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Die Gartenlaube (1872)/Heft 9

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[133]

No. 9.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Am Altar.


Von E. Werner, Verfasser des „Helden der Feder“.


(Fortsetzung.)


„Bruno hat Dich nie geliebt!“ fuhr der Prälat erbarmungslos fort, „all Deine Sorge, Deine Zärtlichkeit für ihn hat immer nur dies scheue Ausweichen, diese instinctmäßige Abneigung gefunden. Sprich das verhängnißvolle Wort aus, und sein Haß ist Dir gewiß!“

Der Prälat hatte das rechte Mittel ergriffen, den Ungestüm des Bruders zu zügeln, durch die Züge des Grafen ging ein schmerzliches Zucken.

„Ich weiß es!“ sagte er tonlos, „und das ist’s, was ich nicht ertragen kann. Du hast mir von jeher diese Liebe zum Vorwurf gemacht, es ist das Einzige, was ich mir aus jenem Jugendtraum gerettet habe, und, was Du auch sagen magst, es ist das Beste an mir. Aber noch einmal, Bruder,“ er richtete sich hoch und fest auf, hier ist die Grenze, wo ich Dir Trotz biete. Wenn Bruno gefehlt hat, so laß ihn sich verantworten, strafe ihn, so weit Deine Stellung als Abt und die weltliche Macht es erlaubt, aber hüte Dich, ihn dem Arme dieser Macht zu entziehen, der ihn vor dem Schlimmsten schützt. Euerer Mönchsrache werde ich ihn nie auf Gnade und Ungnade preisgeben! Hüte Dich, ihn aus meinen Augen verschwinden zu lassen; ich werde seine Spur finden und will dann nicht umsonst der mächtige einflußreiche Graf Rhaneck sein. Auch Deine Priestergewalt hat ein Ende, und ich schone nichts mehr, wenn Du mich zum Aeußersten treibst! Leb wohl!“

Er ging, er hatte ruhiger gesprochen als vorhin, ohne jenes wilde Aufbrausen, aber eben deshalb wirkte die Drohung diesmal mehr. Der Prälat blickte ihm finster nach, er sah die Macht, die er mit der Ueberlegenheit eines kalten unbewegten Charakters von jeher über den leidenschaftlichen Bruder ausgeübt, in Trümmer gehen, er wußte besser als der Graf selbst, daß hier ihre Grenze war. Er war noch ganz in dies finstere Nachdenken versunken, als der Pater Prior gemeldet ward, der gleich darauf eintrat und sich mit seinem gewöhnlichen schleichend demüthigen Wesen ihm näherte.

„Ich komme, die Befehle meines hochwürdigsten Abtes in Bezug auf Pater Benedict in Empfang zu nehmen,“ begann er feierlich. „Wir können ihn von morgen an jeden Tag erwarten. Reverendissimus wünschen wohl jedenfalls erst seine Verantwortung zu hören?“

„Verantwortung?“ fragte der Prälat scharf; „deren bedarf es hier nicht mehr! Wenn er sich, wie ich nicht zweifle, zu seinen Worten bekennt, so bleibt nur noch übrig, Gericht über ihn zu halten. Ich habe über den Fall bereits an den Erzbischof berichtet und erwarte stündlich seine Antwort. Indeß ich weiß im Voraus, was ich zu thun habe, und daß man mir vollkommen freie Hand lassen wird.“

„Auch ich bin überzeugt, daß man uns die unbeschränkteste Vollmacht ertheilt!“ bestätigte der Prior mit einem frommen Aufblick nach oben. „Es gilt, den Frechen zu strafen, und die schwer beleidigte Kirche durch Reue und Büßung wieder zu versöhnen, damit ihr Heil –“

Der Prälat machte eine ungeduldige Bewegung. „Lassen Sie den salbungsvollen Ton! Sie wissen, ich liebe das Frömmeln nicht, am wenigsten, wenn wir unter uns sind. Es handelt sich nicht darum, die Kirche zu versöhnen, sondern sie vor einer Gefahr zu schützen, hier wo das Beispiel des Einzelnen verhängnißvoll werden könnte für den ganzen Stand. Ich bin entschlossen, die vollste Strenge walten zu lassen!“

Ein triumphirender Blick schoß aus den Augen des Priors, aber er senkte sie sofort wieder demüthigst zu Boden. Man durfte heute dem Prälaten nur mit Vorsicht nahen, es geschah selten, daß er sich in so scharfen rücksichtslosen Worten gehen ließ, wie eben jetzt, irgend etwas mußte ihn furchtbar gereizt haben und es ward dem schlauen Mönche nicht schwer, diese Gereiztheit mit dem vorhergegangenen Besuch des Grafen und dem wahrscheinlichen Gegenstande der Erörterung zwischen den Brüdern in Verbindung zu bringen.

„Die vollste Strenge!“ wiederholte er langsam. „Ohne Zweifel! Wenn nur der Herr Graf Rhaneck nicht Einspruch thut! Ich meine,“ verbesserte er sich schnell, „er wird seinen ganzen Einfluß zu Gunsten seines Schützlings aufbieten.“

„Ich bin in solchen Dingen dem Einfluß meines Bruders nicht zugänglich!“ erklärte der Prälat hart und entschieden.

„Ich weiß, Hochwürdigster, ich weiß!“ stimmte der Prior bei. „Aber es könnte doch sein. Der Herr Graf hegt ein großes, ein ganz ungewöhnliches Interesse für Pater Benedict – wenn er es versuchte, gegen Ihren Willen –“

Weiter zu gehen in seinen Andeutungen wagte er nicht, ihm war es schon genug, daß der Prälat schwieg und ihn nicht vornehm zurückwies, was sonst unfehlbar geschehen wäre. Also, schloß der Prior weiter, es hatte bereits Streit deswegen zwischen den Brüdern gegeben, Rhaneck hatte vermuthlich gedroht, da galt es zu stacheln, der Prior kannte seinen Abt.

„Der Herr Graf weiß oder ahnt doch wenigstens, was [134] seinem Schützlinge bevorsteht,“ fuhr er leiser fort, „er wird ihn schwerlich preisgeben, und wenn er nicht will –“

„Wenn mein Bruder nicht will?“ der Prälat hob mit einem zornigen Aufblick das Haupt. „Sie vergessen wohl, daß ich hier allein zu wollen habe!“

„Keineswegs, Hochwürdigster! Es handelt sich ja auch nur darum, was dem Pater Benedict eigentlich auferlegt wird, und wie weit Reverendissimus zu gehen beabsichtigen. Uebergriffe freilich könnten jetzt bedenklich, ja gefährlich werden. Was man hin und wieder einzelnen ungehorsamen Mönchen gegenüber wagte, nach denen Niemand fragte, und deren fromme Angehörige sich auf das bloße Zeugniß des Klosters hin beruhigten, das dürfen wir hier nicht wagen, wo ein so mächtiger Protector wie Graf Rhaneck im Wege steht. Der Graf ist sehr angesehen, sehr einflußreich bei Hofe und unser allergnädigster Souverain sehr bedenklich freisinnig in solchen Dingen; wenn die Sache dort zur Sprache käme – ein einziger Schritt über die uns gezogenen Grenzen hinaus könnte verderblich werden.“

Der Prior wußte sehr wohl, was er that, als er langsam einen Stachel nach dem andern in die Seele des Prälaten senkte. Er konnte ihm freilich nichts sagen, was jener nicht schon längst bei sich selber erwogen hatte, aber es klang ihm doch anders aus fremdem Munde, mit dieser leisen Beimischung von Hohn, mit diesem fortwährenden Herausheben des Bruders als einer überlegenen Macht, der man sich zu beugen habe – der stolze Priester richtete sich hoch auf.

„In dem Punkte, wo es sich um meine geistliche Obergewalt handelt, weiche ich weder meinem Bruder, noch weiche ich überhaupt Jemandem, er stehe so hoch er wolle! Dreißig Jahre lang habe ich dies Stift geleitet, und dreißig Jahre lang ist es dem Lande ein Vorbild gewesen, auf das auch nicht der leiseste Schatten fiel! Wenn in den anderen Klöstern ringsum sich Schwäche, Abfall und Verrath kund gab, ich habe das meinige rein zu erhalten gewußt und, was auch geschehen mag, ein Abtrünniger wird aus seinen Mauern nie hervorgehen! Nie, sage ich! Benedict widerruft entweder, oder er verfällt seinem Schicksal! An dem Beschluß wird Graf Rhaneck, wird selbst der Souverain nichts ändern, sie sind nur Menschen, und in unseren Händen liegt die höchste Gewalt auf Erden, die des Priesters, der auch sie sich zu beugen haben – ich erkenne nur Rom als meinen Herrn an!“

Er stand hoch aufgerichtet da, in beinahe königlicher Haltung. Das war wieder der allmächtige gebietende Abt, der nichts über sich erkennen wollte, und im Vollbewußtsein seiner Herrschaft Allem Trotz zu bieten bereit war; der Prior senkte in einer Art von scheuer Bewunderung die Augen.

„Es wäre aber doch zu viel gewagt,“ begann er von Neuem, „wollte man den Ruf, vielleicht die Existenz des ganzen Klosters auf’s Spiel setzen, eines Einzigen wegen! Pater Benedict stürzt uns ist einen schweren Conflict bei seiner Rückkehr, das Beste wäre – er käme gar nicht wieder.“

„Er wird kommen!“ sagte der Prälat entschieden. „Er wird mir gegenüber treten und sich zu jedem einzelnen seiner Worte bekennen. Ich weiß es!“

„Wenn es in seinem Willen liegt, gewiß! Aber könnte nicht irgend ein Zufall – das Gebirge ist jetzt sehr gefährlich, die Regengüsse der letzten Wochen haben die Bergströme entfesselt und die Stürme einzelne Punkte vollends unwegsam gemacht. Pater Benedict kümmert sich sehr wenig um solche Gefahren, er geht stundenweit allein, wenn seine Pflicht ihn zu einem Kranken oder nach der fernen Wallfahrtscapelle ruft … wenn er einmal dabei – verunglückte!“

Der Prälat sah den Sprechenden einen Moment lang groß und starr an, dann plötzlich wendete er ihm den Rücken und trat an’s Fenster, wo er stehen blieb, die Arme verschränkt und das Auge auf die umschleierte Landschaft draußen gerichtet. Der Prior folgte ihm.

„Ich spreche natürlich nur von einem Zufall, von einer bloßen Möglichkeit aber es ist nicht zu leugnen, daß sie uns einer schweren Bedrängniß entreißen würde. Zum Widerruf wird unser junger Mitbruder unter keinen Umständen zu bewegen sein; ihn gewähren lassen oder mit einer vorübergehenden Buße abfinden, hieße der Ketzerei Thür und Thor öffnen; wenn wir ernstlich einschreiten wollen, steht uns Graf Rhaneck im Wege – es ist eine böse, böse Sache! Ich sehe in der That keinen Ausweg daraus!“

Der Prälat antwortete nicht, der Prior trat ihm noch einen Schritt näher.

„Ein Unglück freilich, das zur rechten Zeit käme, würde viel, würde Alles lösen. Es befreite unser Kloster von der noch nie erlebten Schande, einen Abtrünnigen unter die Seinigen zählen zu müssen, es ersparte uns die Nothwendigkeit, durch allzu strenges Gericht mit der weltlichen Macht in Conflict zu gerathen. Auch Graf Rhaneck würde sich zufrieden geben müssen, denn wer kann am Ende für einen Zufall! Es wäre hier von unberechenbarem Vortheile.“ Er sprach langsam, leise, aber jedes Wort betonend, der Prälat stand noch immer unbeweglich, die eiserne Ruhe seiner Züge verrieth nichts, aber es war doch etwas wie innerer Kampf in dem Blicke, der auf dem wolkenumhüllten Gebirge in der Ferne haftete.

„Wann kommt Benedict zurück?“ fragte er endlich.

„Ich denke, übermorgen!“

Eine lange schwere Pause! Der Prälat wendete sich langsam um, auf seinem Antlitz lag ein starrer, eisiger Ausdruck.

„Sie haben Recht! Es wäre die beste Lösung von allen. Aber können wir dem Zufall gebieten?“

„Hochwürdigster –“ Der Prior sagte nichts weiter, aber sein Auge heftete sich wie in gierigem Forschen auf das Gesicht seines Oberen, als wolle er jedes Wort, jeden Gedanken von dessen Lippen ablesen. Der Blick des Abtes glitt unwillkürlich nieder auf den neben ihm befindlichen Schreibtisch, wo noch die Papiere lagen, die er vorhin dem Grafen entgegengehalten, er stützte die Hand schwer auf die letzte Rede Benedict’s – der stolze Priester hatte nicht umsonst das Bewußtsein, daß „die höchste Gewalt auf Erden in seine Hände gelegt war“, er fühlte sich als Richter über Leben und Tod.

„Herr Pater Prior! Ich befehle nichts und lasse nichts zu! Merken Sie sich das! Was zum Heile der Kirche geschieht, werde ich – absolviren.“

Der Prior verneigte sich stumm, er wußte genug. Er eilte, mit einigen gleichgültigen Reden sich zu verabschieden, und verließ dann das Gemach. Der Prälat stand noch immer am Schreibtisch, die Hand auf den verhängnißvollen Bericht gestützt, als aber die Thür hinter Jenem zufiel, zuckte der Ausdruck einer grenzenlosen Verachtung durch seine Züge.

„Elender! Wolltest Du mich zum Werkzeuge Deines Privathasses machen? Nimm es auf Dein Herz allein! Und wenn Benedict uns verloren ging, und wenn er fallen muß, er wiegt im Falle noch zehn Deinesgleichen, ich hätte sie mit leichterem Herzen geopfert als gerade ihn!“ –

Draußen in dem Kreuzgange, der die Prälatur mit dem Kloster verband, stand der Prior. Auch er sah nach den wolkenumlagerten Bergen hinüber und sein Blick sprühte wieder in jenem giftigen, tödtlichen Hasse, wie damals in der Sacristei.

„Also endlich wären wir so weit! Es war keine gute Stunde, in welcher er es wagte, mir zu drohen. Soll ich ihn vielleicht zurückkehren lassen, damit er noch im Sturze mich verräth? Lieber mag der Sturz – anderswo erfolgen. Der Prälat will sich decken, einerlei! er muß mich im schlimmsten Falle schützen, er schützt in mir die Ehre seines Stiftes. Herr Pater Benedict, Sie haben so großartige Anlagen zum Freiheitsapostel – ich fürchte, Sie werden zum Märtyrer Ihrer Lehre!“




Auch im Hochgebirge hatte der Herbst seinen Einzug gehalten. Hier freilich erscheint er anders als drunten in der Ebene, wo sich die Natur so müde und langsam ihrem Grabe entgegenneigt, über das der Winter bald die weiße Leichendecke breitet. Dort hängt der Himmel schwer und grau über der verschleierten Erde, in endlos eintönigem Braun dehnen sich die Felder aus, still und dunkel zieht der Fluß dahin, und was noch von Farben und Formen übrig ist, das hüllt der Nebel in seine dichten feuchten Schleier. Leise und einförmig rauscht der Regen nieder, leis und matt sinken die Blätter von den Bäumen, schwermüthig rauscht der Wind darein, bis auch das letzte welk zu Boden flattert und der Wald entlaubt und öde steht – überall langsames Vergehen, stilles widerstandloses Sterben.

Anders im Gebirge. Hier ist Alles wilde Bewegung, Alles trotziger, verzweifelter Kampf um’s Dasein. Stürme, wie sie die Ebene gar nicht kennt, entfesseln sich hier oben und rasen, einmal losgelassen, mit verheerender Gewalt, gährende Wolkenmassen [135] wogen in den Thälern auf und nieder oder jagen sturmgepeitscht um die höchsten Gipfel, und von den Regengüssen geschwellt toben die Bergwasser in ungezügelter Wildheit dahin. Auch hier hängen die Nebelschleier feucht und dicht an Wald und Fels, aber aus ihnen hervor heben die dunkeln Tannen nur trotziger ihre starren Häupter, denen all’ das eisige Wehen den grünen Schmuck nicht zu rauben vermag, und aus dem Wolkengewande ragen die schroffen Zacken und Klippen nur mächtiger empor. Der Herbst hat dem Gebirge den Blumenkranz vom Haupte gerissen, aber damit endet auch seine Macht, die sich ohnmächtig an diesen Wäldern und Felsen bricht, die nicht zu entblättern und nicht zu erschüttern sind. Wird doch selbst der Winter nie ganz Meister dieser starren Natur, und wenn er mit seinen Schneelasten auch Alles begräbt und niederzwingt, die lebendige, ewig klopfende Ader des Gebirges vermag er nicht zu schließen; den Bergstrom legt er doch nie in seine Eisfesseln, und wenn alles Andere ringsum in Schnee und Eis erstarrt, rettet sich dies Leben, das ewig neu und ewig bewegt aus dem tiefsten Grunde des Gebirges hervorquillt, allein unbezwungen hinüber in’s neue Frühlingsgrün.

Das Dorf N., der Bezirk des Pfarrers Clemens, war einer jener einsamen hochgelegenen Bergorte, die nur während der einen Hälfte des Jahres im Verkehr mit der Ebene drunten stehen, während der anderen aber durch Herbststürme, Winterschnee und Frühjahrswasser fast gänzlich davon abgeschnitten, ja zeitweise gar nicht zu erreichen sind. Eng zusammengedrängt lag das Dörfchen auf seinem Hochplateau da, dicht um die in der Mitte befindliche Kirche geschaart, als sei es des Schutzes derselben bedürftig, und in der That klein und schutzlos genug sah es aus, inmitten der hohen Schneegebirge, die es rings umlagerten und so riesengroß auf die winzigen Menschenwohnungen herabblickten, die ein einziger ihrer Stürme vernichten konnte. Spärliches, verkrüppeltes Tannengehölz säumte den Rand des Plateaus, die Wälder begannen erst weiter unten, wo der Weg sich in’s Stromthal hinabneigte, es war freilich keine Poststraße, und es hatte selbst in der guten Jahreszeit seine Schwierigkeit, N. anders als zu Fuße zu erreichen.

Aus der Thür des Pfarrhauses, dessen Aeußeres hinreichend verrieth, daß es nur eine sehr arme Gemeinde war, die man dem Pfarrer Clemens zugewiesen, traten zwei Geistliche und schritten langsam durch’s Dorf, hin und wieder einen ehrfurchtsvoll gespendeten Gruß erwidernd, oder ein Kind segnend, das herbeigelaufen kam, den hochwürdigen Herren die Hand zu küssen; als sie die Häuser hinter sich hatten und in’s Freie traten, überfiel sie der kalte Bergwind mit doppelter Gewalt.

„Sie sollten umkehren, Hochwürden!“ sagte der Jüngere, seinen Mantel fester um die Schultern ziehend. „Die Luft ist allzu rauh; es sieht aus, als sollten wir wieder Sturm bekommen.“

Der Aeltere schüttelte das Haupt. „Bis zum Crucifix begleite ich Sie jedenfalls, lieber Benedict. Ich schone mich schon über die Gebühr, seit Sie hier sind. Der kurze Gang wird mir wohlthun.“

Benedict erhob keinen Einwand weiter und sie schritten einige Minuten lang schweigend vorwärts, dann begann der Pfarrer von Neuem das Gespräch.

„Wenn nur dieser tägliche Gang nach der Wallfahrtscapelle nicht wäre! Ich kann mich dabei nie einer gewissen Sorge um Sie erwehren.“

„Weshalb? fragte Benedict gelassen. „Der Weg ist nicht allzu weit.“

„Aber gefährlich! Sie müssen dabei stets die ‚wilde Klamm‘ passiren, einen der schlimmsten Punkte des ganzen Gebirges. Im Sommer mochte das noch hingehen, aber jetzt, wo die fortwährenden Regengüsse den Felsboden glatt und schlüpfrig machen, wo man nie wissen kann, ob die Brücke auch wirklich den letzten Stürmen Widerstand geleistet hat –“

„Die Bauern wählen ja stets diesen Pfad, um den Weg in’s Thal abzukürzen!“ unterbrach ihn der junge Priester gleichgültig.

„Ja, unsere Bauern! Die sind im Gebirge geboren und aufgewachsen. Solch ein Fuß gleitet nicht so leicht und weiß sich selbst im Sturze noch zu halten und anzuklammern; der Ihrige dagegen – ich kann mir nicht helfen, ich sehe Sie jedesmal mit Sorge gehen und bin erst ruhig, wenn ich Sie sicher wieder im Pfarrhause weiß.“

„Ich bin schwindelfrei,“ sagte Benedict ruhig, „und überdies kann ich den Leuten deswegen nicht eine Gewohnheit nehmen, die ihnen seit Monaten ein Bedürfniß geworden ist, wie diese tägliche Messe in der Wallfahrtskirche.“

„Vorgeschrieben ist sie aber keineswegs!“ wandte der alte Pfarrer schüchtern ein. Ich selbst – nun freilich, meine Kräfte hätten schon längst nicht mehr ausgereicht zu solchen täglichen Strapazen, ich mußte sie für die nothwendigen Gänge zu Kranken und Sterbenden schonen – ich selbst habe nur an Wallfahrtstagen dort Gottesdienst gehalten.“

Es ist aber eine unendliche Erleichterung für die Bewohner all der einzelnen und zerstreuten Gehöfte, wenn sie nicht jedesmal den beschwerlichen Weg bis N. zu machen brauchen. Sie sparen Zeit und Kräfte, die ihnen beide für die Arbeit so nothwendig sind, und ich habe Muße genug, zumal jetzt, wo“ – hier zuckte ein bitterer Ausdruck um seine Lippen – „wo mir das Predigen untersagt ist und ich höchstens noch die Ceremonien ausüben darf. Ueberdies gehe ich ja morgen den Gang zum letzten Male.“

Der Pfarrer blickte wie erschreckt auf. „Zum letzten Male?“

„Nun, Sie wissen doch, daß ich nach dem Stifte zurückberufen bin?“

„Aber hoffentlich nur auf einige Tage.“

Benedict schüttelte finster das Haupt. „Man wird mich schwerlich zurückkehren lassen, ich kenne den Prälaten! Das geringe Maß von Freiheit, welches dies Amt mir ließ, hat sich doch noch als zu groß erwiesen; er wird nicht säumen, es mir zu entziehen.“

„Sie meinen Ihre Predigt am letzten Kirchentage? Herr Bruder, Herr Bruder!“ Die Stimme des Greises zitterte, aber er brach ab, als er das Stirnrunzeln des jungen Priesters gewahrte. „Nun, ich mag Sie nicht auch noch damit quälen; aber ich kann mich im tiefsten Innern der Angst nicht erwehren. Bleiben Sie hier, Benedict! Schützen Sie Krankheit vor, oder suchen Sie die Rückkehr unter irgend einem andern Vorwande hinauszuschieben; es ist nichts Gutes, was man im Stifte gegen Sie braut! Hier sind sie sicher, die Gemeinde hängt mit Begeisterung an Ihnen und würde Sie nöthigenfalls vertheidigen; in unserer Mitte wird man es nicht wagen, Sie anzugreifen.“

„Ich gehe!“ erklärte Benedict entschieden.

„Aber man hegte schon längst Mißtrauen gegen Sie,“ fuhr Jener dringender fort. „Unser Schullehrer – ich mag dem Manne nichts Uebles nachreden, da ich keine Beweise habe; aber es hat mir nie gefallen, daß er sich gleich vom ersten Tage an mit so auffallender Dienstbeflissenheit an Sie drängte. Sie waren nie vorsichtig genug mit Ihren Büchern, Ihren Schreibereien; ich fürchte, sie sind mehr als einmal untersucht worden. War doch auch mir befohlen –“ er stockte und sah verlegen zu Boden.

„Hat man auch Sie zum Spion erniedrigen wollen?“ fragte der junge Priester bitter. „Ein trauriges Amt, zumal wenn es gegen den Gast geübt wird, der seit Monaten unter dem Dache des Hauses schläft!“

„Was ich berichte, schadet Ihnen nichts, Herr Bruder,“ entgegnete der Greis sanft. „Mögen sie mich immerhin im Stifte einen alten Schwachkopf nennen, der nicht sieht und hört, was um ihn her vorgeht, ich will das lieber ertragen, als Sie mit einem unvorsichtigen Worte in Gefahr stürzen.“

Benedict antwortete nicht, er streckte ihm nur stumm die Hand entgegen.

„Nicht wahr, Sie bleiben?“ hob der Pfarrer nach einer kurzen Pause wieder bittend an.

„Ich kann nicht! Glauben Sie nicht, daß ich der Milde des Prälaten allzusehr vertraue. Ich weiß, was mich erwartet, oder ahne es wenigstens, aber um Ihren Rath zu befolgen, müßte mir mehr am Leben liegen. Ich versichere Ihnen, es ist mir sehr, sehr gleichgültig, ich mag auch nicht einmal die Hand rühren, um es zu retten!“

Sie hatten inzwischen das Crucifix erreicht, das am Rande des Plateaus stand, gerade dort, wo der Weg nach der Wallfahrtskirche sich abneigte, die beiden Geistlichen blieben stehen.

„So sollten Sie nicht sprechen, Herr Bruder,“ sagte der Pfarrer mit sanftem Vorwurf, „Sie sind noch so jung!“

„Und Sie sind schon so alt, Hochwürden!“ in Benedict’s Stimme klang ein leiser Hohn, „und hängen immer noch an diesem Dasein, das für Sie doch wahrlich entsagungsvoll genug gewesen ist? Was haben Sie denn erreicht mit dieser elenden [136] Pfarre hier oben, die Sie eben nur vor dem Hunger schützt, die Sie seit zwanzig Jahren von Welt und Menschheit abschneidet, und Sie nur Scenen der Armuth und des Elendes schauen läßt? Darum mit dem Leben gebrochen, die Zukunft verschüttet, das Glück abgeschworen – der Tausch ist doch zu ungleich!“

Die hellen milden Augen des Greises begegneten ruhig dem düster flammenden Blick seines jungen Mitbruders. „Darnach habe ich nie gefragt!“ sagte er einfach. „Ich habe es als eine mir zugewiesene Pflicht genommen, und mich redlich bemüht, sie zu erfüllen. Leicht freilich ist sie mir nicht immer geworden. Ich habe schlimme Zeiten hier oben durchlebt; es hat Tage und Wochen gegeben, wo ich mit meinen armen Dörflern gedarbt habe, weil ich’s nicht über’s Herz bringen konnte, mit Härte meine schmalen Einkünfte einzutreiben, die sie beim besten Willen nicht schaffen konnten, und noch schwerer ist’s mir oft geworden, wenn ich nur geistlichen Trost spenden konnte, wo ich so gern mit der That geholfen hätte, und wo die Hülfe so nothwendig gewesen wäre. Wie der Herr will! Ich bin nun über die Siebenzig hinaus, lange kann es ja doch nicht mehr währen, bis ich mein Haupt zur Ruhe lege. Hat mir das Leben auch nicht viel Gutes gegönnt, ich nehme doch die Ueberzeugung mit, daß ich mich auf meinem geringen Acker redlich gemüht habe; Gott weiß es – ich war ja wohl keines besseren werth!“

Es lag eine rührende Resignation in den einfachen Worten, Benedict blickte schweigend auf das greise, müde Leben, das sich so still und geduldig dem Grabe zuneigte, so ohne alles Murren und Klagen auf das Loos zurückblickte, das ihm gefallen war; aber für den jungen Priester war diese stille Ergebung nur ein Stachel mehr, er hatte noch den ganzen Trotz der Jugend, die wohl unterzugehen, aber nicht zu entsagen versteht, und er war im Begriff eine leidenschaftliche Antwort zu geben, als in ihrer Nähe Schritte ertönten; vom Dorfe her kamen zwei Freunde, gleichfalls in ihre Mäntel gehüllt, auf sie zu.

Die Erscheinung Fremder war hier etwas so Ungewöhnliches, daß die beiden Geistlichen ihr Gespräch unterbrachen und ihnen überrascht entgegenblickten. Benedict schien sie zu erkennen, und sofort verschwand die kurze Offenheit, die er dem Pfarrer gegenüber gezeigt hatte, um der alten Verschlossenheit Platz zu machen, als er den Ankommenden entgegenging und den Aelteren von Beiden artig, aber eisig begrüßte.

„Herr Graf Rhaneck, Sie hier?“

Der Graf bot ihm die Hand und wandte sich dann an den Pfarrer. „Verzeihen Sie, Hochwürden, mein Hiersein gilt nur Ihrem Caplan, den ich dringend zu sprechen wünschte. Man sagte uns im Pfarrhause, daß er soeben fortgegangen sei, und daß wir ihn noch einholen würden.“

Der Greis verneigte sich höflich vor den beiden vornehmen Herren, die Benedict ihm nannte. „Wollen der Herr Graf nicht mit uns umkehren? Der Ort und das Wetter ist wenig geeignet zu einer Unterredung im Freien.“

„Ich danke!“ unterbrach ihn Rhaneck schnell. „Unser Gespräch wird nur kurz sein; überdies ist Pater Benedict, wie ich höre, auf einem Amtswege begriffen, ich möchte nicht die Schuld einer Verspätung auf mich nehmen.“

Der Pfarrer mochte wohl an dem Wesen des Fremden sehen, daß es sich hier um eine Unterredung von Wichtigkeit handelte, er verabschiedete sich daher, indem er die Hoffnung aussprach, die Herren würden ihm bei der Rückkehr die Ehre erweisen, noch auf einige Minuten in’s Pfarrhaus zu treten. Der Graf sagte zerstreut zu, er wartete mit offenbarer Ungeduld, bis der Geistliche außer Gehörweite war, und wandte sich dann rasch zu Benedict.

„Wir suchten Dich, Bruno! Wie Du siehst, hat Ottfried mich begleitet. Ihr seid im Grolle geschieden und schuldet einander noch die Aussöhnung, die ich von Euch verlangte. Was Ihr damals in der Hitze des Streites verweigertet, werdet Ihr mir jetzt gewähren. Ottfried bietet Dir die Hand zur Versöhnung, Du wirst sie annehmen.“

Die Worte waren milde, aber doch im Tone eines unbedingten Befehls gesprochen. Ottfried’s Antlitz verrieth deutlich genug, daß sein Entgegenkommen ein erzwungenes war, dennoch streckte er gehorsam die Hand aus, Benedict rührte sich nicht.

„Nun?“ fragte der Graf noch ruhig, aber doch in schärferem Tone.

Der junge Priester trat zurück. „Ich bitte, ersparen Sie dem Grafen und mir eine Ceremonie, die uns Beiden gleich peinlich ist und in unserer gegenseitigen Stellung nicht das Geringste ändert!“ entgegnete er kalt.

Ottfried ließ wie erleichtert die Hand wieder sinken, aber trotzdem schoß ein Blick tiefen Hasses aus seinem Auge auf den „Bedientensohn“, der es wagte, sein Entgegenkommen in dieser Weise abzulehnen.

Das Auge Rhaneck’s glitt langsam von Einem zum Anderen. Man konnte nicht Verschiedeneres sehen, als diese Beiden, wie sie so nebeneinander standen. Der junge Graf mit dem blonden Haar, den hellen Augen und den matten, leblosen Zügen, die, so deutlich sie auch seine Rhaneck’sche Abstammung bekundeten, so sehr sie denen des Vaters glichen, doch nicht das Geringste von jenem charakteristischen Ausdruck zeigten, der dem stolzen Geschlecht eigen war, und das bleiche, energisch gezeichnete Antlitz des jungen Priesters mit dem schwarzen Lockenhaar und den tiefdunklen Augen. Nicht in einem Zuge, nicht in einer Linie glichen sie sich und doch hatten sie Eins gemeinsam, die hohe schlanke Gestalt, die eigenthümlich stolze Wendung des Kopfes, den Gang und die Haltung. Die Aehnlichkeit trat heute, wo auch Ottfried einen dunklen Mantel trug, auffallender als je hervor; von ferne gesehen hätte man sie mit einander verwechseln können. Auch dem Grafen schien sich diese Wahrnehmung aufzudrängen, sein Blick lag schwer und düster auf den beiden jungen Männern und blieb zuletzt auf dem Aeltesten haften.

„Diesmal bist Du es, Bruno, der den alten, unheilvollen Riß noch erweitern will!“ sagte er vorwurfsvoll. „Sei’s darum! in einer Stunde wirst Du anders denken, Du wirst dann selbst die Hand zur Versöhnung bieten, ich weiß es. Laß uns allein, Ottfried!“

Der junge Graf gehorchte, aber der alte Groll wallte wieder heiß in ihm auf, als er sich zurückzog. Die Vorgänge der letzten Zeit waren ihm nicht verborgen geblieben und er errieth nur zu gut, was der Vater mit dieser plötzlichen Fahrt in’s Gebirge beabsichtigte. Er wollte seinen Schützling warnen, ihn retten vielleicht vor dem drohenden Zorne des Bruders, aber weshalb er dabei den Sohn mit sich nahm, weshalb er auf einmal so hartnäckig auf einer Aussöhnung bestand, nachdem Monden seit jenem Streite vergangen waren, das wußte sich Ottfried nicht zu erklären. Gereizt, wie er schon war, verletzte es ihn noch tiefer, daß der Graf ihn so ohne Weiteres fortschickte, weil er mit Pater Benedict zu reden hatte, verletzte es ihn um so mehr, als er sich sagen mußte, daß diesem gegenüber eine gleiche Rücksichtslosigkeit nie stattgefunden hätte. Freilich, dieser Mönch durfte sich ja Alles erlauben, er bewies es eben wieder auf’s Neue, wo er dem Befehl seines hohen Gönners so entschieden den Gehorsam versagte, und der Graf, der bei dem eignen Sohne so energisch jede Regung des Ungehorsams zu unterdrücken wußte, schien diesem Trotz gegenüber machtlos. Das räthselhafte Verhältniß, in welchem sie Beide zu einander standen und das Ottfried schon seit jener Begegnung im Walde beschäftigte, trat ihm jetzt auf’s Neue vor Augen, aber er fand heute so wenig eine Erklärung dafür wie damals.

Rhaneck befand sich jetzt allein mit Benedict, der ihm gegenüberstand wie gewöhnlich, stumm, finster und ohne die geringste Empfindung für den augenscheinlichen Beweis der Theilnahme, den sein Beschützer ihm mit diesem Erscheinen hier wiederum gab.

„Bruno, um Gotteswillen, was hast Du gethan!“

Der Gefragte hob mit kaltem Trotze das Haupt. „Was ich gethan habe, werde ich zu vertreten wissen! Jedenfalls steht nur meinem Abte das Recht zu, Rechenschaft darüber zu fordern – ihm werde ich sie geben, sonst Keinem!“

In dem Antlitz des Grafen kämpfte der ansteigende Zorn über die schroffe Antwort mit einer anderen schmerzlicheren Empfindung.

„Das also ist der Dank für all meine Sorge und Angst um Dich!“ sagte er bitter. „Dein Vertrauen habe ich freilich nie besessen, seit einiger Zeit aber scheinst Du Dich förmlich feindselig von mir abzuwenden.“

Benedict senkte das Auge, der Vorwurf rief wieder jenes Gefühl der Beschämung in ihm wach, das immer und immer mit der geheimen Abneigung kämpfte, deren er sich nun einmal nicht erwehren konnte, dem Manne gegenüber, dem er doch so Vieles dankte.


(Fortsetzung folgt.)


[137]

Auch ein Strikender!
Originalzeichnung von Melin in Düsseldorf.

[138]
Entwickelung der Erdrinde mit ihren Bewohnern.
I.


Die Erde, wahrscheinlich ein abgetrenntes Stück unserer Sonne (wie auch die übrigen Planeten unseres Sonnensystems), war zu Anfange ein feurig-flüssiger Körper, an dessen Oberfläche sich durch Ausstrahlung der inneren Gluthhitze in den kalten Weltenraum, durch Abkühlung und Erstarrung des obersten Feurigflüssigen, allmählich eine dünne Rinde oder Kruste bildete, welche im Verlauf der Zelt nach und nach etwas an Dicke zunahm, doch nur so, daß sie in der Gegenwart noch lange nicht den hundertsten[WS 1] Theil vom ganzen Durchmesser der Erde bildet und nur etwa fünfzehn bis zwanzig Meilen dick ist. Noch jetzt befindet sich das Innere unseres Erdballes in einem feurig-flüssigen Zustande, in Weißglühhitze (Centralfeuer), und dafür spricht: zuvörderst die Temperatur der Erdrinde, welche nach dem Innern hin stetig zunimmt und zwar so, daß auf jede hundert Fuß Tiefe die Temperatur um einen Grad wächst. In einer Tiefe von zehntausend Fuß siedet das Wasser; bei acht Meilen Tiefe muß eine Hitze von achtzehnhundert Grad herrschen und das Eisen schmelzen, und bei etwa fünfzehn Meilen werden alle festen Stoffe unserer Erdrinde sich in geschmolzenem, feurig-flüssigem Zustande erhalten. Es sprechen ferner dafür: die Quellen, welche aus beträchtlicher Tiefe hervorkommen und Wasser in kochendem Zustande liefern; sodann die Vulcane, welche aus dem Erdinnern feurig-flüssige Gesteinsmassen (als Lava) durch einzelne Erdrinden-Oeffnungen herauswerfen.

Die erste, aus einer geschmolzenen, anfangs Schlacken bildenden Masse hervorgegangene krystallinische Erhärtungskruste wird die ganze Oberfläche der Erde als eine zusammenhängende, glatte, dünne Schale gleichmäßig überzogen haben und von einer glühendheißen, sehr schweren und enormen Druck ausübenden Atmosphäre umgeben gewesen sein, in welcher das Wasser nur in Dampfform existiren konnte, so daß zu dieser Zeit die Luft für die Sonnenstrahlen undurchdringlich gewesen sein und tiefe Finsterniß auf der Erde geherrscht haben muß. Durch die fortschreitende Abkühlung des feurig-flüssigen Kerns verdichtete sich dieser (wodurch der ganze Erddurchmesser sich verkleinerte), die dünne starre Rinde rings um denselben zerborst an vielen Stellen und die Oberfläche derselben wurde dadurch uneben und höckerig. Auch indem die abgekühlte Rinde durch den Erstarrungsproceß sich selbst zusammenzog und so Sprünge und Risse bekam, aus welchen Feuerflüssiges hervorquoll, entstanden Zerklüftungen und Unebenheiten auf derselben.

Erst nachdem die Temperatur auf der äußern Oberfläche des Erdballs bis zu dem Grade gesunken war, daß das Wasser sich aus der Dampfform in tropfbarflüssigen Zustand verdichten konnte, kam die erste Entstehung des Wassers zu Stande und mit dieser, durch Herabfallen des Wassers aus der Luft auf die Erde, eine Klärung der bis dahin trüben atmosphärischen Luft. Natürlich war das Wasser (das Urweltmeer), sowie die mit Kohlensäure und anderen schädlichen Gasen geschwängerte Luft noch in glühend heißem Zustande. – Die erste Rindenschicht, welche den feurigen Erdkern umschließt und die höchst wahrscheinlich zu wiederholten Malen der Zertrümmerung und Auflösung unterworfen war, besteht aus den härtesten Gesteinen (Granit, Syenit, Basalt, Porphyr, Grünstein) und den schwersten Metallen. Wegen ihres Reichthums an Kieselgestein (Silicaten) wird sie auch „Silicatmantel“ genannt. Die sich an die innere Fläche dieses Mantels anlagernden Gesteine erhielten den Namen „Urgesteine, plutonische oder Massengesteine“.[1] – Ueber dem Silicatmantel bildete sodann das durch die Sprünge dieser Erstarrungsschicht hervorquellende und sich mit dem glühendheißen Wasser mengende Feurigflüssige eine zweite (vulcanische) Gesteinsschicht, welche theils durch Abkühlung, theils durch den Druck der Atmosphäre und den großen Druck der nachfolgenden Rindenschichten in krystallinischen Zustand versetzt wurde und sich durch ihr wellenförmiges, schieferiges Gefüge auszeichnet. Diese vulcanisch-neptunischen Bildungen werden deshalb „Schiefergesteine“ (Urthonschiefer) genannt und bestehen hauptsächlich aus Gneiß, Glimmer- und Talkschiefer. Aus diesen, jetzt die erste Erdrindenschicht zusammensetzenden Gesteinen bildete sich nun durch die zerstörende Kraft des Wassers und der Luft Erdboden.

Das in Form von wolkenbruchähnlichem Regen aus der Atmosphäre auf die steinigen, aus dem Urweltmeer hervorragenden Erhöhungen herabstürzende Wasser leitete nämlich mit der atmosphärischen Luft einen Zerstörungsproceß (die Verwitterung) dieser Gebirge ein, spülte das zerstörte Gestein von der Höhe der Berge herunter und lagerte dasselbe als schlammig-steinige Erde zuerst auf dem Boden des Urweltmeeres, später über dem Wasser rings um den Fuß der Gebirge und in den Klüften zwischen diesen schichtenweise ab. Mit Hülfe von Wasserfluthen wurde die steinige Schlamm- und Erdmasse über die Erdoberfläche hin verbreitet, und diese Verbreitung geschah theils so, daß das Wasser gewisse Mineralien auflöste, die sich dann entweder als solche oder mit anderen zu neuen Stoffen verbunden hier und da wieder ausschieden, theils dadurch, daß es dergleichen Stoffe nur mit sich fortriß und später an dieser oder jener Stelle wieder fallen ließ. – Auf dem so entstandenen Erdboden, einem neptunischen Gebilde, kamen sodann, nachdem die hohe Temperatur des Wassers und der Luft insoweit noch gesunken war, daß sie das Leben organischer Körper nicht mehr vernichtete, zuerst Pflanzen und nach ihnen Thiere von der allereinfachsten Organisation zum Vorschein. Beide Organismen entwickelten sich höchst wahrscheinlich durch Urzeugung aus anorganischen Stoffen und verdanken vorzugsweise dem Wasser (aus welchem zu fast vier Fünfteln die Organismen bestehen) ihre Lebensfähigkeit.

Seit dieser Zeit setzt das Wasser seine außerordentlich wichtige Wirksamkeit ununterbrochen fort, erzeugt fort und fort neptunische Umbildungen der Erdrinde und gestaltet dadurch die Erdoberfläche fortwährend, wenn auch langsam, um. Indem es als Regen niederfällt, die obersten Schichten der Erdrinde durchsickert und von den Erhöhungen in die Vertiefungen herabfließt, löst es verschiedene mineralische Bestandtheile des Bodens chemisch auf und spült mechanisch die locker zusammenhängenden Theilchen hinweg. An den Bergen herabfließend, führt das Wasser den Schutt derselben in die Ebene und lagert ihn als Schlamm im stehenden Wasser ab. Ebenso arbeitet die Brandung des Meeres ununterbrochen an der Zerstörung der Küsten und an der Auffüllung des Meeresbodens durch die herabgeschlemmten Trümmer. – Würde dieser Thätigkeit des Wassers nicht durch vulcanische und plutonische Hebungs- und Senkungsprocesse entgegengetreten, so würde im Verlauf der Zeit die Erdoberfläche geebnet und von einer zusammenhängenden Wasserschale umschlossen sein. Aber die Reaction des feurigflüssigen Erdkerns gegen die feste Rinde bedingt ununterbrochen, meistens sehr langsam und allmählich, wechselnde Hebungen und Senkungen an den verschiedensten Stellen der Erdoberfläche. Indem diese Hebungen und Senkungen der verschiedenen Erdtheile im Laufe von Jahrmillionen vielfach mit einander wechseln, kommt bald dieser, bald jener Theil der Erdoberfläche über und unter den Spiegel des Meeres, und es bilden sich durch anorganische und organische Ablagerungen verschieden dicke Gesteinsschichten von der verschiedenartigsten Zusammensetzung, mit Resten von pflanzlichen und thierischen Organismen. Auch Pflanzen und Thiere sind immerfort mit thätig, um den Meeresboden zu erhöhen; in den oberen Meereszonen sind es besonders die Nulliporen, Muscheln und Korallen, in der Abgrundzone die mikroskopisch kleinen Diatomaceen, Polythalamien und Zellenthierchen, welche zu Myriaden vorhanden sind und die Fällung der Kiesel- und Kalkerde vermitteln.

Weil man die Stoffe, welche sich aus dem Wasser und zwar gewöhnlich in Schichten über einander absetzen, „Sedimente, Niederschläge“ nennt, so erhielten alle die Erdschichten oberhalb des Massen- und Schiefergesteins (aus welchem sie durch Verwitterung hervorgingen) den Namen „sedimentäre oder Schichtgebilde, Flötzgebirge, geschichtete Niederschlagsgebirge“. Die wesentlichsten Bestandtheile dieser Schichten sind: Thonerde, Kieselerde und Kalkerde, welche Mineralien die Bildung von Thonschichten, Sand- und Kalksteinen veranlaßten. Diese mehr [139] oder weniger concentrisch (zwiebelschalenartig) über einander lagernden Erdschichten sind an verschiedenen Stellen der Erde von verschiedener Dicke, Form und Structur, auch hier und da verschoben und von unterliegenden Gesteinen durchbrochen. – Zwischen diesen verschiedenen sedimentären Schichten finden sich nun aber nicht etwa schroffe Grenzen, so daß man, wie dies früher angenommen wurde, an zeitweilige Erdrevolutionen oder Katastrophen denken könnte, welche Alles, was zu dieser Zeit bestand, vernichtete, so daß alsdann nach Beendigung der Katastrophe eine vollständig neue Schöpfung stattfinden mußte. Nur ganz allmählich gehen die unorganischen und organischen Bestandtheile einer Sedimentschicht in die andere über. Jedoch zeichnet sich eine jede Schicht vor der andern in Etwas durch ihren anorganischen und organischen Gehalt aus, so daß man allerdings eine bestimmte Reihe auf einander folgender Schichten (Perioden) unterscheiden kann. Niemals finden sich aber in einer dieser Schichten so ganz neue organische und unorganische Körper vor, daß diese von denen der vorhergehenden und nachfolgenden Periode vollständig verschieden wären. Uebrigens bedarf es solcher räthselhafter Revolutionen und Schöpfungsnachschübe zur Erklärung der Veränderungen, welche bis jetzt auf der Erdoberfläche mit dem Erdboden, den Pflanzen, Thieren und Menschen vor sich gegangen sind, gar nicht, da ganz ähnliche Vorgänge noch jetzt unter unseren Augen vor sich gehen. Hebungen und Senkungen des Erdbodens finden fortwährend statt, die Vertheilung von Wasser und Land an der Erdoberfläche befindet sich in ununterbrochenem Wechsel und Land und Meer streiten sich beständig um die Herrschaft; seitdem tropfbar-flüssiges Wasser auf der Erde existirt, haben die Grenzen von Wasser und Land sich immerfort verändert. Ununterbrochen nagt die Brandung an dem Saume der Küsten und was das Land an diesen Stellen beständig an Ausdehnung verliert, das gewinnt es an anderen Stellen durch Anhäufung von Schlamm, der sich zu festem Gestein verdichtet und sich als neues Land über den Meeresspiegel erhebt. Von festen und unveränderlichen Umrissen unserer Continente kann keine Rede sein. – Wenn nun diese Hebungs- und Senkungsprocesse auch so langsam geschehen, daß sie im Laufe eines Jahrhunderts die Meeresküste nur um wenige Zoll oder sogar nur um Linien heben oder senken, so bewirken sie doch im Laufe langer Zeiträume großartige Resultate. Continente und Inseln sind unter Meer versunken und neue sind daraus emporgestiegen; Seen und Meere sind langsam gehoben worden und ausgetrocknet, und neue Wasserbecken sind durch Senkung des Bodens entstanden; Halbinseln wurden durch Versinken der Landenge zu Inseln u. s. f. So hat z. B. früher Afrika mit Spanien, England mit dem europäischen Festlande, Europa sogar mit Nordamerika zusammengehangen; so war einst das Mittelmeer ein Binnensee und die Südsee, sowie der indische Ocean waren Continente. Letzterer Continent, welcher sich von den Sunda-Inseln längs des südlichen Asiens bis zur Ostküste von Afrika erstreckte, wurde von Sclater wegen der für ihn charakteristischen Halbaffen „Lemuria“ genannt. Hier ist wahrscheinlich die Wiege des Menschengeschlechts, wo dieses aus Anthropoiden oder Menschen-Affen hervorging. Der heutige malayische Archipel bestand früher (nach Wallace) aus zwei ganz verschiedenen, durch eine Meerenge getrennten Continenten, von denen der westliche (der indo-malayische Archipel) mit dem asiatischen Festlande, der östliche (austral-malayische Archipel) mit Australien zusammenhing; beide Continente sind größtentheils unter den Meeresspiegel versunken. – In der Jetztzeit steigt die Küste von Schweden und ein Theil der Westküste Südamerikas beständig langsam empor, während die Küste von Holland und ein Theil von der Ostküste Südamerikas allmählich untersinkt. So ist Nantwich in Cheshire (England) seit einigen Jahren fortwährend im Sinken begriffen. – Kurz es haben niemals Umwälzungen über die ganze Erdoberfläche auf einmal stattgefunden, nur örtliche Katastrophen haben sich auf langsame, allmähliche und unmerkliche Weise entwickelt.

Da die Hebungen und Senkungen der verschiedenen Erdtheile im Laufe von Jahrmillionen vielfach mit einander wechselten, so giebt es wahrscheinlich keinen Oberflächentheil der Erdrinde mehr, der nicht schon wiederholt über und unter dem Meeresspiegel gewesen wäre. Durch diesen vielfachen Wechsel erklärt sich die Mannigfaltigkeit und die verschiedenartige Zusammensetzung der zahlreichen neptunischen Gesteinsschichten, welche sich an den meisten Stellen in beträchtlicher Dicke über einander abgelagert haben. – Die verschiedenen übereinander abgelagerten Schichten der neptunischen Gesteine, welche zusammen eine Rinde von etwa hundertdreißigtausend Fuß bilden und in sehr mannigfaltiger Weise aus Kalk, Thon und Sand zusammengesetzt sind, werden von den Geologen in Gruppen oder Perioden eingetheilt und davon fünf große Hauptabschnitte (Terrains, Zeitalter) bezeichnet, jeder mit mehreren untergeordneten Schichtengruppen (Systemen), die wieder aus kleineren Gruppen (Formationen) bestehen. – Die Hauptabschnitte sind: das primordiale, primäre, secundäre, tertiäre und quartäre Zeitalter.

Die Zonen-Unterschiede, welche zur Zeit auf unserer Erde, in Folge der Verdickung der Erdrinde und der Einwirkung der Sonnenwärme, sehr auffallend hervortreten, bestanden vor der Quartärzeit noch nicht und es herrschte damals auf der ganzen Erde, veranlaßt durch den feurig-flüssigen Erdkern, nur ein Klima, und zwar ein gleichmäßig heißes, welches dem heißesten Tropenklima der Jetztzeit nahe stand oder dasselbe noch an Wärme übertraf. Wie die versteinerten Reste von Pflanzen beweisen, war damals der höchste Norden mit Palmen, Tulpenbäumen, Lorbeern, Myrthen und anderen Tropengewächsen üppig bedeckt und Tiger, Rhinocerosse und Elephanten wandelten unter ihnen. Nur sehr langsam und allmählich nahm späterhin dieses Klima ab und erst im Beginn der Tertiärzeit erfolgte, wie es scheint, die erste wahrnehmbare Abkühlung der Erdrinde von den beiden Polen her und damit die erste Sonderung verschiedener klimatischer Zonen. – Innerhalb der Tertiärperiode ging dann allmählich die Abkühlung so weit, daß an beiden Polen der Erde das erste Eis entstand. Dieser Klima-Wechsel übte einen enormen Einfluß auf das organische Leben aus und zog theils Aussterben von Organismen, welche sich der Kälte nicht anpassen konnten, nach sich, theils veranlaßte es Auswanderungen derselben nach wärmeren Gegenden. – In der Diluvialzeit sank die Temperatur von den Polen her noch immer fort, ja selbst noch weit unter den heutigen Frostgrad herab. Vom Nordpol breitete sich die Kälte über das nördliche und mittlere Asien, Europa und Nordamerika aus und erzeugte hier eine zusammenhängende Eisdecke, welche bei uns bis gegen die Alpen gereicht zu haben scheint. Vom Südpol erstreckte sich das Eis über einen großen Theil der südlichen Halbkugel. So blieb zwischen diesen beiden Eismeeren nur noch ein schmaler Gürtel übrig, auf welchem noch genug Wärme für Organismen vorhanden war. Diese im ersten Abschnitt der Diluvialzeit auftretende Eisdeckenbildung wird als „Eiszeit, Glacialperiode“ bezeichnet, und während dieser existirte der Mensch schon. – Kenntniß von dieser Eiszeit erhielt man durch die sogenannten Wander- oder Irrblöcke (erratische Steinblöcke) und die Gletscherschliffe, deren Bedeutung zuerst von Schimper, dann von Charpentier, Agassiz und Forbes aufgeklärt wurde. Die Irrblöcke wurden als durch Eisschollen von ihrem Wohnorte hier und dahin in entfernte Gegenden transportirte Felsstücke erkannt. – Nur ganz allmählich gewann die Sonne Herrschaft über jene Eismassen und es kamen so die jetzigen Zonen-Unterschiede und die Jahreszeiten zu Stande. – Aber nicht blos einmal scheint eine solche Eiszeit auf der Erde bestanden zu haben, sondern ein wiederholter Wechsel zwischen Eistemperatur und wärmeren Luftzuständen dürfte während der Bildung der obersten Erdrindenschichten existirt haben, und zwar ebenso auf der Nordhemisphäre, wie auf der südlichen Halbkugel der Erde. Diese Eiszeiten bilden jetzt noch das vorzüglichste ungelöste Problem für die geologische Forschung und sie scheinen sich in Jahrtausenden wiederholen zu können.

Innerhalb der Erdrindeschichten, welche durch Niederschläge aus dem Wasser gebildet wurden, finden sich nun Ueberbleibsel von Organismen, und zwar von so verschiedener Art, daß man daraus mit Sicherheit ersehen kann, wie jede dieser Schichten von verschiedenen Pflanzen und Thieren bewohnt wurde. An diesen Ueberresten, welche aus Kalkschalen, Muscheln, Knochen, Knochentheilen, Haaren, Federn, Zähnen, Fußspuren, Abdrücken, versteinerten Kothüberresten und dergleichen bestehen, läßt sich aber ebenfalls ganz deutlich ersehen, daß keine Erdrevolutionen oder Katastrophen vor sich gegangen sind, welche alle die eben vorhandenen Thiere und Pflanzen vollständig vernichteten, so daß nach ihrer Beendigung eine vollständig neue Schöpfung von Organismen nöthig geworden wäre und nun eine ganz neue Welt von Pflanzen und Thieren, ganz und gar verschieden von denen der früheren Periode existirt hätte. Wie bei den Schichtgesteinen läßt [140] sich auch an den versteinerten (fossilen) Ueberresten von Pflanzen und Thieren mehr oder weniger deutlich ein allmählicher Uebergang dieser Organismen aus den tieferen in die höheren Schichten erkennen und zwar in der Art, daß es unzweifelhaft ist, wie die Organismen der einzelnen Schichten von denen der nächst vorhergehenden Schicht abstammen und nur die veränderten Nachkommen dieser sind. Gleichzeitig läßt sich aber auch erkennen, daß in den tieferen Schichten die Reste von weit einfacheren und unvollkommeneren Pflanzen und Thieren lagern, als in den höheren Schichten, und daß also, je tiefer wir von unserer jetzigen Erdoberfläche in der Erdrinde hinabsteigen, alle Organismen um so unvollkommener, einförmiger und einfacher werden und sich um so auffallender von den jetzt noch lebenden verwandten Organismen unterscheiden, während sie den Organismen der Gegenwart um so ähnlicher werden, je höher oben in der Erdrinde sie ihre Lage hatten. Mit Zunahme[WS 2] der Dicke unserer Erdrinde durch neue Schichten müssen demnach auch die lebenden Wesen an Vollkommenheit mehr und mehr zugenommen haben. In der Tiefe, wo das Leben begann und sich an das unorganische Reich anreiht, trifft man natürlich auf die allereinfachsten Pflanzen und Thiere. Es bestätigen also die fossilen Funde, daß zu allen Zeiten des organischen Lebens auf der Erde eine beständige Zunahme in der Vollkommenheit der organischen Bildungen stattgefunden hat und daß dies auch mit dem menschlichen Organismus der Fall ist, wie die aufgefundenen fossilen Menschenreste beweisen.

In Folge des vielfachen Wechsels zwischen den Hebungen und Senkungen der verschiedenen Erdtheile im Laufe von Jahrmillionen kamen nun die ganz charakteristischen Ablagerungen der untergegangenen Thiere und Pflanzen zu Stande, welche auf den verschiedenen Erdschichten existirten. Wenn nämlich die Leichen derselben auf den Boden der Gewässer hinabsanken, drückten sie ihre Körperform in dem weichen Schlamme ab und unverwesliche Theile (wie harte Knochen, Zähne, Schalen etc.) wurden unzerstört in denselben eingeschlossen, so daß diese nun in dem zu neptunischem Gestein verdichteten Schlamme als „Versteinerungen, Petrefacten, Vorwesen“ gefunden werden. - Die Paläontologie oder Vorwesenkunde, die wir besonders Cuvier verdanken und welche Tag für Tag an Material reicher wird, giebt uns nun mit Hülfe dieser Petrefacten Auskunft über den Entwickelungsgang, den die großen Thier- und Pflanzenstämme vom Beginn des organischen Lebens an genommen haben. Sie scheidet nach den fünf neptunischen Schichtengruppen auch die Organismengruppen unserer Erdrinde in fünf große Hauptabschnitte, nämlich in eine primordiale, primäre, secundäre, tertiäre und quartäre Periode.

Vom Menschen finden sich versteinerte Knochenreste nicht blos in der Quartärzeit, sondern sogar vor der Eiszeit in der (mittleren) Tertiärperiode, gewöhnlich in Gemeinschaft mit mehr oder weniger vollkommenen Werkzeugen, Geräthschaften und Waffen (welche anfangs von rohem Stein, später von polirtem Stein und sodann aus Bronze, Kupfer, gebranntem Thon und zuletzt aus Eisen gefertigt waren), mit Abfällen von Nahrungsmitteln, Unrath und mit thierischen Ueberbleibseln. Von fossilen Menschentheilen wurden besonders Kinnladen (Unterkieferknochen) und Schädel aufgefunden. An beiden zeigte sich in der frühesten Periode ein ausgesprochen affenähnlicher Charakter. An den dicken und runden Unterkieferknochen (Kinnlade von la Naulette, von Martin Quignon, Hyères, Arcis-sur-Aube) fehlte nämlich das Kinn fast ganz (während doch das vortretende Kinn ein charakteristisches Kennzeichen der Menschlichkeit ist); ferner folgten die drei hintern Backzähne bezüglich ihrer verhältnißmäßigen Größe gerade so aufeinander, wie bei den menschenähnlichen Affen. Während nämlich bei dem echten und hochstehenden Menschen der erste dieser Backzähne der größte und der hinterste der kleinste ist, war dies hier umgekehrt; bei niederen Menschenracen (Papuas, Neger) sind alle drei Backzähne von gleicher Größe und überhaupt größer. Auch war die thierische Schiefzähnigkeit (Prognathismus) deutlich an diesen Kiefern ausgesprochen. – Ebenso bestätigt der Neanderthalschädel, welcher mit einem fossilen Menschengerippe in einer Kalksteinhöhle des Neanderthales zwischen Düsseldorf und Elberfeld gefunden wurde, die affenähnliche Beschaffenheit des Kopfes unserer Vorfahren. Derselbe zeigt eine sehr schmale, flache und ganz bedeutend niedergedrückte Stirn mit enorm hervortretenden Augenbrauenbogen; das Gerippe glich in seiner Bildung der Knochenbildung tiefstehender Menschenracen, (die Knochen waren außerordentlich dick und ihre Vorsprünge ungewöhnlich entwickelt). Dagegen zeigt der Engisschädel (aus der Engishöhle bei Lüttich) schon eine bessere Stirnbildung, deutet jedoch immer noch auf eine sehr niedere Hirnbildung. – Der fossile Mensch von Denise und der von Natchez am Mississippi müssen mit dem Mammuth zusammen gelebt haben. – Uebrigens giebt es noch menschliche Ueberreste aus früherer Zeit, welche in der Thierähnlichkeit die heutigen thierähnlichen Menschenracen (Papuas, Hottentotten, Kaffern) noch weit übertreffen.

Bock.




Parlamentarische Charaktere aus Preußen.


1. Die Führer der Ultramontanen.


Windthorst, die Perle von Meppen. – August Reichensperger. – Peter Reichensperger. – Mallinckrodt.


Es ist nahe sechs Jahre her, daß der preußische Parlamentarismus ein allgemeineres Interesse auf sich gezogen und die hervorragendsten Charaktere desselben die Aufmerksamkeit auch über die Grenzen des engeren Vaterlandes erregten. Als es geschah, handelte es sich um große Principienkämpfe, deren Ausgang für ganz Deutschlands politische Entwickelung von Wichtigkeit erschien und die dann jählings in welterschütternden Ereignissen aufgingen: in dem Kriege von 1866.

Jetzt erst, nach wenigen, aber unvergleichlich großen Jahren, richten sich die Blicke abermals voll besonderer Erwartung auf die parlamentarischen Verhandlungen in Berlin; zunächst, wie einst, nach dem Haus der Abgeordneten auf dem Dönhofsplatz. Eine allmählich erstandene, auch im deutschen Reichstag schon oft lebhaft berührte und seitdem immer bedrohlicher gewordene Frage hat dort zu einem mächtigen Kampfe geführt. Alle Welt fühlt, daß es ein entscheidender zugleich für Deutschlands geistige Cultur geworden ist. Hie Welf, hie Waibling! So lautet wieder die Parole. Kirche und Staat, Römlingsthum und modernes Regierungsprincip, Jesuit und Humanist ringen miteinander, und was das Wichtigste dabei ist, sie ringen auf dem Mutterboden des Protestantismus und der höchsten politischen Schöpfungen der Gegenwart um einen Sieg miteinander, der, wie er auch ausfiele, seine moralischen Wirkungen auf halb Europa ausüben müßte.

Seine Größe und Tiefe hat dieser Kampf dadurch erhalten, daß die preußische Regierung selbst sich nach langer, langer Zeit aus ihrer kirchlichen Befangenheit aufraffte und Fürst Bismarck, der seit einem Jahrzehnt ihr größter Aufrührer gewesen, sie nun auch revolutionär gegen den ultramontanen Rattenfänger machte, dessen Gefährlichkeit er nicht nur für die Bildung des Volks, sondern auch für das Gedeihen des Staates und für die Macht und Autorität derselben erkannt hatte.

So war es der Mann, der seit Jahren so viel Geschichte gemacht, welcher nun auch mit festem Griff diese ultramontane Bewegung abfing, um sie, woran ihm Alles lag, wenigstens unter den Staat zu ducken. So schmiedete er selbst die Waffe des Schulaufsichtsgesetzes, welches dem Staate auch in der Schule das Recht über die Geistlichen sichern sollte; so ließ er Herrn v. Mühler fallen, so führte er den Juristen Dr. Falk auf den Stuhl des Cultusministeriums; so brach er die alte Interessenfreundschaft mit der katholischen Centrumspartei; so war er entschlossen, um hier zu siegen, auch selbst mit seiner eigenen conservativen Partei zu brechen, wenn sie, die längst mit Schrecken auf ihn blickte, ihm ein Hinderniß bereiten würde.

Sein Hauptangriff galt also zunächst der katholischen Fraction im Abgeordnetenhause, und die Wucht und Nachhaltigkeit, mit welcher er bei dieser Gelegenheit auf sie eindrang und sie niederzuschmettern suchte, hat auf diese Gruppe von Abgeordneten und ihre Führer das allgemeinste Interesse in ganz besonderem Maße hingelenkt. Zwar ist sie nicht neu und ihre Führer gehören zu den parlamentarischen Veteranen in Preußen; aber ihre Bedeutung ist [141] erst jetzt durch ihre besondere Niederlage recht vor Augen getreten. Seit mehr denn zwanzig Jahren hockt diese Fraction, welche die Politik nach den Interessen ihrer römisch-katholischen Kirche betreibt, im Centrum des Abgeordnetenhauses, zwanzig, dreißig Mann stark, auch eine Zeit lang schwächer; jetzt aber, Dank der von Rom aus neu angefeuerten ultramontanen Wühlerei in Deutschland, und in Preußen noch besonders, bis auf ein halb Hundert Köpfe angewachsen.

Dicht zusammen auf den kleinen halbrunden Bänken, welche sich in der Mitte des Saales vor der Rednertribüne und dicht unter der Ministerestrade befinden, sitzen die vier Männer, welche die Seele dieser Fraction bilden. Vornan, auf einem besondern Stuhl, Windthorst; hinter ihm die Brüder Reichensperger, in dritter Reihe Herr v. Mallinckrodt. Sie sind der hohe Generalstab, die Führer und Redner der von ihnen wohldisciplinirten Partei; wenn andere Mitglieder, wie Herr v. Savigny, nicht minder bedeutenden Einfluß auf die Haltung des kleinen Kreises nehmen, so bleiben sie bei den Debatten doch gewöhnlich Alle im Hintergrunde.

Dr. Falk, der neue Cultusminister von Preußen.

Herr Windthorst ist ein ganz neues Mitglied dieser Fraction und sogleich ihr Hauptgeneral, ihr „geschäftsführender“ Vorstand, geworden, was dem Fürsten Bismarck am allermeisten wohl die Augen über die schleichende Gefährlichkeit derselben geöffnet und ihn gegen sie so heftig erbittert haben mag. Der Grund davon ist naheliegend. Windthorst, als früherer Minister des Königs von Hannover und ausgesprochener Welf, vertrat bis dahin nur die Partei der unzufriedenen Annectirten, und die war schon vor 1870 im preußischen Abgeordnetenhause nicht gefährlich. Als beeinflussender Führer einer so starken Mittelpartei, wie die katholische immerhin ist, erhielt Windthorst natürlich eine ganz andere parlamentarische Bedeutung. Nicht nur, daß er sein Welfenthum in lebendiges Bündniß mit dem hier arbeitenden Ultramontanismus setzte; sondern als ein geschickter und verschlagener Politiker, der bei den preußischen Conservativen sich einiges Ansehen verschafft hatte, war ihm wohl zuzutrauen, daß er in entscheidenden Augenblicken alle diese Elemente, auch die Polen dazu, vereinigen konnte, um der Politik Bismarck’s ein Bein zu stellen. Die Politik Bismarck’s war ja nicht blos ihm, dem treuen Welfen, sondern auch den Ultramontanen, Conservativen und Polen ein Dorn im Auge, um so mehr, je weniger sie den „Racker von Staat“ und die Befestigung der Regierungsautorität nach den Interessen dieser Geister zuzustutzen liebte. Deswegen hatte sich Fürst Bismarck auch vor Allen Herrn Windthorst als Opfer seiner Beredsamkeit erkoren, und der alte Herr nahm diesen bittern Erguß mit verstellter Demuth hin, wie eine Prüfung durch den Himmel.

Dem äußern Eindruck nach erscheint er keineswegs als ein so feiner und gefährlicher Politiker, wie ihn Fürst Bismarck offen hinstellte und als welcher er sich durch seine bisherige Wirksamkeit in der That auch charakterisirte. Windthorst, der jetzt sechszig Jahre zählt, gleicht in seinem äußern Habitus eher einem spießbürgerlichen Rentier, denn einem auf dem glatten Parket des Hofes erfahrenen Staatsmann. Er ist von mittlerer Größe und etwas behäbig untersetzter Figur, einfach und fast altväterisch in seiner Kleidung, doch nichts ohne Leichtigkeit in seinen Bewegungen. Sein starker Kopf ist kahl bis zum Wirbel hinauf, noch mit einem dünnen Kranz flachsgrauer Haare auf der breiten Stirn. Gern folgt er der Gewohnheit aller Glatzköpfe, den Schädel mit der Hand zu streichen. Ein spärlich gediehener, grauer Backenbart faßt sein fleischiges, wie von zartem Rosa angehauchtes Antlitz ein. Die Formen desselben sind etwas gedrückt und verschwommen, die Nase rund und klein, die Lippen sinnlich weich, die Augen in faltigen Polstern lugen zuweilen verschmitzt oder verschämt über das Brillengestell hinweg. Im Kreuzgang eines Klosters und in der Kutte hielte man diese Physiognomie für die eines gutgenährten Paters, der dem lieben Gott ohne Beschwerden sein Leben gewidmet hat. Es liegt nichts Besonderes darin, als eine gewisse schalkhaft versetzte Intelligenz; gar, wenn Windthorst, was oft geschieht, den Kopf gesenkt, vor sich hinzubrüten scheint, illustrirt er wohl das pikante Wort des Grafen Renard, daß er ein welfischer Schalk unter der Kutte sei.

Dicht an der Rednerbühne, ist er leicht versucht, sie zu besteigen. Er spricht nicht imponirend, aber sichtlich gern, mit dem Ehrgeiz, seinen staatsmännischen Werth geltend zu machen. Kein Freund Preußens von jeher und am allerwenigsten einer der Bismarck’schen Regierung, verschleiert er diese Gesinnung mit seiner Opposition gegen die Sache, was nicht verhindert, daß er häufig in allgemeine Angriffe übergeht, welche der Präsident gewöhnlich unterbrechen zu müssen glaubt. Aber in diesen Zweideutigkeiten und Ausfällen liegt eine gewisse Bosheit, die aufreizt. Wie wußte er in der großen Debatte über das Schulaufsichtsgesetz von seinen schmunzelnden Lippen das ärgernde Wort abzuschnellen, daß Preußen drauf und dran sei, ein heidnischer Staat ohne Gott zu werden oder der sich Gott selber construire; wie reizte er Fürst Bismarck, indem er ihn den geschäftsführenden Minister der Majorität des Abgeordnetenhauses nannte und den Biß dann noch vergiftete, indem er von einem Abfall vom Royalismus zum Parlamentarismus sprach! Wie nergelte er den thronenden Forckenbeck auf dem Präsidentenstuhl unvermuthet empor, indem er nach der großen Rede Bismarck’s gegen seine welfische Jesuitenpolitik gottergeben bemerkte, daß ihm der Herr Präsident wohl nicht gestatten würde, sich in derselben Tonart zu vertheidigen, wie sie ein Minister ungestört anschlagen dürfe! Und dann hing er den Kopf zur Erde und nahm die neuen Sturzbäder hin.

Die Rolle, welche jetzt Windthorst als anerkannter Führer der katholischen Fraction auf dem großen Theater des preußischen und reichsdeutschen Parlamentarismus spielt, schmeichelt seinem geheimen Ehrgeiz natürlich nicht wenig. Sie ist viel bedeutender als diejenige, welche er fast zwanzig Jahre lang im Königreiche Hannover gespielt hat, und zwar, was heute erst bemerkenswerther geworden ist, vor Allem mit Hülfe des intriguirenden römischen Jesuitenthums. Windthorst, welcher in den vierziger Jahren Advocat in Osnabrück war, wurde durch ultramontane und damit verbündete protestantisch-pietistische Einflüsse zu der Höhe seiner [142] Laufbahn geführt. Er kam zunächst in’s Consistorium, dann in das Oberappellationsgericht und endlich in’s Ministerium. Kein Katholik, der in dem protestantischen Hannover jemals in solche Stellung gekommen wäre! Auch traten die Folgen davon bald zu Tage. Bei Hofe wurde man den pietistischen oder richtiger den papistischen Einflüsterungen zugänglich; Jesuiten fanden dort Zulaß, welche – es war die Zeit, wo Preußen mit seinen Hegemonieplänen scheiterte – die hannoversche Politik in Oesterreichs Lager hinüberzuführen und den König Georg wo möglich katholisch zu machen suchten. Der bekannte Pater Roh, ein Jesuit, hielt in Hannover Predigten, und sie fanden bei Hofe eine auffällig freundliche Aufnahme. Daß hier der Minister Windthorst die beschützende und Platz machende Hand bildete, war unzweifelhaft; denn als er nach dem Reactionsregimente des Grafen Borries zum zweiten Male das hannoversche Staatsministerium erhielt, ging das ultramontane Muckern am Hofe von Neuem los.

In politischer Hinsicht führte Windthorst übrigens die Geschäfte in gemäßigt liberalem Sinne. Beim zweiten Rücktritt erhielt er dann die einflußreiche Stelle eines Oberkronanwalts, in welcher er bis zu der Annexion Hannovers blieb und noch die persönlichen Angelegenheiten des Königs Georg mit Fürst Bismarck ordnete. Der bedenkliche Preußenfeind wurde dann aber von diesem Posten entfernt und vertrat die welfischen Interessen nur noch als Abgeordneter in Berlin, bis er sie glücklich mit den ultramontanen verkuppelte und nun unter der päpstlichen Flagge in’s hohe Fahrwasser der Politik hinaussegelte. Wie er auf dem Boden der preußischen Verfassung steht, darüber hat er sich, seiner Auslassung nach, mit seinem Gewissen und mit seiner Kirche arrangirt. Ein in Rom so angesehener und um die moderne ultramontane Politik so verdient gewordener Mann muß auch mit seinem Gewissen sich im Reinen fühlen; denn, wie man sagt, hat ihm der Papst in eigenhändigem Lobschreiben zugleich Ablaß für drei Generationen ertheilt. Die Stelle in der Rede Bismarck’s, welche von dem erbittertsten Feinde einer bestimmten Monarchie spricht, „der unter der Maske der Sympathie für diese Monarchie sich an deren König heranzudrängen suche, um ihm einen Rath zu ertheilen, der für diese Monarchie sehr gefährlich sei“ – Windthorst wird sie wohl zu würdigen gewußt haben. Es sollen die schwarzen Ratten schon längst auch am preußischen Hofe wühlen.

Ein stolzeres Haupt, ein stattlicheres Wesen hat der Oberappellationsrath August Reichensperger, der Abgeordnete für Koblenz. Der gleichfalls kahle Schädel leuchtet aus einem noch dunklen Haarkranz, wenn auch der feine, kurze Backenbart schon stark in’s Graue spielt. Denn Reichensperger ist kein Jüngling mehr; er zählt jetzt vierundsechszig Jahre. Aber er hat noch die elastische Fülle und Beweglichkeit des rüstigen Mannes, und eine gewisse Lebhaftigkeit des Charakters, durch eine glatte, elegante Form abgestimmt, äußert sich frei durch Zwiesprach mit dem Nachbar und Spiel der Mienen. Das große, breite Antlitz ist scharf markirt, die Nase stark und von edlem Schnitt, der Mund in begünstigter Ausbildung für einen Redner. Ein geistvolles Auge blitzt unter der hohen Stirn. In dem ganzen Antlitz liegt etwas Selbstbewußtes, Kühnes im Ausdruck des Sinnenden, und ein feiner ironischer Zug fährt oft darüber hin, ohne mißfällig zu wirken. Als Redner mahnt dieser Mann wohl an einen Professor, der zierlich seine Worte setzt, sein Thema völlig beherrscht und in salbungsvoller Breite den Vortrag durch Arabesken und Schnörkel zu verschönen sucht. Selten mit Glück. Die ebene Ruhe und die Harmonie seiner Reden wirken meist mehr ermüdend als anregend; die Gedanken darin blitzen nicht und umschlängeln in mattem Feuer ihr eigentliches Ziel. Es ist ein väterlicher, ein Patriarchenton darin, der versöhnlich stimmen soll, wenn eben die Geister in hellem Kampfe aufeinanderplatzen, und der deshalb wenig Wirkung macht.

August Reichensperger ist als der eigentliche Papst der katholischen Fraction zu bezeichnen; er ist ihr Vater. Der Katholicismus und die päpstliche Oberherrlichkeit sind von jeher die Grundsätze gewesen, nach denen er seine öffentliche Thätigkeit gerichtet hat. In Koblenz unter der dortigen Franzosenherrschaft geboren, in dem Hause eines Vaters erzogen, der französischer Beamter gewesen, wuchs er in dem Geiste auf, welcher in den Rheinlanden bis vor einem Vierteljahrhundert vorherrschend war und der in stetem Protest gegen die preußische Herrschaft sich gefiel. Der Streit mit dem Kölner Erzbischof bildete den Ausgangspunkt einer ultramontanen Propaganda am Rhein, die geschickt diese Antipathien gegen Preußen verwerthete. Reichensperger trat als eifriger Agitator auf diesen Boden. Ehrgeizig und mit Talenten ausgestattet, wollte er eine politische Rolle im Geiste des Katholicismus spielen. Als die Revolution von 1848 niedergeschlagen war, bot er der preußischen Reaction gleichsam die Unterstützung der katholischen Partei an, und man nahm in Berlin seinen Vorschlag mit Freuden auf. Kreuzritter und Römlinge schlossen damals ihre erste Allianz unter der Protection der österreichischen Reaction. In dem unglücklichen Parlament zu Erfurt 1850, wo die preußischen Unionspläne scheiterten, wurde die Gründung einer besondern katholischen Fraction von Reichensperger besorgt. Seitdem hat sie immer im preußischen Abgeordnetenhause existirt, als ein Zipfel der conservativen Partei betrachtet, der sich zuweilen auch um die Füße der liberalen schlug; als parlamentarisches Gebilde nur wichtig, weil die Stimmen dieser Gruppe häufig die Entscheidung bei den Abstimmungen bewirkten und deshalb wohl durch Unterhandlungen von dieser oder jener Partei gewonnen werden mußten.

Mit dieser parlamentarischen Thätigkeit im Sinne der römischen Tendenzen begnügte sich August Reichensperger aber keineswegs. Er wurde einer der bedeutendsten Führer der katholischen Propaganda überhaupt, half die katholischen Vereine organisiren und das Netz ihrer Agitationen über ganz Norddeutschland ausbreiten, was die preußische Regierung in dem Glauben begünstigte, daß solche kirchliche Disciplinirung und damit gesicherte Unwissenheit eines großen Theiles des Volkes dem Staatswohl ganz besonders dienlich sei – bis sie nun jetzt ihren Schaden besehen hat. Auch in christlich-germanischer Kunst machte Reichensperger sehr eifrig. Der Dombau zu Köln erhielt durch seine Anregungen in der Presse wie in Vereinen viel Förderung. Eine andere seiner Broschüren, „Fingerzeige auf dem Gebiete der christlichen Kunst“, gab den Geistlichen Anweisungen, ihnen übergebene Kunstschätze vor dem Verderben zu hüten. Eine größere Schrift behandelt „die christlich-germanische Baukunst und ihr Verhältniß zur Gegenwart“.

In treuer Waffengemeinschaft mit ihm auf parlamentarischem Gebiete seit dreiundzwanzig Jahren ist sein etwas jüngerer Bruder, der Geheime Obertribunalsrath Peter Reichensperger, jetzt Abgeordneter für den Wahlkreis Olpe. Im Wesentlichen übereinstimmend mit den Grundsätzen und Bestrebungen seines Bruders, hat sich Peter Reichensperger doch allen ultramontanen Agitationen öffentlich fern gehalten und jederzeit nur den Politiker herausgekehrt, welcher fest davon überzeugt ist, daß eine heilsame Staatspolitik mit den Interessen der katholischen Kirche nothwendig übereinstimmen müsse.

Ein Idealist von reinem Bewußtsein und naivem Glauben, betrachtet er den Katholicismus als ewige Wahrheit, welcher Lüge und Schlamm der Zeit in ihrem Kern nichts anhaben können. Ohne religiöser Schwärmer zu sein, liegt doch eine revolutionäre Leidenschaft in ihm, die ihn oft in die Opposition gegen den Staat getrieben und zu einem Apostel der Volksinteressen gemacht hat. Er ist ein gläubiger und besonnener Lamennais. In seiner Rede liegt die Kraft und selbst die Begeisterung der Ueberzeugung; er hat mehr als einmal, namentlich in früheren Jahren, die lauschende Kammer durch die Macht seiner Beredsamkeit, durch die Logik seiner Gedanken in tiefe Bewegung zu setzen vermocht und gilt deshalb nicht nur als der bedeutendste Kämpfer seiner Fraction, sondern mit Recht auch als einer der besten Redner des preußischen Parlamentarismus überhaupt. Schlank und groß von Figur, hat er sich eine jugendliche Anmuth des Wesens und der Bewegung bewahrt. Noch erscheint sein Haupthaar dunkel, voll und in kühner Locke liegt es auf der Stirn; aber der Bart an den Wangen und besonders am Kinn ist grau geworden, das schmale, lange Gesicht mit einem stark ausgebildeten Unterkiefer hat den Ausdruck des Energischen und der Offenheit; aus diesen Zügen spricht ein arbeitsvoller Geist, aus diesem Lächeln ein warm empfindendes Gemüth, aus diesen Augen, wenn sie nach müdem Aufschlag schnell sich beleben, leuchtet Feuer und selbst ein schöner dämonischer Rausch.

Wer möchte die Ueberzeugungen dieses Mannes verunglimpfen, wenn man sie auch mit anderen Ueberzeugungen bekämpft? Er schwingt sich auf die Tribüne, als wisse er, daß er den [143] Gegnern mit guten Gründen und einer unsträflichen Sittlichkeit des politischen Gewissens gewachsen sei; er giebt mit den Bewegungen seines Armes seinen Worten Nachdruck, wie fechtend im Einzelkampf mit dem Ausgezeichnetsten aus den feindlichen Parteien. In aller Leidenschaft seiner Polemik irrt er aber nicht vom Sachlichen ab und läßt er sich nie zu persönlichen Ausfällen, zu einem verletzenden Ausdruck verleiten; auch im Aufruhr des Innersten bleibt diese Natur dem Gesetz des Schönen und wahrhaft Vornehmen unterthan. Wenn er geendigt, so schreitet er im Stolz erfüllter Pflicht von der Tribüne, in der Erregung kaum des Zweifels fähig, daß er mit seinem Appell an die Vernunft nicht die besseren Geister wenigstens im Stillen überzeugt habe.

Völlig entgegengesetzt ist der Eindruck, den Herr v. Mallinckrodt macht, der Regierungsrath und eines der ältesten und rührigsten Mitglieder der Fraction, der Führer der Schwärzesten unter den Schwarzen. Es ist eine hagere, schlanke, steife Erscheinung mit einem eckigen, ragenden Kopf spitz zulaufend zum Kinn, welches, wie die Oberlippe, ein dichter, kurzer, starrer grauer Bart bedeckt. Das volle Haar ist fast in der Mitte des Hauptes wie nach Frauenart gescheitelt. Die gerade Linie des Gesichts leiht diesem etwas Ehernes und der wenig bewegliche Ausdruck der düsteren Züge, der kalten ruhigen Augen erhöht diesen Charakter noch mehr. Auch inmitten seiner Schaar hält er sich abgeschlossen; mit dem Pince-nez vor den Augen liest er, scheinbar sich um nichts kümmernd, was um ihn vorgeht, während doch ein prüfender Aufblick zuweilen beweist, daß seine Ohren den Verhandlungen folgen; oder er sitzt unbeweglich da, die Blicke gesenkt, hinsinnend. Nur selten, daß er mit seinen Nachbarn spricht; noch seltener, daß dabei das Lächeln der Freundschaft über seine Züge, und dann gezwungen, gleitet.

Ein starrer Ascet, ein fanatischer Puritaner römischer Gesinnung, das ist Herr von Mallinckrodt. Entschlossen und kampffertig, deckt er gleichsam den Rückzug aus dem Gefecht. Dann stellt er sich ein, finster, unheimlich, mit kaltem Hohn und verhaltenem Grimm seine Gegner herausfordernd. Das papistische Non possumus ist sein Evangelium, und rücksichtslos bringt er es gegen die Liberalen wie gegen die Regierung zur Geltung, wenn diese dem ihm verhaßten Zeitgeist Rechnung trägt. Ein nüchterner, wenig gedankenvoller Redner dabei, sind die Pointen seiner Aeußerungen selten mehr als Drohungen und Phrasen jesuitischer Sorte. Er verachtet den Sieg der Gegner, wenn er ihnen nicht mehr zu entreißen ist; er tröstet sich darüber wie Talbot beim Sterben. Bei ihm ist unerschütterlich die Zuversicht, daß schließlich doch die ultramontane Herrlichkeit über allem Ketzerthum strahlen werde, das verderbte Volk der alten Einfalt feudaler Erziehung zuführend, die Juden vertreibend, die Presse unterdrückend, die Regierungen beherrschend, nachdem sie alle wieder den Papst als ihr kirchliches und weltliches Oberhaupt anerkannt haben. Aus seinem Munde fanatische Ideen zu vernehmen, überrascht nicht; man weiß, er glaubt ja daran und er spricht mit einem herben, stacheligen Ernst, so daß die Wirkung im Hause auch bei seinen bizarrsten Auslassungen mehr unheimlich als komisch ist. So nahm er z. B. keinen Anstand, gegen die Angriffe des Fürsten Bismarck Windthorst als einen der populärsten Männer, als eine „Perle“ zu bezeichnen, die seine Fraction erst „in die richtige Fassung gebracht habe.“ Die welfischen Protestanten, die sich den Ultramontanen angeschlossen haben, erklärte er für „Männer von echt deutscher Gesinnung“, und dem Fürsten Bismarck ertheilte er als einem Nachahmer Napoleon’s und Cavour’s offen das Mißtrauensvotum seiner Partei, weil sie „nicht wisse, wohin er sie führe“. Dies wird genügen, diesen Mann zu charakterisiren und die Tendenzen der Partei, in welcher er seit zwanzig Jahren eine so einflußreiche Rolle spielt.




Den Unbekreuzten.

Komm, Camerad, laß Dich’s nicht grämen,
Daß Du das Kreuz nicht trägst, wie wir;
Kann Dir darum doch Keiner nehmen
Die Ehre, die Du trägst in Dir.
Uns gab das Kreuz des Kaisers Wille,
Weil Lohn der wackern That geziemt, –
Doch keine That gleicht der, die stille
Einhergeht und sich selbst nicht rühmt.

Der König rief, wir Alle kamen
Und fragten nach nichts Anderm mehr,
Und vorwärts braust’ in Gottes Namen
Das deutsche, sieggeführte Heer.
Jetzt über Burg und Berg geklommen,
Nun gen Privat der Tambour schlägt, –
Sieh, Freund, so ward im Sturm genommen
Das Kreuz, das unsre Brust nun trägt!

Dich führte zwar der Gott der Schlachten
Nicht auf das off’ne, blut’ge Feld, –
Doch, was in Stunden wir vollbrachten,
Vollzogst Du mondelang als Held;
Vor Metz und vor Paris zu liegen
Fünf Monde, Tag und Nacht auf Wacht,
Langsam, als Märtyrer zu siegen: –
Fürwahr, ist mehr, als kurze Schlacht!

Und wir? – Ich lief hinaus zum Hause
Jung, ledig, lustig, sorgenleer,
Ließ nichts zurück in meiner Klause,
Trug nur mein bischen Leben her;
Und Jener dort? Nur sein Gewerbe
Treibt in der Schlacht der Officier,
Und schmeckt der Tod auch Allen herbe,
Er opfert auch nicht Mehr als wir.

Doch Du, Du gingst vom Weib und Kinde,
Von Deinem Werke, sorgenschwer,
Gabst Dein Erbautes preis dem Winde,
Trugst eine Welt voll Opfer her; –
Und doch kamst Du aus eignem Willen,
Ein freier und bejahrter Mann,
Und Alles gabst du hin im Stillen,
Was nur ein Mensch je geben kann!

So schlugst im gleichen Schritt und Tritte
Du Dich für Deutschlands Sieg und Ehr’
In Deiner Cameraden Mitte
Getreu durch alle Kriegsbeschwer,
Lagst dauernd unter Feuerschlünden,
In Noth und Tod viel’ Monde lang,
Bis solch ein zähes Ueberwinden
Den Erbfeind auf die Kniee zwang.

Das, das ist Ehre ohne Gleichen,
Wenn laut von ihr kein Kreuz auch spricht,
Nein, gieb ihr tausend Ordenszeichen,
Sie strahlte dennoch heller nicht; –
Drum komm’, laß sie nur immer fragen,
Ob Du kein Held, so gut, wie wir: –
Was rühmlich auf der Brust wir tragen,
Trägst rühmenswerther Du in Dir!

 Pr.




Eine Heilstätte in den Alpen.


Als ich jüngst Meran verließ, war mir mehr weh als wohl zu Muthe – nicht, wie wenn ich über Brustweh oder Asthma oder Lungenschwäche zu klagen gehabt hätte: nein, ich hatte, Gott sei’s gedankt, den berühmten Curort im vorigen Herbst lediglich seiner landschaftlichen Schönheit halber aufsuchen können; aber das Herz im Leibe that mir weh, weil ich von dem rebenumkränzten Thale, von den duftigen, stolzen Bergen, von dem sonnigen Städtchen an der Passer scheiden sollte, das ich so liebgewonnen und das [144] Keiner vergißt, der die Herrlichkeiten seiner Umgebung einmal genossen. Und wie pocht Einem gar das Herz, wenn man, über die Berge daherkommend, zum ersten Male die berühmte Stadt vor sich liegen sieht, burgenumschützt und sonnenumflossen; wie munter und jubelnd

Zwischen Weinbergsmauern auf dem Küchelberge.

schwingt der Tourist den Burgen da drüben und den Thürmen da drunten seinen Hut zum Gruße entgegen, indessen der „Unheilbare“, den die Aerzte hierher in das ferne Land geschickt haben und dessen Wagen in Staub wirbelnd dahinrollt, in neuen bangen Zweifeln, in Furcht und Hoffen erbebt, ob er von hier geheilt an den heimathlichen Herd zurückkehren oder, dem mörderischen, heimtückischen, nie rastenden Feind in seiner Brust zum Opfer hinsinken werde, jenseits der Alpen in schönem, aber doch fremdem Lande, auf immer geheilt und für immer erlöst!

Ich war, als ich nach Meran wanderte, in nördlicher Richtung her an dem Dorfe Moos und an St. Leonhard vorübergekommen, in dessen Nähe das berühmte Wirthshaus „Am Sande" liegt, von dem Sande oder vielmehr von dem aus den Bergen mitgenommenen Geröll

Ruine Brunnenburg.

so genannt, welches die Passer, wie vielfach in dem weiten Thale, so auch hier vor dem Hause des Freiheitshelden Andreas Hofer ablagert. Das Gehöft mit dem zweistöckigen hölzernen Vorbau, beschattet von zwei uralten Linden, die ihre Aeste weit über das Dach strecken, wird von seinem jetzigen Besitzer, einem Nachkommen des Andreas Hofer, in der alten, schmucklosen Einfachheit erhalten. In der oberen Stube zeigt man Hofer’s großen, schwarzen Tirolerhut, seinen kurzen Stock, seinen breiten, reich gestickten Ledergürtel, sowie seinen letzten, vier Stunden vor der Erschießung geschriebenen Brief aus Mantua, darinnen die denkwürdigen Worte vorkommen: „Ade, meine schnöde Welt, so leicht schwebt mir das Sterben vor, daß mir nit die Augen naß werden.“ Auf den Bergen gegenüber liegt die Sennhütte, in welcher sich Hofer vor den Franzosen verborgen hielt.

Ueber Salthaus und dessen stolzen Banketsaal, der den bescheidenen Namen „Gaststube" führt und von feinen Erkerfenstern aus einen entzückenden Blick hinunter in das Passeyer Thal gewährt, ließe sich mancherlei Schönes berichten; aber vorbei an wilden tief einschneidenden Schluchten, über primitive Holzbrücken, unter denen kleine Gebirgsbäche dahinbrausen, zur Rechten hoch oben das gewaltige Schloß Auer, begrüßte ich die ersten Weingärten, welche sich in Terrassen die Gehänge der Berge hinaufziehen und zwischen deren Weinmauern ich nun hinschlenderte, bis sich der Weg von den Höhen der Berge hinab senkt nach Meran, das hier durchaus den Eindruck einer mittelalterlichen befestigten Stadt macht. Der alte, feste, mit dem Stadtwappen geschmückte Thurm des Passeyer Thors, durch welchen die Straße hindurchführt, die verwitterten Stadtmauern, die Häuser, welche hoch aus dem Flusse aufsteigen, die Passer, welche wie ein tiefer Festungsgraben diesen Theil Merans umfließt, der alte verfallene Wartthurm auf dem Hügel vor dem Thore halb versteckt zwischen Weingärten – alles dieses erinnert an die Zeiten des Mittelalters, da noch die Stadt mit dem Ritteradel des Etsch-Thales in steter Fehde lag.

Und so schritt ich denn nun hin durch die meist winkligen und schiefen Straßen der alten Stadt. Schon die Bauart der Häuser zeigte, daß ich jenseits der Alpen sei. Ueberall machten sich meinem nordischen Auge die breiteren Wandflächen, flacheren Dächer, kleinen unregelmäßigen Fenster und weiten Thüröffnungen bemerkbar. Auch das Leben auf den Straßen fand ich schon viel bunter, mannigfaltiger, öffentlicher, als bei uns. In den Laubengassen der Stadt spannen die Weiber und lagen leichtbekleidete Bursche in träger Ruhe [145] auf den Bänken ausgestreckt. An den weiten Fensteröffnungen sah ich Handwerker arbeiten, dann und wann behaglich mit den Vorübergehenden schwatzend, immer das Leben und Treiben auf der Straße im Auge behaltend. Zwischen den Mauerpfeilern der Gassen lagen die herrlichsten Südfrüchte, Wein, Feigen, Pfirsiche, Aprikosen, Melonen in reicher Fülle aufgehäuft, und doch, bei all diesem südländischen, italienischen Anstrich, den das Leben allüberall zeigt und der auf den fremden Besucher schon so reizvoll wirkt, wie durch und durch deutsch fand ich die Bevölkerung! Und Jeder, der denn auch jemals an einem Sonntage in den Straßen Merans die hohen breitschulterigen Gestalten der Landleute aus der Umgegend gesehen hat mit dem blonden, welligen Haar, den blauen

Passeyer Thor von Meran

Augen, der hohen Stirn, in ihrer malerischen Tracht, den kurzen Kniehosen, der kurzen Jacke, um den Leib den breiten rothgestickten Gürtel, auf dem Kopfe den spitzen Tirolerhut, im Munde die nie fehlende kurze deutsche Pfeife – erkennt in ihnen gleich den Deutschen, den Enkel jener Hünengestalten, welche die Römer so oft in Furcht und Schrecken gesetzt haben. Es sind dies auch die Nachkommen der Rugier und Ostgothen, deren Kämpfe im Etschthale wohl die Grundlage jener Sagen bilden, welche die Thaten des großen Ostgothen-Fürsten Dietrich von Bern feiern. Noch am Ende des vorigen Jahrhunderts war Gestalt, Charakter, Gesinnung und Sprache deutsch bis Trient und ist es jetzt noch bis Neumarkt unterhalb Botzen. Denn leider ist die österreichische Regierung dem Vordringen des italienischen Elements im untern Etschthale nicht entgegengetreten.

Das gleichmäßige milde Klima hat bekanntlich Meran vor Allem zu einem Curort von europäischer Berühmtheit für Brustkranke gemacht. Ganz besonders wird der Ort vor den kühlen Luftströmungen aus dem Passeyerthal durch einen Ausläufer der Mutspitze, den Küchelberg, geschützt, an dessen Südabhange sich Meran längs der Passer ausdehnt und hinzieht. Aber der Küchelberg übt nicht allein dieses wohlthätige Schutzamt gegen rauhe stürmische Eindringlinge aus dem Norden; von seiner Höhe gewährt er auch eine herrliche Aussicht auf Meran und das Etschthal, so daß ich schon in den ersten Tagen meines Aufenthaltes von der Pfarrkirche der Stadt aus zwischen den hohen Mauern der Weingärten, welche den Abhang dieses Berges bedecken, auf vielen steilen Stufen zu ihr emporstieg. Hier und da stand in der Mauernische ein Marienbildniß, vor welchem der Tiroler andächtig ein Paternoster betet oder im Vorbeigehen mechanisch ein Kreuz schlägt. Von beiden Seiten wucherten üppig die Reben über die Mauern und oft schritt ich unter einem festen Rebendach, durch welches sich die Sonnenstrahlen nur verstohlen durchdrängten, in geheimnißvollem Halbdunkel hin. Dann wieder bot sich bald nach dieser, bald nach jener Seiten hin plötzlich und unerwartet die reichste Aussicht auf Meran und das Etschthal dar, eingerahmt von dem grauen Felsgestein der Mauern und den saftiggrünen Blättern der Weinreben mit den herabhängenden, vollen dunkeln Trauben.

Die Aussicht auf das Etschthal lohnte die Anstrengungen, welche der etwas gar steile Weg verursacht hatte, in verschwenderischer Weise. Goldiger Sonnenduft lag ausgebreitet über den grünen Wiesen, durch die sich der Fluß wie ein Silberfaden schlängelte. Ringsum in malerischen Contouren mächtige Berge, nur nach Süden sich öffnend und dem Auge in weiter Ferne die blauen Linien der Tridentiner Berge zeigend.

Wesentlich erhöht wird der malerische Charakter der Landschaft durch die zahlreichen Burgen, deren Trümmer oft fast ganz von dem vollen saftigen Grün uralter Epheustämme umrankt sind und bald aus mächtigen Kastanien- und Nußbaumgruppen hervorschauen, bald wieder kühn auf vorspringenden Felsen thronen oder wie Schwalbennester an den Bergen hangen. Die bedeutendste der Burgen Merans ist das Schloß Tirol, nun ausgebaut und den Lesern der Gartenlaube wohl schon aus irgend einer der vielen Abbildungen, welche von ihm existiren, bekannt. Von der alten Burg ist noch ein verfallener, auf schwindelnder Höhe liegender Thurm vorhanden.

Einige hundert Fuß unterhalb thront die Ruine Brunnenburg auf einem freien, nackten Felsen, aus dem das grau verwitterte Gemäuer gleichsam hervorzuwachsen scheint. Den Fuß des Burgfelsens, wo der Sage nach der mit einem Seidenfaden umzogene und mit goldenen Pforten verschlossene Rosengarten des Zwergkönigs Laurin gewesen sein soll, welchen der ernste, gewaltige Held Dietrich von Bern besiegte, bekleiden Weingärten; bald aber macht das schroffer ansteigende Gestein den Weinbau unmöglich, der nackte Fels tritt zu Tage und nur noch hier und da hat sich auf den Absätzen desselben eine kleine Weinpflanzung eingenistet, in welcher halb versteckt ein Bauernhaus liegt.


(Schluß folgt.)




Erinnerungen an eine treue Seele.


Eine Lebensgenossin und Pflegerin Friedrich Schiller’s.


Wer von dem Walddorfe Hummelshain im Herzogthum Altenburg südöstlich auf der Straße, welche nach Neustadt an der Orla führt, wandert und dann im Hochwalde den nächsten Weg rechts zwischen dem duftigen Grün eines Dickichts von zierlichen, jungen Fichten einschlägt, gelangt bald auf einem niedersteigenden Wege nach einem grünen, frischen Grunde, in dem viele einzelne Thalgründe von den verschiedensten Seiten, aus bewaldeten Höhen herab zusammentreffen, und aus ihren Quellen nach und nach [146] ein Bächlein bilden, das bald auf schmalem Wiesengrunde, bald unter kleinen Partien dichter Fichten gar klar und lustig dahinflüstert. Tiefer Waldfrieden und beschattetes Halblicht umgiebt den Wanderer.

Folgt dieser nun im engen Thale dem neben dem Bache sich rechts windenden Wege weiter, so erinnert ihn nur noch der gebahnte Weg an Menschen und ihre Lebensspuren. Sonst scheint hier die Natur noch ungestört und unbeschränkt ihr stilles, hohes Leben zu führen. Rings ist Alles so schweigsam ernst, nur der Bach drunten springt munter und plätschernd über die ruhenden Steine wie ein fröhliches, ausgelassenes Kind, weiter und weiter. Plötzlich wendet sich der Grund mehr südlich, die Berge mit ihren Waldbäumen treten zurück, das Thal wird weit, der blaue Spiegel eines Teiches und eine Mühle bringen lautes Leben, ärmliche Häuser erscheinen in dem sich nach rechts biegenden Thale einzeln, als kleine gesonderte Heimwesen, – damit beginnt das Dorf Langendembach.

In ihm verlebte eine Genossin und eine der letzten Pflegerinnen unseres Schiller still, einfach ihres reichen Lebens ruhevollen Abend. Niemand hat das Leben Schiller’s von 1798 bis 1805 und seine Lebensgenossen klarer und unmittelbarer kennen lernen als diese Lebensgenossin, welche Schiller selbst „seine treue Seele“ zu nennen pflegte. An der Kirche und dem Pfarrhause vorbei kommen wir zu dem kleinen, aber gar freundlich einladenden Hause, das sich, auf rebenbekränzter Anhöhe, Wilhelmine Schwenke hat bauen und anlegen lassen, um nach dem Tode ihrer zur Freundin gewordenen Herrin Karoline v. Wolzogen, geborenen v. Lengefeld, ihren Lebensabend neben der Stätte ihrer Geburt und Kindheit zu verleben. Ist doch auch der wackere Pfarrer des Ortes ihres Bruders Sohn.

Gehen wir hinauf und treten still ein in das bescheidene Haus. Dort sitzt auf dem hohen Lehnstuhle eine hochbejahrte Matrone, – das bleiche, edle Gesicht unter dem weißen Häubchen sieht uns mit den großen, dunklen Augen wohlwollend, friedvoll an. Die ganze hohe, noch gerade Gestalt in ihrer so einfachen und doch so edlen Haltung erscheint uns wie eine Ahnfrau aus großer Zeit. Und eine große Zeit hat sie mit wunderbarem Gedächtnisse durchlebt. Gar nahe gestanden hat sie als Vertraute der Schwägerin Schiller’s, Karoline v. Wolzogen, unseren Heroen Schiller, Goethe, Körner, Wilhelm und Alexander v. Humboldt, vertraut war sie mit Pestalozzi, bekannt mit Herder. Ruhig, fast vergeßlich für die Dinge der Gegenwart, das Heute nur matten Auges ansehend, lebt sie auf, dringt Feuer in das Auge, wird die Erinnerung wunderbar klar, wenn sie von der großen Zeit redet, wo sie mit Schiller verkehrt, wo sie mit den Brüdern Humboldt umgegangen, wo sie mit Goethe sich unterhalten hat, wo sie in Paris (1802, 1807 und 1808), in Dresden und Loschwitz, in Stuttgart, in Wien (1813) mit der Familie Wolzogen lebte. Da führt sie uns, wie neu erwacht, mit klaren, lebensvollen Bildern hinein in die bedeutungsvolle Zeit, vor die ehrwürdigen und genialen Gestalten. Und doch ist Alles, was sie sagt und wie sie es sagt, so einfach bescheiden, so weiblich discret! –

Wer wollte da nicht gern einen nähern Blick thun in das Leben, das hinter dieser Matrone liegt? Wie interessant auch ein tieferes, specielleres Eingehen in ihr Leben wäre, so müssen wir uns doch versagen, unserer Erzählung das Interesse der Specialität zu geben, denn wir würden die Achtung vor der so bescheidenen, discret-getreuen Freundin schwer verletzen. Wir dürfen nur einen ganz allgemeinen Umriß geben.

Friederike Wilhelmine Schwenke war die Tochter eines Pfarrers in dem zur Grafschaft Oppurg gehörigen großherzoglich weimarschen Dorfe Langendembach. Aus sehr einfachen, stillen Verhältnissen, aber mit einem frommen, treuen Sinne und großer Gewissenhaftigkeit ging sie früh in das Leben hinaus. Noch nicht achtzehn Jahre alt, trat sie im Juli des Jahres 1798 in dienstliche Verhältnisse bei Karoline v. Wolzogen, Gattin des weimarschen Geheimraths und Oberhofmeisters v. Wolzogen, der schriftstellerisch bekannten Schwägerin von Schiller. Sie selbst schrieb damals: „Welch großer Unterschied zwischen einem Kinde des Hauses und einer dienenden Person, welche Niemand beachtet und der man, wenn sie ihre Arbeit gehörig verrichtet, es überläßt, zu leben, wie sie will!“ Aber das reine, echt fromme Haus, aus dem sie gegangen mit der lebhaften Erinnerung an einen ehrwürdigen Vater, dabei ein gewisser edler Stolz, verbunden mit der Neigung, mehr zurückgezogen zu leben, schützte das junge Wesen in der neuen großen, glänzenden, aber auch versuchungsvollen Umgebung. Dazu hatte sich frühe in Wilhelmine Schwenke ein ungewöhnlich klarer, praktischer Verstand entwickelt, welcher sie bei ihrer großen Zuverlässigkeit, ihrer Treue und bescheidenen Hingabe mehr und mehr beachten ließ. „Viele herbe Stunden habe ich bestehen müssen,“ schreibt sie, „doch schützte mich mein Verstand vor Bitterkeit, und nie konnte ich das ehrwürdige Gesicht meines Vaters vergessen, wenn er mir Kernsprüche der Bibel einpflanzen wollte.“ Und das war es, was ihr auch bald Achtung von Menschen erwarb, die sie näher kennen lernten, und nach und nach ihre ganze Stellung in der Familie v. Wolzogen hob und sie dieser näher führte. Dabei sollten ihre großen Vorzüge durch die ungewöhnlichen Lebensverhältnisse und einige sehr schwierige Lagen der Familie v. Wolzogen sich immer mehr entfalten und dabei klarer hervortreten, was die Achtung gegen sie vermehrte.

Kleinere Reisen abgerechnet, lebte sie mit der Familie v. Wolzogen zunächst in Weimar zu einer Zeit, wo diese an sich kleine Stadt die größten und edelsten Männer des Volkes in sich schloß, wo ein geistiger Verkehr lebte, wie er nirgends wieder erschienen ist. Und gerade die Familie, in welcher unsere Wilhelmine Schwenke lebte, war ein Sammelplatz jener Männer, ein Mittelpunkt dieses Verkehrs.

Auf die Familie v. Wolzogen, deren Persönlichkeiten und Beziehungen hier näher einzugehen, möchte nicht am Orte sein; denn dieselben sind den Gebildeten unseres Volkes unter den hohen Erinnerungen an eine literarisch große Zeit bekannt, selbst von literarischer Freibeuterei vielfach an das Licht gestellt.

Als 1801 der Geheimrath v. Wolzogen vom Herzoge Karl August von Weimar nach Petersburg gesendet wurde wegen der beabsichtigten Verbindung des weimarschen Erbprinzen mit der Großfürstin Marie Paulowna, reiste Wilhelmine Schwenke mit Frau v. Wolzogen und deren sechsjährigem Sohne Adolph nach Dresden und zog im Sommer auf die Villa Körner’s bei Loschwitz, wo auch Friedrich Schiller mit seiner Gattin lebte; und mehr und mehr wurde auch unsere Schwenke eine vertrautere Genossin des geistreichen Kreises der drei vereinten Familien und ihrer Gäste. Wie natürlich mußte sich da der edle Kern des jungen Mädchens – in solcher Gemeinschaft und in dieser Gegend – zu entfalten beginnen! Neben ernsten wissenschaftlichen Verhandlungen (z. B. über Kant) das liebliche Spiel der Poesie, neben hoher Tragik liebenswürdiger Scherz – wir erinnern an „Gustel von Blasewitz“ – welche Funken geistreicher Einfälle und Gedanken mögen da herüber- und hinübergesprüht haben!

Als im Herbste Schillers nach Weimar zogen, ging Frau v. Wolzogen nach Dresden, bis auch sie am Ende des Jahres nach Weimar zurückkehrte. Schon im Frühjahr 1802 mußte Frau v. Wolzogen nach kurzem Aufenthalt auf ihrem elterlichen Gute Bauerbach bei Meiningen nach Paris reisen, wo Napoleon gerade als Consul das Ende der Republik herbeiführte. Eine neue Welt war vor unserer Wilhelmine in großartigen Erscheinungen und mächtigen Ereignissen aufgegangen. Wie viel sah, hörte und erlebte die Schwenke mit zweiundzwanzig Jahren gerade in dem Kreise, dem sie mehr und mehr angehörte, schon in der glänzenden Riesenstadt mit ihren Kunstschätzen und häßlichen Verschrobenheiten, mit ihrem übernächtlichen Siegesrausche und ihren tollen Gemeinheiten!

Erst gegen das Ende des September 1802 reiste die Familie v. Wolzogen über Straßburg nach Stuttgart und Ludwigsburg. In Straßburg hatte der Münster einen überwältigenden Eindruck, aber nach Paris auch einen versöhnenden auf unsere Schwenke gemacht. In Stuttgart und Ludwigsburg, wo unsere Wilhelmine schon mehr als Vertraute ihrer Herrin auftrat, machte sie die anziehendsten Bekanntschaften, von denen sie noch als von „ihren lieben schwäbischen Freunden“ im hohen Alter mit der lebhaftesten Anerkennung sprach.

Nachdem man in Weimar wieder Ende November eine längere Niederlassung gefunden, kam Wilhelmine Schwenke in lebhaften Verkehr mit Herder, Goethe und der Familie Schiller. Mit dieser Familie trat sie besonders in Jena in die freundlichste Beziehung. Frau v. Wolzogen war im Sommer von 1804 dahin gezogen, weil deren Schwester, Frau v. Schiller, ihre Entbindung in Jena erwartete. Leider wurde Schiller selbst ernstlich krank. Seine [147] Lage war natürlich beim Zustande seiner Gattin, an einem interimistischen Aufenthaltsorte recht traurig hülflos. Da wurde unsere Wilhelmine seine unermüdliche, treue Krankenpflegerin. Was sie hier in der Ruhe und Umsicht ihres praktischen Verstandes, ihrer Hingabe, die keine Aufopferung anschlug, und in ihrer beharrlichen Treue geleistet, ist vielfach von Denen anerkannt worden, welche damals der Familie Schiller nahe standen, und namentlich von Schiller selbst. Auch in Weimar, wohin die Familie Wolzogen sich begeben hatte, und wohin auch Schillers wieder zogen, wurde Schiller von Neuem krank. Auch auf diesem, seinem letzten Krankenbette, das leider ein gar sorgenvolles, schweres wurde, war „seine treue Seele“, wie Schiller unsere Schwenke nannte, eine seiner treuesten Pflegerinnen. Gern möchte man einen dichten Schleier über die gar traurige, fast verlassene Lage unseres sterbenden Schiller ziehen, welcher sorgenvoll, oft einsam auf seinem schweren Lager duldete, während Weimar gerade von Fest zu Fest in lautem Jubel vielgeschäftig eilte.

Dank den treuen, sanften Händen, die ihn da pflegten! –

Schiller starb, Frau v. Wolzogen wurde ernstlich krank; so ging das Jahr 1805 zu Ende.

Traurig war auch das Jahr 1806, denn Geheimrath v. Wolzogen litt lange an einem bösartigen Beinbruche, dann brach im October der unglückliche Krieg mit Frankreich aus. Weimar wurde vor Allem schwer heimgesucht. Frau v. Wolzogen mußte nach dem einsamen Röhla flüchten. Aber gerade in den ruhelosen, gefahrvollen Tagen zeigte die Schwenke eine Klarheit, Umsicht, ruhige Besonnenheit, daß Frau v. Wolzogen noch im späten Lebensalter zu dem Schreiber dieser Erinnerungen mit hoher Anerkennung der großen Verdienste ihrer „treuen“ Wilhelmine sprach.

Nachdem im Jahre 1809 auch Herr v. Wolzogen starb, ward das Haus, welches sonst ein Mittelpunkt des lebendigsten geistigen Verkehrs gewesen war, immer einsamer, trüber und stiller. Um ihren Sohn unter den Augen Pestalozzi’s erziehen zu lassen, wandte sich Frau v. Wolzogen nach der Schweiz, bis die großen Ereignisse der Jahre 1812 und 1813 den jungen Mann zu den Waffen führten und zwar nach Sachsen in ein Reiterregiment. Erst zu Neujahr 1814 sah ihn die sorgenvolle Mutter wieder, indem er sie in Weimar besuchte, um dann mit dem russisch-sächsischen Hauptquartier gegen Frankreich zu ziehen. Theils die Sorge für den Sohn, theils wohl auch eine mächtige Unruhe, welcher überall das fehlte, was sie früher gehabt und geliebt, ließ Frau v. Wolzogen ein wahres Wanderleben führen, zunächst dem Sohne nach, an den Rhein, dann nach Württemberg, Meiningen, Weimar. Im Jahre 1825 traf Frau v. Wolzogen die erschütternde Nachricht, daß ihr Sohn in Frankfurt schwer erkrankt sei, und schon im September dieses Jahres starb derselbe, das einzige Kind.

Dieser Tod raubte beiden Frauen, der Herrin und der Dienerin, den letzten freundlichen Anhalt am Leben; denn nicht nur die Mutter hatte ihren Sohn verloren nach allen Lieben, die ihr angehört hatten und heimgegangen waren, auch die treue Freundin des Hauses hatte den verloren, dem sie seit seiner Kindheit eine zweite Mutter gewesen war, dem sie so vielfach die vielbeschäftigte Mutter ersetzen mußte, welcher ihr aber auch eine fast kindliche Liebe und Verehrung bis an seinen Tod bewahrte.

Wer von da an in das Haus der Frau v. Wolzogen kam, glaubte es an einem Begräbnißtage betreten zu haben, er schien zwei tieftrauernde Wittwen zu finden, die, alles Aeußere von sich weisend und versäumend, allein der resignirten Ruhe, der Wehmuth der Erinnerungen noch lebend, das Dasein nur ertrugen. Wilhelmine Schwenke hielt sich noch an ein Lebenselement, die treueste Pflege, die sie der Freundin mit der umsichtigsten Rücksicht und vielfacher Selbstverleugnung gewährte; denn selbst den alten Staub zu entfernen, schien Frau v. Wolzogen in ihrer Trauer zu stören. So blieb das Trauerhaus auch in Jena, wohin sich die Frauen wendeten, still, fast öde, mehr als einfach, ohne alle jene lieben Dinge, die sonst den Menschen freundlich, heimisch umgeben, Tag um Tag, noch lange Jahre, bis Wilhelmine Schwenke der Lebensgenossin die letzten irdischen Dienste leistete. – Den 11. Januar 1847 starb Karoline v. Wolzogen, mit ihr war das Haus ausgestorben. – Was blieb nun der alten Getreuen, als sie aus dem öden Hause einsam ging, in dem auch die Freundin gestorben war, mit der sie fast ein halbes Jahrhundert unter den außerordentlichsten Verhältnissen auf’s Innigste vereint worden war!

Die Dienerin war ja die innigste Vertraute, ja die Freundin ihrer Herrin geworden, und in dem weiten, edlen Kreise der Lebensgenossen dieser hatte sie Achtung und das vollste Vertrauen erlangt. Schiller und dessen Gattin hatten sie wie den Hausgeist der Familiengenossen betrachtet, welcher in sorglicher Liebe allen dient. Wer sie hörte, mußte bei aller Discretion, welche die treue Seele bewahrte, leicht herauslesen, wie innig nahe sie dem edlen Kreise gestanden hatte. Jede Neugier, welche durch sie eindringen wollte in Familienverhältnisse oder persönliche Eigenthümlichkeiten, fand bei ihr nur das Schweigen des edelsten Unwillens. Der größte Beweis, wie hoch sie bei denen stand, mit welchen sie gelebt hatte, ist die Verfügung von Frau v. Wolzogen, welche den zuverlässigen Händen von Wilhelmine Schwenke ihren großen Nachlaß an den gesammelten Briefen, auch den Familienbriefen, testamentarisch vermachte. Und mit welcher großen Discretion hat unsere Schwenke das anvertraute Herzens- und Lebensheiligthum verwaltet! – Selbst den nächsten Ihrigen waren die Kisten mit Briefen fest verschlossen. Und welche Fülle hatte sich gesammelt, da Frau v. Wolzogen es nicht hatte über sich bringen können, einen Brief, den eine liebe Hand geschrieben hatte, zu verbrennen! In den nächsten Jahren nach dem Tode der Frau v. Wolzogen hatte sich gerade der Eifer der Autographensammler bis zur Manie gesteigert, und welcher Schatz lag hier in den vielen gefüllten Kisten; hier gab es Briefe von distinguirten Fürstlichkeiten, zum Beispiel von der Herzogin von Orleans, von den größten und ausgezeichnetsten Männern und Frauen aus dem Ende des achtzehnten und dem Anfange des neunzehnten Jahrhunderts. Die glänzendsten Anerbietungen wurden für den Nachlaß, selbst für einzelne Briefe gemacht. Man hatte sogar ein Dienstmädchen bestochen, Briefe aus jenem Nachlaß zu entwenden. Aber obgleich Wilhelmine Schwenke in sehr bescheidenen Vermögensverhältnissen lebte, hatte sie entschieden und beharrlich alle Anerbietungen ausgeschlagen. Erst nach jahrelangem Wählen und Sichten, nachdem viele Hunderte von Briefen, die man mit Gold aufgewogen hätte, verbrannt, viele an ihre Verfasser, wenn sie noch lebten, zurückgeschickt waren, erst dann übergab unsere Wilhelmine einem bewährten Manne einen Theil jener Briefe, welche unter dem Titel „Literarischer Nachlaß der Frau Caroline v. Wolzogen“ in zwei Bänden bei Breitkopf und Härtel in Leipzig, 1848 in erster Auflage, 1867 in zweiter Auflage erschienen.

Vor wenigen Wochen, am 24. December 1871, ging Wilhelmine Schwenke im einundneunzigsten Lebensjahre sanft heim, und ruht dort neben den längst Schlafenden, die ihr einst angehörten, an dem Kirchlein, in dem sie von ihrem Vater getauft worden war.

Im kleinen, stillen Dörfchen war sie geboren worden, unter den größten Menschen und mitten unter den weitgehenden Wogen ungewöhnlicher Zeitereignisse hatte sie ein weitgereistes, unruhevolles Pilgerleben gelebt, in der friedlichen Stille im Thale, von Bergen und Waldeinsamkeit umgeben, hatte sie ihr reiches Leben beschlossen.

Legen wir still und dankbar einen Immortellenkranz auf den kleinen Hügel, unter dem sie ruht, und kehren wir auf dem alten Wege, der uns hierher führte, zurück: er ist der friedvolle Zeuge des schönen Lebensabends einer treuen Seele, und das Schweigen der großen, still waltenden Natur, die uns da umgiebt, stört nicht die Weihe unserer Erinnerungen.

A. Schmeißer.




Blätter und Blüthen.


Ein neuer bürgerlicher und Reform-Minister. (Mit Abbildung.) Als Metternich und seine diplomatischen Jünger und Anbeter im „europäischen Concert“ an der ersten Geige saßen, hat kein deutscher Hof es gewagt, auf seine Staatsministersessel andere als hochadelige Personen zu setzen. Es gehört zu den vielen Verdiensten des Sturms von Achtundvierzig, auch in dieser Hinsicht gesundere Luft in die höheren Regionen gebracht zu haben. Erst an solchen Wandelungen, welche hundertjährige Paragraphen der starrsten Hoffähigkeitsgesetze über den Haufen warfen und Ständescheidungsmauern von unübersteiglicher Höhe mit einem Schlage niederrissen, erkennt man, wie stark der Sturm und wie morsch die Gegenstände gewesen, gegen die er anzurennen bestimmt war. Wir haben das Unerhörteste erlebt: in Wien ein ganzes „Bürger-Ministerium“; seitdem Das möglich war, wundert [148] sich Niemand mehr darüber, wenn für die Ministerposten die Männer nicht mehr nach der leiblichen, sondern nach der geistigen Würdigkeit gewählt werden – ohne Unterschied des Standes.

Eine solche Wahl hat, und zwar zum dritten Male für das eben amtirende Ministerium, in Preußen stattgefunden. An die Stelle des Herrn v. Mühler ist am zweiundzwanzigsten Januar dieses Jahres der bisherige Geheime Oberjustizrath im Ministerium, Dr. Falk getreten. Die Kritik des Volkes hat sich über das Walten seines Vorgängers unverhohlen ausgesprochen: sein Abgang war ein Freudenfest nicht blos in Preußen, sondern bei allen Deutschen, welche für die deutsche Nationalentwickelung auf das neue Reich ihre Hoffnung setzen. Mühler’s Nachfolger empfing es mit stiller Erwartung: das Volk ist durch zu bittere Erfahrungen belehrt, daß mit Personenwechsel auch mehr verloren, als gewonnen werden kann, obwohl im vorliegenden Fall dies wohl unmöglich war; man kannte den neuen Minister bei seiner bisherigen rein amtlich gewesenen Thätigkeit zu wenig, um den Grad seiner Abweichung vom bisherigen System ermessen zu können. Und genügte es auch Vielen, daß ein Bismarck ihn empfohlen und seine Bestallung durchgesetzt hatte, so wollten die Vorsichtigen im Lande doch erst den Mann selbst einmal im Feuer gesehen haben, um ihn nach der Fahne, die er trägt, und der Klinge, die er schlägt, gerecht zu beurtheilen. Dies ist nun geschehen. Die großen kirchlichen und Schulfragen, welche zur Klärung der Parteischichten außerordentlich beitragen, riefen auch ihn auf die Mensur gegen die jetzt so offenbaren volks- und reichsfeindlichen Wühlereien, und Bismarck hatte alle Ursache, zu schmunzeln: „sein Fuchs paukte sich gut.“ –

Mehr läßt sich bis jetzt nicht über den neuen Cultusminister sagen; seine Stellung ist aber so, daß er in kurzer Zeit sich in ganzer Gestalt zeigen muß, und weil man darum schon heute Einiges über eines solchen Mannes Herkommen und Vergangenheit erfahren will, so sei dies sei in aller Kürze hier gegeben.

Falk ist 1827 geboren; sein Vater war früher Prediger und Consistorialrath an der Hofkirche in Breslau und ist jetzt Pastor zu Waldau bei Liegnitz. Nach vollendeten Studien war Falk gegen Ende der fünfziger Jahre Staatsanwalt erst in Lyck, dann in Glogau. Der Umstand, daß er hier die Bearbeitung der vierten Auflage des sogenannten „Fünfmännerbuchs“ besorgte (– einer Sammlung von Ergänzungen zum allgemeinen Landrecht, die gemeinsam von Gräff, Koch, Wentzel, Rönne und Heinrich Simons, damals sämmtlich in Breslau, hergestellt worden war und für jeden preußischen Juristen eine Unentbehrlichkeit ist –), wandte das Auge der „neuen Aera“ auf ihn und veranlaßte seine Versetzung nach Berlin und in das Justizministerium. Damals ward er auch Mitglied des Abgeordnetenhauses, ohne sich darin besonders hervorzuthun. Das Ministerium Graf Lippe schob ihn zum praktischen Dienst, als Appellationsgerichtsrath, bei Seite; dagegen fand es dessen Nachfolger angemessen, Falk wieder in’s Ministerium zu sich zu nehmen und ihn zum Geheimen Oberjustizrath und vortragenden Rath zu befördern. Diese Stellung brachte ihn auch in den Bundesrath, wo er als Commissarius der preußischen Regierung beschäftigt und bei der Ausarbeitung der Gesetzesvorlagen über das neue Strafgesetzbuch so hervorragend thätig war, daß Fürst Bismarck in dieser Bundesrathssitzung Gelegenheit erhielt, den Mann darnach zu prüfen, ob er Geist, Muth und Kraft genug besitze, um Das wieder gut zu machen, was sein Vorgänger in langen, leider nur allzu wohl ausgenutzten Jahren an Kopf und Herz, Wissen und Glauben, Schule und Kirche, kurz an allem durch Bildung zu erreichenden Menschenglück in Preußen und darüber hinaus zusammengesündigt. Zu dem Wunsche, daß dem neuen Minister Kopf, Herz und Arm zu diesem Kampfe gesegnet sei, spricht jeder ehrliche Deutsche laut und freudig sein Amen.




Rittler ist todt! Diese Botschaft wird in den dankbaren Herzen der vielen in schlimmster Zeit von Gefängniß und Tod durch ihn Geretteten tiefe Trauer erwecken. Wer kannte ihn nicht, viele Meilen im Umkreise von Altenburg, diesen edlen, muthigen und in ungewöhnlichem Maße aufopferungsfähigen Mann? Ein tüchtiger und deshalb bis zur Höhe des Residenzschlosses hinauf angesehener Arzt, theilte Rittler als solcher nach oben und unten die Wohlthaten seiner Kenntniß, Kunst und Erfahrung mit unparteiischer Hand aus. Ebenso ließ er sich aber auch als Bürger in seiner politischen Ueberzeugung keinerlei Weisung und Beschränkung gefallen, und wo es galt, Gesinnungsgenossen im redlichen Kampf zu unterstützen oder in der Gefahr zu schützen, da suchte Rittler im Wagen und Opfern seines Gleichen. Der Zug Flüchtiger namentlich aus Preußen gen Süden begann schon in der Mitte der vierziger Jahre, erhielt aber seine großartige Ausdehnung erst durch die Sturm- und Reactionsjahre 48 und 49. In dieser Zeit lieferte auch Sachsen sein nicht unbedeutendes Flüchtlingscontingent. Als Hauptstationen auf der geheimen Etappenstraße derselben galten Altenburg, Hof und einige Orte im Allgäu, u. A. Kempten, von wo der letzte Sprung zum Bodensee und in die Schweiz hinüber noch eine Kleinigkeit war.

Das Besitzthum Rittler’s in Altenburg bot durch seine Lage, besonders aber durch die sinnigen Vorrichtungen des klugen Demokraten ein ebenso vielfassendes als sicheres Versteck dar. Es lag an einem großen Garten. Nach der Gartenseite hinaus waren eine Reihe schiffskojenartiger Gemächer hergestellt, von außen nicht bemerkbar, aber von innen geeignet, eine von dorther nahende Gefahr sofort zu erkennen. Im vordern Theil des Hauses besorgte die Familie die Hochwacht. So stand immer nach der entgegengesetzten Seite der Gefahr der Fluchtweg offen. Es kam sogar vor, daß im vordern Theil des Hauses Einquartierung lag, während im hintern alle Kojen mit Flüchtlingen besetzt waren. Und wie oft mußten für diese nicht nur, was sich von selbst verstand, Speise und Trank, sondern, wenn sie fluchtreif waren, auch noch Kleidung und Geld geschafft werden!

Endlich machte es sich für Rittler selbst nöthig, den Weg einzuschlagen, den er schon so vielen vorher gezeigt hatte. Einer drohenden Untersuchung entzog er sich – wir glauben, sogar mit Aufopferung einer Caution – durch höchst schleunige Abreise nach Amerika.

Von dort, aus Hoboken bei New-York schreibt Rittler’s treue Gattin uns, daß ihr edler Mann am siebenundzwanzigsten Januar Nachmittags drei Uhr von einem Herzschlag getroffen und gestorben sei. Möge das viele Gute, das der Mann vollbracht, sich an der Wittwe und den Kindern Rittler’s in reichem Segen fruchtbar erweisen! Ehre dem Todten, der im Gedächtniß seiner Freunde und ihrer Lieben noch lange fortleben wird!




Was wagt nicht ein treues Mutterherz! Zur Geschichte unseres großen Krieges gehört auch die That, die hier erzählt werden soll. – Ein altes Mütterchen, eine arme Wittfrau in einem Dörfchen drei Viertel Stunden von Grunstadt in der warmherzigen Rheinpfalz, hat ihrem einzigen Sohne, dem Hannes, zur Weihnachtszeit ein Feldpostpaket fertig gemacht und bringt’s zur Post in die Stadt, um es zu den Truppen vor Paris abzuschicken. Ich weiß nicht, was an dem Paket nicht recht war, kurz, die Postbeamten wiesen die arme Alte damit zurück, und wenn dies auch mit vieler Sanftmuth und Beredsamkeit geschah, so schien das doch auf das erregte Mutterherz keinen besänftigenden Eindruck zu machen. Der Hannes mußte die Sachen im Paket zum Christkindle haben, das war schon gar nicht anders denkbar. Was nun aber thun? Die Alte dachte eben nicht lange darüber nach. Noch einmal fragte sie zum Schalter hinein: „Also Sie wolle das Paket nit annehme?“ Und kaum klang das „Nein“ heraus, so schnitt sie der Entschuldigung, die sich wieder daran hängen wollte, den Faden ab mit dem laut verkündeten Entschluß: „Nun, so werd’ ich’s ebbe selber hintrage!“ – nahm das Kistchen unter den Arm und schritt zur Stadt hinaus gerade auf den Weg los, der nach Frankreich führt.

Was kümmerte die gute Alte sich um das Decemberwetter, – ihr einziger Gedanke war ihr Sohn, und ihn vor Augen und im Herzen wandelte sie ihres Weges fort, immer zu Fuß, nach Kaiserslautern, nach Homburg, nach Saarbrücken, über zwanzig Stunden! Hier nimmt sich die Gutherzigkeit deutscher Soldaten ihrer an, die alle ihre Freude an dem alten Mütterchen haben, und sie gelangt mit einem Transportzuge bis in die Nähe von Paris, so weit eben die Eisenbahn ging. Von da an drang sie wieder auf eigene Faust vor, und sie ruhte und rastete nicht, bis sie die Compagnie ihres Hannes und endlich ihn selbst gefunden hatte. Das war freilich ein Wiedersehen, wie es nicht alle Tage kommt; aber alle Tage kommt auch nicht ein solcher Krieg und mit solchen Müttern und Söhnen!

Die tapfere Alte ward sofort die Mutter der Compagnie (als welche außerdem bekanntlich der Feldwebel gilt, neben dem Vater der Compagnie, dem Hauptmann). Sie bekam die Oberaufsicht über Küche und Wäsche derselben und besorgte dieses Amt vier Wochen lang. Dann machte sie sich, natürlich mit einer guten Gelegenheit, wieder auf den Heimweg. Die dankbare Compagnie hatte redlich für ihr Mütterchen gesorgt, es auch mit Geld versehen – und glücklich kam die Alte wieder heim, und wie schauten die Herren von der Post auf, als sie ihnen versicherte, ihr Paket sei doch noch zurecht gekommen, weil sie’s durchgesetzt: „Ich habb’ es ebbe selber hingetrage.“ Von dem Compagniegeschenk hat sie keinen Pfennig für sich verbraucht, sie hat dafür ihrem Hannes die so nothwendigen Feldhemden gesponnen.




Das Werk eines Heimgegangenen. In der Verlagshandlung der Gartenlaube ist bekanntlich am Ende des Jahres 1870 eine den neueren und neuesten Resultaten der Wissenschaft und Erfahrung entsprechende Umarbeitung von Bechstein’s „Naturgeschichte der Stubenvögel“ erschienen. Das altberühmte, aber seit längerer Zeit veraltete Werk hat in dieser neuen Gestalt viel Anerkennung gefunden und einen besonders günstigen Erfolg gehabt. Je mehr aber die Bearbeitung bisher als eine gewissenhafte, verdienstvolle und tüchtige bezeichnet wurde, um so mehr erscheint es uns jetzt als eine Herzenspflicht, mit einer Erklärung hervorzutreten und in Bezug auf die Person des Bearbeiters eine Ungewißheit nicht länger bestehen zu lassen. Nur angeborene Schlichtheit des Charakters und eine bescheidene Scheu vor öffentlichem Hervortreten hatten unseren vor Kurzem auf einer Orientreise in Cairo so früh und unerwartet dahingerafften Alfred Keil bestimmt, seinen wahren Namen nicht auf den Titel seiner Leistung zu setzen, wie es auch seiner Bescheidenheit widersprach, eine Anzeige und Empfehlung seines Buchs gerade in der ihm nahestehenden Gartenlaube veröffentlicht zu sehen.

Wenige Bekannte seiner näheren Umgebung haben ihn aber nicht blos als den Herausgeber gekannt, sie haben auch die freudige Liebe gesehen, mit der er den Gedanken des Unternehmens ergriff, den rührigen Fleiß und die emsige Hingebung, mit der er eine lange Zeit hindurch das umfangreiche Material gesichtet, schriftstellerisch ergänzt und überarbeitet, selbstständig den wichtigen und nützlichen Abschnitt über die Hofvögel und das Geflügel hinzugefügt, die Zeichnung und Colorirung der zahlreichen Abbildungen bis in’s Speciellste überwacht und geleitet und in unermüdeter, von genauer Sachkenntniß unterstützter Sorgfalt Alles gethan hat, um seinem lange gehegten Lieblingsplan nach Gehalt, Form und Ausstattung zu einer gediegenen und würdigen Gestaltung zu verhelfen. Das Werk bedarf unserer nachträglichen Empfehlung nicht mehr, es hat sich Bahn gebrochen. Erwähnen wir es hier, so geschieht dies ausdrücklich nur, weil wir einer Pflicht der Pietät genügen und zugleich den zahlreichen Freunden des Entschlafenen durch die obige Mittheilung eine Ergänzung seines Bildes liefern möchten. Sinnige und verständnißinnige Liebe zur Natur und namentlich zur Beobachtung und zum Studium der Thier- und Vogelwelt, welche ihn zu jener fachwissenschaftlichen Arbeit geführt, hatten von früher Kindheit an seinem Wesen die Richtung gegeben. Um die betreffenden Studien nach jeder Richtung zu erweitern, war er im Herbst vorigen Jahres nach Afrika gereist, wo ein ebenso jähes als grausames Verhängniß dieses so frisch und strebsam heraufblühende Jugendleben vernichten sollte.

A. Fr.




Aufruf. Der Componist des Liedes „Dat gift keen Land so grön un so schön“ wird dringend gebeten, den Seinigen Nachricht zu geben.

A. L. T. W. C.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig

  1. Man pflegt nämlich Gesteine, welche in der Tiefe der Erde aus dem Feurigflüssigen entstanden sind, als „plutonische“, solche dagegen, welche sich an der Erdoberfläche aus Feurigflüssigem bildeten, was aus dem Erdinnern hervorquoll, als „vulcanische“, und Gesteine, bei deren Entstehung das Wasser mithalf, als „neptunische“ zu bezeichnen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: tausendsten (korrigiert nach: Druckfehler. Heft 13, Seite 216)
  2. Vorlage: Zunnahme