Die Gartenlaube (1873)/Heft 37
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No. 37. | 1873. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Künstler und Fürstenkind.
Kaum vier Tage sind vergangen, liebe Amalie, daß ich Dir meinen letzten Brief sandte; noch habe ich nicht Antwort, und doch bin ich genötigt, Dir schon wieder zu schreiben. Wem als Dir sagte ich, was sich in diesen Tagen ereignete?
Der kleine Ball, den Ernst meinem Geburtstag zu Ehren gab, ist herrlich von Statten gegangen; es war sozusagen die Eröffnung der Saison, denn noch war in der Residenz nicht getanzt worden. Ich spielte die Hausfrau, natürlich mit der guten Cousine zur Seite, und scheine mich meines Auftrags sehr gut entledigt zu haben, denn sobald unsere Gäste fort waren, küßte mich Ernst freudig auf die Stirn. Doch kaum hatte er es gethan, so trat er einige Schritte zurück und sagte. „Laß Dich nur erst noch einmal mit Ruhe betrachten! Ich glaube, Du sahst im Leben nie so gut aus. Wie kamst Du nur auf diesen Anzug?“
Das mußt Du hören, Amalie! Wie ich mir’s vorgenommen, frag ich meinen Maler in der Sitzung um Rath. Er hatte versprochen, darüber nachzudenken; eine Consultation mit Fanny, und das Werk war vollendet. Was es eigentlich ist, weiß ich selbst kaum, hier etwas unterdrückt, dort etwas zugesetzt, ein Band, ein paar Blumen im Haare, aber das Alles nicht wie bei uns nach eitler Laune des Augenblicks, sondern systematisch, künstlerisch, sage ich Dir. Nur Eines hätte Herr Impach auch noch übernehmen sollen, nämlich alle die Liebeserklärungen anzuhören, die mir sein guter Geschmack einbrachte; die hätte ich ihm von Herzen gegönnt.
Ich habe bei meiner Erzählung leider vorausgegriffen und wollte doch Alles hübsch der Reihe nach erzählen. Höre also!
Als ich vorgestern in’s Atelier ging, begleitete mich Ernst dahin, um zum ersten Male Herrn Impach’s Werk in Augenschein zu nehmen. Auch ich hatte bisher noch nicht auf die Leinwand gesehen. Denke Dir unser Erstaunen, als wir auch keine Spur des ersten Bildes erblickten! Auffassung, Manier, Alles war verschieden, und zwar gefiel mir das angefangene Bild noch viel besser als das vollendete in der Rheinischen Kunstausstellung. Gespannt harrte ich auf Ernst’s Ausspruch. Nach langer Betrachtung blickte er auf, ging auf den Maler, der bescheiden bei Seite getreten war und seine Palette mit Farben bedeckte, zu, und ihm die Hand drückend, sprach er:
„Sie sind ein echter Künstler. Ihr zweites Werk muß, wird es so ausgeführt, wie es angelegt ist, das erste noch weit übertreffen. Nehmen Sie meinen herzlichsten Glückwunsch!“
Ernst erklärte mir nun die Schönheiten der Arbeit, und der Maler lauschte mit vergnügtem Gesicht. Es mußte ihm Freude machen, daß mein Bruder so gut verstand, was er wollte. Ehe Ernst ging, lud er Herrn Impach für den nächsten Tag zum Diner ein, dem ein keiner Ball folgen sollte.
Ich hatte erwartet, daß der Maler, der, wie er mir erzählte, ein sehr zurückgezogenes Leben führt, ängstlich ausweichen würde. Zu meinem größten Erstaunen nahm er freudig an.
Als ich nun gestern in den Salon trat, wo mein Bruder mit den eingeladenen Herren auf mich wartete, hatte ich den jungen Maler ganz vergessen. Graf von Werdau bat um Entschuldigung, daß er im Sammtrocke erschiene, schützte jedoch Ernst vor, der sich ausdrücklich Promenadentoilette erbeten hatte, da es sich ja um einen Ritt nach Tische handelte. Er schoß jetzt schon triumphirende Blicke, der Dinge gewärtig, die ihn auf dem Rücken Ali’s erwarteten. Nun kam eine sehr hohe Gestalt auf mich zu, in der ich zu meinem Erstaunen den Maler erkannte. So distinguirt sah er aus, daß Einem die Wahl zwischen ihm und Werdau schwer wurde.
Das Diner ging ruhig vorüber. Bei Tafel wurde meist der erwartete Ball besprochen, wobei sich der Maler natürlich nicht beteiligen konnte, da er die Personen, welche daran teilnehmen sollten, ja nicht im Geringsten kannte.
Als ich auf dem Hofe im Reitkleide erschien, waren die Herren schon versammelt, und eben wurden die Pferde vorgeführt. Die Cousine näherte sich dem Wagen, den sie heute allein innehaben sollte, als mein Bruder ihr in Herrn Impach einen Gesellschafter erlas, indem er diesen frug, ob er auch fahren wolle. Der Maler lehnte höflich ab, half aber der Cousine galant beim Einsteigen. Alles stand nun im Kreise um die Pferde herum, bei denen sich auch Ali befand, durch Scharren mit den Füßen und freudiges Wiehern sich kundgebend.
Als ich, mein Bruder und einige der Herren zu Pferde waren, ging Graf voll Werdau mit nachlässiger Miene, die Reitgerte unterm Arme, seinen Handschuh zuknöpfend, auf Ali zu. Sein Kunstgriff schien zu sein, mit Blitzesschnelle ihn zu besteigen. Dies gelang ihm jedoch nicht, da Ali bei der leisesten Berührung des Steigbügels auf die andere Seite flog.
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Jetzt versuchte Werdau aus freiem Stande auf den Renner zu springen. Es gelang zu unserm freudigen Erstaunen; allein in demselben Augenblicke, als der Reiter nach dem Zügel haschte, fing unser Ali an zu bocken, und ehe es dem Grafen gelungen war, die Bügel zu finden, schlug das Thier hinten aus und stieg so rasch darauf bolzengerade in die Höhe, daß Werdau in der nächsten Secunde am Boden lag.
Ich glaubte schon, Ali sei zum Hofe hinaus, denn die Stallknechte eilten herbei, um ihn heimzulocken, als ich hinter mir sein Gewieher hörte, während eine Hand ihm besänftigend den Hals streichelte. Es war Herr Impach, der das Pferd, als es an ihm vorbei wollte, beim Zügel ergriffen und dem es nun gelang, es zu beruhigen. Mein Bruder ritt zu ihm, und nach ein paar Worten, die sie wechselten, sah ich, wie der Maler mit einem Satze sich auf Ali geschwungen hatte, der sich zwar bäumte, dem es aber nicht gelang, seinen Reiter abzuwerfen. Werdau, den die Reitknechte des Staubes entledigten, murmelte etwas in den Bart, bequemte sich aber schließlich doch, ein anderes Pferd zu besteigen.
Wer hätte gedacht, daß dieser Musensohn ein besserer Reiter als Graf von Werdau! Selbstverständlich ritt er nun mit und zwar bat ihn Ernst, mit dem jungen Fürsten Arsent den Zug anzuführen, damit er das Pferd in Augenschein nehmen könne. Ich hatte geglaubt, ein Maler könne sich nur, die Palette in der Hand, gut ausnehmen, mußte jedoch zugeben, daß die kräftige, biegsame Gestalt Herrn Impach’s den Stutzer an seiner Seite bedeutend in den Schatten stellte. Dieser ist ein Grundherr, den sein Vater in die Residenz geschickt hat, um seinem Schlosse eine Herrin zu suchen. Zu dieser Würde scheint er mich auserlesen zu haben, wenn ich die mannigfachen in seinen Gesprächen enthaltenen Anspielungen so deuten darf. Er ist stets am glücklichsten, wenn Herr von Werdau nicht zugegen, da er sich diesem nicht gewachsen fühlt, was bei den anderen jungen Leuten, die unser Haus frequentiren, nicht der Fall ist.
Wir suchten sobald als möglich zur Stadt hinaus in den Park zu kommen, die beiden Obengenannten voran, mein Bruder und Werdau zu meinen Seiten, die Anderen hinterdrein. Ich bekam das Schrittreiten bald satt und schlug den Herren vor, den Park im Galopp zu durchmessen. Darauf schien unser Ali gewartet zu haben, denn er gab durch kühne Lançaden seine Freude kund. Da mein Pferd von dieser Lebhaftigkeit angesteckt zu werden drohte, blieb Herr Impach mit meinem Bruder zurück. Ich ritt allein mit Herrn von Werdau voraus und freute mich so recht von Herzen des schönen Abends, der gesunden Bewegung. Vielleicht trug das Vorgefühl des kommenden Balles auch das Seinige dazu bei. Destoweniger konnte ich das lange Gesicht an meiner Seite vertragen.
„Noch immer betrübt, daß Ihnen Ali einen Korb gegeben?“ rief ich Werdau zu.
„Ja!“ war die Erwiderung, welche er mir in ärgerlicher Stimme gab. „Denn aus einer Anzahl solch kleiner Körbe könnte leicht ein großer Korb werden, der mich dann in Verzweiflung stürzen würde.“
„Wenn Sie auch nicht der Reiter sind, für den man Sie gehalten, so bleiben Ihnen noch andere Eigenschaften genug, um sich vor einem so häßlichen Dinge sicher zu stellen. Sehen Sie nur die Scheu, die Sie dem armen Arsent einflößen!“
„Ein schönes Verdienst! Doch haben Sie Recht, wenn Sie nicht erlauben, daß in Ihrer den ganzen Tag über heißersehnten Nähe üble Laune bestehen könne. Wenn ich Sie so leicht dahinfliegen sehe, die weiße Straußenfeder im Winde, werde ich an meine Knabenträume von Armida und Chlorinde gemahnt.“
„Dies ist das erste directe Compliment, das Sie mir machen, Graf. Sie wissen, daß ich auf solche nichts erwidere; muß ich glauben, daß Sie mit Ihrer guten Laune auch Ihr guter Geschmack in solchen Dingen verließ?“
„Ich fühle mich so eigenthümlich bewegt – der Wald, Ihre ungestörte Nähe, der goldige Abendhimmel, welcher durch die Baumlücken strahlt, vielleicht auch die Reaction meiner Anwandelung von vorhin. Sie wissen, wie wenig ich Schwärmer bin, und dennoch schämte ich mich jetzt der Sprache eines Dichters nicht, um Ihnen darzuthun, wie wild bewegt es in mir aussieht. Ach, könnte ich jetzt eine That für Sie vollbringen, Gefahren überstehen, Sie sicher durch eine Welt von Flammen bringen –“
„Bitte, sparen Sie das, bis sich die Gelegenheit dazu bietet!“ unterbrach ich den Redestrom, indem ich mein Pferd anhielt. „Sehen Sie einstweilen lieber, wie wir gut durch diese Stelle kommen; die jungen Buchen drängen sich auch gar zu unbescheiden auf unseren Weg.“
Der Graf gab sich nun Mühe, die Aeste, ohne abzusteigen, zu entfernen. Es gelang ihm auch, bis auf ein junges Bäumchen, das sich eigensinnig in den Weg bog und ihn gänzlich versperrte. Jetzt waren auch die Anderen nachgekommen, und Werdau, der fürchten mußte, Jemand wolle ihm zuvorkommen, ergriff die junge Buche mit starker Hand und lud mich mit höflicher Handbewegung ein, nun durchzureiten.
War das Bäumchen doch zu stark für seine Muskelkraft, oder machte ihn ein Rest übler Laune ungeschickt – kurz, das elastische Stämmchen entglitt seiner Hand, mein Pferd bäumte auf und schnellte sich mit einem Male vorwärts, so daß ich im Nu zehn Schritte weit voraus war. Um bei Ernst jeder Angst vorzubeugen, lachte ich laut auf, sobald mein Pferd zum Stehen kam, und griff dann an mein Haupt, um zu sehen, ob ich unverletzt durchgekommen. Alles war glücklich abgegangen; nur meinen Hut hatte ich in der Affaire verloren. Die weiße Feder derselben wehte richtig von einer Fichte herab, deren unterer Ast wahrscheinlich, vom Buchenstämmchen niedergehalten, mit diesem in die Luft geschnellt war.
Mit ängstlichen Fragen versammelte sich Alles um mich, Ernst ganz bleich vor Schrecken. Der Graf machte Miene, sein Pferd vor mir zum Knieen zu bringen, gab jedoch den abenteuerlichen Plan auf, als ihm Ernst zurief:
„Er thut’s nicht. Ist stolz wie ein Spanier.“
Nutzlose Versuche wurden nun zur Wiedererlangung des Hutes gemacht, die mich zu dem Entschlusse führten, mein Taschentuch unter das Kinn zu binden. Wäre es nur nicht gar so klein gewesen! Aber ich konnte doch keinem der Herren zumuthen, den glatten Stamm der Fichte zu erklettern, und mit der Reitpeitsche war das flatternde Ding nicht zu erreichen. Wir kehrten nun unsere Pferde, um auf dem nächsten Wege heimzureiten, als mich etwas trieb, den Kopf zu wenden; es war wohl kaum die Sehnsucht nach meiner untreuen Kopfbedeckung! Da stand am Fuße der Fichte Ali mit seinem Reiter und funkelte unheimlich mit den Augen, während er die Ohren zurückschlug. Was war dem Thiere nur? Bald sollten wir es erfahren. Der verwegene junge Mann, dem sein Leben sehr feil zu sein scheint, drückte dem wilden Pferde die Sporen in die Weichen, daß dieses, nachdem es verschiedene Male sich gewehrt, einen Satz in die Luft that. In demselben Moment stand der Reiter aufrecht in den Bügeln und ergriff mit sicherer Hand den unglücklichen Hut, während Ali auch schon im Galopp davonsprengte. Alles das geschah viel schneller, als ich es erzählen kann; wir standen nicht wenig Angst aus, bis der junge Mann nach wenigen Momenten auf dem schäumenden Ali zurückkehrte und mit um Vergebung flehenden Augen mir meinen Hut überreichte. Ich senkte Haupt und Reitpeitsche und wußte nicht, wie ich danken sollte. Ernst ergriff das Wort:
„Nur Ihre große Jugend kann entschuldigen, daß Sie auf so wildem Pferde diese tollen Streiche ausführen,“ sprach er mit väterlichem Tone. Dann auf ihn zureitend, drückte er ihm die Hand. „Ich kann, was Sie gethan, bewundern, aber nicht billigen. Meine etwas scharfen Worte mag die Angst entschuldigen, die ich um Sie ausstehen mußte. Meiner Schwester muß es unangenehm sein, die unschuldige Ursache dieses gefährlichen, zum Glücke gut abgelaufenen Wagestücks gegeben zu haben. Entschuldigen Sie sich nur bei mir!“ schloß er lachend. Herr Impach saß da, wie ein ausgescholtener Schuljunge. Ich winke ihn an meine Seite, und stillschweigend schlugen wir den Heimweg ein. Es war nicht so leicht, Amalie, das rechte Wort zu finden einem Manne gegenüber, der gerade sein Leben für meinen Hut gewagt hatte.
Zum Glück begann er: „Ihr Herr Bruder hat Recht. Ich führte mich auf wie ein Lateinschüler, dessen Renommée von Muth und Unverzagtheit noch nicht so feststeht, daß er nicht jede Gelegenheit ergreifen müßte, um diese zu beweisen. Werden Sie mir Glauben schenken, wenn ich Sie versichere, daß nichts von Alledem mir in den Sinn kam, als ich die Feder im Winde flattern sah? Ich bemerkte, wie Ihr Tuch nicht ausreichend war, [593] um das goldene Haar vor der Abendluft zu schützen, und da trieb es mich, auf diese, übrigens nicht so sehr gefährliche Weise das Hütchen zu holen. Ich war ja meiner Sache gewiß, da ich mit Pferden von Kindheit auf umgegangen bin und gerade auf dem wildesten am liebsten durch Wiesen und Felder jagte.“
„Sie sind auf dem Lande geboren?“ frug ich den jungen Mann.
Ein wenig zögernd antwortete er: „Mein Vater war Oekonom.“
„Gutsbesitzer? In welcher Gegend?“
„Nicht Gutsbesitzer, nur Pächter eines großen Rittergutes. Leider starb er früh, ebenso wie meine Mutter. Nur ganz unbestimmte Erinnerungen habe ich von meinen Eltern. Doch was mache ich da? Sie mit der Geschichte meiner Kindheit belästigen! Vergebung!“
„Ich habe Sie ja gefragt, Herr Impach. Ich will sogar noch weiter hören; wie kamen Sie, eines Landwirths Sohn, dazu, Künstler zu werden?“
„Ich blieb bis zum vierzehnten Jahre auf dem Gute, das nach dem Ableben meines Vaters dessen Bruder innehatte. Als einst ein Freund ein paar Tage bei uns verweilte, fand er in Skizzen von meiner Hand, die ich zufällig vorzeigte, die Anzeichen eines Talentes. Er bewog meinen Onkel, mich ihm allzuvertrauen, und nahm mich mit in die Stadt, brachte mich zu einem der hervorragendsten Meister unserer Residenz, bei dem ich dann blieb, bis ich selbstständig auftreten konnte, was nun gerade seit fünf Jahren der Fall ist. Das meine Geschichte; ohne Ihren ausdrücklichen Befehl hätte ich niemals gewagt, Ihre Ohren damit zu belästigen.“
„Und war das Schicksal auch ein gütiges, Sie aus Ihrer Natureinsamkeit in die Hauptstadt zu verpflanzen, Sie gleichsam in Ketten der Kunst zu legen? denn in jenem Alter konnte von Berufung doch nicht die Rede sein. Sind Sie glücklich in Ihrer Kunst?“
„Was wäre mir das Leben, wäre sie nicht? Sie ist Alles, was ich besitze, der alle meine Pulsschläge gelten, denn wenn ich male, so thue ich’s mit dem Herzen, mit der Seele, nicht mit Kopf und Hand allein. Dürft’ ich Ihnen sagen, was ein armer Künstler empfindet, wenn er, die Palette in der Hand, einen würdigen Gegenstand vor sich, an seiner Staffelei steht!“
Es war dunkel geworden; wir trieben unsere Pferde zu größerer Eile an und hatten doch die schmalen Pfade des Parks noch nicht hinter uns. Ist es nicht eigenthümlich, wenn plötzlich so ganz neue Anschauungen sich uns darbieten, wenn Horizonte auftauchen, von denen wir keine Ahnung hatten? Wie dachte ich mir sonst das Leben eines Künstlers? Ich weiß es nicht mehr, oder muß gar glauben, ich dachte bei dem Worte Künstler wenig oder gar nichts. Jetzt lauschte ich Worten, die, obgleich mir unbekannt bis dahin, dennoch mit sonderbarem Wohllaut an mein Ohr klangen.
Nachdem ich den Maler aufgefordert, in dem einmal berührten Thema fortzufahren, hub er wieder an: „Einem Columbus, der die unschätzbaren Gefilde eines neuen Welttheils seinen Mitmenschen für alle Zeiten zum Geschenk macht, ist nicht so wohl, so stolz zu Muthe, wie dem wahren Künstler, der sein Meisterwerk vollbracht. Mögen auch die Gefühle des Weltentdeckers, wenn er die Blicke heißer Sehnsucht in weite Fernen sendet, denen gleichen, die den Maler bewegen, wenn er vor seiner blanken Leinwand steht, auf deren Fläche er nur die Zukunft ahnt, mögen gleiche Furcht und Hoffnung sie bestürmen, beim entscheidenden Moment hat es der Künstler weit voraus. Der Weltentdecker sieht beim Landen kaum ein Fleckchen Erde. Er hat gefunden, was er als vorhanden vermuthet – er ist befriedigt. Der Künstler aber durchmißt mit einem Blick sein ganzes Werk; er hat die Welt wahrhaft bereichert, denn nicht was ihr ist, giebt er ihr wieder – nein, Neues, Nichtdagewesenes bietet er dar. Er darf sagen: Wäre ich nicht, so müßte die Welt um dies ärmer sein. Wäre es nicht so dunkel,“ fuhr der Maler in leiserem Tone fort, „so sähe ich auf Ihren Lippen, in Ihren Augen vielleicht Erstaunen, denn zum Spott sind Sie zu edel. Sie haben Recht, wenn Sie fragen, was ich bisher gethan, das mich berechtigt, solche Gefühle zu hegen, und wo die Meisterwerke sind, die zu diesem Stolze Anlaß geben. – Noch habe ich nichts geleistet. Es ist wahr, doch fühle ich fest und sicher, daß mir gegeben ward, Großes zu vollbringen; auch ich werde einst sprechen dürfen: dies hier ist mein Werk, und keines Andern!“
Der junge Mann schwieg, und an seinem kurzen Athem konnte ich hören, daß er auf Erwiderung lauschte. Sieh’ Amalie! Wenn ich jetzt seine Worte überdenke, so kommen sie mir auch hochmüthig, ja fad vor. In dieses Licht treten sie aber nur durch meine vielleicht ungeschickte Wiedergabe. Hättest Du den Ton inniger Ueberzeugung gehört, mit dem der junge Mann sprach, Du hättest mit mir ihm zugerufen: „Das glaube auch ich! Glück auf!“
Zu Hause angekommen, fanden wir zu meinem größten Erstaunen das Haus in vollkommener Dunkelheit. Doch traf die uns empfangenen Diener kein Vorwurf Ernst’s, der sonst diese Dinge sehr genau besorgt wissen will. Im Dunkeln führte mich der Bruder auf mein Zimmer, nachdem er unsern Gefährten, die hineineilten, um Abendtoilette zu machen, ein kurzes „Wiedersehen“ zugerufen.
Fanny hatte sich die Anordnungen des Malers so zu Herzen genommen, daß sie mich gar nicht mehr aus den Händen ließ. Endlich, als Ernst erschien, um mich abzuholen, erklärte sie mich für „vollendet schön“. Denke Dir mein Erstaunen, als ich, am Arme des Bruders die Treppen betretend, diese in einen Wintergarten umgewandelt fand. Alles, was Treibhäuser nur beherbergen, fand sich da vereinigt, Palmen, Farren, Camelien, eine schöner als die andere! Jetzt wurde ich von Ernst in mein kleines Boudoir geführt, das ich seit einigen Tagen nicht betreten; welche Verwandlung! Alles, was der gute Geschmack nur hervorbringt, war hier vereinigt, nur an einer Wand, wo die seltensten Blumen und Blattpflanzen einen Kranz bildeten, ein leerer Raum. Hierher sollte das Schneewittchen kommen, wenn es beendet, war die Erklärung. Als ich Ernst einen dankbaren Blick zusandte, sagte er mir, wie der Gedanke des Ganzen zwar der seine gewesen, die Ausführung jedoch, zu der er keine Zeit gehabt, einzig Graf von Werdau zu danken sei.
„Sieh, hier kommt er eben!“ fuhr Ernst fort, als ein Diener meldend eintrat. „Du kannst Dich bei ihm selbst bedanken.“
Ich ließ mich behaglich in das nächste Polsterstühlchen nieder und streckte ihm freudig lachend die Hände entgegen. Mit einer tiefen Verbeugung nahm er sie beide, und sagte fast feierlich:
„Möge Ihnen jede Blüthe, jedes Blatt in diesem kleinen Tempel eine Freude, ein Glück bedeuten! Möchten sie mir eben so viele Tage in Ihrer Nähe wahrsagen!“
Noch einige Augenblicke des trauten Zusammenseins mit den Beiden, dann kamen die Gäste an, welche im großen Saale willkommen geheißen werden mußten.
Bald nach Beginn des Festes trat der alte Baron Gerhardt ein, den Du wohl noch im Andenken hast; er war ja Dein Cavalier bei der Landpartie, die so schön anfing und mit Hagel und Donner endete. Es ist Werdau’s mütterlicher Onkel und sehr für den jungen Mann eingenommen, dessen große Herzensgüte er mir anpries. Der alte Herr ist wirklich ein liebenswürdiges Original, so daß ich, wenn ich gut abkommen konnte, mich zu ihm setzte, oder an seinem Arme durch die Säle spazierte. So oft Letzteres der Fall war, konnte ich sicher sein, daß er die Schritte nach der Galerie lenkte, wo er jedesmal wie ein darauf eingerichteter Automat vor dem Bilde stehen blieb, das als der Juwel unserer Sammlung gepriesen wird, einem unvergleichlichen Rembrandt. Als ich ihn das erste Mal dahin begleitete, sprach er mit jener übertriebenen Galanterie, die einem andern Zeitalter angehört:
„Obgleich es eine Sünde ist, neben Ihnen noch etwas Anderes anzusehen, da ja Alles vor Ihnen erbleicht, so ist und bleibt dieses Bild das Ziel meiner heißesten Wünsche. Hätte ich es, so wäre meine Rembrandtsammlung eine complete. Jeden Fortschritt, jede Veränderung in des großen Meisters Manier besitze ich, nur die Krone, der Schluß fehlt mir. Es ist himmelschreiend.“
Du kannst Dir denken, Amalie, daß ich mich nicht dazu hergab, dieses alten Monomanen Jammergeschichte oft anzuhören. Ich bin noch nicht so blasirt, daß der Ballsaal mit seinem Lichtglanze, seinem Blumendufte, dem fröhlichen Rauschen der Musik und den durcheinander wirbelnden Paaren, die mit solchem Feuer tanzten, als hätten sie hier endlich den lange vergebens gesuchten Lebenszweck entdeckt, nicht elektrisch auf mich wirkte. Als Herrin [594] des Hauses, mit der Alle tanzen wollten, mußte ich russischer Manier huldigen und stets nur eine Tour bewilligen, wollte ich nicht die Hälfte der Herren unbefriedigt nach Hause senden. Dir etwas erzählen vom Hergang des Festes wäre schwer, denn man kam ja nicht recht zu Sinnen. Hier ein flüchtig hingeworfenes Wort, dort der mit einem Lächeln aufgenommene Glückwunsch, jetzt ein Tanz, dann ein mit der Schnelligkeit eines Feuerwerks geführtes Gespräch. So ging es wenigstens bis zum Souper fort. Als wir um die große Tafel in der Halle saßen, sah man erst, welch auserwählter Kranz von schönen Mädchen und Frauen sich heute Abend versammelt hatte. Und Alles war fröhlich, des Lachens und Plauderns kein Ende.
Als zum Cotillon gerufen wurde, den ich eröffnen sollte, kam mir erst in den Sinn, daß ich ja bis jetzt aufgeschoben hatte, mir einen Tänzer zu wählen. Ich blickte einen Augenblick umher – dort, im Boudoir, unter meinen Blumen stand der Künstler, das große blaue Auge prüfend auf mich gerichtet – war nun nicht er ebenso gut wie ein Anderer? Gestehe, Amalie, war das nicht ein närrischer Gedanke? Ich, die Besonnene, wie kam ich nur darauf? Ich sah das auch gleich ein, und ging zu Ernst, um ihn leise zu fragen, ob es ihm recht, wenn ich mit Werdau den Tanz eröffnete.
Er nahm den jungen Mann, der neben ihm stand, bei der Hand und sagte darauf:
„Soeben hat Fürst Arsent mich um Deine Hand für diesen Tanz gebeten und ich versprach, ein gutes Wort bei Dir einzulegen.“
Zu gütig, Herr Bruder! dachte ich bei mir, nahm aber doch Arsent’s Arm und ging mit ihm an unsern Platz. Ich hätte so gerne mit Werdau getanzt, den ich seit dem Gespräch mit seinem Onkel von ganz anderer Seite kennen lernte.
Wahrscheinlich glaubten die jungen Herren, es sei ihre Pflicht, mich als Dame des Hauses keinen Augenblick in Ruhe zu lassen; nicht einmal bei uns im Schlosse, Amalie, habe ich Aehnliches geleistet. Endlich mußte ich doch die Hand abwehrend erheben, wenn Einer um den Andern an mich herantrat. Das mußten Einige bemerkt haben – sie ließen mich in Ruhe, und ich konnte dem Idyll lauschen, das mein Cavalier mir in’s Ohr flüsterte, indem er sein Schloß, die reizende Umgebung und auch seinen Vater beschrieb, der ein liebenswürdiger alter Herr zu sein scheint. Plötzlich sah ich wieder eine Hand vor mir, die mich mit einem Sträußchen Schneeglöckchen zum Tanze einlud. Ich blickte nicht einmal auf, sondern wehrte stumm ab, als ein Seufzer sich hören ließ und die Schneeglöckchen zur Erde sanken, ein Zeichen der Verzweiflung, das mich doch die Augen aufschlagen hieß. Vor mir stand Herr Impach, mit gesenktem Haupte, im Begriff, seine dunkle Ecke wieder aufzusuchen.
„Ich war müde und sagte schon mehr als zehnmal Nein!“ sprach ich begütigend, stand aber doch auf und legte die Hand auf seine Schulter.
Erinnerst Du Dich, wie wir das Kunststück des Hofmarschalls von Eppstein bewunderten, als er uns zeigte, wie er mit der Königin tanzen müsse? Ebenso tanzte der junge Künstler mit mir, das heißt, ohne mich zu berühren, der einzige Halt, den er hatte, war die Hand, welche ich auf seine Schulter gelegt, und dennoch flog ich niemals im Leben so leicht dahin. Als wir zurückkamen, hob der sonderbare Mensch die vorhin entfallenen Schneeglöckchen wieder auf und entfernte sich dankend. –
Schon die Art, mit welcher mir Ernst den Fürsten aufgedrungen hatte, gab mir zu denken. Ich war also ziemlich vorbereitet, als er mich, nachdem die Gäste sich entfernt, in das allerliebste neue Zimmerchen zog, und seinen Wunsch, mit mir zu sprechen, kund that.
„Du bist heute zwanzig Jahre alt,“ begann er, und obgleich ich wünschen möchte, die jetzigen Verhältnisse blieben sich ewig gleich, so darf ich dem Wunsche meines Herzens doch nicht folgen, darf kein Egoist sein, sondern bin verpflichtet, Vaterstelle an Dir zu vertreten und für Dein künftiges Wohl zu sorgen. Daß Viele es als ihr höchstes Glück erachten, sich mit Deiner Schönheit, Deinem Namen auf ewig zu verbinden, weißt Du –, mir mußt Du erlauben, unter den Vielen auszuwählen und Dir dann den Besten zum Annehmen oder Verwerfen vorzuschlagen. Mit einem solchen Antrage komme ich heute zu Dir – kannst Du nicht errathen, meine Hedwig?“
„Graf von Werdau war diesen Abend überaus aufmerksam, noch mehr, als er es sonst schon ist. Hätte er –?“
„Werdau, mein Kind, wird freilich heute oder morgen auch kommen, und es wäre deshalb gut, wenn vorher schon etwas beschlossen würde. Ich schätze ihn hoch als Freund, muß jedoch in der Wahl meines künftigen Schwagers viele Rücksichten nehmen. Du weißt, daß Werdau nur das sehr bescheidene Vermögen seiner Mutter besitzt, da sein Vater Alles verbrauchte. Dieses reicht lange nicht aus für die großartigen Bedürfnisse des in der Gesellschaft sehr gesuchten jungen Mannes, so daß er in hohem Grade von seinem alten Onkel abhängig ist. Obgleich es nun wahrscheinlich, daß Werdau und sein Vetter einst den Alten beerben, und der Name von Werdau-Gerhardt keinen üblen Klang hat, so ist mit nichts weniger als mit Sicherheit hierauf zu rechnen. Mit Werdau, mein Kind, ist es nichts. Mein Candidat aber ist Fürst Arsent.“
„Lieber Ernst,“ sprach ich, den Arm um den Bruder schlingend, „laß mich noch eine Zeitlang mit Dir glücklich sein! Ich weiß ja, daß ich stets für mein eigenes Glück am besten sorge, wenn ich Deinem Rath gemäß handle. Mir Arsent darfst Du mir aber nicht kommen!“
„Nicht so absprechend, Hedwig!“ sprach Ernst in sanftem Tone, meine Liebkosung erwidernd. „Lerne Arsent erst kennen, dann gieb mir Dein entscheidendes Wort! Du weißt, daß weder Deine Mutter, noch Deine Ahnen wie die Schäferinnen dem Drange des Herzens folgten, sondern Familienrücksichten in Betracht zogen, und doch recht glücklich wurden. Um Dich, süße Hedwig, werden, wohin Du auch den Fuß als Herrin setzest, stets glückliche Gesichter strahlen, denn Du lachst Einem ja die Seligkeit in’s Herz hinein. Jetzt gute Nacht, schönes Schwesterchen! Schlafe süß und laß Deine Träume durch keine stürmischen Bewerber stören! Du hast ja Zeit.“
Ich ging sinnend zu Bette; hätte ich Dich hier, Amalie, wir kämen zusammen der Sache bald auf den Grund. Doch wie Dir den Zustand meiner Seele beschreiben, in der unwiderstehlicher Widerwillen gegen Arsent aufsteigt, und doch wieder der Wunsch, dem Bruder zu folgen, manchmal die Oberhand bekommt. Unmöglich kann ein mächtigeres Gefühl für Werdau an diesem Kampfe schuld sein, – ich bin mir nicht bewußt, in ihm jemals mehr als einen angenehmen Gesellschafter gesehen zu haben. Heute Abend, beim Anblick der Sorgsamkeit, mit welcher Alles zu meiner Ueberraschung geordnet war, kam etwas wie zärtliche Regung in mir auf, doch war dies wahrscheinlich nur die Verzeihung für seine Ungeschicklichkeit beim Spazierritte.
Werde Du aus Hedwig klug, meine Amalie! Ich gehe zur Ruhe und suche die tausend Eindrücke der letzten Tage zu vergessen. – Auch Ernst erzählte mir, wie ihm der alte Baron Gerhardt einen wahnsinnigen Preis für Rembrandt’s „Alte“ bot. Der Narr! Er weiß doch, daß mein Bruder ebenso an seinen Bildern hängt, wie er an seinen eigenen.
Adieu, meine Freundin! Ich muß diesen endlosen Brief doch einmal schließen.
Schreibe bald Deiner
„Zwischen Hecken und Dorn, zwischen Weizen und Korn, zwischen Blumen und Gras“ war ich am frühen Morgen dahingewandert, aber alle die wechselvolle Anmuth unserer Geestlandschaft hatte meinen Fuß nicht aufgehalten, denn ich wollte hinein in’s Moor, tief hinein, immer südwestlich vorwärts von meiner Oldenburger Heimstätte aus, und ich mußte geizen mit der Zeit.
Nun lag es vor mir, das Moor. Vor meinen Füßen leise ansteigend, eine braune Fläche, ohne Pflanzendecke, ohne Leben und Bewegung, mit fast unbegrenztem Horizonte, nur daß hie
[595][596] und da in weitester Ferne das Dach eines Hauses oder eine kleine Baumgruppe am Himmel sich abhob. Auch diese Art von Unendlichkeit hat ihren Reiz; aber die Anregung, die sie giebt, ist eine trübe, niederdrückende, fast traurig stimmende. Das Moor ist, wie K. A. Mayer in Mannheim, vor Zeiten ein gut oldenburgischer Localdichter, sagt:
„Ein wasserstrotzender Riesenschwamm,
Ein schwarzer, hochgethürmter Schlamm,
Ein riesiger Kirchhof, wo Natur
Begraben des Lebens letzte Spur.
Einst haben hier Gras und Kraut gezittert,
Einst prangte hier Wald im Frühlingsschein;
Doch Gräser und Bäume sind längst verwittert
Und starren hervor als Todtenbein.
Was athmet, flieht die grause Oede,
Als ob ihr Hauch das Leben tödte.“
Die Gartenlaube hat vor nunmehr sechs Jahren ihren Lesern „Moorbilder aus Muffrika“ vorgeführt. Damals ist auch die Frage aufgeworfen worden, was man eigentlich mit „Muffrika“ bezeichne, und der Verfasser begnügte sich mit der ebenso vorsichtigen als allgemein gehaltenen Antwort: Muffrika ist das Land, wo der Heerrauch oder Höhenrauch herkommt.
Wer sich in dieses Land begiebt, findet nichts weniger, als lachende Gefilde; aber im Moor wie auf der Haide daneben liegt dennoch der beste Theil der Zukunft dieses nordwestlichen Deutschlands. Hier, so lehrte damals unser Gewährsmann, hier in der noch ungebändigten Natur, wo Meilen auf Meilen Landes sich rein im Zustande der Urzeit befinden, lassen sich von fleißigen Händen, die von der Erfahrung geleitet und von der Technik der Neuzeit unterstützt sind, noch Schätze heben, welche man in dieser Welt von Sand und Torfschlamm lange nicht geahnt hat. Diese Torflager der Moordistricte und die Ergiebigkeit der Oberfläche derselben, wenn sie in Ackerland verwandelt sind, was so wenig unmöglich, wie die Umgestaltung der sandigen Haide in saatlohnendes Feld, versprechen, neuerdings nach ihrem wahren Werthe gewürdigt, den Reichthum des ohnehin nicht armen Landes noch außerordentlich zu erhöhen. Jetzt sind die Moore, namentlich in den westlichen Theilen von Oldenburg und Hannover, durch ihre Größe, ihre Unwegsamkeit Völkerscheiden; sie sind, wo sie Landschaften einfaßten, Schranken für den Zugang der Cultur; von dieser sind die Muffrikaner weiter getrennt, als die Bewohner entlegener Inseln.
Aber nicht überall mehr zeigt uns das Moor diese großartige Ursprünglichkeit. In der Nähe der Geest, des sandigen Festlandes, sieht man die Spuren thätiger Menschenhand. Neben tiefen, wassergefüllten Gruben mit steil abgeschnittenen Wänden stehen kleine Torfhaufen aus lustig übereinander geschichteten, durch eine Maschine geschnittenen Torfstücken („Soden“), die in Wind und Sonne austrocknen sollen. Hie und da erstreckt sich ein kleines Buchweizenfeld mit den zahllosen röthlichweißen Blüthen in die braune, pflanzenlose Wüste. Wo das Hochmoor sich selbst überlassen blieb, ist es dicht bedeckt mit Haidekraut, calluna vulgaris und erica tetralix, dem indeß andere Pflanzen, wie die Schwarzbeere, die Aehrenlilie, Orchisarten und andere, hie und da auch eine verkümmerte Birke oder Föhre eingesprengt sind. Wo aber der Raubbau auf Buchweizen vermittelst der Brandcultur stattgefunden hat – und solches Moor ist es, das man am meisten zu sehen bekommt –, da ist alle Vegetation getödtet, und es liegt nackt und wie geschunden da. Nur am Rande der Torfgruben zeigen sich Binsen und saure Gräser und einzeln das zierliche Fingerkraut und ein verwildertes Buchweizenpflänzchen, und wo des Menschen Fuß sich einen Pfad durch die Wüste gebahnt, folgt ihm aus den nahen Holzungen das Weidenröslein mit seinen hellleuchtenden Blüthentrauben, haftend, wo jener an seiner Sohle auch nur ein wenig mineralische Nahrung auf die ausgesogenen Pflanzenreste getragen hat.
Unermeßliche Schätze bergen diese Moore; nur schade, daß sie so schwer zu heben sind. Der weiche, schlammige Moorboden trägt weder Wagen noch Pferde, und der Mensch selbst kann nur in der trockenen Jahreszeit dort sich bewegen, um seiner Arbeit nachzugehen. Darum haben Torfstich und dauernder Anbau sich in den meisten Gegenden auf die Ränder beschränken müssen. Selbst die Sandwege, die hie und da Staat und Gemeinde durch das Moor gelegt haben, können, so nützlich sie sind, das Moor nicht eigentlich erschließen, da sie nur in nächster Nähe das Terrain zugänglich machen. Wo sie nicht unmittelbar hinanreichen, bleibt das Moor unnahbar, wie zuvor.
Nur eine Weise hat – leider Gottes! – der Mensch entdeckt und bisher vorzugsweise angewandt, um sich die weiten Flächen wenigstens vorübergehend zu unterjochen: das ist die Brandcultur. Sobald im Frühling eine trockene Zeit eingetreten, geht der Moorcolonist und mancher Landmann, Knecht und Arbeiter der sandigen Geest hinaus und steckt das meist schon im Herbste vorher an seiner Oberfläche zerhackte und aufgelockerte Moor in Brand, um alsdann in das durch die Asche gedüngte Feld Buchweizen hineinzusäen. Diese Art von Cultur erstreckt sich weit hinein in das Moor, und der Staat, welcher Eigenthümer des größten Theiles ist, leiht seine ausgedehnten Flächen gegen geringen Zins dazu her. Etwa sechs, höchstens acht Jahre kann dieser „Raubbau“ fortgesetzt werden; dann ist der Boden in seiner zu Tage liegenden Schicht aller mineralischen Nährstoffe bar, und er muß zwanzig, dreißig Jahre liegen, bis aus der Tiefe und aus der Luft so viel Kraft sich wieder angesammelt hat, daß eine neue Pflanzendecke entstehen konnte, um durch abermaliges Abbrennen dem Buchweizen zur Nahrung zu dienen. Endlich hört aber alle Erneuerung auf, das Moor ist todt und kann nichts mehr hergeben, weil es nichts mehr hat.
Der Erwerb, den Tagelöhner, Gesinde und Colonisten aus diesem Buchweizenbau ziehen, ist ein sehr wechselnder. Geräth die Frucht, so liefert sie reichen Ertrag und lohnt die angewandte Mühe übermäßig; aber die Pflanze ist sehr empfindlich, besonders gegen Frost, so daß die guten Ernten nicht eben häufig sind. „Buchweizensaat,“ sagt daher das Sprüchwort, „Buchweizensaat und Weiberrath gerathen nur alle sieben Jahre“, und „Der Buchweizen ist nicht eher sicher, als bis man ihn im Leibe hat, sagte der Bauer – da fiel ihm der Pfannkuchen in die Asche“. Weil aber beim Buchweizenbau so viel vom Zufall abhängt, hat der Ertrag der wirklich guten Ernten viel Aehnlichkeit mit einem Spielgewinne: er zerrinnt oftmals so leicht wie dieser. Bei manchen Kennern unserer wirthschaftlichen Zustände gilt daher der Buchweizenbau durch Brandcultur keineswegs für eine erfreuliche Errungenschaft der Neuzeit.
Eine andere Seite der Brandcultur ist weit hinaus nur zu wohl bekannt. „Ganz Deutschland riecht’s, wenn uns’re Moore rauchen,“ singt ein anderer Localpoet, und zwar schnöder Weise nach der Melodie des Rheinweinliedes. Kaum ist der Frühling in’s Land gezogen, kaum knospet das junge Grün auf Baum und Strauch, und die Brust dehnt sich, die linden Lüfte tiefathmend einzufangen, so wälzt sich vor dem Winde ein wahrer Höllenbrodem daher über die Ebene und weiter über Berg und Thal; bleiern lastet die Luft, der ganze Himmel ist ein dichter Qualm, der die Mittagssonne zu einer mattrothen Scheibe macht, ja oft sie ganz verhüllt. Wochenlang bringt jeder junge Tag diese unangenehme, alle Frühlingsluft und Heiterkeit zerstörende Plage, die zugleich, wenn man es auch kaum hat förmlich beweisen können, auf Gedeihen und Gesundheit aller Thier und Pflanzenwelt schwerlich anders als schädlich einwirken kann.
Es giebt ein Mittel, in das Moor einzudringen, seine Vorräthe an Torf nutzbar zu machen, den Untergrund einer dauernden Cultur zu unterwerfen, das Mittel ist sicher und allbekannt: es ist die Canalisation. Durch sie erhält das Moor die nöthige Entwässerung und zugleich die Communicationswege, auf denen der Torf und demnächst die Producte der Landwirthschaft weggeführt und wiederum Dünger aus den Städten und Marschen oder von schlick-(schlamm-)reichen Mündungen der Flüsse, sowie alle Bedürfnisse des eigenen Lebens herangebracht werden können. Die holländischen und einzelne Wehne (oder auch Vehne und Fehn, im Holländischen Veen, eine durch Eindämmung und Canäle trocken gelegte Moor- und Torfgegend) in der Provinz Hannover lassen die vorzüglichen Erfolge dieses Mittels sichtbar und glänzend hervortreten. An einen Hauptcanal, der aus der Mitte des Moores zu einer offenen Wasserstraße führt, schließt sich allmählich ein ganzes Netz von Canälen an, jeder Canal an beiden Seiten von Landstraßen begleitet. Zu Wasser wie zu Lande entwickelt sich ein lebhafter Verkehr. Die Abgrabung des Torfes, der in hochbeladenen Schiffen ausgeführt wird, schafft Raum für die Herstellung von Gärten, Wiesen und Feldern. Die ersten, rohaufgerichteten Wohnungen der Ansiedler machen soliden, selbst eleganten Häusern Platz; Kirchen und [597] Schulen, Kaufläden, Mühlen, Fabriken und Schiffszimmereien mischen sich unter die Wohnhäuser, und endlich schließt sich ein Dorf an das andere, jedes eine Stätte blühender Landwirtschaft und regsamer Industrie und Ausgangspunkt einer gewinnbringenden Schifffahrt.
Das Beispiel, das die Holländer und nach ihnen die Ostfriesen gegeben, blieb anderwärts nicht unbeachtet. Auch in Oldenburg hat die Regierung schon seit längerer Zeit begonnen, die Moore des Landes durch Canäle zu erschließen, und namentlich ist es ein Unternehmen dieser Art, auf das bereits viel Geld und Mühe verwandt ist. Westlich von Oldenburg, fast unmittelbar von der schiffbaren Hunte bis zu den schiffbaren Nebenflüssen der Ems erstreckt sich ein ausgedehntes Moor, das bisher in sich unzugänglich war und zugleich eine unüberwindliche Schranke des Verkehrs zwischen den umliegenden, zum Theil fruchtbaren Gegenden bildete. Ein Hunte-Ems-Canal, der das Moor durchschneiden und die Schifffahrtsstraßen der Hunte-Weser mit denen der Ems und ihrer Nebenflüsse verbinden soll, ist seit zwei Jahrzehnten in Angriff genommen; aber von dem Canale, der etwa vier Meilen lang wird, sind kaum die äußersten Strecken hergestellt, und es ist schwer abzusehen, wann das Werk, in der bisherigen Weise fortgesetzt, zu Ende gebracht werden mag. Die bisherige Weise ist aber die, daß man von den Enden aus zunächst das Moor entwässert, eine lange, langweilige und ermüdende Arbeit, und dann das trockene oder doch halbtrockene Moor fortschafft. Die holländischen Canäle sind nicht schneller entstanden; aber man ist solch langsamer Schritte nicht mehr gewohnt und war fast im Begriff, die Geduld zu verlieren. Da wurde die Aufmerksamkeit eines Mannes, welcher trotz seiner eingreifendsten Thätigkeit bei vielen großen industriellen und finanziellen Unternehmungen in allen Theilen Deutschlands dem Gedeihen seines Geburtslandes Oldenburg die regste Theilnahme bewahrt hat, des Geheimen Finanzraths Siebold in Frankfurt am Main, auf eine Erfindung gelenkt, welche nicht nur eine massenhafte und billige Torfgewinnung aus dem Innern des Moores, sondern auch eine Beschleunigung des Canalbaues zu ermöglichen versprach. Es war dies eine Maschine, welche, auf dem Wasser schwimmend, den Torf aus dem Moore aushebt, ihn zu Torfbrei zerkeinert und diesen Brei auf das benachbarte Moor zur weitern Bearbeitung ausschüttet. Indem sie diese Geschäfte besorgt, hebt sie gleichzeitig einen Canal aus, denn der Raum, aus welchem sie den Torf hervorholt, ist zugleich dem Bette des Canals hinzugefügt. In Canada erfunden, ist die Maschine in England, Frankreich, Amerika und verschiedenen deutschen Staaten patentirt, aber abgesehen von Canada wohl nur erst in Oldenburg in Thätigkeit gesetzt. Und dies Letztere ist eben das Verdienst des Herrn Siebold. Auf seine Anregung trat im vorigen Jahre eine „Gesellschaft für Canal- und Wasserbauten“ zusammen, deren erstes Unternehmen die Verwerthung jener Maschine in der Linie des Hunte-Ems-Canals geworden ist –
Hatte ich es mich zwei Jahrzehnte hindurch nicht verdrießen lassen, die Arbeiten am Hunte-Ems-Canal, so langsam sie auch fortrückten, mit Theilnahme zu verfolgen, so mußte diese neue Erfindung mein Interesse auf’s Lebhafteste in Anspruch nehmen, und deshalb war es, daß ich trotz Sonnenbrand den stundenlangen Weg auf dem bebenden, elastischen Moore nicht scheute. Die Tage des Moorbrennens waren vorüber, und am unbewölken Himmel stieg die Sonne höher und höher. Die Luftschichten über dem Boden geriethen in jene flimmernde, wellenförmige Bewegung, für die der Volksmund den Ausdruck hat: „die Sommer-“ oder auch „die Wetterkatzen laufen,“ ein Zeichen von der Kraft der Sonnenstrahlen, die ich freilich unmittelbar hinreichend empfand. Da endlich tauchte am Horizonte ein seltsames Gebilde auf, ein dampfendes Ungeheuer mit lang-ausgestreckten Armen – es war das canalbauende Maschinenschiff. Obwohl längst erwartet, behielt der Anblick doch etwas Ueberraschendes, Frappantes, gerade weil die rauchende, ächzende Maschine mitten in der Wildniß zu ihrer Umgebung einen so schroffen Gegensatz bildete. Die wenigen Menschen, welche auf dem Schiffe und neben ihm auf dem Moore beschäftigt waren, konnten in ihrer geräuschlosen Thätigkeit den Eindruck nicht stören; aber der blinkende Wasserstreifen, den das Schiff hinter sich gezogen hatte, eben der Canal, den es sich selbst in das Moor hineingebaut, war wie ein Stück jungen frischen Lebens, das aus der beweglichen, verkehrsfreien Welt sich in die Einöde den Zugang erzwang.
Die Besichtigung der Maschine und ihrer Arbeitsstätte ist nicht ohne Weiteres gestattet; aber eine Erlaubnißkarte des gefälligen Herrn Consuls Haußmann, eines der Directoren der Gesellschaft, verschaffte mir ungehinderten Zutritt und die Möglichkeit, eine Skizze der arbeitenden Maschine zu entwerfen, zu deren Erklärung es nur weniger Worte bedürfen wird. Vorn am Schiffe heben zwei mächtige Schraubenbohrer im Fortrücken, wobei für die Spitzen der Bohrer kleine Gräben ausgegraben werden, das Moor aus und bringen es in den vordern Schiffsraum. Von hier aus wird es durch ein Paternosterwerk, den Elevator, emporgehoben und in einen Behälter geschüttet, in welchem es zwischen rotirenden und feststehenden Messern unter Zuführung von Wasser zerkleinert und innig gemengt wird. Der so gewonnene Brei fließt durch den langen Seitenarm, eine Rinne, in welcher die Zerkleinerung und Mengung mittelst rotirender und feststehender Messer fortgesetzt wird, ab auf das zur Seite liegende Moor, und zwar nicht blos an dem äußern Ende, sondern auch vorher durch hier und da angebrachte Klappen, welche man nach Belieben öffnen und schließen kann. Der kürzere Arm auf der andern Seite des Schiffes dient nur dazu, es im Gleichgewichte zu erhalten.
Die Moorfläche, auf welche der Brei ausgeschüttet wird, ist vorher von Arbeitern geschlichtet und gedichtet. Der Brei selbst wird ebenfalls zu einer gleichmäßig ausgebreiteten Schicht geebnet, wobei die Arbeiter sich kleiner, mit Stielen versehener Bretter bedienen, während zu seiner Ausbreitung über die Länge der Ausflußrinne hinaus die Hülfe von Pferden erforderlich ist. Hat er demnächst nach Aufsaugung seiner Feuchtigkeit durch den Boden sowie durch die Luft eine gewisse Consistenz erhalten, so wird er durch besondere Maschinen in „Soden“ zerschnitten, die sodann, wie auch mit anderem Torf geschieht, in kleine Haufen übereinander gelegt werden, um vollends auszutrocknen. Ist dies geschehen, so ist der Torf, der von ganz besonders guter Qualität sein soll, zum Verkauf fertig.
Das Maschinenschiff hebt in einer Stunde einen Canal von zwanzig Fuß Breite und reichlich sechs Fuß Tiefe auf eine Länge von fünfzehn Fuß aus. Das ist freilich keineswegs ein Bett, wie es der Hunte-Ems-Canal braucht. An der jetzigen Arbeitsstätte liegt das Moor zwölf Fuß tief, an vielen Stellen weit tiefer, und das Schiff muß also, so zu sagen, zwei Canäle unter einander ausgraben, ehe es nur an den Sand kommt, aus welchem endlich der eigentliche Schifffahrts-Canal ausgehoben werden muß. Die Sohlbreite des Schifffahrts-Canals soll nach den vorliegenden Plänen vorläufig auf zwanzig Fuß beschränkt werden; es leuchtet aber ein, daß die obere Weite an der Oberfläche des Moores eine weit beträchtlichere sein muß. Dem vom Schiffe ausgehobenen Canale muß mindestens noch ein zweiter, wahrscheinlich müssen ihm noch mehrere zur Seite gelegt werden. Das Alles wissen die Unternehmer, und das Alles hindert auch nicht, daß diese Art von Canalisation, wenn sie nicht aus andern Ursachen scheitern sollte, die bisher angewandte an Raschheit des Erfolges erheblich übertreffen wird, zumal da es sehr wohl thunlich ist und auch in der Absicht der Unternehmer liegt, die Zahl der Maschinenschiffe zu vermehren.
Die bisherige Methode arbeitete, wie schon angedeutet, vom trockenen Sande aus und wollte das Moor als trockene Masse bezwingen; dem aber widersetzte sich die Natur des Moores auf das Hartnäckigste. Ein „wasserstrotzender Riesenschwamm“, mußte es von dem Wasser befreit werden, ehe man zu Torfgewinn oder Anbau tiefer hineinschneiden konnte. Ein ganzes System größerer und kleinerer Gräben, gleichsam ein Vorbild des demnächstigen Canalnetzes, mußte angelegt werden, um das Wasser allmählich abzuzapfen. Und oft schien eines Jahres Arbeit durch einen nassen Winter wieder zerstört, indem der weiche „hochgetürmte Schlamm“ die breiten Gräben wieder füllte und die Ränder derselben so nahe zusammendrückte, daß kaum noch eine schmale Spalte übrig blieb. Diese Entwässerung, kostspielig und zeitraubend, mußte das Ausgraben des eigentlichen Canals und die Torffabrikation im Großen vorbereiten; nur in verhältnißmäßig trockenem Moore war die eine wie die andere Arbeit [598] möglich, das Wasser war der mächtige, immer neue Kräfte sammelnde Feind, den man zu bekämpfen hatte.
Die neue Erfindung nun bekämpft nicht diesen Feind, sie macht ihn zum Bundesgenossen, zum Diener ihrer Zwecke. Während der alte Canalbau das Wasser zu vertreiben suchte, sammelt der neue es, damit es den Menschen und ihren Werkzeugen zum Träger und zur Straße werde, aus denen sie sich bewegen und arbeiten können. Darin liegt das Geniale der Erfindung. Die Paternosterwerke, die Breibereiter etc. sind theils lange bekannt und hier wie in anderen Gegenden angewandt, theils wenigstens Anwendungen bekannter Gedanken, wie sie ein findiger Kopf leicht sich ersinnen mag, wo ihn das Bedürfniß und die Gelegenheit auffordert. Der Kern der neuen Erfindung beruht gerade darauf, daß das Moor ein wasserstrotzender Riesenschwamm ist. Der Raum, aus dem die Maschine den Torf herausgehoben, füllt sich mit dem von allen Seiten herbeisickernden und rieselnden Wasser und gestaltet sich so zu dem Canal, dessen das Schiff bedarf, damit es seine Functionen üben könne. Zugleich hindert das Wasser durch seinen Gegendruck das Zusammensinken der Canalwände, die sofort durch den Druck des schweren haltlosen Moorschlammes zusammengepreßt werden müßten, sobald einmal der Widerstand des Wassers aufhören würde. Ebenso trägt das Zusammenlaufen des Wassers in das geöffnete Bett dazu bei, die zur Seite gelegenen Flächen zu entwässern und für die weitere Bearbeitung durch Abzugsgräben etc. zugänglich zu machen. So sehr ist diese Erfindung auf das Wasser angewiesen, daß selbst der ungeheure Riesenschwamm des Moores desselben kaum genug bietet. Es ist ein Hochmoor, durch das der Canal gelegt werden soll, das heißt ein Moor, das weit über das umgebende Festland hinausgewachsen ist. Es bedarf daher besonderer Dämme, um das so hoch angesammelte Wasser aufzubewahren und am Abflusse zu hindern, und selbst die Zubringung von Wasser von außen hinein durch Schöpfmühlen hat sich bereits als nothwendig erwiesen. Arbeitet das Schiff erst an einer zweiten Bahn durch das Moor unter der jetzigen, so wird diese Schwierigkeit sich beträchtlich mindern. Freilich mögen andere dafür auftauchen.
Leicht ist den Unternehmern der Anfang nicht geworden. Fern von der Menschen Wohnungen mußte das Schiff an Ort und Stelle gebaut, jedes Stück seines Materials wie jeder Theil der Maschine mußte mit großen Kosten auf diesen Flugsandwegen bis an das Moor, und aus diesem selbst mittelst besonders construirter Schleifen herangeschafft werden, auf einem so weichen Boden, daß den Pferden Bretter unter den Hufen befestigt werden mußten, damit sie nicht bis an den Leib einsanken. Dabei waren die Arbeiter aus den nächstbelegenen Dörfern in thörichtem Brodneide eher geneigt, dem neuen Unternehmen alle möglichen Hindernisse in den Weg zu legen, als es selbst gegen hohen Lohn fördern zu helfen, und es mußten die nöthigen Arbeitskräfte aus den ostfriesischen Wehncolonien herangezogen werden.
Mit Eifer und Ausdauer hat die Direction der Gesellschaft aber bis jetzt alle Schwierigkeiten überwunden, und es steht zu hoffen, daß nunmehr dem Unternehmen, dessen Fortschritte von allen Freunden des Landes und des Volkes mit höchster Theilnahme verfolgt werden, ein günstiger Erfolg gesichert ist.
Wenn man den Quellen der verschiedenen Aberglaubensformen nachgeht, so wird man unter ihnen wenigen Phantasieschöpfungen begegnen, die so vielfache Unterstützung in natürlichen Vorkommnissen fanden, mithin so erklärlich und so entschuldbar erscheinen, als gerade die Vampyrsage. Eine erbliche Familienkrankheit, eine ansteckende Seuche, die vielleicht aus einem schlechten Brunnen oder Aborte des Hauses ihren natürlichen Ursprung herleitet, oder sich wirklich von Person zu Person überträgt, rafft die Angehörigen eines Hauses in unerbittlicher Folge hin; welche Vorstellung könnte da dem Naturmenschen angemessener und näherliegend sein, als die, daß der Vorhergestorbene den Ueberlebenden abhole? Eine so solide Grundlage besitzen nur die wenigsten abergläubischen Vorstellungen, und doch ist das erst der Keim des Vampyrs, der nun durch manche unglückliche Gedankenverbindungen, die im Grunde gar nichts miteinander zu thun haben, groß gezogen ward.
In Zeiten ansteckender Seuchen werden die Gestorbenen schnell beerdigt, und es geschieht dann häufiger als in gewöhnlichen Zeitläufen, daß scheintodte, in Starrkrampf versunkene Kranke, ob sie gleich manche äußere Zeichen des Lebens aufwiesen, mit beerdigt werden, weil Jeder die pesthauchenden Todten aus seiner Wohnung so schnell als möglich entfernt wissen will. Ein Erwachen im Grabe, ein schrecklicher Hungers- und Erstickungstod mag unter solchen Umständen, namentlich in älteren Zeiten, häufiger vorgekommen sein. Im Volke geht eine alte Sage, daß sich namentlich in Pestzeiten nicht selten ein „Schmatzen und Kauen“ der Todten in den Gräbern habe vernehmen lassen, und mehrere Gelehrte des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts (Philipp Rohr und Michael Ranft) haben ausführliche lateinische Abhandlungen über diesen Gegenstand verfaßt. Bei den früheren Gewohnheiten, die Todten in den Gewölben der Kirche selbst beizusetzen, mögen derartige Geräusche des wiederkehrenden Lebens, oder von anderen Ursachen herrührend, in den vom Straßengeräusche abgeschlossenen Räumen häufiger vernommen worden sein; sie führten leider selten oder nie zu einer Untersuchung. Aus den griechischen Kirchenlehren hatte sich die unheilvolle Vorstellung eingeschlichen, daß jene Geräusche in den Gräbern vom Teufel veranlaßt würden; eine Ansicht, der auch Luther in den Tischreden ausdrücklich seine Beistimmung gab. Statt solche Gräber und Gewölbe, aus denen Pochen und Geräusch ertönte, schleunigst zu öffnen, floh man dieselben und betete für die arme Seele, welche in die Gewalt des Teufels gefallen sei. Zugleich wollte man in diesem Kauen und Schmatzen ein Zeichen erkennen, daß der Todte seine Verwandten alsbald nachholen werde, und glaubte ihm durch vorher in den Mund gesteckte Steine die Lust an den Kieferbewegungen zu nehmen. Einige Male sind solche Gräber und Gewölbe wegen Verdacht der Vampyrschaft oder aus anderen Ursachen später geöffnet worden, und man fand Gesicht und Brust solcher Leichen zerkratzt, oder sie selbst dem Sarge entflohen, wie in einem Kirchengewölbe zu Augsburg, wo die Reste einer darin eingesargten Frau später an der Gewölbethür gefunden wurden. Ranft erzählt von einer Böhmin, deren Grab man 1345 aus Veranlassung eines derartigen Geräusches geöffnet, und die ihr Linnenzeug halb verschluckt hatte. Solche unruhige Todte wurden dann als Vampyre behandelt, und der Teufel wurde ihnen ausgetrieben. Die Kennzeichen eines Vampyrs und eines Scheintodten sind ja dieselben.
Vielleicht führen kataleptische Zustände (Starrsucht) mitunter zu dem schrecklichen Loose des Lebendigbegrabenwerdens. Wie lange in besonderen Fällen im kühlen Grabe das verborgene Leben anhalten kann, ist aus naheliegenden Ursachen unerörtert geblieben, undenkbar aber scheint es mir nicht, daß in dem einen oder dem andern Falle – da man ja ausdrücklich auf Leute fahndete, die mit rothen Wangen und flüssig bleibendem Blute beerdigt waren – auch einmal ein vermeintlicher Vampyr im Momente der Pfählung erwacht sein könne, um seine Mörder vergeblich um Schonung anzuflehen. In den meisten Fällen freilich, in denen von einem Winseln, Stöhnen und Röcheln der Vampyre beim Pfählen die Rede ist, werden diese Laute wohl auf Rechnung ausströmender Fäulnißgase oder der Einbildung zu setzen sein.
Hatte sich nur erst in Seuchezeiten irgendwo der Verdacht umgehender Vampyre angesponnen, so that das Traumleben gewiß das Seinige, um Nahrung zu geben. Jedermann weiß, wie leicht gefürchtete Schreckensbilder sich im Traume wiederholen. Wem, wie dem Schreiber dieser Zeilen, der qualvolle Zustand des sogenannten Alpdrückens aus eigener Erfahrung bekannt ist, der weiß auch, wie leicht sich körperliche Beschwerden in die Bilder menschlicher Gestalten umsetzen, die auf uns liegen und uns quälen, ohne daß wir uns ihrer Umarmungen zu erwehren im Stande sind. Insectenstiche, eine sich bildende Hautentzündung
[599] können Vampyrsträume bei reizbaren Personen erzeugen; gewisse Halskrankheiten bringen Traumvorstellungen des Gewürgtwerdens hervor; Aufregungen in der Sexualsphäre rufen sehr leicht und häufig Incubus- und Succubusträume herbei.
Der oben erzählte berühmteste aller bekannt gewordenen Vampyrskandale zu Meduegia in Serbien wurde, nachdem mehrere Personen am Genusse kranken Fleisches gestorben waren, dadurch eingeleitet, daß ein Haiduck, Joviza, meldete, seine verstorbene Schwiegertochter Stanjoicka habe sich eines Tages frisch und munter schlafen gelegt, sei dann um Mitternacht mit einem entsetzlichen Geschrei, Furcht und Zittern aus dem Schlafe gefahren und habe geklagt, daß sie von einem vor vier Wochen gestorbenen jungen Haiducken, Namens Milloë, am Halse gewürgt worden sei und zugleich einen heftigen Schmerz an der Brust empfunden habe. Man bemerkte auch an ihrem Halse einen zollgroßen, blutunterlaufenen Fleck, und wenige Tage darauf war sie eine Leiche. Die namentlich auf diese Aussage hin erfolgte Aufgrabung zeigte ihren Körper wie den des Haiduckensohnes und anderer Personen im „Vampyrstande“.
Man kann obiger Erzählung und ähnlichen Berichten vollkommen Glauben schenken, nur muß man sich erinnern, daß hier Ursache und Wirkung, wie so oft, verwechselt wurden, denn die Halsentzündung erzeugte den Würgertraum, während sie fälschlich für das Wahrzeichen des Traumes angesehen wurde. Der bereits erwähnte Harenger hielt die gesammte Krankheit zu Meduegia für eine aus dem Genusse giftigen Fleisches (der Vampyrschafe, während doch sonst Vampyrblut heilt) entstandene bösartige und vielleicht ansteckende Bräune. Da haben wir einen dritten sehr gefährlichen Bundesgenossen im Traumleben, der, besonders wenn er, wie in den griechisch-katholischen Ländern, durch kirchliche Lehren unterstützt wird, die allerverderblichsten Folgen für Gesundheit und Leben herbeiführen kann. Nachdem so durch Seuchen, Lebendigbegrabene, kirchlichen Aberglauben und Traumvorstellungen ein grausiges Gespenst im Volksverstande erzeugt war, bedurfte es nur noch eines augenfälligen Beweises, um die unanfechtbare Wahrheit des Vampyrdaseins zu erhärten.
Diesen Beweis lieferten die Kirchhofsuntersuchungen. Drei, vier Wochen, ja Monate lang beerdigte Todte wurden „frisch und unverwest“ gefunden. Ihr Blut war flüssig; Haar, Bart, Nägel waren gewachsen; die Haut war zum Theil erneuert. Daß sich in den Wintermonaten die Leichen lange frisch erhalten, hat für Den nichts Wunderbares, der da weiß, daß man geschossenes Wild in der kalten Jahreszeit viele Wochen unverändert aufbewahren kann. Von diesem Gesichtspunkte würde der Befund auf dem Friedhofe von Meduegia vom 7. Januar 1732 nicht so sehr auffallend sein. Aber auch für den Sommer besitzen einzelne Friedhöfe und Gewölbe (zum Beispiel im Bremer Dome) das sonderbare Privilegium, die Leichen sehr lange unverwest zu erhalten, sei es wegen Trockenheit des Bodens, sehr reichlichen oder äußerst spärlichen Luftzutrittes oder aus anderen Ursachen. Außerdem mögen die Todesursachen die Körper in sehr ungleicher Weise zur Verwesung vorbereiten. Was aber das Fortwachsen von Haar und Nägeln bei Leichnamen anbetrifft, welches bereits der Kirchenvater Arnobius leugnet, Tertullian wenigstens nicht als Beweis dafür gelten lassen will, daß bei einem Körper noch eine Spur Seele und Leben zurückbleibe, so ist mir leider unbekannt, ob dieser Umstand von einem neuern Beobachter untersucht worden ist. In’s Gewicht fällt allerdings, daß Aristoteles in seiner Thiergeschichte den Vorgang behauptet, und zahlreiche ältere Schriftsteller ihm beipflichten. Ranft und Garmann vergleichen diese Hornsubstanzen den Moosen, die auf der Rinde abgestorbener Bäume fortwachsen. Es scheint etwas Annehmbares in dem Vergleiche des Haares mit einer Pflanze zu liegen, und die Fortbildung des Haares aus Reservestoffen, die in der Nähe seiner Wurzel abgelagert sind, scheint mir, natürlich nur auf kurze Zeit denkbar, nicht zu den Behauptungen zu gehören, die man von vornherein leugnen darf. Endlich das Flüssigbleiben des Blutes betreffend, ist es als festgestellt anzusehen, daß unter gewissen Umständen, zum Beispiel beim Erfrieren, das Blut weniger schnell gerinnt. Bei vierundzwanzig Personen, die 1709 beim Eisgange der Donau umkamen, fand man nach den in gelehrten Arbeiten jener Zeit niedergelegten Mittheilungen noch nach vier bis acht Wochen das Blut flüssig.
Offen gesagt, gebe ich herzlich wenig auf die Mehrzahl jener Vampyr-Leichenschau-Berichte, denn die meisten gingen von Leuten aus, welche Wunder sehen wollten und sich obendrein zu dem Werke „Muth getrunken“ hatten. Man hat offenbar in vielen Fällen Dinge gesehen, die nicht vorhanden waren, rothbraune Fäulnißflüssigkeit für frisches Blut ausgegeben und die Nasen absichtlich in nicht zu nahe Berührung mit dem Schreckensgegenstande gebracht. Wenn die griechische Kirche die Vampyre als Tympaniten bezeichnete, so will dieser Ausdruck doch offenbar sagen, daß man ihre Leiber unförmlich gedunsen und angeschwollen fand. Der Ueberfüllung des Körpers mit fremdem Blut wurde hier offenbar zugeschrieben, was die beginnende Fäulniß für sich bewirkte. Auf entsprechende Schlüsse führt die neugriechische Benennung Broukolaken, die den Sprachforschern zufolge Bourkolaken zu schreiben wären, da das Wort abzuleiten sei von βοῦρκος d. h. Schmutz, Koth und λάακος d. h. Grube, Kloake, weil man ihre Gräber gewöhnlich mit Schmutz, dem rechten Element des Teufels, gefüllt fände.
Meine Ansicht über die Unzuverlässigkeit der meisten Vampyr-Befund-Nachrichten wird stark unterstützt durch den einzigen Bericht, den wir von Seiten eines Naturforschers über den Befund in einem Vampyrgrabe erhalten haben. Derselbe rührt von dem berühmten Botaniker Tournefort her, welcher auf seiner Orientreise im Winter des Jahres 1700 Gelegenheit hatte, auf der Insel Mykone einer Art Volksfest beizuwohnen, welches in Aufgrabung und Execution eines Vampyrs bestand. Seine Schilderung, die sich im ersten Bande seiner Orientreise befindet, ist ebenso unterhaltend als lehrreich und mag zum Schlusse den düstern Eindruck verscheuchen helfen, den diese Grabesbetrachtungen hervorgebracht haben könnten. Ich halte die ausführliche Mittheilung für um so zweckmäßiger, da Perty und ähnlich denkende deutsche Mystiker, obwohl sie von dem Vorhandensein dieses Berichtes, der die lächerliche Seite des Vampyr-Aberglaubens an’s Licht bringt, genaue Kunde hatten, sich wohl gehütet haben, ihn mitzutheilen oder Schlüsse daraus zu ziehen.
„Ein Landbewohner,“ erzählt Tournefort, „von einem mürrischen und streitsüchtigen Temperamente, war auf dem Lande, man wußte nicht durch wen oder wie, getödtet worden. Zwei Tage nach seiner Beerdigung in einer Capelle der Stadt (Mykoni) verbreitete sich das Gerücht, daß man ihn mit langen Schritten umherlaufen sähe, daß er in die Häuser dringe, um die Möbel umzuwerfen, die Lampen auszulöschen, die Leute von hinten zu umfassen und tausend Schalksstreiche auszuführen. Man lachte anfangs blos darüber, aber die Sache wurde ernsthaft, da die angesehensten Leute sich zu beklagen anfingen. Die Popen erklärten ihren Glauben an die Sache und hatten ohne Zweifel ihre guten Gründe dazu. Inzwischen setzte das Gespenst diesen Wandel fort. In einer Versammlung der Stadthäupter, Priester und Mönche wurde endlich beschlossen, daß man, ich weiß nicht welchem alten Brauche zu Liebe, die neun Tage nach der Beerdigung abwarten wolle.
Am zehnten Tage las man eine Messe in der Capelle, in welcher der Leichnam lag, um den Dämon auszutreiben, welchen man in demselben eingeschlossen wähnte. Darauf scharrte man den Körper aus und schickte sich an, ihm das Herz auszureißen, was ein Beifallsjauchzen in der ganzen Versammlung hervorrief. Der Körper duftete so übel, daß man genöthigt war, mit Weihrauch zu räuchern; aber dieser Qualm, vermischt mit dem schlechten Geruche, vermehrte die Beschwerden nur und begann den Kopf dieser armen Leute zu betäuben; ihre Phantasie erfüllte sich mit Visionen. Man verstieg sich so weit, zu behaupten, daß ein dicker Dampf aus dem Körper selbst hervorströme. Wir wagten nicht zu versichern, daß es nur der Weihrauchdampf sei. Man schrie in Einem fort: ‚Broucolaccas!‘ in der Capelle und auf dem Platze. Der Lärm verbreitete sich in den Straßen gebrüllartig, und dieser Name schien gemacht, um Alles in Erschütterung zu versetzen. Mehrere Beistehende versicherten, daß das Blut noch ganz hochroth sei; andere schwuren, daß es noch ganz warm sei, woraus man schloß, daß der Todte sehr Unrecht hatte, nicht todt zu sein, oder richtiger dem Teufel sein Leben zu verdanken. Es ist dies genau die Idee, die man von einem Broukolaken oder Vroukolaken hat. Die Leute, welche ihn beerdigt hatten, behaupteten, daß sie wohl bemerkt hätten, daß er nicht steif gewefen sei, als man ihn vom Lande nach der Kirche geschafft, und [600] daß es mithin ein richtiger Broukolake wäre. Das war der immer wiederkehrende Vers.
Endlich kam man auf die Idee, das Herz des Todten zu verbrennen, der nach dieser Operation nicht vernünftiger als vorher wurde. Man klagte ihn immer noch an, die Leute des Nachts zu prügeln, die Thüren einzuschlagen, die Kleider zu zerreißen, Flaschen und Krüge zu leeren. Es war ein sehr aufgeräumter Todter. Ich glaube, er schonte einzig das Haus des Consuls, bei welchem wir wohnten. Der Verstand schien allgemein zerrüttet zu sein; es war eine wahre Gehirnkrankheit, ebenso gefährlich wie der Wahnsinn und die Wuthkrankheit. Man sah ganze Familien ihre Häuser verlassen, ihre Betten auf den Marktplatz tragen, um dort die Nacht zuzubringen; die Vernünftigsten begaben sich auf das Land.
Die für das öffentliche Wohl eifrigsten Bürger der Stadt versicherten, daß man den wesentlichsten Punkt der Ceremonie verfehlt habe. Man hätte, sagten sie, die Messe erst nach der Entnahme des Herzens feiern müssen. Sie behaupteten, daß man mit dieser Vorsicht nicht verfehlt haben würde, den Teufel zu überraschen, und ohne Zweifel würde er sich gehütet haben, zurückzukehren; da man aber mit der Messe angefangen, hätte er Zeit gehabt, nachher wieder in den Körper einzuschlüpfen. Man machte inzwischen während dreier Tage und dreier Nächte Processionen in der Stadt, nöthigte die Popen, zu fasten, entschloß sich, während der Nacht Wachen zu stellen, und arretirte dabei einige Vagabonden, die sicherlich an dieser allgemeinen Unordnung Schuld hatten. Aber man ließ sie allzu schnell wieder frei, und sie konnten zwei Tage darauf auf’s Neue beginnen, die Weinkrüge Derer zu leeren, die ihr Haus über Nacht verlassen hatten, und sich so für ihr Fasten im Gefängnisse entschädigen. Man war mithin genöthigt, von Neuem seine Zuflucht zum Gebete zu nehmen.
Eines Morgens, als man gewisse Gebete hersagte, nachdem man eine Anzahl nackter Degen auf das Grab des Leichnams, den man täglich drei- bis viermal nach dem Wunsche irgend eines Ankömmlings ausscharrte, gelegt hatte, fiel es einem Albanesen, der sich zu Mykoni befand, ein, mit Doctormiene zu sagen, sich zu diesem Zwecke der Christendegen zu bedienen, sei lächerlich. ‚Sehet Ihr denn nicht, Ihr armen Leute,‘ setzte er hinzu, ‚daß das Stichblatt dieser Degen, da es mit dem Griffe ein Kreuz bildet, den Teufel hindert, aus diesem Körper zu gehen? Warum bedient Ihr Euch nicht lieber türkischer Säbel?‘ Der Rath diente zu nichts; der Broukolake wurde darum nicht fügsamer, und man wußte schließlich nicht mehr, welchem Heiligen man sich widmen sollte, bis man endlich einstimmig beschloß, den Körper gänzlich zu verbrennen, da sie dem Teufel immer noch zutrauten, daß er darin hause. Man präparirte demnach einen Scheiterhaufen mit Theer auf dem äußersten Vorsprunge der Insel St. Georges und die Ueberreste des Leichnams wurden am 1. Januar 1701 verbrannt. Seitdem hörte man nicht mehr reden von dem Broukolaken. Man begnügte sich zu sagen, daß man diesmal den Teufel richtig erwischt habe, und machte Spottlieder auf ihn.“
„Im ganzen Archipel,“ fügte Tournefort diesem Berichte hinzu, „ist man überzeugt, daß der Teufel nur die Leichname der Anhänger des griechischen Bekenntnisses belebt. Die Bewohner der Insel Santorin hatten eine Angst vor dieser Art von Gespenstern; diejenigen von Mykoni fürchteten, nachdem ihre Visionen zerstreut waren, die Verfolgungen der Türken und des Bischofs von Tina. Kein Priester wollte sich auf Saint Georges einfinden, als man den Leichnam verbrannte, aus Furcht, daß der Bischof ein Strafgeld von ihnen fordern würde, weil man ohne seine Erlaubniß den Todten ausgescharrt und verbrannt habe. Was die Türken anbetrifft, so ist es gewiß, daß sie bei ihrem nächsten Besuche nicht verfehlten, sich von der Gemeinde Mykoni das Blut dieses armen Spukes bezahlen zu lassen, der in jeder Beziehung der Abscheu und Schrecken seines Landes war.“
Dieser Bericht zeigt genugsam, daß die Vampyre eine förmliche Leidenschaft der Griechen bildeten, daß man aber Unrecht gehabt hat, sich in anderen Ländern mit ihnen zu beschäftigen. Unter der slavischen Bevölkerung Oesterreichs haben sie viel Lärm gemacht und ebenso zeitweise in Polen; Preußen ist das äußerste Land Europas, bis zu welchem sie vorgedrungen sind. In Frankreich und England haben die Vampyre zu keiner Zeit Glück gemacht, außer in der Literatur. Fragt man aber, woher Görres, Perty und Consorten die Ueberzeugung geschöpft haben, daß die Vampyre zu den grausigsten Räthseln der Welt zählten, daß jemals so etwas wie ein Vampyr existirt habe, so muß man sagen, sie haben ihr Urtheil aus Volkssagen geschöpft, die wenig Vertrauen verdienen, oder aus Vorkommnissen, die sich auf sehr natürliche Verhältnisse zurückführen lassen. Aus so unverbürgten Nachrichten ein System des Aberglaubens, abenteuerlicher als dieser selber, zurecht machen, das ist mehr als Beschränktheit, das ist Gewissenlosigkeit.
Auch dieses Kind hat Rosenwangen,
Und heiter lacht sein frischer Mund,
Doch giebt ein sehnendes Verlangen
Sich oft in seinem Auge kund.
Als laste ein Verhängniß schwer
Noch unbewußt auf seiner Seele:
Das Kind hat keine Mutter mehr.
An ihrem Sarg hat es gesessen,
Und bald die Todte schon vergessen,
Das Leben hat ihr Bild verstreut;
Nur wenn das Kind im Schlaf geborgen,
Stellt sie ein Traum verklärt ihm dar,
Daß seine Mutter bei ihm war.
Du armes Kind, es schlägt die Stunde,
Daß Du Dein Unglück ganz verstehst
Und an der aufgeriss’nen Wunde
Dann fühlst Du, daß in Deinem Leben
Die allerschönste Stelle leer,
Und tief macht Dich das Wort erbeben:
Ich habe keine Mutter mehr!
Dann tröste ihr Gedächtniß Dich,
Sie hat gefleht, daß ohne Klage
Das Glück der Kindheit Dir verstrich;
Als Deine Mutter Dich verlassen,
Denn könntest Du ihn schon erfassen,
Zerbrochen wär’ Dein kleines Herz.
Und Alles kommt mit warmem Triebe
Entgegen Dir an jedem Ort,
Sie wirbt für Dich bei Andern fort,
Nie soll ein rauhes Wort Dich schrecken,
Sie schwebt, ein Engel, um Dich her
Und flüstert, Mitleid Dir zu wecken:
[601]
Also bis zur künstlichen Brut von Haifischen wären wir nun glücklich gelangt! Da werden wohl nächstens die Walfische daran kommen, denn welch eine Unzahl von Geburten und Bruten sind nicht bis dahin mit mehr oder weniger menschlicher Beihülfe in den jetzt über die ganze civilisirte Welt verbreiteten Zoologischen Gärten bereits gelungen, und was kann uns die Zukunft noch bringen! In London werden Nilpferde, Kasuare und ostindische Fledermäuse geboren, in Marseille und Florenz australische Strauße; in Australien zieht man junge Lachse aus importirten europäischen Eiern, und in Menagerien – um auch diesen Concurrenten gerecht zu werden – läßt man Bastarde zwischen Löwen und Tigern entstehen. Von Giraffen und Riesenkänguruhs bis zu Gazellen und Biberratten, von Straußen und Kasuaren bis zu winzigen Senegalfinken sind mit vielem Glücke die sorgfältigsten, den natürlichsten Verhältnissen so weit als möglich angepaßten Vorrichtungen und Veranstaltungen ersonnen worden, um eine immer doch künstlich zu nennende Fortpflanzung zu Stande zu bringen. Und dennoch haben wir Ursache, auf unsere Herrschaft über die Natur nicht allzu stolz zu sein. Es giebt trotz alledem eine nicht unbedeutende Anzahl von Thieren, welche entweder überhaupt nicht im Stande sind, die Gefangenschaft – und sei sie noch so milde – zu ertragen, oder die bisher noch niemals zu dieser künstlichen Fortpflanzung gebracht werden konnten. Zu den ersteren gehören – von tropischen Thieren abgesehen – auch noch viele europäische Vögel, die Seetaucher, die Steißfüße, mehrere nordische Enten etc., zu den letzteren die Mehrzahl der Papageien und – mit einer oder zwei Ausnahmen – sämmtliche Raubvögel. Die Ursache dieser Mißerfolge liegt meist in dem Mangel eines richtigen Ersatzfutters, in vielen Fällen aber auch in den fehlenden großen Räumen und der schlechten Luft, da an eine ausreichende Ventilation nur selten gedacht wird.
Gewöhnlich denkt man bei dem Namen Haifisch – nicht blos in Erinnerung an den Propheten Jonas, sondern auch an mancherlei mehr oder weniger wahrhaftige Erzählungen von Seeleuten – an menschenfressende Ungeheuer von dreißig, vierzig und mehr Fuß Länge. Wenn die Existenz dieser „Meereshyänen“, unter Umständen auch ihre Gefährlichkeit für die Menschen leider nicht zu leugnen ist, so hat man doch keine Veranlassung, die Vorstellung ihrer Gefährlichkeit auf unsere Aquarien-Haie zu übertragen, von denen uns höchstens der Dorn-Hai mit Hülfe seines starren Rückenstachels eine – übrigens ebenso wenig giftige wie die durch Rattenzähne verursachte – Verletzung beibringen könnte.
In dem neuen Katalog des British Museum führt Günther nicht weniger als hundertachtundzwanzig verschiedene Fischarten auf, die ein Recht auf den Namen Haifisch haben; siebenzehn derselben kommen an den britischen Küsten vor, und drei oder vier der letzteren, die sämmtlich zu den kleineren Arten gehören, werden in unseren Aquarien gehalten. Obgleich also die hier in Betracht kommenden Katzenhaie nicht zu den Riesenformen ihres Geschlechts gehören, so findet man doch an ihnen alle den Haifischen zukommenden Eigenthümlichkeiten und darf sie mit vollem Rechte als Repräsentanten derselben betrachten.
Die Haifische sind, wie die Abbildung lehrt, Thiere, welche auf den ersten Blick vielleicht nur durch die absonderlich gelegene, einem Pferdehufe ähnelnde Mundspalte (siehe die Jungen) von der bekannten Fischform abweichen. Bei etwas genauerer Betrachtung sieht man, daß die Schwanzflosse eine unsymmetrische Form hat, da die obere Hälfte nicht, wie bei den meisten übrigen Fischen, das Spiegelbild der unteren ist, ferner daß sämmtliche Flossen auffallend dick und fleischig erscheinen, daß sich kurz vor der Brustflosse jederseits fünf Kiemenlöcher befinden (das bekannte Neunauge hat deren jederseits sieben) und endlich, daß außer den kurz vor der Mundspalte gelegenen Nasenlöchern noch zwei etwas größere Oeffnungen die sogenannten Spritzlöcher, dicht hinter den Augen vorkommen. Der Katzenhai wird leicht an seiner fleckigen, gelblich graubraun gefärbten Haut von seinen Verwandten unterschieden. Bleiben wir einen Moment bei der Betrachtung seiner körperlichen Eigenthümlichkeiten stehen, so finden sich auch bei ihm die interessanten zahlreichen Zahnreihen in jedem Kiefer, von denen die vorderen sich allmählich abnutzen und in demselben Maße von den vorrückenden Hinterreihen ersetzt werden. Ferner wäre als bemerkenswerthe Eigenthümlichkeit das Vorhandensein zweier beweglicher Augenlider zu erwähnen, die den willkürlichen Verschluß des Auges bewerkstelligen (übrigens nur wenig zur Anwendung kommen) und demselben im Gegensatz zu den sonstigen kreisrunden starren Fischaugen die angenehmere elliptische Form und eine größere Lebendigkeit des Ausdrucks geben. Endlich machen wir noch darauf aufmerksam, daß sich auch in den Spritzlöchern je eine in deutlich wahrnehmbarer Hin- und Herbewegung begriffene Nebenkieme (Pseudobranchie) befindet, in denen die Blutgefäße ein sogenanntes Wundernetz (wie in der Aderhaut unseres Auges bilden.
Und nun von der Fortpflanzung unserer Thiere.
Wie dieselbe bei der Mehrzahl der Fische vor sich geht, braucht kaum erwähnt zu werden. Es ist bekannt, daß sich meist die Eier in enormer Zahl entwickeln, daß dieselben eine winzige Größe haben (beim Aal so äußerst winzig, daß erst das Mikroskop ihr Dasein nachwies), daß sie sämmtlich fast gleichzeitig den Körper des Weibchens verlassen und daß das Männchen über die abgesetzten Eier den als „Milch“ bekannten Befruchtungsstoff ergießt. Wir führen hierauf bezüglich nur eine Beobachtung an, durch welche die Aufmerksamkeit des Männchens auf den richtigen Moment nachgewiesen wird. In einem unserer großen Behälter befindet sich eine Anzahl norwegischer Lippfische, Männchen und Weibchen. Das größte Männchen hat, während wir dies schreiben, einen geräumigen, durch vorspringende Felsen vom übrigen theilweise abgetrennten Platz für sich und eines der trächtigen Weibchen ganz ausschließlich in Anspruch genommen, jagt jeden Eindringling daselbst unerbittlich fort und nähert sich häufig dem bevorzugten Weibchen, an dessen Seite es sich ruhig vor Anker legt und dasselbe sanft streichelt. Es findet also auch bei den Fischen nicht nur der Kampf um’s Dasein, sondern auch die geschlechtliche Zuchtwahl statt, in der Weise, daß stets die stärksten oder muthigsten Männchen zur thätigen Hülfe bei der Fortpflanzung kommen.
Bei den Haifischen ist dasselbe in noch weit entschiedenerer Weise der Fall. Denn diese weichen dadurch von den meisten Fischen in höchst auffälliger Weise ab, daß sie entweder – wie die Mehrzahl unter ihnen – bereits völlig entwickelte Junge zur Welt bringen oder – wie die Katzenhaie – einzelne drei Zoll lange Eier mit beim Laichen bereits vorhandenen Embryonen absetzen. Bei ihnen muß also, wie bei höheren Wirbelthieren, der Befruchtungsvorgang vor dem Eierlegen stattfinden, und derselbe wurde auch in unserem Aquarium (wie auch bei den zu einer ganz verschiedenen Fischgruppe gehörenden Aalmuttern) beobachtet. Unsere zwei Weibchen legten vom 18. Januar bis zum 18. Juli vorigen Jahres fünfunddreißig Eier, von denen acht nach je neunmonatlicher freier Entwickelung ausschlüpften.
Die unter den Augen des beobachtenden Publicums vor sich gehende, allmählich fortschreitende Ausbildung der Thierchen, welche in den durchscheinenden Eihülsen stets deutlich zu erkennen waren, mußte begreiflicher Weise die allgemeine Theilnahme in hohem Grade erregen, denn unter allen natürlichen Vorgängen ist vielleicht kein anderer so interessant und dabei im Ganzen wie in seinem allmählichen Verlaufe so räthselhaft, trotz aller Forschungen so wenig in seinem wahren Wesen erkannt, wie die Entwicklung organisirter Thierformen aus einem anscheinend gleichartigen Stoffe. Auch den gelehrtesten und gründlichsten Zoologen müssen bei seinem Anblick die Lücken menschlicher Forschung auf’s Empfindlichste zum Bewußtsein kommen.
Die Eier, deren verkleinerte Abbildung die Figur zeigt, haben eine Länge von drei, eine Breite von einem Zoll, sind flach viereckig, von gelblichweißer Farbe und zeigen an den vier Ecken anderthalb Fuß lange gedrehte Schnüre, mit denen sie sich an Wasserpflanzen, Felsvorsprüngen etc. befestigen. Die Fischer nennen diese häufig in ihren Netzen sich vorfindenden Gebilde seapurses, Seetaschen, auch wohl Seemäuse. Der Stoff, aus dem die Schale mit ihren Eckschnüren besteht, ist hornartig und sehr zähe;
[602]an der Luft bräunt er sich, schrumpft stark ein und läßt dann eine deutliche Längsstreifung erkennen, die – außer anderen Thatsachen – auf die Bildung der Schale aus lauter Einzelstreifen hinweist. Betrachtet man das frische Ei bei durchscheinendem Lichte, so bemerkt man innen die kugelige Eiweiß- oder Dottermasse, auch wohl ein dunkles Fleckchen, die erste Spur des sich entwickelnden Thieres. Das Fleckchen nimmt allmählich an Größe zu, und nach Verlauf von zwei bis drei Monaten erkennt man, daß das neugebildete Thierchen in einiger Entfernung von der Dottermasse liegt, mit derselben durch einen kurzen und dicken Strang verbunden. Dieser Dotterstrang, durch den das Thier seine Nahrung erhält, setzt sich aus einer großen Menge haarfeiner Blutgefäße zusammen, welche, durch Zellgewebe zu einer Haut verbunden, den gesammten Dotter umspinnen. Am Thierchen selber sieht man als die am meisten hervor- und hindurchleuchtenden Stellen die beiden Augen, deren Ausbildung überhaupt derjenigen ihrer Umgebung so sehr voraneilt, daß sie zeitweilig durch ihre Größe einen erschrecklich häßlichen Eindruck machen. Am Halse liegen zwei seitliche, äußere Reihen von Kiemenfäden, denen der Kaulquappen ähnlich, welche später, noch vor dem Verlassen der Eihülse, vergehen und den bleibenden inneren Kiemen Platz machen.
Nach dem Verlaufe von ungefähr der halben Entwickelungszeit werden periodische Gesammtbewegungen von außen her wahrgenommen. Dieselben bestehen aus regelmäßig fortgesetzten Schwingungen oder wechselnden Krümmungen, so daß sich Kopf und Schwanz bald an der rechten, bald an der linken Seite des Körpers einander nähern. Auch vertauscht das Thierchen zu der obengenannten Zeit die Querlage mit der Längslage und endlich ist es genöthigt, auch in dieser eine vollständige bis zur Berührung [603] von Kopf und Schwanz gehende Seitenkrümmung auszuführen, um überhaupt noch Platz zu finden. Die zum Athmen nöthige Luft wird – früheren Beobachtungen entgegen – durch einen weiten Spalt an der kurzen geraden Seite gewechselt, die sich beim freien Umhertreiben des Eies stets nach oben wendet. Sie nimmt also nicht durch etwaige Poren der Eischale, wie bei den Vögeln, ihren Weg. Mehrmals beobachteten wir, daß sich im Verlauf einiger Tage nahe diesem Ende eine Luftblase im Ei sammelte und dasselbe endlich durch die erwähnte Spalte verließ. Diese ist auch der Weg für das ausschlüpfende Junge. Das erste unter ihnen verließ das Ei im Herbste vorigen Jahres, wahrscheinlich mit unberufener Nachhülfe, denn es schleppte noch mehrere Tage den allmählich immer kleiner werdenden Dottersack mit sich herum, der bei den folgenden Thierchen nicht oder nur als ein winziges Bläschen zu erkennen war. In der Form glich es den Alten vollständig; seine Farbe erschien aber viel lichter und noch weit von dem späteren kräftigeren Braun entfernt. Die fünf in heftiger Bewegung begriffenen Kiemenspalten am Halse und die sehr deutlich hervortretende Seitenlinie waren hell-blutroth.
Wie nicht anders zu erwarten, gelang die weitere Aufzucht der Jungen nicht; man mußte sich schon damit begnügen, daß dieselben nach der Durchtränkung ihres Behälters mit dem aus Muschelthieren und Fischeiern bereiteten Nahrungssaft etwas an Größe und Lebhaftigkeit zunahmen und ihr Leben auf drei Wochen brachten. Die durch den interessanten Entwickelungsgang in vielfachen Beziehungen verursachten Anregungen waren aber auch lohnend genug, um schon mit der Erreichung dieses Stadiums sich zufrieden zu erklären.
Wenn man vor ungefähr zwanzig Jahren in Paris durch die Elyseischen Felder nach dem Triumphbogen ging, wie ich mehrfach gethan, so bot sich einem ein ganz anderes Bild als jetzt: kaum ein Dritttheil der großen Avenue war bebaut; weite Rasenflächen und Gräben zogen sich zu beiden Seiten der Hauptallee entlang, und gleich hinter dem Triumphbogen begann das Bois de Boulogne, aber noch ohne Paläste und Kunstgärten; es war ein einfaches, schlecht unterhaltenes Gehölz und nichts weiter. Erst dem Wunsche des Kaisers Napoleon und der Energie seines Factotums Haußmann war die große Umwandlung vorbehalten – aber wer uns damals in einer Laterna magica das Bild gezeigt hätte, wie es sich uns darstellt, wäre gewiß verspottet und verlacht worden. Nur eine prächtige Villa, rechts in ziemlicher Entfernung vom Triumphbogen, machte schon damals eine auffallende Ausnahme; sie gemahnte wie eine Oase in der Wüste. Wer, was übrigens Wenige thaten, seinen Spaziergang bis dahin ausdehnte, blieb verwundert stehen, denn er befand sich auf einmal, nachdem er an allerlei Baracken und halbverfallenen, ärmlichen Wohnungen vorbeigekommen war, vor einem palastähnlichen Gebäude, das noch dazu ganz seltsam und phantastisch aussah. Auf den ersten Blick konnte man wohl meinen, es sei eine Art von Castell oder Citadelle. Die hohen und dicken Mauern, welche das Gebäude mit seinen beiden Höfen und dem daranstoßenden Garten umgaben, waren dergestalt mit massiven sowohl aufrechtstehenden wie hinabgebogenen und scharfzugespitzten Eisenstangen versehen, wie man dergleichen kaum an einem Gefängnisse oder an einem mittelalterlichen Arsenale antrifft; an den Mauerecken liefen sogar diese Stangen senkrecht bis auf die Straße hinab, als wollte man schon die bloße Annäherung und Berührung verhindern. Die zwei großen Doppelthore waren gleichfalls ganz mit starken Eisenplatten beschlagen, wie Festungsthore, nur daß man sich an diesen natürlich nicht die Mühe giebt, alle vorspringenden erhöhten Flächen und Kanten, Schilder und Schraubenköpfe zu vergolden, wie es hier der Fall war. Auch das oben beschriebene Gitterwerk der Mauer war reich vergoldet; der Besitzer, der dahinter wohnte, mußte des edeln Metalles nicht wenig haben, das sagte man sich unwillkürlich.
Und so war es auch; denn dieser Besitzer war kein Anderer als der Herzog Karl von Braunschweig, der sich hier angekauft und angebaut hatte und sich sein unfreiwilliges Exil durch die Freuden und Genüsse der Hauptstadt der Welt möglichst zu versüßen suchte. Daß jene Freuden und Genüsse sehr zweideutiger Natur waren, ist allbekannt, wie denn überhaupt das Leben und Treiben dieses entthronten Selbstherrschers für jeden anständigen, namentlich aber für die in Paris lebenden Deutschen, nichts weniger als schmeichelhaft und angenehm war.
Wenn wir jetzt, wo dieser Held der Demimonde das Zeitliche gesegnet hat (von Segen kann dabei nicht sonderlich die Rede sein, man müßte denn das Genfer Testament als solchen betrachten), wenn wir ihn noch einmal unseren Lesern flüchtig vorführen, so wollen wir uns allerdings von vornherein gegen das bekannte „de mortuis nil nisi bene“ verwahren – denn wenn wir etwas Gutes von dem Ex-Herzog berichten sollten, so kämen wir wirklich in nicht geringe Verlegenheit. Uebrigens sind es nur einige persönliche Erinnerungen, um die es sich hier handelt, nicht eine Biographie und noch weniger eine ernste Charakteristik des Verstorbenen; das wäre, und namentlich der letztere Punkt, eine wenig lohnende Aufgabe, die dem Gerichtsschreiber überlassen bleibt, dem auch diese in so vieler Beziehung klägliche Figur unerbittlich anheimfallen wird.
So, wie eben geschildert, präsentirte sich also das Palais des Herzogs von außen; vergessen dürfen wir dabei nicht die rosenrothe Farbe, mit welcher das ganze Gebäude angestrichen war, was demselben allein schon ein barockes und theatralisches Aussehen gab. Das Innere entsprach diesem Aeußern vollkommen. Allerdings berichte ich hier zumeist nur nach Hörensagen; denn wenn es mir auch einige Male vergönnt gewesen ist, die unteren Räume mit dem Wintergarten, dem Billard- und Speisesaal etc. zu betreten, so bin ich, ehrlich gestanden, niemals die breite, weiße Marmortreppe hinaufgekommen und noch weniger in die Privatgemächer des hintern Flügels, wo sich das Schlafzimmer mit dem feuer- und bombenfesten Gewölbe befand, welches letztere zur Aufbewahrung der Schätze und Kostbarkeiten und namentlich der Diamanten des Herzogs diente. Diese Diamanten gehörten so völlig zur Identität des Herzogs und bildeten gewissermaßen sein zweites Ich, daß man ihn sich ohne dieselben gar nicht denken konnte, wie er denn auch in ganz Paris der Diamantenherzog hieß, unter welchem Titel ihn der letzte Gamin und Eckensteher kannte. Sie machten ihm aber auch viele schwere Stunden, seine Diamanten, und sein ganzes Leben lang war er eigentlich ihretwegen in steter Angst und Sorge. Er verließ manchmal plötzlich das Theater mitten in einer Vorstellung, oder eine Soirée, oder wo er sonst war, rief hastig nach seinem Wagen und ließ sich, so schnell die Pferde nur laufen konnten, wieder nach Hause fahren, und das Alles einzig und allein, um nachzuschauen, ob noch Alles bei ihm in Ordnung, oder ob er nicht etwa bestohlen sei. Und doch hatte er die eisernen Thüren seines Schatzgewölbes mit Selbstschüssen und allerlei sonstigen Sicherheitsvorrichtungen versehen, die zuletzt (denn mit den zunehmenden Jahren steigerte sich seine Diebesfurcht) so complicirt geworden waren, daß er beim Oeffnen und Schließen die größte Vorsicht anwenden mußte, um nicht selbst ein Opfer dieser mörderischen Maschinerien zu werden. Oft läutete er auch in der Nacht seine ganze Dienerschaft zusammen, nur um zu sehen, ob sie auch Alle schnell bei der Hand waren, und man hat ihn auch vielfach Nachts allein durch alle Zimmer und Corridors seines Hauses schleichen sehen, bis hinunter an die Fahrthore, um die Schlösser und Riegel zu untersuchen, immer dabei mit Revolvern bewaffnet, um einen unbefugten Eindringling sofort niederzuschießen.
Augenzeugen, die den Herzog bei solchen Gelegenheiten beobachten konnten, versicherten, er sehe aus wie das personificirte böse Gewissen, was wir gern glauben wollen, vorzüglich wenn wir an den Ursprung jener Reichthümer zurückdenken.
Es mag im Jahre 1852 oder 1853 gewesen sein, als ich den Herzog zum ersten Male sah und zwar in der Italienischen Oper. Ich hatte von einer befreundeten vornehmen Familie eine Einladung erhalten, sonst hätte ich damals wohl schwerlich die fünfzehn Franken für ein Billet riskirt, und saß denn auch im [604] Frack, mit weißer Cravatte und lichtgelben Handschuhen auf meinem Platze in der ersten Rangloge. Die Vorstellung hatte bereits begonnen, als sich die Thür der einen Prosceniumsloge sehr lärmend öffnete und ein Herr mit einer Dame hereintrat, die Beide sofort alle Augen, d. h. alle Operngläser, auf sich zogen. Die Dame war eine schöne Blondine in reicher rother Sammttoilette, aber sehr stark decolletirt, so stark, daß es selbst für Paris auffiel, und Hals, Busen und Arme mit den kostbarsten Diamanten geschmückt. Ein Flimmern und Blitzen wie Regenbogenstrahlen bei jeder Bewegung. Eine Königin hätte nicht prächtiger und imposanter aussehen können. Es war auch eine Königin, aber eine aus der demi-monde, eine Finette, Rosette oder Lisette vom jardin Mabille oder vom château des fleurs, wie ich von einem Nachbar erfuhr. Die Erscheinung ihres Begleiters war fast noch auffallender und hatte etwas frappant Aehnliches mit einem Schauspieler oder Balletmeister. Hochroth geschminkt, eine schwarzseidene Lockenperrücke, hellgrüne Handschuhe und die ganze übrige Toilette dem entsprechend. Dabei alle Finger mit funkelnden Brillantringen besteckt, auf der Brust einen fast handgroßen Brillantstern und die Hemden- und Westenknöpfe gleichfalls aus kostbaren Edelsteinen. Ein ganzer Juwelierladen. Auch hier half mir mein Nachbar als guter Cicerone: Es war der Herzog Karl von Braunschweig.
So sah er also aus, der Mann, dessen Vater bei Quatrebras und dessen Großvater bei Auerstädt den Heldentod für das Vaterland gestorben waren, und von dessen Vorfahren noch sonst so mancher ruhmvoll in den Blättern der deutschen Geschichte verzeichnet stand – ein Abenteurer und Komödiant, als Narr herausgeputzt und an der Seite einer Courtisane, die morgen mit der Sittenpolizei in Collision kommen konnte, wenn sie auf irgend einem öffentlichen Balle im Cancan die Beine etwas allzu hoch fliegen ließ. Es klingt hart, aber es ist wahrlich mit keiner Silbe übertrieben. Die Damen in den Logen schauten nur schüchtern und verlegen nach dem zweideutigen Paare hinüber; die Herren im Parquet und Parterre lorgnettirten dagegen die Donna sehr ungenirt, und der Herzog ließ sich von einem goldgestickten, gepuderten Lakaien ein Opernglas reichen, groß und lang wie ein Doppelfernrohr, das er auf die Logenbrüstung setzte und, unbekümmert um das, was auf der Bühne vorging, damit das gesammte Publicum zu mustern begann. Dabei schien er aber zugleich ängstlich jede Bewegung seiner Begleiterin zu überwachen, denn die Diamanten, die sie trug, waren die seinigen, und man behauptete, daß er bei solchen Gelegenheiten seiner jedesmaligen Dame (und er wechselte sehr oft mit ihnen) schon im Vorzimmer seiner Loge, gleich nach Beendigung der Vorstellung, den Schmuck wieder abnahm und ihn in die Taschen steckte, um sicher zu sein, daß ihm nichts gestohlen würde. Dennoch soll ihm einst eine solche „Dame“ einen kostbaren Solitaire entwendet haben, und es soll ihm, trotz aller Nachforschungen, nicht gelungen sein, wieder zu seinem Eigenthum zu kommen. „Er hat den Stein eben auf dieselbe Weise verloren, wie er in den Besitz desselben gelangt war,“ sagte man lachend im Publicum und gönnte ihm gern den kleinen Verlust. Aber es sollte ihm noch Schlimmeres passiren.
Eines Morgens, es war zu Anfang der sechziger Jahre, ging auf einmal durch ganz Paris das Gerücht von einem großartigen Diamantendiebstahl in der herzoglichen Villa. Der Herzog fand, als er spät in der Nacht nach Hause kam, sein Schlafzimmer offen und das Schatzgewölbe erbrochen; eine Menge der kostbarsten Steine fehlten, und kleinere Diamanten lagen überall auf dem Boden verstreut. Sein Leibkammerdiener, ein Engländer, Namens Shaw, der erst vor wenig Wochen in seine Dienste getreten war, sich aber schnell das ganz besondere Vertrauen seines Herrn erworben hatte, war verschwunden, und auf diesen fiel natürlich sofort der Verdacht. Man kann sich das Entsetzen und die Wuth Seiner Hoheit leicht vorstellen; im ersten Moment wollte er die ganze übrige Dienerschaft über die Klinge springen lassen, aber er besann sich doch eines Besseren und fuhr schleunigst zum Polizeipräfecten Piétri, den er aus dem Bette holte. Dieser ließ sogleich den Telegraphen nach allen Richtungen der Windrose spielen; Shaw hatte freilich einen Vorsprung von sechs oder acht Stunden, aber er wurde trotzdem in Hâvre eingeholt und arretirt, und zwar gerade in dem Augenblick, wo er sich an Bord eines amerikanischen Dampfers begeben wollte. Die Diamanten, im Werth von mehr als einer Million, hatte er noch sämmtlich in der Tasche. Er wurde nach Paris zurückgebracht – der Herzog war ihm sogar, in seiner Herzensangst um die gestohlenen Lieblinge, bis Rouen entgegengereist – und später von den Assisen zu fünfzehnjähriger Zwangsarbeit in Cayenne verurtheilt; eine Strafe, die man allgemein zu hart fand.[1] Einzelne Pariser Journale besprachen auch bei dieser Gelegenheit wieder den befremdlichen Ursprung der Diamanten, das heißt das Besitzrecht des Herzogs auf dieselben, und verlangten, die kaiserliche Regierung solle die Edelsteine dem braunschweigischen Staatsschatz wieder zustellen lassen, was natürlich nicht geschah; denn ein solcher Schritt hätte zu allen möglichen diplomatischen und politischen Verwickelungen Veranlassung geben können.
Der Herzog sah sich also wieder im Besitz seiner Steine, von denen er seit jener Zeit die kostbarsten stets in einem Ledergürtel auf dem bloßen Körper getragen haben … soll, will ich doch vorsichtshalber hinzusetzen, denn eine andere Garantie als das allgemeine Gerücht habe ich nicht dafür. Wenn es aber wahr ist, so war Seine Hoheit, wenn Hochdieselben über die Boulevards spazierten oder kutschirten, immer gegen zwei Millionen Franken und mehr werth. –
In den Tuilerien war der Herzog kein gerngesehener Gast, obwohl ihm der Kaiser Napoleon persönlich sehr freundlich gesinnt war. Diese Freundschaft datirte von London her, wo der Herzog gleichfalls ein Hôtel besaß, das er namentlich in den Jahren 1845 bis 1847 häufig bewohnte. Um jene Zeit hielt sich bekanntlich auch der Prinz Louis Napoleon nach seiner Flucht aus Ham in London auf, und es ging ihm und seinen Parteigängern, was ebenso bekannt ist, pecuniär nicht glänzend. Da griff denn der Herzog mit mancher Fünfhundertpfundnote dem Prätendenten unter die Arme, im Grunde bei keiner andern Sicherheit für die Rückzahlung, als der, daß vielleicht dereinst der Prinz den französischen Thron besteigen würde, eine Möglichkeit, die damals sehr zweifelhaft erschien. Als aber das für unmöglich Gehaltene geschehen und der Prinz zuerst Präsident der Republik und darauf Kaiser geworden war, bewahrte er dem Herzog stets eine dankbare Gesinnung und schützte ihn auch oft indirect bei den vielfachen scandalösen Processen, die derselbe vor den Pariser Gerichten auszufechten hatte.
Processe gehörten nämlich neben der Pflege und Sorge für seine Diamanten zu den Hauptbeschäftigungen des Herzogs, und wenn es sich nur um einen rückgängig zu machenden Pferdekauf handelte, oder um einen fortgeschickten Koch oder Lakaien, so wurde sofort processirt. Aber auch andere, weit peinlichere Processe hatte der Herzog in Menge, wo er nicht der klagende, sondern der verklagte Theil war. Die meisten wurden ihm von ehemaligen Geliebten gemacht, denen er, nach ihrer Aussage, Gott weiß was versprochen und später nicht gehalten hatte und die ihn dann, schon des Scandals wegen, verklagten. Für das Kaffeehauspublicum der Boulevards waren dies stets willkommene Geschichten. Oft mag der Herzog auch bei solchen Gelegenheiten ausgebeutet oder gemißbraucht worden sein. Aber auch dann hatte er sich doch schließlich immer wieder selbst die Schuld beizumessen, weil er sich sein ganzes Leben lang stets nur in dieser „interlopen Welt“ bewegt hatte.
Am meisten Aufsehen machte sein Proceß im Jahre 1863 gegen seine eigene Tochter, die Gräfin Civry und deren Mutter. Die letztgenannte Dame war die erste Geliebte des Herzogs gewesen, die derselbe in London, als er noch unter der strengen Vormundschaft seines Oheims, des Königs Georg des Vierten, stand, kennen gelernt hatte. Miß Colville war damals eine gefeierte Schönheit in den Kreisen der vernehmen Welt, und sie soll den jungen Herzog lange haben schmachten und seufzen lassen; wie man behauptet, auf Anrathen ihrer Familie, die ein legitimes Ehebündniß verlangte. Endlich erhörte sie ihn doch, auch ohne ein solches. Als aber der Vormund von dem Liebeshandel hörte, ward er sehr böse und drohte mit seinem königlichen Zorne. [605] Das Liebespaar entzog sich demselben durch eine schleunige Flucht nach Paris und ging von da, nachdem der Herzog unterdessen volljährig geworden war und die Regierung angetreten hatte, nach Braunschweig. Von dieser sogenannten Regierung, die auch nicht lange dauerte, obwohl noch immer viel zu lange für das arme schwer geprüfte Land, und die mit einer schimpflichen Absetzung und Vertreibung endigte, brauche ich hier wohl nicht weiter zu reden.
Miß Colville wurde bald nach ihrer Ankunft in Braunschweig zu einer Gräfin Colmar erhoben, bezog das Schloß Wendessen und hielt dort einen kleinen Hofstaat. Dort gebar sie ihm auch eine Tochter, die ebengenannte Gräfin Civry. Das Kind, wie man dies später aus den öffentlichen Gerichtsverhandlungen erfuhr, wurde von dem Hofprediger Westphal getauft, noch dazu aus dem großen goldenen Familientaufbecken des herzoglichen Hauses, und der Bruder des Herzogs, der noch jetzt regierende Herzog Wilhelm, stand bei ihr Gevatter. Mit der Liebe des leichtsinnigen und flatterhaften Herzogs, der fast nur mit Schauspielerinnen und Tänzerinnen umging, war es indeß bald vorbei. Die Mutter ging mit ihrer Tochter und einer sehr anständigen Rente, man sagt von zehntausend Thalern, wieder nach England zurück, führte aber dort ein sehr unstetes Leben. Die Tochter schien gleichfalls viel von dem Naturell des Vaters geerbt zu haben, denn ihre Erziehung machte Allen viel zu schaffen. Einmal soll sie sogar heimlich aus dem Institut entwichen sein, noch dazu in Matrosenkeidung, um sich nach Amerika einzuschiffen. Später zog sie mit ihrer Mutter nach Paris, wo sie katholisch wurde und den Grafen Civry heirathete, einen Cavalier ohne Vermögen, wie es deren in Paris so viele giebt – Alles gegen den ausdrücklichen Willen des Herzogs. Dieser entzog darauf der Mutter die Rente, und nun wurde der Schwiegersohn klagbar. Das scandalsüchtige Pariser Publicum freute sich natürlich sehr auf diesen Proceß, der viel pikante Einzelheiten versprach und auch brachte.
An romantischen Gegensätzen fehlte es wenigstens nicht dabei: Auf der einen Seite der Diamantenherzog in seinem rosenrothen, goldvergitterten Palais, von Lakaien und Dienern und einem asiatischen Luxus umgeben, in vierspänniger über und über versilberter Carosse im Bois de Boulogne spazierenfahrend, und das üppige Pariser Leben in seiner ganzen Fülle genießend – und auf der andern seine Tochter, mit ihrer alternden und längst verblühten Mutter, ihrem mittellosen Gatten und sechs oder gar acht Kindern, alle zusammen in einer ärmlichen Miethswohnung untergebracht, die noch dazu – war es Zufall oder Absicht? – ganz in der Nähe der herzoglichen Villa lag, und dabei kaum das nothdürftige Brod im Hause. Man erzählte, daß die Kaiserin, als sie von der traurigen Lage der unglücklichen Familie gehört, einen Kammerherrn hingeschickt habe mit einer beträchtlichen Geldsumme, um doch wenigstens der äußersten Noth vorzubeugen. Andere behaupten freilich auch wieder, es laufe ein Bischen Komödie mit unter, um die öffentliche Meinung zu bestechen. Ein Dramatiker wollte sogar für die Boulevardtheater ein Stück daraus machen, das gewiß gezogen hätte. Dazu kam es übrigens nicht. Der Herzog, dem an der öffentlichen Meinung, um die er sich in seinem ganzen Leben nicht viel bekümmert hatte, auch hier wenig gelegen war, zeigte sich sehr hart und unerbittlich. Endlich, nachdem man genugsam hin und her processirt und der Klatschsucht reichliche Nahrung gegeben hatte, mußte er doch nachgeben und einen Vergleich eingehen, der seiner Familie, was die Kläger doch jedenfalls waren, eine einigermaßen anständige Existenz sicherte. Ob und wie dieselben in seinem Testamente bedacht worden sind, weiß man noch nicht; interessant wäre es aber jedenfalls, dies zu erfahren.
Der Herzog, der durch diesen Proceß den letzten Rest seines guten Rufes eingebüßt hatte, ging (natürlich mit seinen Diamanten) auf Reisen, wie er gewöhnlich zu thun pflegte, wenn er durch irgend einen Scandal die allgemeine Aufmerksamkeit allzusehr auf sich gezogen hatte. Dann wurde er vergessen und man sprach nicht mehr von ihm.
Ueberhaupt hatte er in den letzten Jahren vor dem Sturz des Kaiserreichs so ziemlich ausgewirthschaftet; man sah ihn wohl noch umherkutschiren mit zwei knirpsartigen Dienern hinter sich, die, wenn sie sich unbemerkt glaubten, Fratzen und Gesichter schnitten; er erschien auch wohl noch in seiner Loge in der Großen oder in der Italienischen Oper, auch mit der obligaten decolletirten Begleitung, und gleichfalls noch dann und wann auf den Bällen der demi-monde, wo ihn die Hauptheldinnen mit Du und mit gros duc anredeten und sich an seinen Arm hängten, um ihm einen Brillantring abzuschwatzen, den er ihnen dann mit widrigem Lächeln unter die Augen hielt, sich jedoch wohl hütete, ihn abzuziehen – aber er war alt und abgenutzt geworden, obwohl er sich noch immer ebenso geckenhaft kleidete, wie vor zwanzig und dreißig Jahren, geschminkt und angemalt, mit falschen Zähnen, rabenschwarz gefärbtem Bart und der sprüchwörtlich gewordenen schwarzseidenen Lockenperrücke … doch genug des kläglichen Bildes! Wir hatten, wenn wir ihm zufällig begegneten, kaum mehr ein mitleidiges Lächeln für ihn, wohl aber überkam uns das schmerzliche Gefühl des tiefverletzten Nationalstolzes angesichts einer solchen Verkommenheit.
Beim Ausbruch des Krieges 1870 rüstete er sich gleichfalls, Paris zu verlassen, bevor ihn ein directer Ausweisungsbefehl treffe, der wohl nicht ausgeblieben wäre. Aber auch bei dieser Gelegenheit spielte er eine kümmerliche Rolle, oder richtiger gar keine. Was lag ihm bei seinen großen Reichthümern näher, als den armen ausgewiesenen Deutschen, die noch Wochen lang in den Straßen von Paris elend und halbverhungert umherzogen, thatkräftig zu helfen und ihnen die Mittel zur Rückkehr in ihre Heimath zu verschaffen? Er hätte sich damit einen Gotteslohn verdienen und manchen Flecken aus seiner Vergangenheit auslöschen können. Und es waren doch seine Landsleute, wie er selbst nie aufgehört hatte, sich als einen souverainen deutschen Fürsten zu betrachten, der sein Anrecht auf die Krone keineswegs verloren. Aber nichts von allem Dem. Er war nur ängstlich besorgt, seine eigenen Schätze zu retten. Vielleicht hatte er ein instinctives Vorgefühl von den gewaltigen Erfolgen der deutschen Waffen. Er ließ Tag und Nacht packen; was nicht niet- und nagelfest war, wurde mitgenommen und in die Schweiz geschickt, die er zu seinem Aufenthaltsorte gewählt hatte, denn weder in Belgien noch in Deutschland schien es ihm recht geheuer. Seine Diamanten trug er selbst in der bekannten rothen Maroquintasche, mit der man ihn schon früher so oft hatte reisen sehen. So kam er in Genf an, froh, seine Person und seine Schätze in Sicherheit zu wissen, aber auch hier legte er während des Krieges gleichgültig und unthätig die Hände in den Schooß und schien sich um nichts zu bekümmern. Mir wenigstens ist nicht bekannt geworden, daß er sich irgendwie an der großen patriotischen Bewegung, die durch ganz Deutschland zog, wenn auch nur mit einem seinem Range und Reichthum entsprechenden Beitrage betheiligt hätte, und sein Name müßte in erster Reihe stehen; und doch kämpften seine eigenen Landeskinder den schrecklichen Kampf mit, und mancher ehrliche, gute Braunschweiger mag sein Leben auf dem Schlachtfelde gelassen haben, wie einst – ich möchte es hier noch einmal wiederholen – seine glorreichen Väter.[2]
Als nach dem Frieden die Commune in Paris ihr Unwesen trieb, hatte sie es auch auf das rosenrothe Palais des Exherzogs abgesehen und dasselbe als Nationaleigenthum erklärt. Eine Art General logirte auch während einiger Wochen darin und wollte es dann zu einem Hospital für Verwundete einrichten, aber das Einrücken der Versailler ließ dieses Project nicht zur Ausführung kommen.
Später, als Ruhe und Ordnung wiederhergestellt waren, kehrte auch der Herzog nach Paris zurück, aber nur zu flüchtigem Aufenthalt, der hauptsächlich zum Zweck hatte, seine vielerwähnte phantastische Villa und seine sonstigen Pariser Liegenschaften zu veräußern. Da ihm dies nicht glückte und er auch sonst an dem jetzigen Leben in Paris, was sehr begreiflich war, keinen Geschmack fand, ging er wieder nach Genf, wo er sich definitiv niederließ. Dort ist er denn auch gestorben und hat namentlich durch sein Testament noch einmal die Aufmerksamkeit des großen Publicums auf sich gezogen. Ob er über sein bedeutendes, auf wenigstens fünfundzwanzig Millionen Franken geschätztes Vermögen nicht edler und besser hätte verfügen können, so zum Beispiel zu gemeinnützigen, volksthümlichen Stiftungen in seinem Vaterlande, wollen wir hier ununtersucht lassen; hoffentlich wird aber die Stadt Genf einen nobleren Gebrauch davon machen, als es der Erblasser bei seinen Lebzeiten gethan. Daß der [606] Herzog seine Reichthümer anfangs dem kaiserlichen Prinzen zugedacht und später (nach Sedan) dieses Testament annulliert haben soll, ist nur ein Zeitungsgerücht, und in dieselbe Kategorie gehört auch die andere Nachricht, daß die Exkaiserin Eugenie ihn mehrfach in Genf besucht habe, um ihn zur Zurücknahme dieses Entschlusses zu bestimmen.
Einige deutsche Höfe und auch der englische legten die übliche Trauer an – jedenfalls nur eine leere Form, wie es einmal die an den Höfen herrschende Etiquette vorschreibt – wir, die wir ihn während seines ganzen Leben immer aufrichtig betrauert haben, brauchen uns jetzt wohl dieser Trauer nicht anzuschließen.
Zwei Einsiedler. Im baierischen Hochlande, wo die graue Zugspitze ragt, im Schatten der Partenkirchener Wälder, giebt es zwei Einsiedler, von denen jeder in seiner Weise die Aufmerksamkeit des Stadtmenschen erregt. Der eine ist ein Hirsch und heißt Molli, der andere ein Tagelöhner, Veitl genannt.
Reden wir zunächst vom Ersteren. Wir folgen dabei dem Berichte des Herrn Forstmeisters, welchem das bekannte Latein der Jäger fremd ist. Der Molli ist sein Liebling und seiner Gunst verdankt dieser absonderliche Hirsch offenbar die Abwendung manches Abenteuers, das sein Fell bedrohte. Seit etwa sieben Jahren kommt er alljährlich gegen Ende October mit Vorliebe zum Garten des Forstamtes in Partenkirchen. Er thut im Marktflecken, als ob er da zu Hause wäre. Während der Schußzeit sieht ihn Niemand; überhaupt erinnern sich die Jäger nicht, ihm draußen in den Wäldern begegnet zu sein. Auch in Gesellschaft anderer Hirsche wurde er noch niemals angetroffen. Er scheint die Menschen lieber zu haben, als seines Gleichen. Er gehört unter die Größten seiner Sippschaft. Man schätzt sein Gewicht auf drei Centner, und wenn er auch nicht unter die Sechszehn-, sondern nur unter die Zehnender gehört, so läßt sich doch nicht leicht ein Geweih an Höhe und Stärke mit dem seinigen vergleichen.
Wenn Molli aus seiner Zurückgezogenheit heraustritt, sucht er sofort die Gärten auf. Zwar ist Ende October außer Kohlstümpfen, Krautköpfen und abgefallenem Obst nicht mehr viel zu suchen – Obst habe ich selbst noch im December an manchen Bäumen Partenkirchens hängen gesehen, rothe Aepfel an entlaubten Aesten –, aber so lange es Grünzeug giebt, will er von nichts Anderem wissen. Auch die Blumentöpfe an den Fenstern sind vor seinen Zudringlichkeiten nicht sicher, und mehr als einmal hat er zur Entrüstung der Beschädigten Rosenstöcke abgefressen. Die Zäune, mit denen die Gärten eingefriedigt sind, übersetzt er springend. Bei seinen Unternehmungen wählt er meist die Nacht-, nicht selten indessen auch die Tageszeit. Vom Garten aus schaut er oft neugierig durch die Fenster in die Stuben hinein, wobei es öfters geschah, daß er mit seinem Geweihe die Scheiben eindrückte. – Zur Zeit des Festes Allerseelen, wenn die Gräber geschmückt werden, begiebt er sich auf den Friedhof und frißt die Blumen, Beeren und Kränze, die zur Zierde der Ruhestätten dort niedergelegt sind, weg.
So lange derlei frische Pflanzen und Früchte zu erreichen sind, rührt der Hirsch kein Heu an. Dazu veranlaßt ihn erst der Schnee, welcher Wald, Feld und Garten zudeckt. Dann geht er zu einem Reiserhaufen, der sich ganz nahe beim Forstamte befindet und auf welchen man ihm Heu hingelegt hat. Spürt der eigensinnige Einsiedler, daß andere Hirsche oder Thiere (was bei sehr tiefem Schnee und arger Kälte mitunter geschieht) vor Hunger ihre Scheu überwinden und zum nämlichen Futterplatze kommen, so hält er sich fern. Dann bekommt man ihn nicht eher wieder zu sehen, als bis die Thiere sich in den Wald zurückbegeben haben. Wenn er von dem Heu etwas verzehrt hat, so benutzt er den Rest als Bett, legt sich darauf nieder und rastet stundenlang.
Um Mitte Mai, wenn die Jagdzeit herannaht, ist der Molli urplötzlich verschwunden. Es ist, als ob er sich auf den Kalender verstünde. Ich weiß nicht, ob er geschont werden würde, wenn ihm ein Jäger begegnete. Er steht zwar, wie bemerkt, unter dem Schutze des Herrn Forstmeisters, aber es sieht aus, als ob mancher seiner Untergebenen weniger gut auf den Sonderling zu sprechen wäre. Undenkbar scheint es nicht, daß ihm aus Mißverständniß einmal etwas Schlimmes widerführe.
Bei der Zahmheit, die er zur Schau trägt, könnte man auf die Vermuthung gerathen, daß er einmal eingefangen und von irgend einem Liebhaber in Umfriedung gehalten worden, also ein entsprungener Internierter sei. Für eine solche Annahme fehlen indessen sämmtliche historische Anhaltspunkte und dürfte dieselbe, da man weit und breit nichts von einem ehemals eingefangenen Hirsche weiß, vor dem kritischen Scharfsinne unserer Leser nicht bestehen bleiben.
Unter solchen Umständen kann es nicht fehlen, daß die Leute sich allerlei Gedanken über den Hirsch machen. Am meisten Freude daran hat die Jugend, die ihn oft staunend und schreiend umsteht, ohne daß er sich von dem Lärme beirren läßt. Abergläubische meinen, es stecke in dem Thiere der Geist eines Verstorbenen, und die Spaßvögel unter ihnen haben hier und da die Vermuthung aufgestellt, der Molli sei Niemand anders als der frühere Forstmeister, der seinen Nachfolger besuche – eine Vermuthung, welche durch die Vorliebe, womit der Hirsch den Garten des Forsthauses aufsucht, ihre Begründung erhalten soll. Weder von diesem Hause noch von einem andern scheucht ihn das laute Sprechen der Inwohner oder das Bellen der Hunde fort. Vor den Letzteren hat er überhaupt keine Furcht. Kam ihm einmal einer zu nahe, so schleuderte er ihn mit seinem Geweihe weg, daß der Köter heulend die Flucht ergriff.
Bei der Scheu, die manche Leute vor dem Molli haben, ist es schon zu lächerlichen Auftritten gekommen. So stieg einmal ein Mann von Partenkirchen auf den Berg, an dessen Hang sich der Kreuzweg und die Capelle des heiligen Antonius befinden, um Schafe zu suchen, die sich dort im Gestrüpp herumtrieben. Eben wollte er eine steile Felsplatte hinaufklettern und tastete, um nicht abzurutschen, im dichten Busche nach irgend einer Wurzel oder einem Zweige, woran er sich festhalten könnte. Als er sich über die Platte mit Hülfe einer solchen Handhabe emporgeschwungen hatte, stand er dicht vor dem hier ruhenden Hirsche und entdeckte nun, daß, was er für einen Ast gehalten hatte, in Wirklichkeit der Fuß des Molli gewesen war. Der aber richtete sich ruhig auf und betrachtete mit unverwandten Augen seinen Mann. Solche Kaltblütigkeit des Hirsches erschreckte den Schafsucher. Er rannte geraden Weges den Berg hinab, wobei er sich öfters überschlug und stürzte, so daß er mit zerrissenen Kleidern und blaß vor Angst im nächsten Hause ankam, dessen Insassen er zurief, daß der Hirsch ihn verfolge.
Auch dem Nachtwächter begegnete der einsiedlerische Vagabund einmal mitten in der Hauptstraße des Marktes. Der Hirsch blieb stehen und machte keine Miene auszuweichen. Das kam dem Wächter bedenklich vor, und er suchte sein Heil in der Flucht. Nichts Seltenes ist es auch, daß der Hirsch des Morgens in irgend einem Holzschuppen mitten im Markte gefunden wird, worin er furchtlos während der Nacht geschlafen hat.
Kommen wir nunmehr zu dem andern Einsiedler.
Bei Graseck oberhalb der Partnachklamm, dort, wo man prächtig zur Dreithorspitze und zur Schachenplatte hinaufschaut, sieht eine gewaltige Buche am steilen grasigen Bergabhange. Das Wurzelwerk dieses Baumes bildet zum Theile die obere Wölbung einer Höhle, in welcher ein Mensch von mittlerem Wuchse aufrecht zu stehen vermag. In dieser Höhle haust seit vielen Jahren ein nunmehr siebenzigjähriger Greis, der Veitl. Er lebt von seinem Verdienste bei der Holzarbeit im Walde, beim Wegbauen und ähnlicher Hantirung. Das finstere Loch unter der Buche hat er sich durch Bretter, Latten und Baumstämme so gut wie möglich gegen das Wetter gesichert, wobei ihm, während des Winters wenigstens, zu statten kommt, daß der Abhang gegen die warme Südseite geneigt ist und der Nordwind zu ihm keinen Eingang findet. Wer diese Wohnung sehen will, muß den Veitl, weil er erst am Abend von seiner Arbeit heimkehrt, vorher durch den Grasecker Förster benachrichtigen lassen und ihm billiger Weise seinen Tagelohn vergüten. Dann empfängt ihn der alte Einsiedler mit einem brennenden Spahne in der Hand und zeigt ihm sein Schlafcabinet, das sein Licht unter den Wurzeln hindurch nur durch ein einziges Fensterscheibchen erhält, das vom Rauche nach und nach rothgelb gefärbt worden ist. Hart daneben befindet sich das „Bett“, ein Haufen alter Tuchfetzen und Lumpen. Die Wände sind so dicht mit Ruß belegt wie ein Kamin. Zwei Menschen vermögen sich darin nur dann zu rühren, wenn der eine sich auf’s „Bett“ legt, weshalb der Veitl mit seinem Spahne vor der Oeffnung stehen bleibt, die er Thür nennt. Außerhalb des Kämmerleins, zwischen der Thür und den Latten, welche die äußere Mauer der Behausung bilden, ist eine Art Vorhof mit allerlei Gerumpel, Wilddecken, Tüchern, Lederfetzen, Werkzeugen etc. Eigenthümliche Werkzeuge stecken auch in den Holzscheiten, welche das Kämmerlein aufgeschichtet, wie es vor vielen Berghäusern Gebrauch ist, als wärmende Wand umgeben.
Seit sechsundzwanzig Jahren ist der Veitl nicht mehr aus seinen dauerhaften Gemslederhosen gekommen. Dieselben haben deshalb auch einen eigenthümlichen Glanz angenommen, eine Niederschlagsschicht, an welcher die analytische Chemie verzweifeln dürfte. Aber es fehlt ihm nichts zu seiner Zufriedenheit – er freut sich seiner Wohnung, der Aussicht in den Abgrund des Rainthales und auf die Ahornauen des Berges. Die Winterstürme lassen ihn behaglich in seinem Bett unter den Wurzeln schlafen. So stellt uns der Veitl ein Zeugniß aus, wie verschieden die Ansprüche sind, welche das Menschengeschlecht an die Gaben Fortunas stellen kann.Rossini und Schiller in einem französischen Kopfe. Im „Journal des Etrangers“ (Nr. 66) vom 28. Juli dieses Jahres spricht ein Pariser, welcher von einer Schweizerreise zurückkommt, über ein Denkmal für Rossini, welches nächstens in der Schweiz solle errichtet werden, nur wisse man noch nicht recht, wo es aufzustellen sei. Denn alle größeren Städte der Schweiz hätten Anspruch, dieses Denkmal auf einem ihrer öffentlichen Plätze zu haben, um so ihre Dankbarkeit gegenüber dem genialen Componisten des „Tell“ an den Tag zu legen. Besagter Franzose wüßte nun einen sehr passenden Platz für ein solches Denkmal. Im Vierwaldstättersee erhebt sich der Mythenstein mit seiner weithin leuchtenden Inschrift:
„Dem Sänger Tell’s, Friedrich Schiller, die Urcantone. 1859.“
Das ist auch der rechte Ort für eine Erinnerung an Rossini. „Ich schlage vor,“ sagt der Pariser, „daß eine ähnliche Inschrift gemacht werde zu Ehren Rossini’s, dessen Tell rühmlicher bekannt ist, als der von Schiller. Schiller kann nur geehrt werden durch die Nachbarschaft des erlauchten Componisten.“ – Diese Worte sind zu schön, als daß sie nicht auch im Originaltexte hier folgen sollten:
„Je propose, qu’une inscription sembable fût faite en l’honneur de Rossini, dont le Guillaume Tell est plus glorieusement connu que celui de Schiller. Schiller ne pourra qu’être honoré du voisinage de l’illustre compositeur.“ –
Für die Leser der Gartenlaube bedarf dieser Ausspruch des Pariser Correspondenten des „Journal des Etrangers“ keines Commentars. Nur die eine Bemerkung fügen wir bei, daß Niemand in der Schweiz daran denkt, Rossini ein Denkmal zu setzen, so daß die ganze Correspondenz wohl zurückzuführen ist auf die Gedanken, welche auf einer Fahrt am Mythenstein vorüber im Kopfe des Parisers rege wurden bei dem unerträglichen Anblick, wie der Name des deutschen Dichters über den schönsten See hinglänzt in unvergänglicher Glorie.
- ↑ Shaw kam schon im folgenden Jahre bei einem Fluchtversuch um’s Leben. Er hatte in der Verbrechercolonie mit dem Banknotenfälscher Gâtebourse „Freundschaft“ geschlossen, und Beide bemächtigten sich eines Tages eines leeren Bootes, das sich zufällig am Strande befand, und noch dazu bei schlechtem Wetter. Die armen Teufel hatten vermuthlich auf irgend ein mitleidiges Schiff gerechnet, aber ihre Hoffnung mußte betrogen worden sein, denn schon am nächsten Abend wurden Beide als Leichen wieder am Ufer aufgefischt.
- ↑ Auch des edlen und hochherzigen Prinzen Leopold von Braunschweig dürfen wir hier wohl gedenken, der im Jahre 1785 zu Frankfurt in den Fluthen der Oder, als ein Opfer seiner Menschenliebe, den Tod fand.