenannten Rechten zu verhelfen!“

Sie richtete sich empor, war aber genöthigt, sich sofort wieder am Tisch festzuhalten. „Haben Sie die Güte, mein Gefolge herbeizurufen – mir ist sehr übel!“ gebot sie mit erlöschender Stimme.

„Verzeihung, Hoheit!“ rief Charlotte außer sich.

Die Prinzessin zeigte wortlos und gebieterisch nach der Thür, während sie in den nächsten Fauteuil sank. Charlotte flog über die Schwelle, und sofort füllte sich der Salon mit bestürzt herzueilenden Gestalten. Auch die Musik riß mit einem schrillen Accord ab – Herr Claudius kam herüber.

„Ein altes Leiden hat mich plötzlich überrascht,“ sagte die Prinzessin matt lächelnd zu ihm. „Ich habe Herzkrampf. Wollen Sie mir Ihren Wagen leihen? Ich kann unmöglich warten, bis der meine kommt.“

Er eilte hinaus, und nach wenigen Minuten führte er die hohe Leidende die Treppe hinab. Sie stützte sich fest auf ihn; die Art und Weise aber, mit welcher sie sich von ihm verabschiedete, bewies, daß Charlottens Mittheilungen auch nicht den allermindesten Einfluß auf ihre Hochachtung für ihn ausgeübt hatten.

(Fortsetzung folgt.)




Briefe eines Wissenden.

Dritter Brief. Hoher Adel. Die Herzöge von Ujest und Ratibor. Adelige Speculationen und Heirathen.

Wenn man über den preußischen Adel und sein Dichten und Trachten urteilen will, so verlangt die Gerechtigkeit, eine strenge Grenze zu ziehen zwischen den zahlreichen Mitgliedern dieses Standes, welche als Besitzer von Landgütern mit Fleiß und Umsicht der Bestellung von Grund und Boden ihre Kraft und Fähigkeiten widmen oder im Dienste des Vaterlandes ihre Kenntnisse und Gaben verwerthen, und denjenigen Herren von Adel, welche als Drohnen im Bienenkorbe des Staats nur genießen, aber nicht arbeiten, Geld erwerben, aber nicht verdienen wollen. Es liegt mir sicherlich sehr fern, einen ganzen Stand anzugreifen, weil vielleicht der größere Theil seiner Angehörigen sich zu abweichenden politischen Anschauungen bekennt, und ich werde mit jedem billig denkenden Manne niemals außer Acht lassen, daß der würdigere Theil des Adels keine von der übrigen Nation geschiedene Gesellschaftsclasse bildet, sondern an den Ehren und den Neigungen des Volks ebenso theilnimmt, wie er sein Genosse in der Arbeit ist. Ich fasse hier jene andere geldgierige Art von Edelleuten in’s Auge, welche ich in zwei Lager scheiden möchte, in deren eines diejenigen von ihnen zu verweisen sein werden, welche schon Reichtümer in beträchtlichem Maße besitzen, deren aber ohne Mühe noch mehr anzuhäufen suchen, während in dem andern die große Zahl der Mittellosen auf einen Sonnenblick des Schicksals harrt.

[833] Die ersteren, also diejenigen, welche schon im Besitze eines nicht blos auskömmlichen, sondern so bedeutenden Vermögens sind, daß sie ohne Arbeit und ohne Sorgen, über die Befriedigung leiblicher und geistiger Bedürfnisse hinaus, die feinsten und höchsten Genüsse eines reichen Culturlebens sich zu eigen machen können, welche aber dessenungeachtet in der Unersättlichkeit der Genußgier oder von gemeiner Habgier getrieben nach müheloser Vermehrung ihrer Schätze trachten, zählen fast ausschließlich zu dem sogenannten hohen Adel, beiläufig gesagt, einer historisch wie juristisch unrichtigen Bezeichnung, die indessen so gebräuchlich ist, daß ihre Anwendung keinem Bedenken zu unterliegen braucht. – Es sind erst wenige Jahre verstrichen, als selbst auf dem preußischen Landtage aus der Mitte der liberalen Parteien gegen den begüterten Theil des Adels der Vorwurf erhoben ward, daß er sich der Thätigkeit und dem Aufschwunge der Industrie gegenüber passiv verhalte. Es wurde auf England hingewiesen, wo überall die Nobility an der Spitze der großen industriellen Unternehmungen stehe und kaum eine Eisenbahn gebaut werde ohne die Mitthätigkeit und finanzielle Hülfe des reichen und mächtigen Landesadels.

Diese Fingerzeige blieben nicht unbeachtet; der reichere und vornehmere Theil des preußischen Adels machte sie sich schnell zu Nutze. Die Landwirthschaft, aus der diese Herren bisher ihre Hauptrevenüen bezogen, lieferte nur unsichere und mäßige Erträge; die Einnahmen aus diesem mit Mühen und mancherlei Sorgen verkauften Besitze erfuhren nur eine sehr langsame Steigerung; schneller und bequemer Gewinn war auf diesem Wege nicht zu erzielen. Werthpapiere, Actien schienen schon angenehmer; die Einlösung von Coupons und Erhebung von Dividenden verursachten wenigstens keine Arbeit; doch blieb der Zinsgenuß immer ein mäßiger, und um das Capital zu vermehren, bedurfte es der Sparsamkeit und Geduld. War es denn nicht möglich, schneller zu diesem Ziele zu gelangen, nicht blos für Kinder und Enkel zu sammeln, sondern selbst und sofort die Früchte der Unternehmungslust zu genießen? – Ja, es gab solche Wege, die mühelos und schnell das Geld in den Säckel des Kühnen leiteten und diesen zudem als Gönner und Förderer großartiger, nützlicher Werke mit einem die Eitelkeit kitzelnden Nimbus schmückten.

An dem Himmel der Berliner Finanzwelt war plötzlich ein Stern erster Größe erschienen, der ein so strahlendes Licht verbreitete, daß Alles von Bewunderung und Neid ergriffen wurde. Ein Handelsmann israelitischen Glaubens aus dem kleinen masurischen Städtchen Neidenburg in Ostpreußen, der sich bereits in mehreren zum Theil abenteuerlichen Unternehmungen in Deutschland, England und Amerika versucht hatte, aber mit allen gescheitert war, fand in dem verhältnißmäßig soliden Berlin den Grund, auf dem er in rapider Schnelligkeit ein so wunderbares, goldglänzendes Gebäude aufrichtete, wie es Stadt und Land in dem deutschen Norden noch nicht erblickt hatten. Strousberg oder Dr. Strousberg, wie er sich hier zu nennen beliebte, war in London Zeitungsreporter gewesen, hatte in Amerika mit alten Kleidern gehandelt, wieder in England in den Bureaux einer Versicherungsgesellschaft gearbeitet und war nach Berlin als Generalagent der Waterloo-Lebensversicherungsgesellschaft gekommen. In dieser Stellung – durch die berüchtigte Verschmelzung der Gesellschaft mit der schon bankerotten Versicherungsgesellschaft „Albert“ wußte er sich sein erstes Capital, man sagt dreißigtausend Thaler, zu verschaffen, mit denen er an sein erstes Eisenbahnunternehmen ging, die ostpreußische Südbahn. Der englische Eisenbahnbauunternehmer Joh. Bray hatte diesen Bau in Entreprise genommen, einigte sich aber einige Zeit darauf mit Strousberg dahin, daß dieser den Bau weiter führte. Bray behauptete, dabei von Strousberg tüchtig über das Ohr gehauen zu sein, und Beide bezeichneten sich gegenseitig und in aller Oeffentlichkeit viele Jahre hindurch mit den ehrenrührigsten Titeln. Jetzt hat ein Sohn von Strousberg die Tochter Bray’s geheirathet, und die beiderseitigen Eltern sind über die Verbindung höchlich erfreut. – Die ferneren Unternehmungen des Ersteren sind bekannt. Ein Eisenbahnbau folgte dem andern, bis die rumänischen Bahnen das Schiff des kecken Lootsen zum Scheitern brachten.

Im Laufe mehrerer Jahre schien das Glück den klugen Speculanten mit seinen Gunstbezeigungen zu überschütten. Was er ergriff, schien zu gelingen. In Ostpreußen, in Posen, in der Mark, in Schlesien, in Böhmen kaufte er Güter von so gewaltigem Umfange, daß er der größte Grundbesitzer in Norddeutschland wurde. In Berlin legte er einen neuen Viehhof mit dem Aufwande einer Million an, im Hannoverschen kaufte er Eisenwerke für mehrere Millionen, in Belgien die Festung Antwerpen für vierzehn Millionen; daneben mehrere der größten Häuser in Berlin; eine eigene große Zeitung wurde zur Vertretung seiner Interessen gegründet. Das Gold schien auf ihn zu regnen; sein Haushalt war auf mehr als fürstlichen Fuß gestellt; die luxuriöse Lebensweise seiner beiden Söhne streifte an das Fabelhafte; und selbst die vorsichtige königliche Hauptbank, die sich eine Zeitlang abweisend verhalten hatte, gab schließlich ihren Widerstand auf und honorirte seine Wechsel. Auch an stattlichen Auszeichnungen und Ehren fehlte es nicht; er wurde in den Reichstag gewählt und erhielt eine Reihe von Orden. Als er seine silberne Hochzeit feierte, wurde der neue Krösus behandelt, wie dies in Deutschland noch keinem Staatsmann oder Feldherrn bei solcher Veranlassung widerfahren ist; unter Anderem wurden ihm zu diesem Feste drei Orden überreicht.

Dies märchenhafte Treiben verleitete nicht allein das unwissende Publicum, sein Geld den Strousberg’schen Unternehmungen zuzuwenden, sondern weckte auch in mehreren großen Herren die Begierde, direct aus den Geldquellen des großen Zauberers zu schöpfen. Hier waren Schätze schnell und mühelos zu heben; es wurde nichts weiter verlangt, als die alten, vornehmen, stolzen Namen zu einer kleinen Manipulation, wenn sie auch etwas zweideutig sein mochte, zu leihen. So wurde die berüchtigte rumänische Eisenbahnangelegenheit in Scene gesetzt. Die beiden Herzöge von Ujest und Ratibor und Graf Lehndorff (ein anderer Fürst, der sich aber alsbald zurückzog, mag eben deshalb ungenannt bleiben) bewarben sich um die Concession, die auch auf ihren Namen ausgestellt wurde, riefen in den Zeitungen zur Actienzeichnung unter volltönender Anpreisung des sicheren Gewinns auf, und setzten ihre Namen auf die Obligationen, wobei nur der kleine bedenkliche Punkt mit unterlief, daß auf dieser letzteren die Bedingungen ein wenig anderslautend waren, indem eine Verpflichtung der rumänischen Regierung aufgenommen wurde, welche diese durchaus in Abrede stellte. Es hatten aber diese Herren gar nicht im Sinne, sich irgendwie weiter um das Gedeihen der ganzen Sache zu kümmern; alles Andere überließen sie ihrem Compagnon Strousberg. Sie hatten diesem nur ihre Namen geliehen, um auf der einen Seite die rumänische Regierung zur Concessions-Ertheilung, auf der anderen das Publicum zum Actienkaufe zu verleiten, wofür ein jeder von ihnen einhunderttausend Thaler von Strousberg erhielt. Einhunderttausend Thaler für eine Gefälligkeit, die gewiß nicht sehr anständiger Natur war!

Dem Publicum gegenüber erreichte Strousberg vollständig seinen Zweck. Die Namen von drei der vornehmsten Magnaten des Landes, deren Reichthum bekannt ist, und von denen zwei dem königlichen Hause nahe stehen, konnten nicht anders, als das Vertrauen in das von ihnen protegirte Unternehmen wecken, und die Actien fanden schnellen Absatz. War an der Berliner Börse doch noch niemals ein Papier emittirt worden, das sich auf so glänzende Namen gestützt hätte! – Und jetzt? Nachdem Strousberg wieder Millionen in die Tasche gesteckt, fordern die Actionäre vergebens ihre Zinsen, und die Herren Concessionäre sehen sich für ihre Hunderttausende einer Verpflichtung gegenüber, die beim Schlusse dieses Jahres über zwanzig Millionen betragen wird. Die Nemesis hat sie rasch ereilt, und es ergeht ihnen übler als dem Schatzgräber, der am folgenden Tage doch nur das gefundene Gold in werthlosen Heckerling verwandelt sah, während sie auch mit ihrem übrigen Vermögen den betrogenen Actionären haften.

Freilich wird die Strafe die Schuldigen nicht in gleichem Maße treffen. Strousberg hat bereits vor zwei Jahren seinen ländlichen Besitz innerhalb und außerhalb Landes seiner Frau verschrieben und alles andere unbewegliche Vermögen versilbert; er wird also hinreichende Summen bei Seite gebracht haben, um dem Rest seines Lebens mit großer Gemüthsruhe entgegensehen zu können. Die beiden Herzöge werden sich wohl auf die fideicommissarische Eigenschaft ihrer Herrschaften stützen und so ihren Grundbesitz den andrängenden Gläubigern entziehen. Graf Lehndorff aber, dessen prächtiger Landsitz Steinort in Ostpreußen freies Allod ist, wird [834] ohne empfindlichste Verluste kaum aus der Angelegenheit hervorgehen. Und die moralische Einbuße muß doch wohl, wie wir hoffen wollen, wenigstens bei den drei Letzteren der empfindlichste Verlust sein. Der Herzog von Ujest wird nicht wieder Präsident einer gesetzgebenden Versammlung werden, nachdem ihm diese Auszeichnung wiederholt auf dem Reichstage zu Theil geworden; und Graf Lehndorff wird auf das Ober-Präsidium in der Provinz Preußen verzichten müssen, um das er so eifrig ambirt hat, und das ihm seine einflußreiche Verwandtschaft, sein Vetter, der Minister Eulenburg, und sein Bruder, der Flügel-Adjutant des Kaisers, zu garantiren schien. – Neugierig kann man sein, wie sich das Verhältniß dieser Herren bei Hofe gestalten und ob sich diese Stätte der höchsten Ehren ihnen nicht ganz verschließen wird.

Es möchte übrigens die Annahme nicht unbegründet sein, daß die rumänischen Eisenbahnen nicht das einzige Band sind, welches die Genannten mit Strousberg verbindet, denn schon jahrelang, bevor dies Unternehmen in die Oeffentlichkeit trat, war die Intimität zwischen beiden Theilen sehr bemerkbar. Lehndorff soll als Mitglied des Verwaltungsraths der ostpreußischen Südbahn schon früher Strousberg Gefälligkeiten erwiesen haben, und die beiden Herzöge waren fast tägliche Besucher des Strousberg’schen Arbeitscabinets. Dies beständige Beisammensein veranlaßte den König im Winter 1868 zu 69 zu der scherzhaften Begrüßung des Herzogs von Ujest auf einem Hoffeste: „Nun, mein lieber Doctor Ujest, was macht der Herzog von Strousberg?“

Leider steht zu fürchten, daß die Zahl der hohen Herren, die in unliebsamer Weise in die Strousberg’schen Speculationen verwickelt sind, sich nicht auf die genannten Drei beschränkt. Schon werden Graf Münster, Fürst Puttbus und Andere genannt. – Auch von Bestechungen wird gesprochen und unter Anderem auf einen Hochgestellten gewiesen, der von Strousberg ein Gut gekauft, in der That es aber ohne Bezahlung erhalten haben soll. Es ist nur zu wahrscheinlich, daß noch viel Schmutz an’s Tageslicht kommen wird.

Und doch fragt es sich, ob die Handlungsweise der eben Genannten, so wenig ehrenvoll sie ist, nicht auf ein milderes Urtheil Anspruch hat, als das Verfahren von einzelnen ihrer Standesgenossen, die, um ihren Gelddurst zu befriedigen, sich in die unsaubersten Speculationen stürzen, zum Beispiel methodisch Wucher treiben. Schwerlich wird man an vielen Orten wissen, daß sich hier in Berlin große Herren damit abgeben, auf hohe Zinsen (etwa fünfzig bis hundert Procent) Wechsel mit Unterlage, Damno und Provision, und wie die Teufelserfindungen alle heißen, Gelder in kleinen und großen Beträgen auszuleihen. Der vornehme Name der Herren Darlehnsgeber wird dabei sorgfältig geschont, indem für sie eine Mittelsperson eintritt, welche das Geschäft abschließt und hierfür sowie für die Hergabe ihres Namens zu der ganzen Manipulation mit bestimmten Procenten an dem erzielten Vortheile participirt. Häufig betrügen diese Agenten außer den armen Clienten auch ihre hohen Auftraggeber durch Vorwegnahme eines Theils des Gewinns, falsche Angabe des auf den Wechsel wirklich Gezahlten und wohl in noch mancher anderen Form, so daß dann die edlen Mandanten die feine Rolle der „betrogenen Betrüger“ spielen. – Zur Ehre einzelner der betreffenden Herren mag man annehmen, daß in einigen Fällen die Auftraggeber ihre Agenten für ehrliche Leute halten und von den abscheulichen Gaunereien derselben, von dem Wucher, den sie mit dem anvertrauten Gelde treiben, keine Ahnung haben, obwohl es dann höchst merkwürdig bleibt, daß sie, die große Capitalien solchen Menschen übergeben, von deren Charakter, stadtkundigem Rufe und Geschäftsführung keine Kenntniß haben.

Die Speculationswuth und Sucht, sich schnell auf Kosten des minder schlauen Theils der Gesellschaft zu bereichern, hat hier gerade die höchsten Kreise auf bedenkliche Weise inficirt. Es wird kaum noch eines der zahllosen Finanzprojecte, Actienunternehmen etc., die Tag für Tag auftauchen, zu finden sein, für welches nicht ein oder der andere vornehme Herr oder hohe Beamte seinen Namen und Einfluß in die Schale wirft. Mit Recht fragt man sich, ob lediglich allgemeine Menschenliebe diese Herren zur Förderung der bezüglichen Speculationen, die denn doch schließlich auf Kosten des Publicums in’s Leben treten oder auch scheitern, bewegt, oder ob sie für ihre mäßige Mühwaltung nicht gewisse Vortheile ernten.

Sicherlich ist dies nicht das Gebahren, das die Mitglieder eines Standes, der den ersten Rang in der Gesellschaft beansprucht, in den Augen Unparteiischer besonders heben kann. Gewiß würde man Vielen Unrecht thun, wenn man Allen, die sich an den Modespeculationen des Tages betheiligen, unlautere Motive unterschieben wollte; eine größere Vorsicht und ernstere Prüfung der Unternehmungen liegt aber im Interesse Aller.

Ein bei Weitem harmloseres und mitunter recht humoreskes Bild bietet die große Schaar von irrenden Rittern – einstweilen noch von der traurigen Gestalt –, welche nach einer Gelegenheit spähen, pour reparer la fortune, aber ohne viele Mühe. Es sind der Mehrzahl nach junge Leute und ausnahmslos Heirathscandidaten. Nun kann man es einem vermögenslosen jungen Mann nicht zum Verbrechen anrechnen, wenn er in der heutigen theueren Zeit Umschau unter den Töchtern des Landes hält, welche von ihnen die Mittel besitzen, um die Verbindung mit einem Manne ohne Geld überhaupt zu ermöglichen. Das Sprüchwort sagt schon: „Reichthum schändet nicht“, und ebensowenig herrscht ein Naturgesetz, das die reichen Mädchen der Schönheit, Anmuth und Bildung beraubt. Es entwürdigt daher den Mann keineswegs, um ein weibliches Wesen zu werben, welches außer von den Grazien auch von dem Gott Plutus gnädig bedacht worden ist. Das aber ist unwürdig und unedel, einem Mädchen Liebe zu lügen, ihm eine Treue zu schwören, die von Anfang an nicht vorhanden gewesen ist, ihr Geld an sich zu raffen und sie dafür um Liebes- und Lebensglück zu betrügen. Aber leider betrachtet ein Theil der männlichen Jugend gerade aus den Gesellschaftskreisen, in denen edle Gesinnung und feine Sitte vorzugsweise Hut und Pflege finden sollten, solche Grundsätze für antiquirt und sieht in der Ehe nur eine Armenversorgungsanstalt, für welche das Geld der Frau als der einzige in Erwägung zu ziehende Punkt gilt. Von einem ehelichen Glück kann bei so geschlossenen Bündnissen freilich weder für den frivolen Mann noch für die getäuschte Frau die Rede sein.

Bei Geldheirathen zieht der junge Adel hier vorzugsweise drei Kategorien von Damen in Betracht:

1) die natürliche Tochter,
2) die Jüdin,
3) die Künstlerin.

Die erstere, die natürliche Tochter, selbstverständlich von königlichem oder fürstlichem Geblüte, ist die gesuchteste und geschätzteste Waare, einmal weil gemeinhin ihr Vermögen disponibel ist, zum Andern weil sie als Brautschatz außer dem Vermögen auch die Connexion einbringt, für den Ehrgeizigen und den Eiteln ein wesentlicher Reiz. Keine andere Art von Connexionen ist so fruchttragend und weitreichend wie diese; wirkt sie doch selbst über die Grenzen des Heimathlandes hinaus und hilft ihren Schützlingen in schönem Wechselspiele auch in der Ferne, wie denn auf diese Weise schon Hofmarschälle und Ceremonienmeister in gegenseitiger Gefälligkeit von verschiedenen Höfen creirt worden sind.

Die Jüdin ist eine fast unerschöpfliche Ressource, und ihre Einführung in die sogenannte große Welt stößt heute nicht mehr auf die Schwierigkeiten und Bedenken, die noch vor dreißig Jahren bei einem solchen Ereigniß sich erhoben. Er war damals eben noch ein Ereigniß, während gegenwärtig die Verbindung geldbedürftiger Edelleute und geldbesitzender Jüdinnen ein von der Natur gefordertes Verfahren zu sein scheint. Zu wessen Bestem derartige Verträge, die oft zugleich Friedensschlüsse und Kriegserklärungen sind, ausschlagen, kann nur ein Blick hinter die Gardinen verrathen, und dieser steht selbst einem Wissenden nur in vereinzelten Fällen frei. Diese Frage ist auch ziemlich gleichgültig, denn warum soll die Frau, die der Befriedigung der Eitelkeit nachgeht, ein lebhafteres Interesse ansprechen dürfen als der Mann, der die Heirath als Mittel seine leere Börse zu füllen benutzt? Der sittliche Werth Beider steht auf derselben Stufe. Freilich sollte ein Vorgang wie die Ehe des Majors v. X., der die Tochter eines berühmten Musikers von jüdischer Abstammung geheirathet hat, ein vernünftiges Mädchen von der Nachfolge einer solchen Verbindung abschrecken. Es ist bekannt, daß er seine Frau mit sehr feinem Witze sein „Portemonnaie“ nennt und dies auch den Kindern beigebracht hat, die, wenn der Wagen zur Spazierfahrt gemeldet wird, den Vater fragen: „Kommt auch das Portemonnaie mit?“ – Aber der bunte Kragen und die Aussicht, die Hofbälle besuchen zu dürfen, scheinen Lockungen zu sein, denen die Herzen der Töchter Israel nicht zu widerstehen vermögen.

[835] Die Künstlerin ist zu allen Zeiten dem Jünglingsherzen gefährlich gewesen, ihr flog noch immer die Jugend zu und gerade diejenigen, welche sich die Naivetät der Unschuld zu bewahren vermochten, sind für den Schimmer des Ruhms, den Glanz der Erscheinung, den Reiz des Außergewöhnlichen stets am empfänglichsten. Auf der anderen Seite glaubte die Künstlerin der vergangenen Tage, größtentheils von den Freuden des Familienlebens geschieden, oft mit Mangel und Entsagung ringend, zu einem Ersatze der ihr versagten Genüsse in der Ungebundenheit von conventionellen Fesseln und der Freiheit ihrer Neigungen berechtigt zu sein. So gestalteten sich einst die zahlreichen bald flüchtigen, bald leidenschaftlichen, aber immer romantischen Verhältnisse, von denen uns die Blätter und Sagen aus einer erst jüngst entschwundenen Zeit zu erzählen wissen. – Jetzt ist es anders. Sängerin, Schauspielerin und Tänzerin, sie alle wollen heirathen, glänzend heirathen, zum wenigsten glänzende Namen, und die Anforderungen des Herzens müssen vor diesem Streben zurückweichen. Der heirathslustige junge Adel aber sieht in den verschwenderisch bezahlten Damen der Bühne wünschenswerthe Gegenstände einer Finanzspeculation und wirbt nicht mehr um ihre Liebe, sondern um ihre Hand. Es gehört dasselbe bereits zu der Ordnung des Tages, daß unsere Künstlerinnen von Ruf und vor allem von Geld arme Edelleute, zumeist Officiere, heirathen, und sie lassen sich nicht einmal durch den demüthigenden Umstand zurückschrecken, daß eine solche Verbindung den Mann nöthigt, aus dem Officierstande auszuscheiden.

Von diesem Schicksale blieb allein Graf von der Goltz, der Mann unserer Erhardt, verschont, weil der König die treffliche Schauspielerin nicht verlieren wollte, diese aber erklärte, falls ihr Mann den Abschied erhalte, nach Weimar übersiedeln zu wollen. Es war diese Heirath übrigens von beiden Seiten auf herzliche Neigung gegründet, und es knüpfte sich auch ein Stückchen Romantik daran. Um die Vorschrift oder das Herkommen (es weiß Niemand, welches von Beiden hier eigentlich maßgebend ist), wonach der Ehemann einer am Theater fungirenden Künstlerin nicht Officier bleiben darf, zu umgehen, hatten die beiden Liebenden sich heimlich im Auslande trauen lassen, und sie wußten ihre Verbindung so geschickt zu verbergen, daß Niemand auch nur ein Verhältniß zwischen ihnen ahnte. Zwei Jahre deckte dies Geheimniß den zärtlichen Bund – und daß dies in dem neugierigen und klatschsüchtigen Berlin möglich war, zeugt gewiß von der Schlauheit des Pärchens –, als eines Morgens die Zeitungen unter der Ueberschrift „Verspätet" die Heirathsanzeige und wenige Tage darauf die Meldung von der glücklichen Entbindung der schönen jungen Gräfin brachten. Das süße Geheimniß war also so lange bewahrt worden, als es überhaupt angänglich war. An lachenden und boshaften Bemerkungen fehlte es nicht; doch scheint mir die Mutter des Ehemannes das Richtige getroffen zu haben, als sie sich auf den freundlichen Vorwurf beschränkte, daß der Sohn nicht einmal sie zur Vertrauten gemacht habe. – Die ohne Consens geschlossene Ehe war übrigens nichtig, und es mußte auch in dieser Beziehung die Gnade des Königs angerufen werden.

Der angeführte Fall steht indessen ganz vereinzelt da, denn selbst der allbeliebten Pauline Lucca, oder richtiger Frau v. Rhaden, gelang es nicht ihren Mann in seinem Regimente zu halten, trotz der zahlreichen und angesehenen Gönner, die sich in ihrem Interesse verwendeten.

Das hier berührte Thema bietet so reichen Stoff, daß ich, um mich nicht in das Unendliche zu verlieren, abbrechen muß. Lassen Sie mich deshalb für heute mit der Erwähnung zweier Verbindungen aus dem hiesigen high Life schließen, die zwar im Verwandtschaftsgrade sich sehr nahe liegen, deren Entwickelung aber eine sehr verschiedene ist. Vor Kurzem verlobte sich der jüngste Sohn des Fürsten zu Sayn-Wittgenstein auf Wittgenstein mit der Tochter des berühmten Componisten Dreyschock, einer musikalisch hochbegabten Dame, der er freilich nichts als Hand und Herz zu bieten vermag, die aber gewiß ihren Werth haben, da er sie nicht gegen Schätze eintauscht. Den Gegensatz bildet die Heirath eines anderen Fürsten, der, als ihm die Schulden über den Kopf stiegen, sich nicht anders aus seinen Verlegenheiten zu retten wußte als durch die Heirath mit der Tochter seines Hauptgläubigers, des jüdischen Handelsmannes X., der übrigens über eine außergewöhnlich zahlreiche weibliche Nachkommenschaft zu verfügen haben müßte, wenn alle jungen Prinzen und Grafen, deren Wechsel er in der Tasche hat, diese in gleicher Weise einlösen könnten.




Ein Shakespeare-Apostel.

Seit L. Tieck’s Vorgange ist das Vorlesen Shakespeare’scher Dramen ein besonderer Kunstzweig geworden. Warum gerade der Shakespeare’schen Dramen? Sollte nicht die Kunst des Vorlesens, des schönen, reinen und ausdrucksvollen Sprechens sich ebenso gut, ja noch viel mehr an unseren deutschen Dichtern üben lassen? Unter den neueren Shakespeare-Vorlesern ist ganz besonders Rudolph Genée zu schnellem und großem Ruhme gelangt. Er erzielt ganz neue Wirkungen, nicht allein durch die ungewöhnliche Begabung für den lebendigen, dramatisch gefärbten Vortrag, sondern auch durch seine ganz eigenthümliche Methode, die er selbstständig sich dafür geschaffen hat. Er ist dramatischer Künstler und gleichzeitig Aesthetiker. Als Letzterer will er die Shakespeare’sche Poesie nicht unter dem Wuste eitler Auslegungen erdrücken, sondern den Dichter auf die Einfachheit seiner Riesengröße zurückführen und dadurch eben ihn verständlich und lebendig machen.

Gegen das Vorlesen von Dramen ist eingewendet, daß ja doch das Drama vor Allem für die plastische Darstellung bestimmt sei. Genée wendet dagegen ein: Aber Shakespeare’s Dramen sind von unserer Zeit durch einen Zeitraum von nahezu drei Jahrhunderten getrennt; Shakespeare schrieb für eine scenische Einrichtung der Bühne, die zu unserer modernen und überaus complicirten Bühne im stärksten Widerspruche steht. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, hat sich Genée eben eine besondere Form für den Vortrag dieser Dramen gebildet, eine Form, welche ihn befähigt, den vollen geistigen Gehalt jener merkwürdigen Schöpfungen wiederzugeben, ohne daß dadurch der bestehende Conflict mit unsrer modernen Scenerie fühlbar wird. Und eben deshalb, wegen dieser vermittelnden Form seines Vortrags liest Genée vor Allem Shakespeare.

Die Geschichte dieser Dramen in Deutschland ist eine höchst lehrreiche Geschichte des literarischen und theatralischen Geschmacks. Schon um 1600 brachten die „Englischen Komödianten“ Shakespeare’sche Stücke in Deutschland zur Aufführung. Aber unsere staatliche Zerrissenheit, deren Unheil durch den dreißigjährigen Krieg und den schmählichen westphälischen Frieden erst recht besiegelt werden sollte, ließ jene frühen Keime zu keiner weiteren Entwicklung kommen. Erst im Jahre 1741 wurde das erste Shakespeare’sche Stück (Julius Cäsar) in deutscher Uebersetzung dem Publicum bekannt gemacht.

Zwanzig Jahre später begann Wieland seine Shakespeare-Uebersetzung, und unser großer Lessing wies mit aller Energie seines hellen Geistes auf denjenigen Punkt hin, von welchem aus sich unsere von den französischen Classikern beeinflußte dramatische Literatur zu einer deutsch-nationalen entwickeln könne. Wie sich daran unsere Sturm- und Drangperiode schloß, wie die Dichter derselben brannten und versanken in der feurigen Gluth des über Deutschland wogenden Shakespeare-Genius, der zuerst in unserm nun wiedergewonnenen Straßburg den jugendlichen Goethe entzündete – dies Alles, und die fortwährenden Wandelungen, welche Shakespeare’s Dramen auf der deutschen Bühne durchzumachen hatten – findet man ausführlich und klar dargelegt in der unlängst bei W. Engelmann in Leipzig erschienenen „Geschichte der Shakespeare-Dramen in Deutschland“ von Rudolph Genée. Wahrlich ein reicher, neuer Schatz für unsere Literatur überhaupt, besonders für die Erkenntniß des befruchtenden Einflusses Shakespeare’s auf unsere Dichter, der schon lange vor dem dreißigjährigen Kriege durch englische Komödianten in Deutschland begann. Dies Buch allein würde Genée zum ersten unserer zahlreichen Shakespeare-Apostel erheben. Wie kam er dazu, es zu schreiben? Das nöthigt uns, das Leben Genée’s und dessen Entwickelung wenigstens kurz anzusehen.

Am 12. December 1824 in Berlin geboren, wo sein Vater [836] als Charakterdarsteller und Regisseur am alten königstädtischen Theater eine höchst geachtete Stellung einnahm, hatte sich Rudolph Genée von den Bänken des Gymnasiums zum grauen Kloster auf einen Stuhl im Hinterzimmer des Professor Gubitz befördert und schnitt in Holz. Beim ersten Dichter der Holzschneidekunst und dem mehr als fünfzig Jahre langen (erst jüngst verstorbenen) Theaterkritiker für die Vossische Zeitung gingen die Mimen und wir Literaten fleißig aus und ein. Dies brachte den jungen Eleven schnell vom Holzwege auf die Bretter, welche die Welt bedeuten, erst mit kleinen Bluetten auf verschiedene Bühnen, dann mit der phantastischen Komödie „Das Wunder“ auf das Berliner Hoftheater. Dies „Wunder“ war nicht nur des Glaubens, sondern auch sein liebstes Kind und bei Weitem die anerkannt beste Bühnendichtung Genée’s. Mit dem „neuen Timon“, „Bei Roßbach“ u. s. w. erschien er auf glücklichem Boden der Wirklichkeit; aber sein Genie drängte zu der wahren Entwickelung, die freilich erst nach mehrjährigen Kämpfen in journalistischer Thätigkeit, Redaction der Danziger Zeitung, und später der Herzoglichen Coburger, zur freien Blüthe hervorbrach. Schon in Coburg begann er kritisch-dramatische Shakespearevorträge. Sein „Frauenkranz“, psychologisch-ästhetische Schilderungen weiblicher Charaktere deutscher Bühnendichter, war eine gute Grundlage für diese Blüthe. Aber um immer und überall blos zu kommen, zu lesen und zu siegen, dazu gehört mehr. Einen Theil des Räthsels löst uns sein erwähntes Buch. Wie tief und gründlich hat er den Shakespeare von den Zeiten vor dem dreißigjährigen Kriege an durch die Geschichte und die Herzen deutscher Dichter ausgeforscht! Wie warm und klar pulsirt sein Geist aus dieser Gelehrsamkeit, aus seiner und dieser deutschen Dichter Begeisterung hervor! Diese tiefe Kenntniß und die hohe Begeisterung erklärt viel, aber noch nicht das Wesen der glänzenden Erfolge. In Berlin mußte er seine Vorträge drei Mal verlängern und, dringend eingeladen, auf einzelne Vereine und benachbarte Städte ausdehnen. Bald darauf verkündeten in Posen Theaterzettel, daß wegen des Genée’schen Vortrags ein berühmtes Gastspiel aufgeschoben werden müsse. In Dresden, wo seit ein paar Jahren Genée sein Domicil genommen, ist er mit seinen Erfolgen von Jahr zu Jahr in weitere Kreise gedrungen. Ebenso hat er ganz neuerdings in Leipzig so schnell und entscheidend zu siegen verstanden, daß – ein seltener Fall! – der große Saal der Buchhändlerbörse seine Pforten öffnen mußte, damit die Hörlustigen alle Platz finden konnten.

Rudolph Genée.

Diese Erfolge erklären sich aus Genée’s eminenter Begabung, Shakespeare’s Riesenschöpfung, die Niemand mehr auf der Bühne darstellen kann, dieses sprudelnde Spiel des tragischsten und lächerlichsten Humors aus seiner einzigen Persönlichkeit und der Methode seines Vortrags packend und plastisch zu dramatischer Geltung zu bringen. Zudem sind die gebildeten Geister unserer Zeit verschmachtet zwischen den Maculaturhaufen unserer Politik und schöngeistigen Strohdreschens, in diesen uniformirten Gesellschaften mit künstlich geschwollenen Hinterköpfen und Hintertheilen, wandelnden Modejournalfiguren und schwarzschwänzigen Schwippen, in diesen Theatern, wo entweder die zu hörende Dichtung durch Decorationsschwindel entwürdigt wird, oder Offenbach, Oper und Ballet Offenbarungen sind. Da kommt Genée und bringt immer auch das vollkommenste Personal von Shakespeare-Darstellern in sich selbst mit, Bühne, Verwandlungen – Alles und noch mehr. Er beginnt mit einführenden, einfachen Worten und erleuchtet und erwärmt die Zuhörerschaft für Würdigung der genialen Gestalten und Gedanken. Das Stück hat die und die besondere Wichtigkeit für unsere Bühne und Literatur, diese und diese psychologische, geschichtlich-tiefe Bedeutung. So und so hängen die einzelnen Dramen zusammen, beispielsweise Lear, Macbeth und Hamlet als Offenbarungen alt-nordgermanischer Entwickelung und Geschichte. Dabei wird auf die localen Farbentöne nordischer Landschaft hingewiesen.

Indem er zum Beispiel den geistigen Vorhang zum Hamlet hebt, läßt er unsern Blick über die Terrasse des Schlosses zu Helsingör schweifen. In kalter Nebelluft mit farblosem, gespenstischem Mondschein ruft die Wache weithin verhallend durch die nächtliche Stille: „Halt! Wer da?“ Damit sind wir mitten im Stück und begreifen dessen Gespenst. Die nun folgenden Dialoge und Personen hören und sehen wir Jeder auf seinem Phantasietheater. Der Tanz der Hexen Macbeth’s, wie sie auf öder, düsterer Haide zwischen Sümpfen wie Schatten auf- und niedersteigen, wird durch die schildernden Einleitungsworte dramatisch viel wirksamer als durch die größtentheils verfehlten Darstellungen auf der Bühne. Den grauenvollen Mord sehen wir nicht dargestellt; aber durch Genée’s Schilderung des Schloßhofes werden der Mörder und dessen geistige Urheberin, wie er sie nachher sprechen läßt, leibhaftiger als etwa durch Herrn Lehfeld und Mad. Wagner. Den Riesen unter Shakespeare’s Giganten, „Coriolanus“, kann Niemand auf der Bühne darstellen. Genée läßt ihn geistig über alle Häupter hervorragen, und die drei Volksscenen, wie die des Helden und seiner Mutter, ja das bloße Herannahen unerhörten, furchtbaren [837] Entsetzens gehen aus seiner einzigen Stimme persönlicher und individueller hervor als aus der einstudirtesten Gesellschaft. Dazu sein überraschendes Talent in Vorführung Shakespeare’scher Lustspiele. Er beginnt mit heiterer Plauderei und stimmt spielend das Zwerch- und Trommelfell zugleich, bis die Narren und Kammerkätzchen, fette Falstaffs und lustige Elfenvölkchen, jedes nach seinem Charakter, auf unseren geistigen Bühnen erscheinen und den überwältigenden Humor des Dichters zur Geltung bringen.

„Der Vortrag macht des Redners Glück“; bei Genée ist es die von ihm geschaffene und meisterhaft entwickelte Methode im Verein mit der Einfachheit und Klarheit der einleitenden und verbindenden Erklärungen, sodann sein Sprachorgan voll reichster Klangfülle in Höhe und Tiefe, in nie heiser werdender Kraft und Ausdauer und der wunderbarsten Modulationsfähigkeit, so daß er Dutzende von Personen männlichen und weiblichen Geschlechts in genau gehaltenen Unterschieden und selbst ganze Volksmassen durcheinander und sogar zugleich sprechen lassen kann. Letzteres Kunststück ward als der Wunder größtes gepriesen; Genée selbst nennt es blos einen kleinen Kunstgriff, den er beiläufig mit erlernt habe. Aber die Art, wie er ganze Volksmassen mit ihren verschiedenen Stimmen bald übereinander thürmt, bald durcheinander wirft, daß man sie deutlicher zu sehen und zu hören glaubt als in Wirklichkeit auf der Bühne, wie im Cäsar und Coriolan, das ist nicht blos ein Kunststück.

Ueberhaupt finden wir in der Shakespeare-apostolischen Thätigkeit Genée’s mehr als ein blos künstlerisches Verdienst. Er wirkt zugleich als der sittliche und ästhetische Befreier aus noch ärgeren Fesseln als denen, die einst den jungen Goethe und die deutsche Literatur einengten und welche Shakespeare brach.

Genée giebt uns in der Blüthe seines Ruhmes und edler, gesunder Persönlichkeit freudige Hoffnung, daß er an diesem Befreiungswerke und dem Aufbau neuer Tempel der Kunst und des Cultus und deutscher Freieinigkeit sich immer noch erfolgreicher betheiligen werde.

Wie weit entfernt Genée in der Ausübung seiner Kunst von der sich selbst genügenden Katheder-Weisheit ist, das zeigte sich recht beim Ausbruch unseres Krieges in Frankreich. Auf einer Erholungsreise in die bairischen Berge begriffen, traf ihn in München das Donnerwort: „Der Krieg ist erklärt!“ Sofort ging Genée in die nächste Volksversammlung, welche in dem stark erregten München stattfand. Nachdem mehrere politische Führer zu der Versammlung gesprochen, ergriff Genée das Wort und sprach mit ganzer Kraft der Begeisterung und des heiligen Zornes eine kleine, frisch seinem Herzen entströmte Dichtung, die mit den Versen schloß:

„Wer fragt nun: Ob Preußen-, ob Baierland,
Ob Schwaben oder ob Sachsen?
Ein einiger, fester, ein deutscher Stamm –:
So sind wir dem Feinde gewachsen.
Und wer kein Feigling, kein Bube ist,
Der sei ein Deutscher zu dieser Frist!“

Mit diesem Liede, wohl eins der ersten und kräftigsten, die der Krieg hervorgerufen, eröffnete Genée den daraus sich entwickelnden Cyclus seiner „Sturmlieder gegen den Franzosen“. Als er nach Dresden, wo er mit seiner Mutter und Schwester lebt, zurückgekehrt war, erging an ihn von Seiten der Dresdener „Liedertafel“ die Aufforderung, bei einer zu einem patriotischen Zwecke auf der Terrasse des „Waldschlößchen“ veranstalteten Production etwas zu sprechen. Es war am 6. August, und Genée brachte gleich ein halbes Dutzend seiner „Sturmlieder“ mit, die bei der Masse des Publicums eine ungeheure Wirkung machte. Die Begeisterung, die jeder neue poetische Apell an das deutsche Herz hervorrief, erreichte ihren Höhepunkt bei dem Gedichte, welches die schandvolle französische Lüge „Das Kaiserreich ist der Friede!“ brandmarkt und mit den Versen schloß:

„Nun vorwärts, Brüder, in’s Gefecht!
Und wenn der Himmel schützt das Recht,
Tönt’s bald im deutschen Liede:
Das Kaiserreich – der Friede!

Minutenlang brauste hiernach der Jubelruf der Versammlung weithin über die Elbe, und die Schlagworte seiner Gedichte, welche fast alle Wahrheit geworden waren, erlangten in den Kreisen, wo Genée durch die hinreißende Gewalt seines Vortrages sie lebendig machte, eine außerordentliche Popularität. Für das Münchener Hoftheater hatte er im Einverständnis mit dem trefflichen Intendanten v. Perfall Heinrich v. Kleist’s gewaltige „Hermannsschlacht“ bühnengemäß eingerichtet und für die politische Situation der Gegenwart umgewandelt. Auch der Eindruck dieser Aufführung war dort ein zündender. Er selbst trug in Wien noch während des Krieges die „Hermannsschlacht“ im akademischen Gymnasium vor und begeisterte damit die deutsch empfindenden Herzen.

Ein so rein sich äußerndes deutsches Mannesgefühl war bei einem Shakespeare-Gelehrten natürlich, der, wie Genée, der modernen verdunkelnden und trockenen, in allerlei eingeschachtelten Systemen sich hinschleppenden Aesthetik mit aller Kraft entgegenarbeitet.

Nach dem wiedergewonnenen Frieden, den uns das deutsche Kaiserreich erhalten soll, kehrte Genée von den Rostris in den Hörsaal zurück. Zunächst aber nahm er seine Friedensthätigkeit wieder damit auf, daß er dem Sieg des deutschen Geistes seine Huldigung darbrachte, in den Vorträgen des Goethe’schen „Faust“ – bis er dann wieder zu demjenigen gelangte, der in der Sturm- und Drangzeit, in der gährenden Epoche des jugendlichen Faust-Goethe, uns im Kampfe gegen die französische Aftermuse ein so kräftiger Helfer war: zu Shakespeare! – Treffend sagt Genée in seinem soeben erschienenen neuen Buche („Shakespeare. Sein Leben und seine Werke.“ Bibliographisches Institut.) über den britischen Dichter: „Nur aus einer großen und kraftvollen Nation konnte eine solche Erscheinung hervorgehen; aber es muß auch eine gute und zum Großen berufene Nation sein, die – wie die deutsche – einen solchen Geist sich anzueignen verstand.“

Und in diesem Sinne möge Genée fortwirken und die Lorbeeren nehmen von einem für die Einheit und Freiheit und den wehrkräftigen Frieden gesicherten Volke.

H. Beta.




Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.

Nr. 10. Der unheimliche Gerichtsschreiber.

Es war in Sens und es dunkelte schon, als wir in die Stadt einzogen durch stattliche Straßen und wahrhaft großartige Plätze, die von städtischer und ländlicher Bevölkerung außerordentlich belebt waren. Tags zuvor war die Stadt der Schauplatz leidenschaftlicher Excesse gewesen. Die Blaukittel hatten preußische Post- und Telegraphenbeamte, die den Dienst dort einrichten sollten, aus den Wagen und von den Pferden gerissen, mißhandelt und würden sie getödtet haben, hätte nicht der Maire dieselben der Wuth des Pöbels entrissen, indem er sie gefangen setzte; nur dadurch war es ihm gelungen, sie vor den Händen der aufgeregten Volksmasse in Sicherheit zu bringen. Auch jetzt bei unserem Einzuge schauten uns aus jedem Blicke, aus jeder Miene Haß und Drohung entgegen, aber auch aus jedem Fenster, jeder Thür zugleich unsere Pickelhauben, und darum war die Sache nicht so sehr ängstlich, obwohl Gerüchte gingen, daß trotzdem in der Umgegend mehrere von unseren Soldaten verschwunden seien.

Mein Quartierbillet lautete auf einen Gerichtsschreiber So und So. Das kleine einstöckige Haus lag zwar am städtischen Boulevard, aber in einer nichts weniger als freundlichen Umgebung. Hohe, entlaubte Bäume warfen düstere Schatten auf das einstöckige, schmutziggrau angestrichene Haus, und die kahlen, dürren Aeste streckten sich über das Dach desselben wie Dämonen nach einer ihnen verfallenen Menschenseele aus. Das dürre Laub lag vor dem Hause dicht aufgeschüttet, und jeder Schritt verursachte ein eigenthümliches Rauschen und Rasseln. Anmuthig war der Eindruck eben nicht, den ich äußerlich von dem Quartier erhielt, in welchem ich die nächsten achtundvierzig Stunden zubringen sollte, noch weniger aber, als auf mein Schellen sich die Pforte des Hauses wie in scheuer Furcht öffnete und ein paar große schwarze [838] stechende Augen mich anstarrten. Ein Mann von mittlerer Größe stand mir gegenüber, in einen alten Winterpaletot und einen dichten Shawl eingehüllt, mit blauen Lippen und eingefallenen aschgrauen Wangen und am ganzen Körper vor Kälte schlotternd. Auf meine Frage nach dem Herrn des Hauses stellte er sich mir als solchen vor und fügte seinerseits die Frage bei, ob ich allein sei, ob ich keinen Burschen habe. Als ich Ersteres bejahte und Letzteres verneinte, konnte ich bemerken, wie durch seine Züge ein Ausdruck der Befriedigung ging, der mich befremdete. In gleichem Augenblicke hatte er schon die Thüre hinter mir in’s Schloß geworfen und die Riegel vorgeschoben und das Alles in einer so hastigen, vehementen Weise, als wollte er damit ausdrücken. „Nun bist Du in der Falle.“

In unangenehmer, serviler Haltung schritt er mir durch einen engen dunklen Gang voran und öffnete dann eine Thür. Das Zimmer, in das er eintrat, bezeichnete er als das meinige. Es kam mir daraus ein kalter und dumpfer Hauch entgegen. Trotz der vorgeschrittenen Dämmerung konnte ich noch einen vollständigen Ueberblick über die Umgebung des Hauses von der Rückseite gewinnen, denn nach dieser hin war das Zimmer gelegen. Von dem Fenster sah ich auf einen kleinen Hof, von da auf einen Garten, der, ganz abgesehen von der rauhen Jahreszeit, eine wahre Wüstenei war. Hohe Backsteinmauern bildeten von drei Seiten die Einfassung des ganzen Grundstückes und isolirten dasselbe von aller weiteren Umgebung in einer Weise, die den unheimlichen Eindruck, den Haus und Herr auf mich beim ersten Erscheinen gemacht hatten, noch bedeutend vermehrten. Links von meinen Fenstern und von denselben in einen rechten Winkel ausspringend lag eine Art Schuppen mit einem ansteigenden Dache, unter dessen Bodenräumlichkeiten wahrscheinlich Heu und Stroh aufbewahrt wurde. Der Zugang zu demselben geschah von außen durch einen erkerartigen Vorsprung; das sah man an der Leiter, die an diesen angelehnt war. Nachdem ich mich so orientirt hatte, konnte ich nicht umhin, meinem neuen Wirthe scherzend die Bemerkung hinzuwerfen, daß man hier wie in einen Kerker eingeschlossen sei. Treffender, wenigstens für mein Gefühl, wäre die Bezeichnung „Räuberhöhle“ gewesen. Mein Gegenüber, darob betreten, erwiderte:

„O, fürchten Sie nichts, Sie sind hier ganz sicher, es wird Ihnen nichts zustoßen.“

„Wie kommen Sie dazu, mir Das zu sagen?“ war meine Antwort, wobei ich ihn scharf fixirte. „Wenigstens war das nicht die Antwort auf meine Bemerkung, die nur im Scherze gemeint war. Ich bin nicht im Mindesten in Sorge darüber, daß mir etwas zustoßen würde. Ich schlafe bei offenen Thüren, ich habe weder einen Revolver, noch sonst eine Waffe bei mir, aber fünfzigtausend Soldaten sind vor uns, fünfmal so viel folgen uns, und wehe dem, der einem Deutschen auch nur ein Haar krümmte!“

„Wie, mein Herr,“ versetzte der Greffier, wie absichtlich von diesem Gegenstande ablenkend, „Sie wären nur dreihunderttausend Mann? O weh, dann wird es Ihnen schlecht gehen; dann werden Sie Alle dem sichern Untergange geweiht sein.“

„Wie so meinen Sie das?“

„O, unten an der Loire steht ein französisches Heer, eine Million stark, und das wird über Sie herfallen und Sie Alle, Alle vernichten.“

„So, also eine Million? Haben Sie schon eine Million Soldaten gesehen?“

„Das wohl nicht, aber –“

„Nun, ich auch nicht, und bis Sie sie nicht Alle gezählt haben, brauchen Sie sich auch nicht wegen uns zu beunruhigen.“

Die Armee des Prinzen Friedrich Karl war aber damals nicht dreihunderttausend, wie ich vorgab, sondern höchstens fünfzigtausend Mann stark, aber durch die geniale Art ihrer Verwendung, namentlich der Cavallerie als Avantgarde, hatte sie den Anschein der sechsfachen Anzahl, als sei sie ein Heer von Geistern, das Rast und Ruhe, überhaupt alle gewöhnlichen Bedürfnisse des Leibes nicht kenne, das durch die Lüfte angebraust käme, um im entscheidenden Augenblicke in den Gang der Dinge einzugreifen und den Lorbeer des Sieges zu erringen.

Mein Wirth war Greffier en retraite, das heißt, er hatte die Gerichtsschreiberstelle – derartige Aemter sind in Frankreich verkäuflich – ebenfalls erkauft und nach etwa fünfzehnjähriger Thätigkeit mit einem hübschen Profit wieder losgeschlagen, so daß er nun das Ziel französischen Strebens und Lebens erreicht hatte, im Besitze von hunderttausend Franken dreiprocentiger Rente war und nun einen Bruchtheil jener großen Classe in Frankreich bildete, die den größten Theil ihres Lebens in edlem Nichsthun verbringt, und natürlich vollkommen Muße hat, über alle Einrichtungen des Staates, der sie noch füttert, in allen Tonarten frischweg zu raisonniren. So auch mein Wirth; den Greffier hatte er abgegeben, aber die Schreiberseele war geblieben. Voll Neid und Bosheit begeiferte er Alles, was über ihm stand. Er sprach fast nur in Zischlauten, und wenn er durch das Zimmer ging, konnte er keine gerade Linie einhalten, sondern bewegte sich immer in Schlangenwindungen, dabei blitzten seine schwarzen, stechenden Augen und seine Lippen bewegten sich wie von leise gesprochenen Verwünschungen.

Ein würdiges Seitenstück zu dem Haupte der Familie bildeten die übrigen Glieder desselben, die Frau und der einzige Sohn von etwa dreizehn Jahren. Die Frau war klein, gelb und mager und ganz in spitzen Winkeln geschaffen; wenn sie sich bewegte, hatte man das Gefühl der Gefahr, von Stecknadeln gestochen zu werden; den Jungen hätte man als Azteken auf dem Jahrmarkte sehen lassen können. In dieser holden Gesellschaft saß ich nun bei Tische, und um das Maß der Unbehaglichkeit voll zu machen, mußte ich auch noch Kaninchen essen. Von allen französischen Quartieren ist mir keine so unangenehme Erinnerung geblieben, wie von dem eben geschilderten in Sens, und in keinem hatte ich auch eine solche, ich will nicht sagen schreckliche, aber wenigstens keine so unruhige Nacht verlebt, wie die zweite meines dortigen Aufenthaltes.

Bei Tische hatte mir mein Quartiergeber erzählt, daß sein Bruder Geistlicher in einem Dorfe in der Nähe von Sens sei; ich hatte von diesem Dorfe schon früher gehört und wußte, daß es in der Nähe von Sens liege; ich weiß indeß nicht mehr zu sagen, ob ich in dem großen Reisebuche über Frankreich von Joanne, oder in einer andern Quelle darüber gelesen hatte.

„Ah,“ bemerkte ich, „das ist ja dasselbe Dorf, in welchem sich eine berühmte in Holz geschnitzte Kreuzabnahme von einem alten Colmarer Holzschnitzer befindet.

„Woher wissen Sie das?“ frug mich mein Wirth fast erschrocken.

„Woher?“ sagte ich, „aus Büchern.“

„Diese Prussiens kommen hinter Alles,“ sagte er, halb in Schrecken, halb in Verzweiflung zu seiner Frau, wenn auch leise, so doch laut genug, daß ich es, Dank meinem guten Gehör, deutlich vernehmen konnte.

In der ersten Nacht schlief ich ganz gut, in der zweiten aber, die dem weiteren Vormarsche des Hauptquartiers voranging, wurde ich Nachts plötzlich durch ein Geräusch aus dem Schlafe geweckt. Als ich erwachte, war es momentan still, so daß ich glaubte, lebhaft geträumt zu haben, und mich auf die andere Seite legte, um wieder einzuschlafen. Jetzt wiederholte sich das Geräusch und ich konnte ganz klar zwei männliche Stimmen vernehmen; sie kamen vom Hofe her, die Personen konnten nicht weit von meinen Fenstern sein. Ich sprang aus dem Bette, um zu lauschen. Vorher wollte ich nach den Schwefelhölzern greifen, um durch einen Strich und eine momentane Flamme nach der Uhr zu sehen, denn ein Licht wollte ich absichtlich nicht machen; es wäre auch nicht möglich gewesen, es waren keine Schwefelhölzer da. In der vorhergehenden Nacht hatte ich einmal Licht gemacht, da standen sie auf dem Nachttische, jetzt waren sie weg, vielleicht aus Absicht. Draußen schlug die Uhr von der Kathedrale jetzt ein Uhr. Ich ging an das Fenster, um es zu öffnen, und das Zwiegespräch da draußen zu belauschen. Leise öffnete ich es. Vor den Fenstern waren noch Jalousien, so dicht geschlossen, daß der Blick nicht hinaus nach dem Hofe dringen konnte, hören jedoch konnte ich ganz gut, auch die Stimme meines Wirthes ganz deutlich unterscheiden, die andere Stimme war mir fremd.

„Reich’ mir den Helm des Soldaten hinauf! So! und nun liegt noch der Säbel und der Rock unten; gieb mir auch das herauf. Denn wenn diese Preußen auf die Spur kommen, wäre Alles verloren!“

Was war das? Was sollte das bedeuten? Ohne Zweifel versteckten sie Armaturstücke und jedenfalls solche von unseren Soldaten. Warum aber? In welcher Absicht? Darüber sollte ich nun nicht länger im Zweifel bleiben, oder wenigstens glaubte [839] ich es damals in den ersten Momenten der Aufregung. Nach einigen Minuten des Schweigens konnte ich wieder die Stimme meines Wirthes vernehmen:

„So! nun reiche mir auch den Kopf herauf, dann den Rumpf. Es ist gut, daß wir die beiden Beine abgelöst haben, denn so können wir ihn besser verstecken.“

Welche Entdeckung! Entsetzlich! In diesem Augenblick gelang es mir, einen der Schieber der Jalousien loszumachen und einen Ausblick nach außen zu gewinnen. Ich sah meinen Wirth in seinen dicken Paletot gehüllt, mit der weißen Nachtmütze auf dem Kopfe, auf einer Leiter stehend, unmittelbar vor der Oeffnung des ausspringenden Erkers, die nach dem Bodenraum des Schuppens führte; in seiner Hand hielt er ein bleiches menschliches Todtenhaupt, das er in die Oeffnung des Erkers verbarg; unten an der Leiter stand eine zweite männliche Gestalt, deren Umrisse aber zu sehr im Dunkel der Nacht verschwanden, als daß ich sie genau hätte unterscheiden können; aber das sah ich ganz klar und bestimmt, wie diese Gestalt dem auf der Leiter Sitzenden jetzt ein nacktes Menschenbein hinaufreichte, dann ein zweites und zuletzt den Rumpf eines menschliche Körpers. Dann verschwand der Greffier oben in der Oeffnung, um diese Theile des menschlichen Körpers wahrscheinlich zu verstecken; nach zehn Minuten erschien er wieder und sagte, die Leiter herabsteigend, zu dem unten Harrenden:

„So! nun ist’s geschehen, nun sollen sie ihn hinter Heu und Stroh suchen.“

Darauf gingen sie Beide in das Haus zurück. Ich war in der größten Aufregung. Alles, was ich gehört, was ich gesehen hatte, ließ mich auf ein entsetzliches Verbrechen schließen, auf einen Meuchelmord, den man an einem unserer Soldaten begangen hatte, und dessen Spuren man in den einzelnen Körpertheilen, in den Monturstücken zu verbergen bemüht war. Ueber die Richtigkeit dieser meiner Auffassung glaubte ich keinen Augenblick mehr in Zweifel sein zu können. Was sollte ich in dieser Lage thun? Lärm machen und die Sache an betreffender Stelle gleich zur Anzeige bringen? Das wäre unter den gegebenen Verhältnissen eine Unklugheit gewesen. Ich befand mich in einem fremden Hause, das jedenfalls gut verschlossen war und aus dem ich ohne Hülfe meines Wirthes nicht hätte hinauskommen können. Wie leicht hätte dieser meine Absicht wittern können! Was dann geschehen wäre, wer hätte Solches nach den Vorgängen, deren Zeuge ich war, vorausbestimmen können? Der Greffier hatte noch einen Spießgesellen bei sich, von dessen Dasein im Hause ich noch keine Ahnung gehabt, und ich war allein und ohne Waffen. Das Gerathenste war also, alle weiteren Schritte auf den nächsten Morgen zu verschieben, aber daß ich in dieser Nacht der Erquickung durch den Schlaf wenig mehr theilhaftig wurde und daß die kurzen Perioden desselben von den tollsten Träumen durchtobt waren, das wird mir Jedermann gern glauben. Am Morgen stand mein Entschluß fest: ich wollte die Sache beim Obercommmando zur Anzeige bringen. Ehe ich aber diesen Schritt that, wollte ich mich noch einiger Einzelnheiten versichern, namentlich mich in der Localität ganz genau orientiren, vor Allem aber meinen Wirth selbst noch beobachten; dieses konnte aber nur beim Frühstück geschehen, wo ich mit ihm zusammentreffen mußte. Ein günstiger Umstand kam für mich hinzu, daß vor Beginn desselben neue Einquartierung, sechs Mann und dazu ein Unterofficier, im Hause eintrafen. Die Leute frühstückten in einem eignen Zimmer, Letzterer mit dem Herrn des Hauses. Dieser Succurs war mir sehr angenehm.

Ich betrat mit dem Unterofficier das Eßzimmer, natürlich ohne von den Entdeckungen, die ich in dieser Nacht gemacht hatte, vorläufig das Geringste zu erwähnen. Die Anwesenheit eines Landsmannes aber konnte mich dem Wirthe gegenüber nur sicherer und in meinen Nachforschungen rückhaltsloser machen. Im Eßzimmer war zu meiner Ueberraschung außer meinem Quartiergeber noch ein zweiter Herr anwesend, ein Geistlicher, den mir der Greffier als seinen Bruder vorstellte. In ihm erkannte ich den Helfershelfer. Also auch das geistliche Gewand hatte sich mit Blut befleckt und vor mir hatte ich keinen Diener Christi mehr, sondern einen Wahnsinnigen, dem der Fanatismus die Mordwaffe in die Hand gedrückt hatte! Das waren meine Gedanken, als mir das neue Mitglied dieses würdigen Hauses vorgestellt wurde. Es war ein furchtbar peinliches Gefühl für mich, mit Leuten an einem Tische sitzen zu müssen, deren Hand in meiner Phantasie noch vom Blute rauchte, und wenn mein Wirth mit gieriger Hand einen Kaninchenschenkel aus der Platte nahm – Kaninchen gab es immer und die Schenkel schien er sich mit Vorliebe auszusuchen –, so hatte ich immer das Bild vor mir, wie er oben in der weißen Nachtmütze auf der Leiter stand und das Todtenhaupt in der Hand hielt. Diesen Eindruck konnte ich nicht loswerden, dadurch wurde ich wortkarg, und je weniger ich sprach, desto mehr suchte der Greffier die Unterhaltung zu beleben. Er brachte alle möglichen Themata auf’s Tapet und zuletzt kam er auf die nächste und natürlichste Frage, wie ich geschlafen habe?

„O, nicht sehr gut!“ war meine Antwort. „Ich wurde im Schlafe durch Stimmen gestört.“ Bei diesen Worten konnte ich bemerken, wie das blasse Gesicht des Greffiers noch blässer wurde und er mit seinem Bruder einen bedeutungsvollen Blick wechselte. „Ich glaube sogar ganz sicher, Ihre Stimme erkannt zu haben,“ fuhr ich fort.

„Die meine?“ versetzte stotternd mein Wirth und der Bissen, den er sich genommen hatte, blieb ihm im Halse stecken, so daß er laut zu husten anfing, feuerroth wurde und ein paar Minuten hingingen, bis er wieder sprechen konnte. „Verdammt, es ist mir ein Stück Fleisch in den Kehlkopf gekommen. Das Fleisch ist heute so hart; finden Sie es nicht auch? Essen Sie überhaupt die Kaninchen gern?“

Diese malitiöse Frage versetzte mich in eine gelinde Wuth und ich beschloß, ihn dafür zu strafen.

„Ja, Ihre Stimme glaubte ich ganz deutlich erkannt zu haben,“ wiederholte ich, ohne auf die von ihm beabsichtigte Ablenkung vom Gespräche einzugehen. „Ich konnte sogar noch eine zweite unterscheiden, jedenfalls“ – wandte ich mich an den Geistlichen – „wird es die Ihrige gewesen sein, denn nur Sie Beide befanden sich während dieser Nacht in dem Hofe.“

„Sie haben gesehen?“ versetzte mit dem Ausdrucke des Entsetzens der Geistliche.

„Aber die Jalousien waren doch ganz fest verschlossen!“ sagte fast zu gleicher Zeit mein Wirth und dabei konnte ich ihm ansehen, wie sehr er im nächsten Augenblick diese Worte, die ihn verriethen, bereute.

„Ich bin überzeugt,“ fuhr ich fort, „daß Sie alle Ursache hatten, bei dem Werke, was Sie in dieser Nacht vorhatten, keine Zeugen zu haben, und die Persiennes recht fest verschlossen zu halten – aber ich habe das kleine Brett doch losgekriegt.“

Vielleicht wäre ich in meinen Enthüllungen nicht so weit gegangen, ohne die bereits erwähnte Anreizung, ohne den deutschen Vaterlandsvertheidiger, der an meiner Seite saß, sich das Frühstück ganz gut schmecken ließ und jetzt nur über die plötzliche Veränderung in den Mienen der zwei Franzosen etwas befremdet ward. Von dem Inhalte unserer Conversation verstand er nichts, da wir französisch sprachen und er mir vorher erklärt hatte, daß er nur einige Worte Französisch wisse.

„O mein Herr, um des Himmels willen, sagen Sie nichts, verrathen Sie nichts, sonst ist Alles verloren,“ stammelte der Geistliche.

„Wie, mein Herr?“ rief ich entrüstet aus, „Sie können auch noch glauben, daß ich eine so verruchte That mit Schweigen übergehe, daß ich dadurch zu Ihrem Verbrechen auch noch ein zweites begehen würde?“

„Verbrechen?“ wiederholte der Greffier mit langgezogenem Tone und verblüfften Mienen. „Das gerade nicht – die Sache ist in der besten Absicht geschehen.“

Das war denn doch zu viel! Einen Menschen zu tödten, zu zerstückeln, darin wollten diese Menschen noch eine gute Absicht erblicken. Freilich bei der Verwirrung alles gesunden Gefühls, die damals im französischen Volke herrschte, konnte das nicht Wunder nehmen. Ich fand in diesem Augenblicke keine Worte, um meine Entrüstung laut werden zu lassen und es war auch sehr gut, denn dadurch wurde ich abgehalten, mir den Franzosen gegenüber eine Blöße zu geben.

„Wirklich in der besten Absicht, wie mein Bruder sagt,“ nahm der Geistliche das Wort. „Die Sache hängt so zusammen. Mein Bruder benachrichtete mich gestern Morgens, daß unser berühmtes Kunstwerk, das Ziel der Andacht von Tausenden aus der Umgegend, in Gefahr sei.“

„Ja, mein Herr,“ fügte der Greffier bei, indem er sich an [840] mich wandte, „das habe ich mir erlaubt meinem Bruder durch einen Extraboten bekannt werden zu lassen. Sie erwähnten – verzeihen Sie, daß ich das Ihnen so sage – der Kreuzabnahme, dieses berühmten Kunstwerks, in so eigenthümlicher und angelegentlicher Weise, daß ich daraus schloß, die Preußen hätten es auf das Werk abgesehen, und wollten es nach Berlin bringen, weil es wirklich etwas Außerordentliches ist, und Ihre Landsleute so etwas wohl zu würdigen wissen.“

„Schnell war ich entschlossen,“ nahm der Geistliche das Wort auf, „dem Rathe meines Bruders zu folgen und es in Sicherheit zu bringen. Der beste Ort war in Mitte der Preußen, hier in Sens. Ich ließ erst die heilige Mutter, die unten am Kreuze stand, dann die römischen Kriegsknechte mit Helm, Schwert und Waffenröcken und zuletzt den Körper des Heilands selbst auseinandernehmen, was ganz gut ging, die einzelnen Stücke dann in Säcke packen, auf einen Wagen laden, mit Heu und Stroh überdecken und so gestern hierherfahren. Bei Einbruch der Nacht kamen wir hier an und die Nacht selbst benutzten wir, um diese höchste Zierde unseres Dorfes auf dem Boden des Schuppenanbaues zu verbergen. Wenn ich Ihnen, mein Herr, noch hinzufüge, daß dieses Bildwerk das Wahrzeichen, das Heiligthum unseres Ortes ist und einen großen Theil des Jahres über die Erwerbsquelle meiner armen Campagnards bildet, so werden Sie wohl begreifen, warum ich es vor den Ihrigen zu retten suchte, und diese meine That nicht mehr als eine ruchlose That, als ein Verbrechen bezeichnen.“

„Allerdings nicht,“ war meine Antwort, „und ich muß gestehen, daß ich einen zu harten Ausdruck gebraucht habe, das kommt aber davon her, daß ich das Französische nicht gut spreche.“

„O doch – doch, mein Herr,“ versetzte der Geistliche artig, „aber vielleicht haben Sie in der fremden Sprache nicht gleich das richtige Wort gefunden.“

„Das ist’s, mein Herr Pfarrer – ich habe nicht gleich das richtige Wort gefunden.“

„Sie können sich an dem betreffenden Ort,“ bemerkte der Geistliche, „jeden Augenblick von der Wahrheit meiner Angaben überzeugen. Steigen Sie die Leiter hinauf und Sie werden Alles so finden, wie ich gesagt habe.“

„O! das ist durchaus nicht nöthig,“ versetzte ich, „ich glaube Ihnen vollkommen. Ich habe mich in der Nacht ja selbst überzeugt, indem ich sah, wie Sie Ihrem Bruder die einzelnen Holzglieder des heiligen Leibes hinaufreichten.“

„Und Sie werden nichts sagen, Sie werden keine Anzeige machen?“ frug in ängstlicher Bekümmerniß der Bruder des Greffiers.

„Fällt mir nicht ein, mein Herr. Lassen Sie das Werk des alten Elsässer Künstlers so lange in seiner Verborgenheit, als Sie es zu seiner Sicherheit nöthig glauben, und holen Sie es dann wieder heim auf Ihr Dorf, zur Erbauung und Andacht Ihrer Gläubigen, und möge durch die Gefahr, der Ihr Heiligthum ausgesetzt war, der Glaube an dessen Wunderthätigkeit sich erhöhen und den Wohlstand Ihrer Gemeinde vermehren.“

So glaube ich, mich mit guter Manier aus einer Affaire gezogen zu haben, in der mich meine Phantasie zu weit geführt hatte. Mein Wirth in Sens hat wahrscheinlich heute noch keine Ahnung, welchen Grad der Bluterhitzung der unschuldige Vorfall in mir bewirkt hatte. Ich sagte ihm natürlich auch nichts davon; aber froh war ich, als der Befehl zum Abmarsch kam und ich das Haus des unheimlichen Greffiers hinter mir hatte.

Georg Horn.




Blätter und Blüthen.

Neuer Schwindel. Von einem Freude der Gartenlaube, einem Gutsbesitzer, geht uns folgender Brief zu, den er vor einigen Tagen empfing:

„Darmstadt, den 27. November 1871.

Ew. Hochwohlgeboren erlaube ich mir eine Mittheilung zu machen, deren Benutzung für Sie, für Ihr Gut und für die ganze Umgegend von größter Wichtigkeit werden müßte. Anonymen Mittheilungen ist allerdings zu mißtrauen, doch giebt es keine Regel ohne Ausnahme, und so zwingt auch mich die nothwendige strenge Geheimhaltung der Angelegenheit, welche ich Ihnen vortragen will, bis zu weiterer Verständigung anonym zu bleiben. Ich erlaube mir zur Sache überzugehen.

Ich habe eine Erfindung gemacht, welche es ermöglicht, auf einem Gute, welches so geeignet gelegen ist, wie das Ihrige, das daselbst befindliche Trink-, Quell- oder Flußwasser an einer geeigneten Stelle des Gutes in Gestalt einer natürlichen Mineralquelle hervortreten zu lassen.

Die Verwandlung des gewöhnlichen Wassers in Mineralwasser kann und soll auf eine solche Weise geheim geschehen und geheim gehalten werden, daß die künstliche Mineralquelle von jedem nicht in das Geheimniß Eingeweihten für eine natürliche gehalten werden muß, für welche sie auch ausgegeben und zum Trinken, Versenden und Baden gebraucht werden soll und kann.

Die künstliche Mineralquelle muß wie eine natürliche Mineralquelle, ohne irgend beim Publicum Aufsehen zu erregen, zu Tage treten, sehr heilkräftig sein, zum Trinken, Versenden und Baden benutzt werden können, also im Stande sein, Ihr Gut in kürzester Zeit in einen Curort ersten Ranges zu verwandeln. Den Grad des höheren Ertrages Ihres Gutes, wenn Sie dasselbe auf diese Weise in einen Curort umwandeln, werden Sie selbst bemessen können und die ungeheure Tragweite dieser Erfindung einsehen.

Die erste Einrichtung und die jährlichen Unterhaltungskosten der künstlichen, für eine natürliche auszugebenden und zu benutzenden Mineralquelle belaufen sich nur auf einige hundert Gulden. Arbeit ist fast keine damit verbunden. Mitwisser des Geheimnisses sind unnöthig. Man kann es einrichten, daß man nur alle vier bis sechs Wochen einmal nachsehen muß.

Die Erfindung ist im Kleinen wie im Großen hinlänglich erprobt! Ich habe sie in einem Manuscript niedergelegt und demselben die genauesten Zeichnungen, Berechnungen und Nachweise beigefügt, so daß dies Manuscript Jeden ohne alle Vorkenntnisse in den Stand setzt, innerhalb zwei Tagen die Erfindung selbstständig auszubeuten. Wenn Sie diese Erfindung interessirt, so kann sie Ihnen gegen eine Abfindungssumme von tausend Gulden überlassen werden (sage Ein Tausend Gulden rheinisch).

Ich erkläre mich bereit, Ihnen das Manuscript franco einzusenden, wenn Sie mir vorher Ihr Ehrenwort verpfänden, es entweder längstens innerhalb acht Tagen nach Empfang unter dem Versprechen strengster Discretion zurückzusenden, oder, wenn Sie es behalten und benutzen wollen, mir innerhalb acht Tagen tausend Gulden rheinisch einzusenden.

Zu jeder weiteren Erläuterung, deren Sie aber nach dem umfassenden, deutlich abgefaßten Manuscript schwerlich bedürfen, würde ich stets bereit sein, und die Anonymität, welche Ihnen nun sehr verzeihlich erscheinen möchte, fallen lassen. Schließlich bemerke ich, daß gerade die Winterszeit die beste Jahreszeit ist, die Etablirung einer künstlichen Mineralquelle zu bewerkstelligen, welche dann im kommenden Frühjahr sich schon verwerthen würde.

Ihre gefällige Entschließung wird mir sicher zukommen unter der Adresse A. Z. 24. Herrn Langweiler, Kirchstraße 21, Darmstadt.“


Für alle Kriegsleute und Kriegsfreunde dürfte kaum ein prachtvolleres und gediegeneres Festgeschenk auf den Weihnachtstisch kommen als die nunmehr complet gewordene Weber’sche „Illustrirte Kriegs-Chronik“. Sowohl die Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Darstellung des weltbewegenden Krieges wie die ganz vortrefflichen Schlachtenbilder, Pläne, Karten und Portraits, die fast jede Seite des großen Foliobandes zieren, machen dieses Buch zu einer wirklichen Chronik, die uns in schönster Form die gewaltigen Ereignisse der jüngstvergangenen Jahre vergegenwärtigt und durch Wort und Bild zu erläutern und zu erklären versteht. Die Kriegsbilder namentlich erhalten dadurch einen erhöhten authentischen Werth, daß sie fast sämmtlich an Ort und Stelle und zwar von tüchtigen und anerkannten Künstlern und nach den besten Quellen aufgenommen wurden.




Ueber Michael Pohl haben wir eine bestimmte Nachricht durch die Güte des Herrn Dr. med. Wilhelm Schulze in Jena, welcher denselben noch Ende Juni 1870 in New-York sah. Er ist dort verheirathet, hat mehrere Kinder und eine so tüchtige Frau, daß sie ihn, der sein Schmiedehandwerk nur mit Selbstschonung betreibt, mit ernährt. Dies und seine Adresse haben wir dem alten Vater mitgetheilt. Uebrigens macht die Gartenlaube da wieder die wahrhaft empörende Erfahrung, ihre Leser wegen eines Menschen beunruhigt zu haben, dem es zwölf Jahre lang eben nur nicht einfällt, eine Zeile an die alten Eltern zu schreiben. Gehört denn etwa gar solche Herzensverhärtung zum deutschen Amerikanerthum?


Kleiner Briefkasten.

A. B. in Berlin. Ein Schriftsteller dieses Namens ist uns nicht bekannt. Der Verfasser des von Ihnen angeführten Gedichts ist, wenn wir nicht irren, im vorigen Jahre gestorben.

E. in Ch. Nein.

Nr. 4 in Jeßnitz. Wir sollen auch noch dafür Sorge tragen, daß Ihnen die Gartenlaube ohne Tintenflecke zukommt? Sie meinen, wir haben wohl gar nichts Dringenderes zu thun, Sie sonderbarer Schwärmer? Warum wenden Sie sich nicht an die Buchhandlung, welche Ihnen das Exemplar liefert?

H. L. Was in unseren Kräften steht, haben wir immer gern gethan; aber Sie müssen uns doch erst Näheres mittheilen.

M. L. Die Erzählung „Meine Tante Therese“ ist von Temme und im Jahrgang 1863 abgedruckt.

S. S. in Prag. Wir haben Ihren Brief an Levin Schücking selbst geschickt.

Zwei Schwestern in Dresden. Die Quittung über die eingegangenen Schmucksachen erfolgt in einer der nächsten Nummern.

Kr. in S–rg. Allerdings. Der Uebersetzer, Herr C. van der Laue, hat dem Verfasser von „Ein Held der Feder“, E. Werner, bereits ein Exemplar seiner Arbeit zugeschickt, die im Holländischen den Titel führt „Ein Held van de Pen“. Das Buch ist bei van Münster und Sohn in Amsterdam erschienen und bildet einen stattlichen Band. Die englische und die italienische Uebersetzung des rasch so beliebt gewordenen Romans ist uns noch nicht zu Gesicht gekommen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.