Die Gartenlaube (1873)/Heft 38
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No. 38. | 1873. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Künstler und Fürstenkind.
Noch vor acht Tagen, Gottfried, dachte ich sicherlich heute bei Dir eine letzte Ottobrata[1] zu feiern, Deutschland für lange Zeit den Rücken zu kehren – und nun sitze ich hier wie festgenagelt, der Glücklichste aller Irdischen, und der Unseligste zugleich!
Nachdem ich mein Versprechen gegeben, ein zweites Schneewittchen zu malen, ging ich mit dem festen Entschluß heim, nichts dergleichen zu thun, und lange vor dem verabredeten Termin aufzupacken und zu Dir zu eilen. Dieser heldenmüthige Entschluß blieb denn auch mein fester Wille, nur verschob ich die Abreise von Tag zu Tag, aus so triftigen Gründen, daß ich jetzt nicht im Stande wäre, Dir einen einzigen derselben zu erwähnen. Endlich kam der Tag, wo entschieden werden mußte, und da setzte ich mich in allem Ernste hin, um mein Unglück in’s Auge zu fassen, und endlich einmal klug aus mir zu werden. Aus was bestand eigentlich meine Seelenangst? das war die Frage. Zuerst kam frank und frei die Antwort: Du bist wie ein Narr in ein Wesen verliebt, das Rang, Schönheit und Reichthum auf ewig von dir scheiden, zwischen dem und dir sich eine Schranke erhebt, über die du niemals hättest das Auge werfen sollen, da sie zu übersteigen zu den wenigen Unmöglichkeiten auf Erden gehört. Eile denn von dannen, dich vor dem sichern Untergang zu retten!
Diesem klugen Geständnis, Gottfried, begann nun mein Geist mit wahrhaft macchiavellistischer Schlauheit eine solche Armee von Gründen entgegenzustellen, daß ich selbst darüber in Erstaunen gesetzt wurde. Zuerst die Frage: warum muß das Gefühl, dessen du dir bewußt bist, gerade Liebe sein? Hast du nicht sozusagen dein ganzes Leben in Schönheit geschwelgt? Ist es nicht natürlich, daß deinem nach Vollkommenheit lechzenden Auge eine Erscheinung wie diese das lang gesuchte Ideal der Schönheit dünken mußte? Bewunderung, zurückgehaltene Bewunderung ist das Gefühl, das dich beklemmt. Bleibe, und du wirst genesen! Das kam mir so wahrscheinlich vor, Gottfried, daß ich vorläufig blieb. Entschuldigen mußte ich doch mein Nichtworthalten, und so ging ich am angesagten Tage zu diesem Zweck in’s Palais der Waldemberg.
Einen Fürstendiener hättest Du mich genannt, wärst Du zugegen gewesen. Ich war entzückt, daß die Sitzungen gleich am nächsten Tage beginnen sollten, war berauscht von den gütigen Blicken, welche die Prinzessin auf mich fallen ließ. Zu Hause gestehe ich mir, daß sie mein Talent ungefähr so schätzt, wie das eines gelehrigen Pudels, der den Stock aus dem Wasser holt. In ihrer Gegenwart kommt kein solcher Gedanke auf – ich rede mir ein, daß sie der Meinung, ein Künstler sei wohl einen Edelmann werth, und daß ihr zutrauliches Wesen diesem Gedanken, nicht der Geringschätzung zuzuschreiben sei. Entzückt ging ich nach Hause, Gottfried, mit Scham gestehe ich’s. Als nur der Gedanke an Flucht noch einmal kam, verwarf ich ihn als feig – als feig, hörst Du?
Mit Heldenmuth gepanzert, betrat ich das Zimmer, welches man mir als Atelier eingerichtet; das Zittern meiner Hände nahm einigermaßen ab, als ich meine Vorbereitungen beendet. Noch blieb die Leinwand zu prüfen da ging die Thür auf, und sie trat ein. Wie soll ich sie Dir beschreiben? Meine Feder könnte ich verschlucken, gelänge es ihr, ein würdiges Bild auf’s Papier zu bringen! Ich mag dagestanden haben, etwa wie ein Bauernjunge in der Schule, der sich bewußt ist, statt seinen Gesangbuchvers sich einzubläuen, in den Nachbargarten geschlichen zu sein. Doch ihre liebenswürdige Art nahm bald die Befangenheit hinweg, die ihr erstes Erscheinen bei mir hervorgerufen. Sie setzte sich, legte ihr weißes Kleid in Falten, an die ich Stunden hätte verschwenden müssen, und frug, ob nun Alles in Ordnung? Das mit einem so siegesgewissen Tone, daß mein Widerspruchsgeist erwachte, und ich empört dachte: diese großen Damen sind doch alle nur Modepuppen; der Wirkung, die sie auf Männer machen, gewiß, hat ihre Anmaßung keine Grenzen.
Ich machte ihr nun begreiflich, daß ihre Haare, die nach der neuesten Mode zu einem Riesenbau aufgethürmt waren, nicht für ein Kunstwerk paßten. Meine Stimme, die einen trotzigen Ton haben sollte, mochte wohl recht zaghaft geklungen haben.
Ich hatte gehofft, daß sie sich entfernen würde, um mich die künstlichen Mittel, durch welche sie ihr Haupt geschmückt, nicht sehen zu lassen. Jawohl! In ihr Lehnstühlchen gedrückt, nahm sie eine Batterie Nadeln aus den Zöpfen und Locken, die wie flüssiges Gold auf die classisch geformten Schultern fielen, und dann, Gottfried, als diese Operation, bei der ich nicht zuzusehen wagte, beendet, spricht sie gelassen:
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„Arrangiren Sie die Haare jetzt selbst!“
Ich wußte, daß nun wieder der Pudel angeredet wurde, denn das kann ich schwören, einen Gleichgestellten ließe sie ihr goldenes Haupt um keinen Preis berühren.
Trotz dieses niederdrückenden Gedankens durchzuckte es mich elektrisch, Gottfried, im Bewußtsein, die theuren Locken berühren zu dürfen. Ich trat zu ihr und legte beide Hände auf das heilige Haupt. Hätte ich’s niemals gewagt, Freund! Mein Frevel wurde arg bestraft! Kaum fühlte ich die weiche Seide an meinen Fingern, da kam ein Zittern über mich, eine Angst. Die Haare schienen sich wie Schlangen um meine Finger zu ringeln, ich bebte wie ein Kind. Und dennoch war mir’s, als müßte ich im nächsten Momente das theure Haupt mit aller Kraft der heißesten Liebe, die jemals Menschenbrust erfüllt, an mein schwellendes Herz ziehen – Thränen, welche die beängstigte Seele erleichterten, heiße Thränen auf dieses Goldhaar weinen! Wie ein Kind dem Feuer, entzog ich die Hände der verführerischen Gluth und gewann Fassung genug, um mich für zu ungeschickt zu erklären. Du, der nicht zugegen, kannst dies Alles nicht begreifen; Du mußt mich für läppisch, für kindisch halten, und dennoch, Gottfried, war ich nie so ich selbst, wie jetzt. Der Beweis davon ist, daß das Bild, welches ich male, Alle, die es betrachten, in Erstaunen setzt. Auch verschließt mir diese Liebe nicht immer den Mund; ich kann stundenlang mit ihr sprechen, von unserer Kunst, von meinem Leben, ja sogar von meinen Zukunftsplänen. Und sie hört geduldig zu, ja sie geht manchmal darauf ein, so daß es nie an Stoff zur Unterhaltung gebricht. Zu Zeiten, wenn ich den Reden lausche, die sie mit andern jungen Leuten (ein Schwarm, Gottfried, zum Verzweifeln, und doch so natürlich!) – wenn sie mit diesen spricht, obgleich die Munterkeit selbst, scheint es mir doch, als ob sie sich weniger gehen ließe, als wenn wir allein; es will mir dünken, als nehme sie weniger Interesse an den Gegenständen, die hier das Gespräch bilden, als wenn von Kunst die Rede ist. Und doch ist das vielleicht nur meine Einbildung.
Nach welchen Verdiensten man in diesen Kreisen urtheilt, lerne ich nach und nach erfahren. Der Fürst, bei dem mein Bischen Talent viel Anklang findet, ist doch gerade noch einmal so liebenswürdig, seit ich ein wildes Pferd, das seinen Reiter abgeworfen, bändigte und mit ihm in den Park ritt. Was mein Bild nicht veranlaßte, einen warmen Druck der Hand, das brachte mir dieser elende kleine Kunstgriff ein – ein gewagter Sprung, meine Kraft des Schenkeldruckes, meine leichte Hand.
Und so werde ich denn mitgenommen. Folge ich allgemeinen Einladungen nicht, so wird im Atelier Beschlag auf mich gelegt, und ich muß mit, muß Tag für Tag neue Qualen, neue Wonnen ausstehen, so war ich vorige Woche auf einem Balle im Hause des Herzogs zugegen. Hättest Du sie gesehen! Und mir war es vergönnt gewesen, mein Herzensidol zu schmücken, das heißt freilich nur durch die Hand der Kammerjungfer, – aber das ist doch schon mehr Glück, als ich verdiene, daß sie mich fragt, wie sie sich kleiden soll. Wieder der Pudel wahrscheinlich!
Ich habe mit ihr getanzt, Gottfried. Vielen schlug sie ab, weil sie müde; mich hat sie erhört, obgleich ich kaum weiß, wo ich die Unverschämtheit hernahm, vor sie hinzutreten. Glaubst Du, ich wäre im Stande gewesen, ihren Leib zu berühren? Nicht, wenn’s mich mein Leben gekostet, und so tanzte ich denn frei mit ihr durch den Saal. Was ich während jener Minuten des Schwebens mit ihrer Hand auf meiner Schulter empfunden, hat mich wieder zum Entschlusse gebracht, zu entfliehen. Sobald mein Bild vollendet, verlasse ich diese Stadt und kehre um keinen Preis zurück. Denn es thut nichts; ich mag die Augen so fest verschließen, wie ich will, einiges Licht dämmert doch durch die gesenkten Lider. Es wird der Tag kommen, wo sie dem Manne ihrer oder ihres Bruders Wahl an den Altar folgen wird. Und was dann? Wo nähme ich die Kraft her, solch tiefes Elend zu ertragen? wo den Muth, nicht Hand an dieses traurige Leben zu legen, das nur noch Werth hat, wenn der Sonnenschein ihrer Augen, wenn ihre goldenen Blicke es bestrahlen?
Ich habe in den eigenen Qualen gewühlt und auf dem Feste zugesehen, wie sie von einer auf den Knieen liegenden Männerwelt umgeben war. Kein Einziger, der nicht Freunde und Vaterland verschworen um einen Druck ihrer Hand. Wohin sie ging, folgten ihr leuchtende Blicke nach, die meinigen ganz aus dem Spiele gelassen. Und mitten in dieser Anbetung bewegt sie sich so anmuthig und mit natürlicher Grazie, als müßte es so sein, als hätte sie Ansprüche auf die ganze ihr gleichgestellte Menschheit. Ein bevorzugter Bewerber ist, wie ich mit erleichtertem Herzen gewahrte, nicht vorhanden. Solche jedoch, die Leben und Vermögen für sie hingeben, mehr als Einer. Unter Anderen thut sich noch zum meisten ein Graf von Werdau hervor, ein Mensch, den ich vielleicht in anderen Verhältnissen wegen seines Geistes bewundern würde, den ich aber unausstehlich finde, weil er eine Art Hausfreund im Waldemberg’schen Palais ist. Selbst ziemlich unvermögend, ist er der Liebling eines reichen alten Onkels, der für eine Verbindung mit Prinzessin Hedwig eingenommen zu sein scheint. Auch diesen Onkel lernte ich kennen, und zwar weil er ein ausgesprochener Kunstfreund ist und sich vor der Perle der Waldemberg’schen Sammlung, einem unvergleichlichen Rembrandt, mit mir expectoriren wollte. Er ist ein liebenswürdiger alter Herr, scheint aber seine Liebhaberei bis zur Marotte zu treiben. Sein sehnlichster Wunsch ist, das Bild seiner Sammlung einzuverleiben, was er mir schon am ersten Abende im Beisein seines Neffen gestand.
„Ja, das wäre so ein Plänchen, das Einem den Schlaf raubte, dieses Hauses zwei schönste Schätze zu gewinnen!“
Ich horchte auf, weil ich gleich Alles auf sie beziehe. Diesmal hatte ich Recht.
„Warum soll es nicht gelingen?“ fuhr der alte Herr fort. „Du die Junge, ich die Alte!“
Der Graf gab ihm ein Zeichen; er wollte andeuten, daß ich zugegen sei und nicht unnützer Weise in seine Pläne eingeweiht werden sollte. Doch hatte ich genug gehört. Der Onkel Rembrandt’s Bild (es stellt eine runzlige Alte dar), der Neffe des Hauses Tochter. Welche Bescheidenheit! Ich hätte dem alten Herrn mit Vergnügen die Thür weisen mögen. Doch er nahm mich jetzt vertraulich beim Arme und flüsterte mir in’s Ohr, daß er geneigt sei, den höchsten Preis für das Meisterwerk zu bezahlen, daß es jedoch nicht zu haben sei, obgleich sich seine Neffen, um bei ihm einen Stein im Brette zu erhalten, darum bemüht hätten. Um ihren Eifer anzuspornen, hatte er versprochen, den zu seinem Erben einzusetzen, der ihm das Bild verschaffen würde.
„Glauben Sie, daß ich je so glücklich sein werde, es zu erlangen?“ frug er schließlich.
„Ich kann Ihnen dieses Glück nur von Herzen wünschen,“ meinte ich. „Der Preis, den Sie eingesetzt, ist hoch genug, um den Geist Ihrer Herren Neffen zu schärfen.“
Um wegen Werdau auf den Zahn zu fühlen, erzählte ich Hedwig am folgenden Morgen von der Marotte des Alten.
„Ich kenne sie,“ war die Antwort. „Doch es kann von einem Aufgeben des Bildes nicht die Rede sein. Wäre dem alten Herrn mit einer Copie gedient, die gönnte ich ihm von Herzen.“
Damit brach sie ab und redete von anderen Dingen, so daß ich nichts erfuhr über den Grafen und wie seine Actien stehen. Doch sehe ich gerade in diesem Stillschweigen Gefahr und habe mir deshalb vorgenommen, so selten wie möglich dabei zu sein, wenn Graf Werdau das Haus besucht, um dem traurigen Schauspiele einer glücklichen Werbung nicht zusehen zu müssen.
Jetzt muß ich schließen, denn noch habe ich nicht Toilette gemacht, und heute Abend ist Soirée im bewußten Hause. Kannst Du Dir etwas Erbärmlicheres denken, als Deinen Walter im Frack und Claquehut? Und mit welcher Freude und Sorgfalt schmücke ich mich mit den beiden! Eine Stunde, bevor ich ihn ausführe, verwerfe ich mit Unmuth jeden Gedanken, den ich seit einiger Zeit fasse. Ein angenehmer Seelenzustand!
Nein, ich ertrage ihn nicht länger. Sobald mein Bild fertig, ergreife ich die Flucht. Erwarte mich, mein einziger Gottfried, und das längstens in vier Wochen! Suche ein Zimmer, das nicht allzu weit von Deiner Wohnung entfernt ist! Auf Wiedersehen!
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Wenn ich diesmal, Amalie, einen ganzen Monat vergehen ließ, ohne Dir über die hiesigen Vorgänge Bericht zu erstatten, so ist die ungewohnte Beschäftigung daran schuld, der ich mich mit Hand und Herz nun weihe. Ein neuer Horizont stieg meinem doch in ziemlich engen Kreisen sich bewegenden Auge auf; neue Freuden kann ich mir zu jeder Stunde des Tages bereiten. Ich zeichne mit einer Leidenschaft, die Dir unerklärlich sein muß, weil Du nicht zugegen bist, nicht den Fortschritten beigewohnt hast, deren ich mich rühmen darf.
Der Vorschlag ging eigentlich von Ernst aus, dem unser Maler versicherte, ich hätte Anlage und ein ziemlich sicheres Auge, um Gutes vom Mittelmäßigen zu unterscheiden. Er weiß freilich nicht, der Unerfahrene, daß wir Frauen fast alle im Besitze dieses Blickes sind. Als ihn Ernst frug, ob er mir die Anfänge beibringen wollte, nahm der junge Mann mit Enthusiasmus an. Ich kann heute noch nicht begreifen, warum; denn es gehört Geduld dazu, Du glaubst gar nicht, wie viel! Ich begann denn Ernst zu Liebe und fühlte so recht, welch aufopferndes Wesen ich sei, ihm zu Gefallen jeden Tag eine Stunde mit Bleistift und Papier zu arbeiten. Doch die Muse rächte sich, weil man ihrer Kunst aus anderem als eigenem Antriebe fröhnte, und ließ mich meine schreckliche Darstellung nie dagewesener Gegenstände so lieb gewinnen, daß ich jetzt weit lieber jedes Vergnügen opfere, um nur die Zeichnungsstunde (sie hat sich auf zwei Stunden ausgedehnt) beizubehalten. So lebe ich denn gänzlich im Schatten der bildenden Kunst, denn am Schneewittchen wird noch immer fortgearbeitet, obgleich es in wenigen Tagen der letzten Pinselstriche gewärtig sein kann. Kaum finde ich noch Zeit, täglich ein paar Stunden zu fahren oder zu reiten, und hätte mein Bruder die Abende nicht gänzlich in Beschlag genommen, wer weiß, ob mein Portfolio nicht auch beim Lampenlicht hervorgezogen würde.
Ein Theil des Interesses, das ich in dieser Beschäftigung finde, mag Herrn Impach’s Art zu lehren beigemessen werden, die so ganz ungebunden und frei ist, daß der Gedanke des Lernens in der Stunde gar nie aufkommt. Er läßt mich einfach machen und ändert dann, was nicht richtig ist, ohne ein Wort des Tadels zu sprechen. So gab er mir gestern meines Bruders Photographie zum Abzeichnen, und mit seiner Hülfe beendete ich schon heute ein ganz ähnliches Bild, über das Ernst so große Freude hatte, daß ich zuletzt selbst glaubte, ich hätte es allein gemacht. Ein eigenthümliches Gespräch führten wir während des Zeichnens, das Dich vielleicht interessiren dürfte. – Wie wir so zeichnen, fängt Impach an, den Kopf Ernst’s zu analysiren. Er nimmt Eins um’s Andere, Stirn, Augen, Nase, Mund etc. und stellt alles nach und nach so zusammen, daß jede dieser Einzelheiten als Modell für classische Schönheit aufgestellt werden dürfte. Als später mit Ernst davon die Rede war, wie ähnlich wir uns seien, und der Maler hierüber befragt ward, gab er die kurze Erklärung: Ich sei, wie das von der Kunst idealisierte Ebenbild einer vollkommen schönen Wirklichkeit. Ein gesuchtes Compliment, hätte ein Anderer, als er, es gesprochen! Von ihm vorgetragen, klangen die Worte wie der Urtheilsspruch der gesammten Kunstwelt. So nahm auch Ernst sie auf, der, wie Du weißt, sonst stets durch Schmeicheleien aufgebracht wird. Ich bilde mir darauf aber auch gar nichts ein; nur freut es mich, meines guten Bruders Ebenbild zu sein.
Sonst ist weder in der Sitzung noch in der Stunde die Rede von persönlichen Dingen; meistens sprechen wir von der Kunst, die auch mir jetzt enthusiastische Ausrufungen entlockt. Ich denke mir manchmal, wie bettelarm ich war, ehe ich diesen Genuß kannte, und mich blos am äußerlichen Bilde freute, ohne des Geistes zu gedenken, der, darin festgebannt für alle Zeiten, ein schönes Kunstwerk einer Meisterschöpfung der Literatur oder Musik gleichstellt. –
Doch nun, Amalie, meine Hauptnachricht, die ich Dir, wie einem Kinde das schönste Zuckerpüppchen, für zuletzt aufsparte.
Gestern Nachmittag fragt mich Ernst, während wir ausfahren, plötzlich, ob ich mit ihm einen Abstecher nach Italien machen wolle?
„Der König Victor Emanuel war so liebenswürdig, mich zu einer großen Jagd einzuladen, die in den ersten Tagen des Januar stattfinden soll. Macht es Dir Vergnügen und willst Du mir einen Gefallen thun, so begleite mich dahin. Du wirst die paar Tage, die ich mit dem König zubringe, in Florenz bleiben, und wir können dann unsere Reise bis nach Rom erstrecken. Weil ich nicht immer bei Dir sein kann, müssen wir uns bequemen, die alte Cousine Dorothea oder sonst ein würdiges Haupt mitzunehmen. Was sagst Du zu diesem Plane, Herzensschwesterchen?“
„Gehst Du wirklich wegen der Jagd des Königs?“
„Wie kommst Du darauf, mich hiernach zu fragen? Ich werde bei der Gelegenheit auch einige dringende Geschäfte abmachen. Der Hauptzweck bei der ganzen Geschichte aber ist meine Hedwig, der ich Vergnügen zu machen wünsche. Ist das nicht schön von mir?“ frug er zum Schluß und lächelte dabei so schalkhaft, daß ich nicht umhin konnte, meine eigenen Gedanken bei der Geschichte zu haben. Dir, Amalie, kann ich sie anvertrauen; es handelt sich wahrscheinlich um eine geheime Mission, die unter dem Mantel dieser Jagd von Statten geht, denn Ernst hat gestern eine lange Audienz bei unserm König gehabt. – Wie hätte mich bei Dir zu Hause eine solche Gelegenheit, in die Welt hinauszufahren, gefreut! Was wirst Du von mir denken, wenn ich Dir gestehe, daß ich ganz trübselig dreinblicke? Der Plan machte mir nichts weniger als Vergnügen. Solches zu heucheln meinem guten Ernst gegenüber, war mir gänzlich unmöglich. Ich sprach also offen zu ihm und erklärte ihm, wie glücklich ich gewesen, und wie ich mir meinen Winter in der hiesigen Residenz so schön ausgemalt hatte; – dabei fiel mir die Zeichenstunde ein, und wie ich die unterbrechen und vielleicht Alles verlernen würde, was mich jetzt so selig machte. Auch das gestand ich dem Bruder. Lächelnd nahm er meine Hand und sprach:
„Du bist doch ein rechtes Kind noch, und siehst so groß und imposant aus! Ist es mir nicht, als wäre die Zeit noch da, wo Du Dich entschieden weigertest, ohne Deine Puppe in’s Bett zu gehen? Aber, Hedwig, was hält Dich denn davon ab, in Italien fortzulernen? ist nicht gerade dort der richtige Ort dazu? Ich werde einen der ersten Professoren aussuchen –“
Noch immer lächelte mich der Plan nicht an, einen sich ewig verneigenden Italiener, der mich wieder auf Hubert und Jerroggio brachte – nein, lieber ließ ich Alles fahren! Diesmal hatte ich nicht gesprochen, und Ernst fuhr fast ohne Unterbrechung fort:
„Oder wenn Impach selbst wollte: diese Reise könnte ein Kunstgenuß für Dich werden.“
Im Parke muß um diese Zeit gerade die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen sein, denn Alles um mich lachte im goldigsten Glanze. Ich dachte mir jetzt auch die Galerien italienischer Paläste, die Kunstschätze, die sie bergen, und freute mich so recht von Herzen auf die Reise.
Ernst war ein wenig über meinen plötzlichen Jubel erstaunt, aber ich konnte nichts dafür; seit einiger Zeit bin ich diesen plötzlichen Stimmungen unterworfen. Es mag wohl das aufreibende Leben in der Residenz daran schuld sein. Als wir nach Hause zurück kehrten und Herrn Impach, wie immer, an seiner Arbeit fanden, frug ihn Ernst sogleich, ob er mit uns kommen und uns so von Italien erst den richtigen Genuß verschaffen wolle. Er zögerte eine Weile, und weil mir wirklich daran gelegen ist, meine Zeichenstunde nicht zu unterbrechen, hielt ich ihm die Hand hin und rief fröhlich:
„Schlagen Sie ein, Herr Impach! Wir Künstler (hier ahmte ich seine Stimme nach) folgen im Leben stets dem ersten Impuls des Herzens; über die wichtigsten Schritte unseres Lebens entscheidet kaum ein Augenblick. Nicht so?“
Ernst lachte, und der Maler sagte zu.
Jetzt, wo ich mir die Worte, die ich sprach, wiederholen muß, meine Bewegung vor des Geistes Auge führe, erstaune ich über mich selbst – so sprach, so handelte ich, als wir zusammen waren, nicht. Ich schreibe Alles dem inneren Conflicte zu, von dem ich Dir in meinem vorigen Briefe sprach. Obgleich ich nicht im Traume daran denke, den Fürsten Arsent zu heirathen, oder, wie er es nennt, in den siebenten Himmel zu versetzen – er hat, wie es scheint, von Ernst die Erlaubniß erhalten, offen zu sprechen; ich hege hierüber auch keinen Zweifel mehr –, so thut es mir dennoch weh, daß meine Wünsche denen von Ernst so diametral entgegen sind. Wäre sein Candidat doch nur Werdau! –
Wenn ich mich so recht ernstlich frage, so meine ich doch, daß ich Den vielleicht ebensowenig nehmen würde. Aber warum [610] denn? – Ist dies ein erträglicher Seelenzustand, Amalie, wenn man so gar nicht weiß, was man will? Sollte ich altjüngferliche Anlagen haben? Das geht nicht an, denn der Gesellschaft, in der wir leben, müssen wir huldigen, und diese hat die unverheirathete alte Jungfer ein- für allemal dem Lächerlichen preisgegeben. Nun, vielleicht bringe ich andere Ansichten von der Reise mit nach Hause!
Sobald Ernst noch einige Geschäfte besorgt hat, reisen wir. Das wird Anfangs künftiger Woche sein. Einstweilen ist auch das Bild – ein Meisterwerk, Amalie! – beendet. Erwarte also den nächsten Brief mit italienischem Stempel.
Seinem Schicksale, lieber Gottfried, entrinnt Keiner. Der feste Entschluß, zu fliehen, mir die wahnsinnigsten Gedanken für immer fern zu halten, hatte mir eingegeben, sobald wie immer thunlich zu Dir zu eilen. Nun hast Du mich in Wirklichkeit bald an Deiner Seite! Doch nicht der Versuchung entrinnend, nicht den Stachel bekämpfend, der mein Inneres stets von Neuem zerfleischt, nein – an der Seite der Versuchung selbst!
Ich hatte meinen ganzen Muth zusammengenommen, war sicher, diesmal nicht zu unterliegen, sondern, koste es, was es wolle, mich loszureißen. Um nicht durch ein „Bleiben Sie!“ die Mauern meines festen Entschlusses erschüttern zu lassen, hatte ich nichts von meinem Vorhaben durchblicken lassen, sogar der Annahme, ich würde den Winter in dieser Residenz zubringen, nicht widersprochen. Wenn eine muthige männliche Handlung die Belohnung in sich selbst trägt, so mußte mir die Abreise erleichtert werden – tausend Umstände konnten dazu helfen! Da mußte gerade der einzige unerhörte Fall sich ereignen, der alle Vorsätze zerstiebte! – Doch Du wirst aus meinen Worten nicht klug, ich muß Dich erst aufklären. Der Herzog hat eine italienische Reise mit seiner Schwester beschlossen, und von allen Sterblichen mußten sie gerade mich zu ihrem Begleiter auswählen! Kann ich anders als an ein Fatum glauben, dem nicht mehr zu entrinnen ist, was auch verhängt sei? Wenn schon gute Ausreden mein Hirn durchkreuzten, so verflog Alles wie Wasserstaub in den Wind, als sie vor mich hintrat, mir ihr sanftes Händchen hinhielt und meine Stimme, hörst Du, meine Stimme nachahmend, Worte sprach, die ich ihr vielleicht vor drei Wochen gesagt! Auch Du hättest nicht widerstanden – Du schon gar nicht.
Als ich wieder allein war und mit ihr aller blendende Sonnenglanz aus dem Atelier schwand – da trat die Wirklichkeit so recht unbescheiden in all’ ihrer häßlichen Blöße vor mich hin. Was wird aus mir werden, wenn ich nun täglich, stündlich ihre Nähe ertragen muß, die jetzt schon auf mich wirkt, wie es kein berauschendes Vaterlandslied, keine italienische Nacht auf dem Meere jemals konnten? Vergehen wirst du, wirst ein unwürdiges Geschöpf werden, dessen höchstes Ziel ist, ihr die Schleppe nachtragen zu dürfen. Schöner Lebenszweck eines hochstrebenden Künstlers! – Und in welcher Eigenschaft reisest du denn eigentlich? Welch angenehme Empfindung, wenn auf der Fremdenliste eingetragen wird: „Herzog und Prinzessin Waldemberg mit Gefolge“.
Das Gefolge, edler Walter, bildest du an der Spitze einer Waggonladung von Kammerdienern und -Jungfern. Doch halt! Hier thue ich dem edlen Menschen Unrecht, der nur lieb und gut mit mir schwachsinnigem Kopfe gewesen ist. Nimmt mich der Herzog mit sich, so thut er es auch aufs eine Weise, die mein Ehrgefühl nicht verletzen kann; darauf darf ich zählen. Und wenn Alles gestanden sein soll, Gottfried, ich würde auch mit dem Gefolge zufrieden sein, wenn es die Bedingung wäre, durch die mir in ihrer Nähe zu verweilen vergönnt wäre.
Schwachsinnig, sophistisch, abergläubisch bin ich geworden, Gottfried – und Alles durch diese unselige Liebe! Sage ich mir nicht hundertmal des Tags: „Es hat so sollen sein!“ Eines Dichters Worte, die ich noch dazu umkehren muß, um sie zur Achse zu machen, um die sich mein Leben dreht. Ich habe gekämpft und bin als Besiegter aus allen Schlachten heimgekehrt. Möge nun kommen, was da will! Ich lasse mein Schicksal walten! Vernichtet werde ich durch meine Liebe so wie so, also sei das, was man mir bietet, noch mit voller Freude genossen! Après moi le déluge!
Wenn sie mich nur nicht so holdselig anblickte, manchmal fragend, als sei ich im Stande, ihr des Lebens Räthsel zu lösen, manchmal wehmüthig, als wolle sie mich zum Vertrauten ihrer geheimsten Gedanken machen. Von dem Sturm, den diese Blicke in meinem Herzen erregen (gebe der Himmel, daß niemals ein Strahl herausdringt und ihre Ruhe stört!) – von diesem Sturm hat sie auch nicht die leiseste Ahnung. Und wir sind so viel beisammen. Gottfried, wie hielt ich’s nur bis zu diesem Tage aus? Aber ihre natürliche Hoheit schüchtert mich so ein. Himmel und Erde könnten vergehen und mit ihr Alles, was uns scheidet, ich wagte nicht den Mund zu öffnen.
Sie lernt jetzt zeichnen von mir – ach, die seligen Stunden, in denen ich ihr lehren darf, was mir neben ihr das Liebste. Und wie sie mich darüber ausschilt, daß ich ihre Arbeit nie tadle, Alles schön finde, was sie mit den Feenfingerchen auf’s Papier kritzelt. Wenn ich ihr zeige, wie sie etwas machen soll, nimmt sie mir ungeduldig den Stift aus der Hand, um zu sehen, ob sie’s schon kann. Dabei berührt freilich manchmal ihre Hand die meine, Gottfried! – Ach Gott, was wird noch aus mir?
Morgen Abend reisen wir; ich wurde hier im Palaste einquartiert, um bequemer packen zu können. Ich helfe die letzten Anordnungen treffen. Der Herzog, eine aufrichtige Natur, hat mich nach und nach so liebgewonnen, daß ich sonst nur dem Geschicke dankbar sein könnte, das mir einen so edlen Menschen auf dem Lebenswege begegnen ließ. Seine Freude über das Bild, welches ich seit einigen Tagen beendet, kann ich Dir gar nicht beschreiben. Es ist mir besser gelungen, als ich erwarten durfte, und wird allgemein bewundert. Denke Dir mein Glück über den Platz, der ihm angewiesen wurde: In Hedwig’s Boudoir hängt es zwischen Blattpflanzen und Blumen, und gerade über der Stelle, an der sie meistens sitzt. Der Herzog hat den Ort ausgesucht, weil er auf diese Art, gegenüber Original und Bild, am besten vergleichen kann.
Zum Danke hat er mir die Hand gedrückt und gesprochen: „Sie haben meiner Schwester Wesen verstanden und empfunden. Niemals kann ich Ihnen das genug danken.“
Neben dem Gefühle von Verehrung, das ich für diesen Mann hege, steigen doch auch manchmal Zweifel auf, die ich nur beruhige, wenn ich denke, daß Erziehung und Umgebung den Menschen gänzlich modeln, und er nur das für natürlich hält, was ihm sein Leben lang als solches gezeigt wurde. Ich fühle mich nämlich geneigt, ihn zu fragen: „Haben Sie denn eigentlich, Herr Herzog, keinen Augenblick daran gedacht, wie gefährlich es werden kann, zwei junge Leute, noch dazu durch die Kupplerin Kunst zusammengeführt, so lange bei einander zu lassen? Und wenn im stolzen Vertrauen auf die Macht Ihres Blutes, das nicht fähig ist, zu thun, was ihm nicht von Jugend auf gelehrt wurde, Sie mit Recht von Ihrer Schwester nichts befürchten, haben Sie sich’s überlegt, daß auf der andern Seite keine solchen Schranken bestehen, daß da ein freies Herz schlägt, das nichts von Ungleichheit und Rangunterschied weiß, und dem selbst der Eigenthümer nicht versagen darf, da in helles Feuer aufzulodern, wo sprühende Funken hineinflogen?“
Er achtet mich eben zu sehr, um von mir zu glauben, ich könnte anders als an des Thrones Stufen zu einer Waldemberg aufsehen. – Er hat vielleicht Recht, und ich bin der Narr, aber nun ich’s einmal bin, soll mir auch kein Mensch mein Glück vergällen. Hesperien soll der Schauplatz sein, wo ich Tags über in ihrer Gegenwart Leben und Glück einathmen will, um Nachts dann Mond und Sternen und Dir, einziger Gottfried, von ihr vorzuschwärmen. Ist dann auch mein Untergang nahe, so bin ich doch glücklich gewesen. Darum werde was da will, ich wage es!
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Wie die engste Lebensgemeinschaft, das festeste irdische Band Joseph und Amalie Joachim verknüpft, so sind sie auch geistig auf’s Innigste miteinander geeinigt. Zur Seite des Königs der Geiger steht als seine Gattin eine Königin im Reiche des Gesanges. Beide verkörpern uns das Künstlerthum in seiner lautersten Gestalt; mit einer Fülle gleich echter Kränze sehen wir ihre Häupter geschmückt. Keine Macht haben über sie die den Helden der Bühne und des Concertsaales so gefährlichen Lockungen gefallsüchtiger Eitelkeit oder goldgieriger Erwerbslust. Im Gegensatz zu manchen gefeierten Berufsgenossen, denen der persönliche Vortheil höchster Zweck und die Kunst nur das geschmeidige Mittel gewesen, geht ihr gesammtes Empfinden und Thun im keuschen Altardienste der Schönheit auf.
Nie haben treuere Hände das musikgenießende Publicum vor das Angesicht der geliebten Meister geleitet, ein reineres Wollen und meisterlicheres Können in dem Gemüthe der Hörer den bekräftigenden Wiederhall geweckt.
Als das jüngste von sieben Kindern wurde Joseph Joachim am 28. Juni 1831 in Kittsee, einem unansehnlichen ungarischen Dorfe bei Preßburg, geboren. Sein Vater war ein kleiner Kaufmann, dem es trotz beharrlichen Fleißes nicht gelingen wollte, sich aus gedrückten Verhältnissen emporzuarbeiten. Unser Held hatte sein erstes Jahr noch nicht vollendet, als die Familie nach Pest übersiedelte. Die bekannte Erfahrung, daß kein Talent so früh sich zu regen pflegt wie das musikalische, sollte sich auch an ihm bewähren. Eine Guitarre, die bei den Gesangsübungen der ältesten Schwester zur Begleitung diente, war ihm das liebste Spielzeug, bis ihm der Vater eines Tages eine Kindergeige vom Jahrmarkt mit heimbrachte. Diese wurde nun seine unzertrennliche Genossin, und bald begann sie unter den keinen emsigen Fingern gar anmuthig zu singen und zu klingen. Was er hörte, geigte er nach. Wenn seine Altersgenossen lärmend und jubelnd sich umhertummelten, kauerte er in einem abgelegenen Winkel, voller Glückseligkeit die Weisen wiederholend, die er den wandernden Zigeunern, diesen unermüdlichen Hütern des reichen melodischen Nationalschatzes, abgelauscht. Stundenlang mußten ihn oft seine Angehörigen suchen, bis ihnen ferne Violintöne den Weg wiesen. So ging es bis in das sechste Jahr fort; erst da erhielt der Knabe Unterricht. Sein gutes Glück gab ihm in dem Polen Servaczynski einen erfahrenen, pflichtgetreuen Lehrer. Diesem verdankte er eine frühzeitig wohlgesicherte Technik die unerläßliche Grundlage jedes künstlerischen Berufes über deren Mangel kein nachträglicher Aufwand an Mühe und Fleiß hinwegzuhelfen vermag.
Noch nicht sieben Jahre alt, erntete er schon seine ersten Lorbeern im Concertsaale. Er hatte allmählich den von seiner Heimath dargebotenen musikalischen Bildungsstoff erschöpft, und man mußte daran denken, ihn auf einen nahrhaftern Boden zu versetzen. In Wien lebten zwei wohlhabende Brüder des Vaters. Sie versprachen für die Zukunft des Neffen zu sorgen. Zunächst erhielt er nun Georg Hellmesberger zum Lehrer. Dieser gab indessen, nachdem der Unterricht fast ein Jahr hindurch gedauert, plötzlich die Erklärung ab, die rechte Hand seines Zöglings sei zu schwach, um den Bogen mit dem nöthigen Nachdruck zu führen. Gerade zu jener Zeit feierte der berühmte Violinspieler Ernst in der österreichischen Hauptstadt glänzende Triumphe. Zu ihm eilte der jugendliche Kunstgenosse und klagte seine Noth. Er fand wohlwollende Aufnahme, nicht blos tröstlichen Zuspruch und aneifernde Ermunterung, sondern auch werkthätige Hülfe. Dank der Vermittelung des Virtuosen nahm dessen Lehrer, der treffliche Lehrer Böhm, den Knaben zu sich in’s Haus, um jeden freien Augenblick ihm widmen zu können. Nach drei Jahren [612] hatte er seinem Schüler nichts mehr mitzutheilen. Die Erziehung des Violinisten war nunmehr beendigt, die des Künstlers sollte jedoch erst beginnen.
In den dreißiger und vierziger Jahren war Leipzig der unbestrittene Vorort deutscher Musik, für alles frischere, kräftigere Leben, das sich in ihr regte, der Licht und Wärme spendende Mittelpunkt. Wien, ehedem die stolze Königin im Reich der Töne, fand allein noch Genuß und Befriedigung in den süßen Sirenengesängen üppigster Sinnlichkeit. Auf demselben Schauplatz, für welchen Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert so viele ihrer edelsten Werke geschaffen, tummelten sich die italienische Oper, das concertirende Virtuosenthum und der Strauß’sche Walzer, während die großen Todten vergessen in ihren Gräbern ruhten. Was die neue Zeit an musikalischem Productionsvermögen besaß, hatte sich in Mendelssohn und Schumann zu einer Fülle schöpferischer Thaten zusammengefaßt. Beiden war Leipzig die zweite Heimath geworden. Dort wirken sie durch Wort und Beispiel; dort strömten in dem neu errichteten Conservatorium der Musik wie in den altberühmten Gewandhausaufführungen, dem vornehmsten Hort und später vielfach nachgeahmten Muster alles gediegenen Concertwesens, die reinsten Quellen künstlerischer Belehrung und Anregung. Eine Cousine Joachim’s, mit der er früher die Beethoven’schen Sonaten fleißig geübt, hatte sich nach Leipzig verheirathet. Nicht genug wußte sie von den musikalischen Herrlichkeiten an den Ufern der Pleiße zu berichten, und jeder ihrer Briefe war ihm ein lockender Mahnruf in die Ferne, auf welchen seine innere Stimme immer lauter antwortete. Zuletzt konnte er nicht länger widerstehen; ungeachtet des Einspruchs seiner Oheime, griff er zum Wanderstab und zog frohen Muthes hinaus in’s Reich.
Aus den Briefen Mendelssohn’s weiß man, wie viel er seinen jüngeren Kunstgenossen gewesen, welchen treuen Freund und unermüdlichen Förderer jedes ernstere Streben in ihm gefunden. Auch den dreizehnjährigen ungarischen Geiger, dessen echt künstlerische Signatur sein scharfes, menschenkundiges Auge auf den ersten Blick erkannte, nahm er in der liebevollsten Weise bei sich auf. Unablässig stand er ihm mit Rath und That zur Seite. Auf Schritt und Tritt begleitete ihn seine väterliche Fürsorge. Fast täglich mußte sein kleiner Posaunenengel, wie er ihn scherzhaft nannte, mit ihm musiciren. Er eröffnete ihm das Verständniß der Meister, machte ihn zum Augenzeugen seines eigenem Schaffens, überwachte seine Uebungen in der Composition und ließ ihn unter David’s Leitung in den Stil der Spohr’schen Schule einführen. Und nicht allein die musikalische Entwickelung seines Schützlings lag ihm am Herzen, er trug auch Bedacht, daß es der jungen Seele an allgemein geistigem Bildungsstoff nicht fehlte.
Joachim hatte weder in Pest noch in Wien irgend eine höhere Bildungsanstalt besucht, sondern sich seinem Violinspiel ausschließlich dahin gegeben, nur ganz nebenher die für das praktische Leben allerunentbehrlichsten Elementarkenntnisse sich angeeignet. Auf Mendelssohn’s Geheiß, der ihm auch die passenden Lehrer wählte, trieb er nun emsig Latein, Geschichte, deutsche Literatur und neuere Sprachen. Mehr noch als alle diese Studien förderte ihn der ununterbrochene persönliche Verkehr mit dem Meister. Wie eifrig er gestrebt, dem hohen Vorbild in jedem Stücke ähnlich zu werden, dafür zeugt unter Anderem auch der äußere Umstand, daß seine Handschrift bis auf den heutigen Tag eine täuschende Aehnlichkeit mit der Mendelssohn’schen aufweist. Von Mozart und seinem Schüler Süßmayer wird uns bekanntlich die gleiche Thatsache berichtet.
Bereits im Winter 1844 spielte Joachim öffentlich in Leipzig, und im nächsten Jahre folgte er Mendelssohn nach London. Das Allerheiligste des englischen Concertwesens, der Saal der Philharmonischen Gesellschaft, dessen Schwelle ein streng verclausulirtes, jedem Wunderkind den Zutritt untersagendes Statut behütete, sollte sich ihm dort erschließen. Es geschah freilich erst, nachdem der Componist des Paulus sein Wort verpfändet, daß in dem halbwüchsigen Jüngling ein voller und ganzer Künstler steckte. Durch den Vortrag des Beethoven’schen Concerts legte Joachim damals den Grund zu seiner außerordentlichen Popularität jenseits des Canals. Manche Londoner Saison hat ihn seitdem als hochgefeierten Gast gesehen.
Nach Leipzig zurückgekehrt, trat er in die Gewandhauscapelle, zu deren Obliegenheiten auch die Mitwirkung in der Oper gehört. Reichliche Gelegenheit bot sich ihm hier, das Orchester als Ganzes, wie die Natur jedes einzelnen Instrumentes kennen zu lernen. Im Herbst 1849 ging er mit dem Titel eines Concertmeisters nach Weimar, wo Liszt als allmächtiger Liebling des Hofes schaltete, das gesammte musikalische Jungdeutschland um sich versammelte und durch die Macht der Töne den Glanz verschwundener Tage der kleinen großherzoglichen Residenz zurückzugeben trachtete. Nicht lange fesselte unseren Künstler der neue Wirkungskreis; schon 1851 folgte er einem Rufe nach Hannover, durch welchen ihm die oberste Leitung der dort im Laufe jedes Winters veranstalteten Symphonieconcerte übertragen wurde. Er vermählte sich 1863 mit Amalie Weiß, damals erster Sängerin des Hoftheaters, und siedelte, als der preußisch-österreichische Krieg den welfischen Königsthron hinweggefegt, nach Berlin über. Auf’s Mannigfaltigste und Eingreifendste hat er seitdem an dem Tonleben der neuen Heimath sich betheiligt, sowohl im Concertsaal, wie als oberster Leiter einer aus Staatsmitteln in Berlin begründeten Hochschule der Musik.
Kaum zwei Jahre ist es her, daß er in der letzteren Eigenschaft mit seinem Vorgesetzten, dem Cultusminister von Mühler, wegen der von diesem eigenmächtig angeordneten Entlassung eines Lehrers der Anstalt hart zusammen gerieth. Obgleich zu jener Zeit der französische Krieg die öffentliche Aufmerksamkeit in athemloser Spannung erhielt, machte die Sache doch gar viel von sich reden. Sie trug den Namen des der Welt und ihren Händeln gänzlich abgekehrten Künstlers mitten hinein in die politischen Parteikämpfe und kam selbst auf dem Landtag zur Sprache. Der von seiner häuslichen Egeria übel berathene Staatsmann wurde bekanntlich von dem Musiker völlig aus dem Felde geschlagen und mußte zu seiner Niederlage noch manche Spötterei mit in den Kauf nehmen.
In dem gesammten Virtuosenthum der Gegenwart nimmt Joachim den ersten Platz ein. Bildet die eigentliche Seele aller musikalischen Darstellung, mag ihr die menschliche Stimme oder ein Instrument zum Organ dienen, die Erzeugung des Tones, so ist es denn auch dieser zumeist, der durch seine vornehme Größe, fleckenlose Schönheit und lebendige Ausdrucksfähigkeit dem Spiel unseres Geigers das charakteristische Gepräge giebt. In allen Lagen, vom tiefen Brustregister der G-Saite bis hinauf zum höchsten Flageolet, in sämmtlichen Stärkegraden, selbst noch im wuchtigsten, die vereinigten Gewalten des Orchesters beherrschenden Fortissimo, wahrt er den ihm eingeborenen Adel. Hand in Hand damit geht eine durch keine Zumuthung außer Fassung zu bringende Fertigkeit. Wie von selbst gleiten ihm die schwierigsten Wagnisse von den Saiten. Stets bleibt die Intonation glockenrein, die Gliederung der Passage klar und durchsichtig bis hinab in die kleinste Einzelheit. Was endlich die Hauptsache ist, dieses gesammte goldene Rüstzeug einer unfehlbaren Technik steht lediglich im Dienste eines überall auf das Ideale gerichteten künstlerischen Willens. Unerschütterliche Treue, schlichteste Wahrhaftigkeit gegenüber dem in Tönen zu offenbarenden geistigen Inhalt, sie sind das Element, in dem der Joachim’sche Vortrag lebt und athmet, aus welchem er seine ganze Kraft schöpft. Nirgends erscheint das Antlitz des Meisters, um den es sich gerade handelt, durch subjective Gefühlszuthaten verhüllt oder geschminkt, immer ist es das eigenste Wesen der Aufgabe, das wir ohne Zuschuß und ohne Abzug empfangen. Wie hier der Virtuose gänzlich aufgeht im Künstler, zeigt sich auch in der Wahl der Werke, mit denen er vor das Publicum tritt. Keine Rücksicht auf den äußeren Erfolg kann ihn dazu verführen, seine Hand nach jenen musikalischen Modefabrikarbeiten auszustrecken, die nur das Bravourbedürfniß des Spielers in Nahrung setzen sollen, bei denen der persönliche Vortheil einziger Zweck ist und die Composition nur den Vorwand hergiebt.
Ihre reichsten und gediegensten Schätze hat die Violinliteratur innerhalb des Streichquartetts aufgehäuft; seine unausgesetzte Pflege liegt deshalb auch Joachim vor Allem am Herzen. Er ist der Mittelpunkt eines Vereins von Künstlern, der Jahr aus, Jahr ein Haydn’s, Mozart’s, Beethoven’s, Schubert’s, Mendelssohn’s und Schumann’s Meisterwerke dieser Gattung darbietet. Für den Andrang zu den von ihm veranstalteten Aufführungen [613] reicht einer der größten Berliner Concertsäle kaum aus. Immer von Neuem erleben wir hier das Wunder, daß eine der reinsten und strengsten Kunstformen, in denen je die tongestaltende Phantasie sich Genüge gethan, die den Hang nach oberflächlicher Zerstreuung und mühelosem Genuß unerbittlich abwehrt, aus der eng geschlossenen Gemeinschaft der Kenner hinaustritt unter die Massen und von ihnen als ersehnte Festgeberin und Freudenspenderin jubelnd begrüßt wird.
Auch als Componist hat sich unser Künstler hervorgethan, besonders durch sein stimmungsvolles Concert in ungarischer Weise. Die von ihm geleitete Hochschule der Musik erfreut sich des besten Fortganges und Gedeihens. Mit gerechtem Stolz darf sie namentlich auf ihre Leistungen im Gebiete des Violinspiels blicken. Bei Gelegenheit einer öffentlichen Prüfung ihrer Zöglinge zeigte sie sich im Besitz eines Streicherchors, der weit und breit seines Gleichen sucht. Sie gedenkt diese Aufführungen fortzusetzen und mit ihnen ihren regelmäßigen Beitrag zu dem Berliner Concertwesen zu liefern.
Wie Joachim, so ist auch seine um acht Jahre jüngere Gattin ein Kind des österreichischen Kaiserstaates. Sie erhielt ihre musikalische Ausbildung in Wien und trat dort als Amalie Weiß, nur die letzte Hälfte ihres Familiennamens „Schneeweiß“ auf die Bühne mit hinübernehmend, in den Personalverband des Kärnthnerthor-Theaters. Die damalige Direction der kaiserlichen Oper hatte keine glückliche Hand. Wie sie kaum den Mißgriff begangen, Pauline Lucca, in ihren Augen höchstens als lustige Singspielsoubrette verwendbar, in die Ferne ziehen zu lassen, so täuschte sie sich auch diesmal völlig über das Talent der jungen strebsamen Novize. Die Letztere blieb in das sogenannte Vertrautenfach gewiesen, das seinen Vertreterinnen die danklose Pflicht auferlegt, den weiblichen Hauptpersonen stets zur Seite zu sein, ihren Gefühlsergüssen das Stichwort zu geben und sie mit den herkömmlichen Beweisen der Theilnahme zu begleiten. Endlich müde, Jahr für Jahr die Liebesseufzer der Verdischen und Donizettischen Leonore anzuhören, oder als Mutter der Nachtwandlerin bei den gegen die Tochter geschleuderten Anklagen verzweiflungsvoll die Hände zu ringen, folgte unsere Sängerin einem Ruf an die hannoversche Hofbühne, wo sie bald Alles um sich her verdunkelte. Als mustergültige Darstellerin des Orpheus, der Iphigenie, des Fidelio und anderer hochidealer Gestalten wurde sie die vornehmste Stütze des classischen Repertoires. Daß eine solche Primadonna zu ihren warmen Verehrern auch Joachim zählte, war ebenso natürlich, wie daß ihr Ohr mit Entzücken an den vom echten Geist unserer großen deutschen Meister beseelten Klängen seiner Geige hing. Immer enger wurde das Band, das die Beiden umschlang; zuerst nur durch die Macht der Töne geknüpft, vereinigte es allmählich ihre Herzen zum festesten, innigsten Bund der Liebe. Seit ihrer Vermählung hat die Künstlerin der Bühne entsagt und ihren Beruf nur im Concertsaal geübt. Gewöhnlich erscheint sie hier an der Hand ihres Gatten oder im Verein mit Clara Schumann, der ihr geistesverwandten classischen Clavierspielerin. Wie sie zur Zeit der gefeierte Liebling des Berliner Publicums ist, so findet sie allenthalben die Bewunderung auf ihren Wegen. Regelmäßig gehört sie zu den Zierden der großen rheinischen Musikfeste. Einen charakteristischen Grundzug ihres Wesens bildet die Freude am Wohlthun. Nie pflegt sie sich zu versagen, wenn die Kunst zur Almosenbüchse greift, um für die Armen und Verlassenen die Gaben der Liebe zu heischen.
Kein edleres Muster konnte es für Amalie Joachim geben als die Weise des Künstlers, dessen Namen sie trägt. Seinem ununterbrochen auf sie einwirkenden Einfluß mag sie den besten Theil ihres Könnens verdanken. Ihre Stimme verbindet mit dem echten vollgewogenen Altklang den Umfang des Mezzosoprans. Blühend sinnlicher Reiz, strotzende Gesundheit, reinste Plastik sind die Eigenschaften, die den Ton durch sämmtliche Lagen und dynamischen Unterschiede begleiten. Durch ihren unangetasteten Adel thut sich namentlich die Tiefe hervor. Gänzlich frei ist sie von jener gewaltsamen Aufbauschung und Uebertreibung des Brustregisters, die den natürlichen Wuchs des Organs ungefähr ebenso entstellt wie die leidige jetzt endlich aus der Reihe der herrschenden Modethorheiten und Geschmacklosigkeiten verschwundene Crinoline den des Körpers. Und wie das Material, das die Sängerin zu ihren Gebilden verwendet, fleckenlosem Marmor gleicht, so entspricht solchem Charakter auch der Vortrag mit seiner keuschen Innerlichkeit, vornehmen Ruhe und ernsten Größe. Nie leiht er sich zum Spiel mit dem leeren Schein her. Nur das Gehaltvolle, in sich Gediegene zieht ihn an. Seine Aufgaben wählt er entweder aus unsern bis an den Rand gefüllten Schatzkammern des Oratoriums und der classischen Oper oder aus der unversiechlichen Frühlingspracht der Töne, die in der Lyrik Schubert’s, Mendelssohn’s, Schumann’s und ihrer Nachfolger sich entfaltet.
Durch die Spalten der periodischen Presse in den Hafen der ehelichen Glückseligkeit einzulaufen, ist auch bei uns in Deutschland ein nicht mehr ungewöhnlicher Weg, bis zu einem eigenen journalistischen Organe jedoch, das sich ausschließlich der Beförderung dieses preiswürdigen Zweckes widmet, haben wir es noch nicht gebracht. Wohl aber darf sich England eines solchen ebenso nützlichen wie interessanten Blattes rühmen. Schon seit einigen Jahren sieht man an den Ecken der Londoner Straßen verwegene junge Burschen postirt, welche, so wie eine nicht durchaus matronenhaft erscheinende Dame des Weges gegangen kommt, diese mit der Frage begrüßen: „Brauchen Sie vielleicht einen Gemahl, Miß? ’s kostet blos drei Pence,“ und der von der wundersamen Anrede Ueberraschten eine Zeitungsnummer vor Augen halten. Wirft sie unwillkürlich einen Blick auf das ihr dargebotene Papier, so liest sie den frappanten Titel: „Organ zur Herbeiführung des häuslichen Glückes, allen den Tausenden heirathsfähiger Männer und Weiber von allen Altern und Ständen gewidmet, die, Dank der kalten Förmlichkeiten der Gesellschaft und den strengen Regeln des Anstandes, weder in der Stadt noch auf dem Lande zusammen kommen können und doch sich gegenseitig glücklich zu machen berufen sind.“ Da das sonderbare Blatt, welches bis jetzt jedenfalls das einzige seiner Gattung geblieben ist, wie schon bemerkt, bereits seit mehreren Jahren besteht, so läßt sich vermuthen, daß der kühne Unternehmer mit der Speculation seine Rechnung gefunden hat. Nach den Angaben der Redaction sind durch ihre Vermittlung bereits mehr als achttausend Ehestandscandidaten und -Candidatinnen zu dem erstrebten Ziele gelangt. Ob damit zugleich zu häuslichem Glücke – das bleibt freilich unerwähnt.
Einige Auszüge aus dem merkwürdigen Producte englischer Betriebsamkeit sind dem Leser wohl nicht unwillkommen; sagt doch der Herausgeber in seinem Programme mit Recht, daß die Institution der Ehe ein Gegenstand des allgemeinen Interesses für die gesammte Menschheit sei.
Wir durchblättern eines der letzten Monatshefte. Da finden wir denn, die wiederholten Inserate ungerechnet, fünfhundertundachtundvierzig Heirathsgesuche abgedruckt; zweihundertvierundneunzig gehen von Candidatinnen und zweihundertvierundfünfzig von Candidaten aus. Das weibliche Geschlecht scheint somit das heirathslustigere und unternehmendere zu sein. Zweihundertunddreiunddreißig der männersuchenden Damen haben zuvor noch nicht die Rosenketten der Ehe getragen, obschon sie den verschiedensten Perioden der Reise angehören, den hoffnungsreichen siebenzehn wie den kritischen vierzig Jahren. Acht haben die Zwanzig noch nicht erreicht, vierzehn sie eben überschritten; dreiundsechszig sahen erst fünfundzwanzig Sommer, einundsechszig zählen von sechsundzwanzig bis dreißig, und sechszig von einunddreißig bis zu neununddreißig Jahren, während neunzehn ihre Vierzig bekennen und acht sogar den Muth haben, sich für noch älter als vierzig anzugeben. Blond verhält sich dabei zu Brünett wie drei zu zwei; als schwarzhaarig schildert sich blos eine einzige der Inserentinnen.
Natürlich ist nicht der Mangel äußerer und innerer Reize daran schuld, daß diese armen Damen noch des Schutzes [614] männlicher Lebensgefährten entbehren. Nennen sich doch fünf der Unbeschützten ohne Weiteres „wunderschön“; acht bezeichnen sich als „sehr schön“, dreiundzwanzig einfach als „schön“, sechszehn als „sehr hübsch“ und ebenso viele nur als „hübsch“. Zweiundfünfzig sagen, daß sie „gut aussehen“, neun sehen „hübsch" und sieben „fein“ aus. Acht sind „anziehend“, zwei „reizend“, neunundzwanzig „von angenehmem Aeußern“, eine ist „comme il faut“ und eine „bezaubernd“. Manche sind „gebildet“, einige „höchst musikalisch“, verschiedene verstehen sich vortrefflich auf jede weibliche Arbeit, mehrere sind „fein erzogen“. Andere prunken mit ihren vornehmen Bekanntschaften und Verwandten; wenige vergessen, von ihrer Liebenswürdigkeit und Herzensgüte zu sprechen; einige sind stolz auf ihren häuslichen Sinn, Alle ohne Ausnahme jedoch stark in dem Glauben, daß sie vorzügliche Gattinnen abgeben werden.
Die neunzehnjährige Madeline beklagt ihre Armuth, hofft aber, daß dieser Mangel durch die „Reihe ihrer Vorzüge“ aufgewogen werde. Besagte Vorzüge zählt sie folgendermaßen auf: „Mittlerer Wuchs, goldenes Haar, blaue Augen, heiteres Temperament, ohne alle Sentimentalität, sehr musikalisch, singt gut und ist zugleich im Hauswesen sehr erfahren.“ Ein behagliches Dasein und fünfhundert Pfund Sterling jährlich, das ist der Preis, welchen Augusta, die weder Vermögen besitzt noch welches zu erwarten hat, für ihre Reize verlangt. Sie ist fünfunddreißig Jahre alt, fünf Fuß und neun Zoll hoch, von hellem Teint, mit kastanienbraunem Haar (Naturfarbe), hat eine sehr elegante Gestalt, sieht gut aus, ist sehr gebildet, wohl erzogen und häuslich. Sie hat sich immer nur in guter Gesellschaft bewegt, allein sehr zurückgezogen gelebt, so daß sie keine Gelegenheit fand, Herrenbekanntschaften zu machen. Zum Schlusse ihrer Selbstbeschreibung fügt sie noch hinzu, daß sie sich „derzeit in London“ befinde.
Eine andere Dame, die, achtundzwanzig Jahre alt, ihres einsamen und abgeschiedenen Lebens müde ist, wünscht einem Manne zu begegnen, der ein warmes und liebevolles Herz zu schätzen vermag. Leider ist sie ohne Vermögen. Wenn indeß angenehmes Aeußere und gute Manieren im Verein mit Bildung und Gemüth Befriedigung zu gewähren im Stande sind, so ist sie überzeugt, daß sie ihren Gatten zum glücklichsten Manne der Welt und zum Beneidetsten seines Geschlechts machen wird. Mitleiderweckend ist das nachstehende Gesuch: „Ein älteres Mädchen sucht einen Gatten; es ist achtunddreißig Jahre alt, mittellos und nicht hübsch. Sollte diese Anzeige einem Herrn vor Augen kommen, welcher eine Frau braucht und in der Lage und großmüthig genug ist, eine mit den erwähnten Mängeln zu nehmen, so kann die Redaction die Adresse der Dame geben.“ Wir fürchten, der Herausgeber des Blattes werde nicht mit Antworten auf diese Anzeige überhäuft werden, während der Ehemarkt mit so vielen reichbegabten Damen versehen ist, ganz abstrahirt von unterschiedlichen Erbinnen in spe. Viele der letzteren erzählen in gar herzloser Weise, wie sie nur auf den Tod ihrer vermöglichen Eltern warten. Ein einziges Kind, ein süßes Wesen von zweiundzwanzig Jahren, sagt, daß es „beim Tode ihrer Eltern über ein großes Vermögen zu gebieten haben werde“; die schwarzäugige Tochter eines höheren Geistlichen „hat bereits einiges Vermögen und wird noch mehr bekommen, wenn erst ihr Vater auf dem Friedhofe ruht“, und die hochgebildete, sehr blonde, sehr hübsche und sehr fröhliche Miß Lucy thut dieses ihr fröhliches Temperament dar, indem sie bemerkt, daß zu den zweitausend Pfund, die sie bei ihrer Verheirathung empfängt, sie noch eine viermal so große Summe erhalten wird, sobald ihr Vater stirbt, „der jetzt bereits dreiundsiebzig Jahre alt ist“.
Von der Annahme ausgehend, daß der Werth einer Braut steigt, wenn der Bräutigam einmal keine Schwiegermutter zu fürchten hat, vielleicht auch um Theilnahme hervorzurufen, erwähnen nicht weniger als fünfundvierzig Heirathscandidatinnen, daß sie Waisen sind. Eine ziemliche Anzahl dieser vereinsamten Geschöpfe ist dafür mit weltlicher Habe ausgestattet. Rosa, sechsundzwanzig Jahre alt, nicht hübsch, doch sehr fesselnd, hat ein kleines Landgut und sechshundert Pfund jährlicher Einkünfte, die sie mit einem Herrn von unzweifelhafter Respectabilität theilen möchte. Die vierunddreißigjährige Eva, von angenehmem Aeußern, schlanker Figur und vollkommener Gesundheit, lebhaften, thätigen Temperaments, die das Land liebt, aber Alles, was falsch ist, falsches Haar eingeschlossen, haßt, würde einem frommen, gebildeten, freundlichen und wohlhabenden Manne die hingebendste Gattin werden.
Einundsechszig Wittwen im Alter von neunzehn bis zu fünfzig Jahren sehnen sich danach, wieder in den heiligen Ehestand einzutreten. Eine „wunderschöne“ Wittwe, erst neunzehnjährig, blond, hochgewachsen, gebildet und von bester Familie, die weiß, daß sie ein sehr liebevolles Gemüth besitzt, hätte sicherlich Zeit, noch etwas zu warten; vielleicht indeß erklärt sich ihre Ungeduld aus dem Umstande, daß sie eine von den fünf Hinterbliebenen ist, welche ihre Vermögensverhältnisse unberührt lassen. Die übrigen Sechsundfünfzig haben außer ihren eigenen kostbaren Personen alle noch etwas Anderes anzubieten, ein kleines Vermögen, ein bescheidenes Einkommen, ein hübsches Haus oder ein nettes Gütchen. Eine sucht die Männer mit ihren zweitausend Pfund „jetzt“ und einem großen Vermögen „später“ zu reizen; eine andere vergoldet die Pille mit „ungefähr zwölftausend“, und eine dritte besitzt ein prachtvolles Landhaus ohne Schulden und – ohne Kinder.
Zweifelsohne sind manche dieser Annoncen blos zum Scherze eingerückt, die Mehrheit derselben aber trägt unverkennbar den Stempel des Ernstes und der Wahrheit, wenn wir auch nicht an die Echtheit des folgenden Inserats glauben wollen: „Eine Dame von Stand mit einer neunzehnjährigen Tochter wünscht diese letztere zu verheirathen. Das junge Mädchen gilt für sehr anziehend und wird bei ihrer Majorennität fünfundzwanzigtausend Pfund Sterling besitzen. Blos mit Herren von hoher gesellschaftlicher Stellung und reichen Mitteln würde man in Unterhandlung treten.“
Kommen wir jetzt zu den männlichen Mitarbeitern unseres originellen Blattes, so ersehen wir zunächst, daß die Geistlichkeit der englischen Kirche kein Bedenken trägt, den nicht mehr ungewöhnlichen, doch nichts weniger als orthodoxen Weg einzuschlagen. Es sind fünfundzwanzig hochehrwürdige und würdige Herren, welche ihrer Heirathslust einen solchen Ausdruck verleihen, die meisten derselben der englischen Hochkirche angehörend, die aus ihrer Neigung zu wohlerzogenen Damen von etwa dreißig Jahren kein Hehl machen; einer davon jedoch, ein Presbyterianer, Freund von Fahren und Reiten, wie er schreibt, von dem seine weiblichen Bekannten meinen, daß er das Muster eines guten und liberalen Ehemannes abgeben werde, trägt sich jedem vernünftigen, gutherzigen und gutaussehenden Frauenzimmer an, welches baare tausend Pfund Sterling besitzt. Dann kommt eine lange Liste von Hauptleuten, Majoren, Obersten und anderen Officieren der in Ostindien stationirten Truppen, die durch Vermittelung unseres hülfreichen Journals das Glück der Ehe zu erlangen streben. Etwas zweifelhafter Natur scheinen uns die Absichten eines jungen Advocaten von „ungewöhnlicher Bildung, verbindlichem Wesen, untadelhaften Manieren und Gewohnheiten, heiterm Temperamente, angenehmem Aeußern und beneidenswerther Lage“ zu sein, dem, wie er noch bemerkt, die Kreise der besten Gesellschaft offen stehen. Jedenfalls ist er kein so echter Artikel wie der Lehrer der Mathematik, der, „im Begriff, sich ein stilles Landhaus einzurichten, sich mit einer der Töchter Mutter Eva’s zu verbinden wünscht, zum Glück oder Unglück, wie es das Schicksal eben mit sich bringt“; oder wie jener „stattliche Lehrer von ausgezeichneter Gestalt und warmen Gefühlen“, dem sich die Gelegenheit bietet, eine einträgliche Schule zu gründen, und der deshalb eine Dame von guter Erziehung und einigen Mitteln sucht, welche bereit wäre, ihm in diesem Unternehmen beizustehen. Drei Aerzte von guter Praxis und sechs Chirurgen bilden das Corps der Jünger Aesculap’s, die durch das Blatt den Hafen eigener Häuslichkeit zu gewinnen trachten. Die Kunst wird durch ein einziges Individuum und die Literatur durch einen fünf Fuß neun Zoll hohen Herrn mit schwarzem Haar und Bart vertreten, der ein Wochenblatt in einem dreißig Meilen von London entfernten interessanten Bezirke redigirt und von dieser Stelle ein jährliches Einkommen von hundertzwanzig Pfund Sterling bezieht; zum Mitgenusse dieser Situation und Würde sucht er jetzt eine „schöne Dame von Verstand, Bildung und Mitteln, die an ihm einen Mann finden würde, welcher ihre Verdienste vollkommen zu würdigen im Stande ist.“
Für Damen von landwirthschaftlicher Geistesrichtung bieten sich fünf Gutsbesitzer dar und drei einfache Pächter. Von Kaufleuten [615] führt unsere Liste die Zahl von dreiundzwanzig auf. Vier Ingenieure, neunzehn Gewerbetreibende, einige Commis, ein Manufacturist, ein Geschäftsreisender, drei „respectable“ junge Männer äußern in ganz klaren, geschäftsmäßigen Worten, was für Frauen sie begehren. Selbst zwei englische Lords bieten sich auf unserm Ehemarkte feil, beide „in ihren besten Jahren“, der eine „zwischen fünfzig und sechszig“, der zweite „genau fünfundfünfzig alt“. Der Letztere denkt offenbar, daß dieses Alter ihm nachgesehen wird, da er viertausend Pfund jährliche Einkünfte besitzt und seiner Wittwe, so lange sie lebt, des Jahres tausend Pfund aussetzen wird.
Unter den zweihundertvierundfünfzig den Ehestand erstrebenden Herren haben nur elf die Süßigkeit desselben schon gekostet. Mit Ausnahme eines einzigen, der sich auf eine Dame „von schmaler Taille und mit hübschem kleinem Fuß“ capricirt, sind diese Wittwer hinsichtlich der zu wünschenden weiblichen Reize nicht so wählerisch wie ihre ledigen Genossen. Diese stellen ihr Licht keineswegs unter den Scheffel. So wünscht unter Anderen „ein römisch-katholischer Herr mit schönem, geistvollem Gesicht, der zehn Jahre jünger aussieht, als er wirklich ist, eine Frau, die jedoch sehr hübsch, von liebevollstem Gemüth, heiterster Laune und nicht unbemittelt sein muß“. Auch Nichtengländer, Deutsche, Franzosen, Russen, Amerikaner u. A., figuriren in ziemlicher Menge unter unseren Ehecandidaten. Ein Amerikaner von einunddreißig Jahren, fünf Fuß sieben Zoll hoch, blond, mit blauen Augen und von guter Familie, mit fünftausend Pfund Geschäftscapital, das ihm jährlich einen Gewinn von fünfzehnhundert Pfund erzielt, möchte sich mit einer jungen englischen Dame zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren, von mittlerer Größe, mit schwarzen Augen und Haaren, von guter Figur, heiterem Gemüthe und einigem Vermögen, in Verbindung setzen; das letztere Moment ist indessen nur ein nebensächliches, vorausgesetzt, daß sie alle die anderen der aufgezählten Erfordernisse besitzt, „jene Eigenschaften, die von allen echten Männern gewürdigt werden.“
Mit diesem uneigennützigen Wunsche des blonden Yankee’s wollen wir unsere Auszüge aus dem Londoner „Organe zur Beförderung häuslicher Glückseligkeit“ beschließen. Wir meinen, sie sind hinreichend, um unsern Lesern darzuthun, wie das genannte Blatt für nur drei Pence wöchentlich einem längst gefühlten Bedürfnisse abhilft. Vielleicht regen unsere Mittheilungen auch den deutschen Journalismus zur Nachahmung an; an Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die für ihre Beiträge ohnedem noch bezahlen, dürfte es auch einem deutschen Unternehmen solcher Art sicherlich nicht fehlen.
Zu allen Zeiten ist der Glaube eine Macht gewesen. Er ist es auch noch heute. Gerade diejenigen, welche mit kirchlichen Formen nichts zu thun haben mögen, bekennen sich zu dem festen Glauben, daß die Menschheit in stets vorwärts schreitender Bildung höheren Zielen der Gesittung entgegengeht. Inmitten der unberechenbaren Bereicherung unserer naturwissenschaftlichen Kenntnisse, umgeben von den überraschenden Anwendungen neuer Entdeckungen auf Gewerbe und Volkswirthschaft, empfangen wir die Offenbarungen der niemals rastenden Forschung.
Es ist ein Zeichen unserer Zeit, daß wir Angesichts täglicher, in unser Leben tief einschneidender Verbesserungen und Umwandlungen uns rückhaltlos dem Glauben an den Fortschritt der Menschheit hingeben. Wer vermöchte zu leugnen, daß dieser Glaube eine Macht in der heutigen Gesellschaft ist? daß er den Trägen anspornt, den Ehrgeizigen reizt, den Zweifelnden verstummen läßt und den schlummernden Trieb des Vorwärtsschreitens in minder thatkräftigen Naturen zur Thätigkeit antreibt? Aber dieser an sich wohlthuende Glaube wird zum verderblichen Wahn, wenn er die Gesammtheit der menschlichen Lebensverhältnisse, ohne nähere Unterscheidung naturwissenschaftlicher und sittlicher Verhältnisse, ergreift. Es giebt in der Gegenwart einen Culturwahn, der auf die Nachtseiten unseres Zeitalters hochmüthig herabblickt. Er meint, daß nach dem Gesetze des Fortschreitens Alles von selbst besser werden müsse, daß es keiner menschlichen Anstrengung bedürfe, um die unser sittliches Dasein bedrohenden Gefahren zu beseitigen. Diesem Glauben an die Vortrefflichkeit der Dinge entstammt die träge Macht des bequemen Beharrens, der unthätigen Gleichgültigkeit, einer oft erschreckenden Gefühllosigkeit, aus welcher dann die größten Nichtswürdigkeiten die Bedingungen ihres Daseins und Fortwucherns entnehmen. Es ist Culturwahn, zu glauben, daß die Freiheit der Menschen von selbst komme. Freilich schießen die Aehren der Saatfelder anfangs höher empor, als die Blüthen des Unkrautes. Was würde man aber von dem Landmann sagen, der da meint, das Unkraut werde sich selbst ausrotten, wenn man nur den Weizen ungehindert emporwachsen lasse? Aus dem sittlichen Culturwahn der Gegenwart und seinen Uebertreibungen entspringt die Gleichgültigkeit, mit welcher die heutige Welt den Rückfällen in die Barbarei zuschaut. Solche Rückfälle ereignen sich gleichwohl täglich, trotz aller naturwissenschaftlichen Fortschritte. Die Epoche der Religionszwiste, des Glaubenshasses, der Verfolgungssucht, die wir für immer beseitigt wähnten, erneuert sich vor unsern Augen. Eigenthum und Familie, die wir als gesicherte Güter unserer Vergangenheit betrachteten, werden von der durch Genußsucht aufgestachelten Menge von nun an in Frage gestellt. Und umgekehrt, die Heiligkeit der menschlichen Arbeit verfällt der Verachtung derer, welche glauben, durch Börsenspiel im Umsehen reich werden zu können. Meinten wir nicht, der Sclaverei sei mit dem Siege der nordamerikanischen Union endlich ihre Grabesstätte bereitet worden? Kaum verschwindet an den Gestaden des atlantischen Oceans der Negerhandel, da verpestet die Ufer des stillen Meeres der nichtswürdigste Menschenschacher. Wir sind Zeuge eines Rückfalles in die Sclaverei, deren Opfer der asiatische Kuli ist.
Fragt euren Nachbar, ob er etwas von den Kuli’s gehört habe, ob ihn ihr Schicksal bekümmere? Ich wette darauf, daß Jeder, der eine Zeitung liest, irgendwo einmal auf den Kuli gestoßen sein muß. Aber ebenso sicher bin ich, daß die meisten der Zeitungsleser sich dabei keinen Augenblick des Nachdenkens gönnen, sondern auf ihrer Wanderung durch die Zeitungsspalten sich gleich dem Reisenden, der auf dem Eilzuge durch unfruchtbare Gegenden fliegt, in eine Ecke werfen, ohne nach dem Namen der Station zu fragen, an welcher sie einige Minuten halten. Die wenigsten achten es der Mühe werth, zu fragen, welche Bewandtniß es mit den Kuli’s habe. Es geht sie nichts an, so meinen sie, ich denke aber, daß es hohe Zeit ist, sich mit dem Kuli zu beschäftigen, denn sein Schicksal belehrt auch uns über die uns bedrohenden Gefahren jenes giftigen Unkrautes, das wir Culturwahn genannt haben.
Zuvorderst also: der Kuli ist eine Menschengestalt, welche als Waare verhandelt wird.
Das Aufkommen des Kulihandels steht mit der Abschaffung der Negersclaverei in einem unleugbaren Zusammenhange. Sobald die afrikanische Bezugsquelle spärlicher floß, wendete der Scharfsinn des menschlichen Eigennutzes sich andern Himmelsgegenden zu. Spanische Ansiedler des sechszehnten Jahrhunderts waren die ersten, welche Negersclaven nach ihren indischen Besitzungen brachten. Republikanische Abkömmlinge dieser Spanier in Peru waren auch die ersten, welche Kuli’s (das heißt Handarbeiter niederen Ranges) nach dem östlichen Gestade des stillen Oceans schleppten. Aeußerlich wirkten hierbei zwei Thatsachen zusammen: die im Anfange des vierten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts erfolgte Freigebung der bis dahin gehemmten chinesischen Auswanderung und die Abschaffung der Negersclaverei in Peru unter Castilla’s Präsidentschaft. Allmählich verbreitete sich, einer Seuche gleich, das von Peru gegebene Beispiel über andere tropische und subtropische Länder, insbesondere die Antillen, Centralamerika, Guyana, Australien. Unter dem Namen der Auswanderung chinesischer Arbeiter auf Grund von Passagevorschuß und Dienstvertrag bildete sich nach und nach ein in allen Einzelheiten sorgfältig ausgebildetes [616] System des Menschenfanges, bei welchem alle Erfahrungen der geschicktesten kaufmännischen Technik und des Rhedereigewerbes mit Betrug, Hinterlist, Gewaltthätigkeit, Raub und Mord so innig zusammengewoben sind, daß die Opfer der Gewinnsucht gleichsam in den Schlingen der Gesetzesparagraphen selbst erdrosselt werden.
Das Verfahren in der Hauptsache ist bekannt. Der wichtigste Stapelplatz für den Handel in frischem Menschenfleische ist die an der Mündung des Cantonflusses gelegene altportugiesische Besitzung von Macao, der Freihafen aller denkbaren Nichtswürdigkeiten. Seit 1847, wo die ersten Auswanderungsschiffe von dort ausliefen, ist das Geschäft in fortwährendem Aufblühen zu kaum glaublicher Ausdehnung emporgeschwollen. Das alte Muster des „Auswanderungscontractes“ war in der Kürze dieses: Freie Ueberfahrt nach den amerikanischen Arbeitsmärken; als Gegenleistung die Verpflichtung, acht Jahre lang gegen einen geringen Lohn (monatlich nicht ganz sechs Thaler) zu arbeiten, Ueberlassung der Auswanderer nach der Ankunft in Amerika an den Meistbietenden. Mit anderen Worten: Der Auswanderer verpflichtet sich nicht einem bestimmten Herrn und Arbeitsgeber, sondern degradirt sich selbst in allen Formen eines Vertrages zu einer Sache, die auf den Mark gebracht und etwa wie ein Ballen Rinderhäute je nach der Conjunctur theurer oder billiger öffentlich versteigert wird.
Das schlimmste Schicksal traf Diejenigen, welche auf den peruvianischen Chinchas-Inseln mit der Gewinnung des Guano zu Tode gepeinigt wurden. Auch das Wort Guano mahnt uns an gewisse Formen des Culturwahns. Bildet man sich nicht ein, daß vor hundert Jahren die Folter unter christlichen Nationen abgeschafft wurde? Freilich wohl dem Namen nach gegen verstockte Diebe und Gauner. Was aber in der Republik Peru „freigeworbene“ Kulis auf den Guano-Inseln auszustehen haben, würde Dante, hätte er dergleichen gekannt, für seine Schilderungen der Hölle verwerthet haben. Beneidenswerth im Verhältnisse zu den Qualen dieser Chinesen war das Schicksal Derer, welche etwa vor hundert Jahren in einsamen Folterkammern die Daumschrauben und „spanischen Stiefel“ oder den „gespickten Hafen“ und ähnliche Marterwerkzeuge kennen lernten. Bereits 1860 rechnete man, daß von viertausend auf den Guano-Inseln gelandeten Arbeitern nicht ein einziger am Leben geblieben war.
Je weniger das Schicksal chinesischer Auswanderer in der Gegenwart verborgen bleibt, je weniger es zur Nachahmung im Reiche der Mitte ermuthigen konnte, desto planmäßiger mußten die Mittel des Menschenfanges in Macao ausgebildet werden. Der Reihe nach entstanden jene zahlreichen „Barrakuns“ oder Sclavendepôts, in denen die chinesischen Kulis in der Zwischenzeit zwischen ihrer Anwerbung und ihrer Einschiffung wie in einer Vorrathskammer aufgespeichert wurden. Sobald der Kuli das sorgfältig bewachte und vergitterte Eingangsthor passirt hat, öffnet es sich nur noch einmal für ihn, wenn er an Bord des Schiffes in die Heerde seiner Leidensgefährten getrieben wird.
Nach allen Regeln anderer Arbeitstheilung betrieben, zerfällt der Kulihandel in mehrere eng ineinander greifende Geschäftszweige. Der erste in der Reihe der Gauner ist der chinesische Auswanderungsagent, welcher seine Kopfgelder für jedes „Stück“ empfängt. Unter ihm arbeiten, von ihm angewiesen und angelernt, Menschen, die man den Abschaum der chinesischen Betrüger nennen kann. Sie benutzen in öffentlichen Localen die Uebereilung des verzweifelnden Glückspielers, den sie zur Rettung des Verlorenen anspornen, seinen Leib gegen eine Summe Geldes auszuwürfeln. Der Leichtsinnige, der von ihnen zur Ausschweifung und zum Trunke verlockt wurde, bezahlt die Schulden einer einzigen Nacht mit der Unterschrift, die ihm seine Freiheit, sein Leben kosten wird. Nichts ahnende Handwerker oder Bauern werden unter betrügerischen Vorspiegelungen eingefangen, öfter aber durch unternehmende Seeräuberzüge geraubt und fortgeschleppt. Niemand in den südchinesischen Küstengegenden ist gegen solche Gewaltthat geschützt. Selbst der Verrath spielt seine Rolle, indem er persönliche Feinde dem Menschenhändler überliefert. Alle diese Frevelthaten, obwohl in jenem Himmelsstriche weltbekannt, geschehen in den täuschenden Formen des Rechts. Chinesische Mandarinen beziehen ihre Procente und der portugiesische Procurator, der in Macao die Auswanderungsschiffe mustert, findet bei seinen Revisionen Alles „vorschriftsmäßig“. Die Gesammtkosten für Anwerbung und Transportirung eines Kuli nach Westindien beziffern sich auf etwa dreihundertundsieben Thaler. Nimmt man, wie Sachverständige rechnen, den Reinertrag des Geschäfts für jeden Kuli auf einhundert Procent des Capitals an, so wird man anerkennen: diese Speculanten in Macao und Canton haben allen Anspruch darauf – „Gründer“ eines Vermögens genannt zu werden.
Den Portugiesen gesellten sich alsbald, durch so große Erträgnisse angelockt, andere Nationalitäten zu. Die englisch-französischen Verträge von 1860 stipuliren von China die „Freiheit der Auswanderung“. Seit jener Zeit ist ein englisches und ein französisches Auswanderungsbureau in Canton eröffnet worden.
Wie es den Kulis auf dem Transporte ergeht, darüber sind von Zeit zu Zeit Nachrichten in die Oeffentlichkeit gedrungen, deren Wirkung eine nachhaltige sein würde, wenn sie in gebührender Ordnung und in ihrem Zusammenhange gelesen und gewürdigt werden könnten. In kleinen Notizen zerstreut, entgehen sie aber der nachhaltigen Aufmerksamkeit; sie verfallen dem Schicksale der Vergessenheit mit dem Verschwinden der Zeitungsnummer, die sie gebracht hatte. Höchst werthvolle Mittheilungen enthalten aber die englischen Parlamentsberichte, welche diesem Gegenstande gewidmet sind. Ob sie Alles sagen? – wer weiß es! Mehr als die Wiederholung solcher Schreckensberichte bedeutet vielleicht die statistische Ziffer. In dem zwanzigjährigen Zwischenraume zwischen 1847 und 1866 sind allein nach Cuba 211 Fahrzeuge mit 85,768 Kulis verschifft worden. Verstorben unterwegs 11,209!! Wie viele später an Krankheiten und an Selbstmord in kurzer Zeit nach ihrer Ausschiffung endeten, bleibt dunkel. Jedenfalls behält der Chinese nach seiner Landung kaum eine Hoffnung, seine Heimat wiederzusehen. Ein spanisches Gesetz aus dem Jahre 1860 verbot den Aufenthalt freier Chinesen auf Cuba; wer nach Ablauf seines achtjährigen Arbeitscontractes die Rückfahrt nicht zu bezahlen vermag, hat nur die eine Möglichkeit, sich wiederum für acht weitere Jahre zu verdingen, und so fort. Begreiflich ist es, daß die Chinesen in ihrer Sprache das Kulitransportgeschäft „Schweinehandel“ nennen.
Die englischen Richter in Hongkong haben zu wiederholten Malen öffentlich in ihren Urtheilen ausgesprochen, daß das Kuligeschäft seiner ganzen Natur nach nichts anderes sein kann als Sclavenhandel und daß alle sogenannten „Regulative“ zur Beaufsichtigung dieses Gewerbes wirkungslos bleiben. Jenen Richtern gereichte es zur besonderen Ehre, in dem oft genannten Proceß Kwok-a-Sing einen chinesischen Kuli freigesprochen zu haben von der Anklage des Todtschlags und der Meuterei gegen den Capitain eines Kulischiffes. Es wurde angenommen, daß unter den obwaltenden Umständen gewaltsame Befreiungsversuche auf hoher See nur als berechtigte Nothwehr angesehen werden könnten.
Und wie oft werden derartige Versuche unternommen! Unterliegen die empörten Kulis der meistens trefflich bewaffneten Schiffsmannschaft, so ist das Schicksal der Ueberlebenden um so schrecklicher. Behalten die Kulis die Oberhand, so schonen sie nur das Leben derer, welche erforderlich sind, das Schiff in den nächsten chinesischen Hafen zurückzusteuern.
Eine etwas veränderte Gestalt zeigt der Menschenhandel in der Südsee. Dort fehlen mancherlei Rücksichten, die an den Küsten Chinas genommen werden müssen. Roher und gewaltsamer vermag der Menschenfänger der Südsee zu verfahren. Auf dem unermeßlichen Seegebiet Polynesiens (Australien) ist eine Ueberwachung so gut wie unmöglich. Tiefer ist der Bildungsstand der zum staatlichen Leben noch nicht vorgeschrittenen Insulaner. Die hauptsächlichsten Ansatzpunkte für den „schwarzen Vogelfang“ sind die nördlichste der englischen Austral-Colonien, Queensland, die französischen Besitzungen von Neu-Caledonien und die Fidschi-Inseln, auf denen sich neben der eingeborenen Bevölkerung in den letzten Jahren zahlreiche Engländer und Franzosen niederließen, um unter König Kakoban’s constitutioneller Regierung ihre Geldbeutel möglichst schnell zu füllen. Was zur Abstellung der scheußlichsten Verbrechen des Menschenfangs bisher von der englischen Colonialregierung oder von der Marine unternommen wurde, hat sich als eitle Spiegelfechterei erwiesen.
Das Verfahren, das beim Einfangen der polynesischen Kulis beobachtet wird, ist in der Regel dieses: Sobald in der Nähe der Insel ein fremdes Schiff vor Anker geht, finden sich die Eingeborenen auf ihren Booten ein, um Tauschhandel zu treiben. [617] Ist dies geschehen, so werden durch allerlei Veranstaltungen die Eingeborenen entweder auf das Verdeck gelockt, wozu man als Lockvögel einige Farbige mit sich führt, und alsdann eingefangen. Oder die Boote der Eingeborenen werden von der Schiffsbesatzung mittelst sorgfältig vorbereiteter Veranstaltung zum Umschlagen gebracht. Die alsdann Schwimmenden werden durch Schrotschüsse leicht verwundet oder mit Schlingen so lange gewürgt, auch mit Keulenschlägen betäubt, bis man sie an Bord gebracht hat. Einzelne Menschenfänger verkleiden sich als Missionare, vertheilen werthlose Kleinigkeiten, stimmen fromme Gesänge an und täuschen dadurch die arglosen Insulaner. Ist die Ladung ausreichend, so werden die Eingefangenen durch Zwangsmittel aller Art belehrt, mittelst Aufhebung mehrerer Finger und Hersagens einer entsprechenden Ziffer, beispielsweise „drei“ oder „vier“, die Anzahl von Jahren auszudrücken, für welche sie sich freiwillig verdungen haben. Sobald alsdann der revidirende Consul in einem englischen Hafen die Eingefangenen mustert und besichtigt, verfahren diese „vorschriftmäßig“ nach der ihnen gewordenen Dressur; Alles wird amtlich in Ordnung befunden und das Geschäft ist besorgt. Es ist unvermeidlich, daß auch in der Südsee von den Eingefangenen Befreiungsversuche mit meistentheils unglücklichem und blutigem Ausgange unternommen werden.
Den besten Aufschluß über den Hergang der Sache bietet die Geschichte des Piratenschiffes „Karl“ und der Strafprozeß, welcher im Herbste 1872 theils in Sydney, theils in Melbourne gegen die Schuldigen verhandelt wurde. Zwei der Betheiligten, darunter der Capitain Armstrong, wurden in Sydney zum Tode verurtheilt; der Hauptschuldige, der Eigenthümer des Schiffes, ein Doctor der Medicin, blieb unverfolgt, nachdem er sich in seiner Eigenschaft als Denunciant die Straflosigkeit als „Königszeuge“ durch einen englischen Consul hatte versprechen lassen. Dr. James Patrick Murray, so hieß der Nichtswürdige, segelte im Juni 1871 mit dem „Karl“ nach Leonka auf den Fidschi-Inseln, wechselte dort aus Vorsicht die Schiffsbesatzung und begab sich auf zwei Unternehmungen oder Geschäftsreisen. Auf einer dieser Reisen brach unter den geraubten Insulanern ein Aufstand aus. Sie bemächtigten sich einiger Pfähle von Schiffsplanken, gingen ihren Peinigern zu Leibe, wurden aber durch den Gebrauch der Schußwaffen in ihren Käfig unter Deck zurückgetrieben und hier eingenagelt. Nicht nur die zahlreichen Todten wurden den Wellen preisgegeben, sondern auch sechszehn Schwerverwundete, an Händen und Füßen geknebelt, über Bord geworfen und gleich neugeborenen Katzen ersäuft.
Während die bereits Ueberwundenen eingesperrt waren, ließ Dr. Murray durch den Schiffszimmermann ein zollgroßes Loch durch die Planken bohren. In aller Bequemlichkeit und ungesehen feuerte er durch diese Oeffnung seine Revolverkugeln unter den in der Dunkelheit zusammengeballten Menschenknäuel. Fünfunddreißig Todte wurden später über Bord geworfen. Die Ueberlebenden, bei ihrer Ankunft im Ausschiffungshafen gemustert, erklärten, in üblicher Weise auf drei Jahre contractlich gemietet zu sein, und wurden „durch die inspicirenden Behörden“ sämmtlich in gehöriger Ordnung befunden. Dr. Murray behielt seinen Geschäftsgewinn. Ein Mitglied der gesetzgebenden Versammlung von Adelaide in Südaustralien, Herr Blackmore, berichtete in englischen Journalen über diesen Fall mit dem Bemerken, daß alle erdenklichen Maßregeln der Aufsicht vergeblich sein würden und daß es nur ein einziges wirksames Mittel gebe: völliges, absolutes Verbot der Menscheneinfuhr. Vergleicht man Murray’s That mit derjenigen der fürchterlichsten Verbrecher, so wird man sagen dürfen, Traupmann’s Mordthat, durch welche ganz Europa erschüttert wurde, sei doch ein Kinderspiel gewesen gegenüber der teuflischen Bosheit, welche aus sicherem Hinterhalt durch ein Loch zum Vergnügen in wehrlose Menschenhaufen hineinfeuert und Schwerverwundete hinterher in die See werfen läßt. Daß die aufgebrachten Südseeinsulaner von Zeit zu Zeit an irgend einem beliebigen Weißen einen Act der Blutrache vollziehen, ist nicht zu verwundern. Bischof Patterson fiel in seiner missionaren Thätigkeit als eines der Opfer für die Schandthaten Anderer. Dieser ausgezeichnete Geistliche bemerkte übrigens aus Anlaß des Menschenfanges, es sei empörend sowohl als lächerlich, von „Arbeitscontracten“ zu sprechen; keiner der Südseeinsulaner sei im Stande, den Begriff des Contractes zu verstehen.
War der alte Sclavenhandel an den afrikanischen Küsten im Vergleich zu diesen Unternehmungen nicht ein ehrliches Gewerbe? Ich meine, ja! Damals kaufte der Sclavenhändler von einem siegreichen Negerhäuptling die Kriegsgefangenen, die er nach barbarischer Sitte einfach hätte abschlachten können. Dem afrikanischen Sclaven ward durch Ankauf das Leben gerettet. Der asiatische Kulihandel ist nicht blos Gewaltthat, sondern mehr als Barbarei. Es ist jener schnöde, die Formen des Rechts äußerlich nachahmende, aber die Gerechtigkeit schändende Hohn auf die Menschheit, den man zu den schwersten Sünden gegen den heiligen Geist zu zählen hat.
Den Negerhandel nach Amerika haben die Staatsverträge unterdrückt. Eben jetzt versucht man, den Negerhandel nach Asien von der afrikanischen Ostküste abzuschneiden. Und den Kulihandel sollte das neunzehnte Jahrhundert nicht als eine Schmach empfinden? Ihr Kirchenfreunde sendet Missionen unter halbnackte Wilde, um sie mit der christlichen Dogmatik und dem Katechismus bekannt zu machen. Aber Ihr schweigt dazu, wenn christliche Regierungen durch ihre Duldung jene Verbrechen ermuthigen, ohne welche der Kulihandel nicht denkbar ist. Sendet vor allem Andern die Boten der christlichen Liebe in die Hauptstadt von Portugal und unter die Pflanzer von Cuba, nach Lima oder Demerara! Ihr Quäker und Volksbeglücker haltet Friedenscongresse, um den Krieg zu brandmarken, der für die heiligsten Interessen einer Nation geführt wird, obwohl er die Culturvölker doch immer nur als schnell vorübergehende Geißel bedroht. Bedenkt doch, daß Ihr erst die Gesinnungen ausrotten müßt, aus denen der Kulihandel hervorgeht, ehe Ihr von dem Anrecht der Menschheit auf friedliche Gesittung sprechen dürft. Ihr Kaufherren redet von der nach Ostasien mächtig fortschreitenden europäischen Cultur. Bedenket, daß Ihr in den Augen der Chinesen nicht viel mehr geltet, denn als Opiumhändler und Menschenräuber. Ihr Freihändler lasset den Russen die Ehre, in China die Sclaverei abzuschaffen, und bemüht Euch darzuthun, daß die Nothwendigkeit, für Eure Felder Guano herbeizuschaffen oder aus Demerara und Westindien Zucker zu importiren, die Sclaverei der Kuli’s erfordert! Werdet Ihr vielleicht auch beweisen, daß die volkswirthschaftlich ungehinderte Bewegung des Seehandels jede Einmischung in das Transportgeschäft der Kulischiffe verbietet und daß die Ueberführung der Kuli’s durch den stillen Ocean nichts Anderes ist, als eine Art der Freizügigkeit zwischen Ostasien und Amerika?
Die englische Regierung war bisher die einzige, welche, die Wucht schwerer Anschuldigungen fühlend, einige schwächliche, völlig unzureichende Versuche machte, dem Unwesen des Kulihandels zu steuern. Aber selbst wenn sie thatkräftiger einschreiten wollte, als sie unter dem Banne colonialer Interessen thun wird, immer wäre sie außer Stande, allein ohne Uebereinstimmung mit den übrigen Mächten zum Ziele zu gelangen.
Die beiden Großstaaten, welche wirthschaftlich am Kulihandel am wenigsten interessirt sind, Deutschland und die nordamerikanische Union, haben die nächste Aufgabe, für die Rechte der Menschheit mit ihrem Einflusse einzutreten. Wir haben keine Colonie zu versorgen, keine Pflanzer zu schonen, keinen Widerspruch aus unserer Mitte zu befürchten. Freilich müssen wir mit Beschämung eingestehen, daß auch die deutsche Handelsflagge mit dem Makel der Antheilnahme an dem schimpflichen Gewerbe behaftet ist. Um so größer ist unsere Verpflichtung, uns von jeder Mitschuld zu reinigen. Es ist die höchste Zeit, daß durch völkerrechtliche Verträge der betrügerischen Ausbeutung ostastatischer Auswanderung ein Ziel gesetzt, daß insbesondere den Portugiesen in Macao das Handwerk gelegt werde. Tritt Deutschland thatkräftig für diese edle Sache ein und begegnet es ernsthaftem Widerspruche bei anderen Mächten, – wohl, so hat es die Beruhigung, daß es sein Gewissen bewahrt hat, während andere Staaten sich selbst an den Pranger der Weltgeschichte stellen. Ich bin meinerseits nicht befähigt, zu entscheiden, ob durch Völkerverträge die Auswanderung der Kuli’s mit hinreichend schützenden Formen umgeben werden kann oder gänzlich zu unterdrücken ist. Aber das weiß ich, daß das jetzige System der Ueberfahrts- und Arbeitsverträge nicht länger geduldet werden darf, wenn irgend eine Gemeinschaft sittlicher Ideen unter den Culturvölkern fortbestehen soll. Auf die Zustimmung der Vereinigten Staaten zu einem gemeinschaftlichen Vorgehen ist um so mehr zu hoffen, als diese [618] durch völlig freie und naturgemäße Einwanderung der Chinesen die etwa fehlenden Arbeitskräfte auf das Leichteste ersetzen können. Ebensowenig bezweifle ich die Mitwirkung der italienischen, österreichischen und russischen Regierung. In anderem Sinne als ehemals ist gegen den Kulihandel unter den osteuropäischen Staaten und Rußland eine heilige Allianz zu schließen. Warten wir ab, ob der Geltung der Menschenrechte von Portugal, Spanien und Peru die Vertröstung auf Guano und Zuckerrohr entgegengesetzt werden wird.
Wie sich die höchsten sittlichen Aufgaben gleichzeitig immer im Verlaufe der Zeiten auch als die nutzbringenden erweisen, so wird in Wahrheit die Abschaffung der neuen mit dem Mißbrauche der Rechtsformen verbrämten „Sclaverei“ dahin führen, daß jene Vorurtheile schwinden, die uns den Weg in das Innere Chinas versperren und welche wir leider angesichts des Kulihandels als unsererseits verschuldet und verdient bezeichnen müssen. Ich glaube nicht, daß der deutsche Reichstag es über sich vermögen wird, die Sache der Kulis als eine unserer Nation gleichgültige von der Hand zu weisen. Er hat ausgesprochen, daß das Privateigenthum des Feindes im Seekriege von habgieriger Wegnahme verschont bleiben sollte, obwohl dies nach dem geltenden Völkerrechte gestattet ist. Und er sollte kein Wort der Rüge und der Theilnahme haben, wenn mitten im Frieden Freiheit, Gesundheit und Arbeitskraft einer mit uns in Frieden lebenden Bevölkerung unter betrügerischen Vorstellungen geschädigt und vernichtet werden? Für die Beobachtung der Sonnenfinsternisse in fernen Zonen, für die Ergründung der Meerestiefen, für die Durchforschung afrikanischer Wüsteneien, für die Erreichung des Nordpols hätte das deutsche Volk Sinn und Verständniß, und der Wiedereinführung der Folter und der Sclaverei im Kulihandel sollte es gleichgültig zuschauen? Belehren wir doch die Pfaffen, die von der Entchristlichung des deutschen Staates so viel faseln, daß wir deswegen eine christliche Nation sind, weil wir den verfolgten Juden Rumäniens beistehen und weil wir die mit Füßen getretenen Rechte der Heiden männlich und entschieden vertheidigen und diese christlichen Pflichten unseren Staatsmännern und Volksvertretern auf das Gewissen zu legen gesonnen sind.
Alljährlich, vom Monat Juni an bis um die Mitte des Monats Juli, wenn die Natur ihre Pracht und Herrlichkeit vor Millionen froher Wesen entfaltet, ziehen paarweise in Haufen von zehn bis zwanzig Personen Männer, Weiber und Kinder barhäuptig laut betend und singend durch die Dörfer der Eifel, um in Heimbach, einem Flecken an der Roer[WS 1] gelegen, ihre Andacht vor dem daselbst aufgestellten, weit und breit berühmten Muttergottesbilde zu verrichten. Stunden- und meilenweit kommen sie daher gewandelt, in der beschäftigtsten Zeit des Jahres, wo der ohnedies so wenig ergiebige Acker eine tüchtige und fortgesetzte Bearbeitung verlangt, manche einer alten Gewohnheit huldigend, andere wieder, um ein gethanes Gelübde zu erfüllen, die Mehrzahl beseelt von frommer Schwärmerei, Neugierde und dem Hange zum Müßiggange. Schaarenweise überfüllen sie die von ihnen passirten Ortschaften, wo Wirthe und Krämer durch Verkaufen von Speisen, Getränken und allerlei zum Haushalt gehörigen Gegenständen an die Wallfahrer die besten Geschäfte machen. Oft finden aber auch diese Züge in Begleitung des Ortsgeistlichen in ganzen Processionen statt, ja, mehrere der letzteren vereinigen sich manchmal, legen ebenfalls fast den ganzen Weg bis zu ihrem Ziele in gedankenloser Andacht, laut betend und singend, zurück und werden in den zwischenliegenden Dörfern mit Glockengeläute und allen möglichen Ostentationen empfangen. In den letzteren schließen sich ihnen dann gewöhnlich immer neue Theilnehmer an, so daß der Haufen zuletzt zu einer nicht unbedeutenden Masse anschwillt.
Der Weg nach Heimbach hin und zurück, teilweise über Chaussee, teilweise durch gebirgiges, bewaldetes und beschwerliches Terrain führend, wird nur zu Fuße abgemacht, und die Meisten gelangen, von der Hitze der Jahreszeit und den Strapazen der weiten Reise angegriffen, in einem schwer zu beschreibenden Zustande der Ermattung an dem Ziele ihrer Sehnsucht an, ja, haben oft wochen- und monatelang nachher an den Folgen ihres unsinnigen Verfahrens zu leiden, was sie aber Alles nicht beachten, weil sie, ihrer beschränkten Ansicht nach, es sich zur Ehre Gottes zugezogen.
Um mir die Sache selbst an der Quelle einmal anzusehen, stieg ich an einem schönen Julimorgen über die Berge, hoffend, noch vor Mittag die vielgepriesene Stätte des Heils zu erreichen. Steil aufwärts schlängelt sich der Pfad über bewaldete Höhen, und nach kaum einer Viertelstunde triefte mir schon der Schweiß in Strömen über Stirne und Wangen herab. Oben angelangt, sieht sich der Wanderer vom schattigen Dunkel eines Buchenwaldes empfangen, das ihn köstlich entschädigt für die eben ausgestandene Mühe beschwerlichen Kletterns. Stärkend und belebend umweht ihn der Odem erfrischender Kühle; ein solches Bad in der mit dem aromatischen Dufte der Kräuter geschwängerten Atmosphäre wirkt jederzeit wohlthuend auf Nerven und Gemüth und läßt uns bald die drückenden Gedanken an die Alltagssorgen vergessen.
Der Morgen war herrlich. Vom wolkenlosen Himmel leuchtete die Sonne mit intensiv warmem Lichte und vergoldete magisch die in saftigem Grün glänzenden Blätter mächtiger Buchenstämme. Der ganze weite Wald wimmelte und lebte von dem rastlosen Treiben seiner Bewohner, und mit dem fröhlichen Gesang und Gezwitscher munterer Vögel mischte sich tausendfach das Zirpen und Summen schillernder Käfer und schwirrender Insecten. Leicht schritt ich durch schattige, dämmerhafte Laubgänge dahin, und als ich um die nächste Lichtung bog, lag das Kloster Mariawald vor meinen Blicken. Es ist dies der letzte vor Heimbach gelegene Ruhepunkt, an welchem die Pilger gewöhnlich Rast zu halten pflegen. Ehemals barg dieses Kloster das Marienbild, von dem es auch den Namen erhalten hat; als aber die Stürme der französischen Revolution auch über diese Gegenden hinbrausten, als das Schwert der Republik mit dröhnendem Schlag an die Pforten der Klöster pochte und die Mönche entflohen, da mochte man das Mirakel hier oben wohl nicht mehr recht sicher glauben und flüchtete es in die im Thale gelegene Kirche von Heimbach, woselbst es bis heute, zum großen Aerger der Mönche des Klosters Mariawald, geblieben ist. Auf schroffem Bergesrücken erbaut, malerisch von Feld, Wiesen und Gehölz umgeben, birgt dieses Kloster in seinem Innern ungefähr dreißig dienende Brüder, die zum Orden der Trappisten gehören. Das Gebäude selbst ist ein alter, ziemlich verwitterter Bau, an dem der Zahn der Zeit schon tüchtig seine Kraft erprobte. Da mir die Gastfreundschaft der Mönche und vermöge meiner Berufsgeschäfte mehrere derselben persönlich bekannt waren, beschloß ich, an diesem Orte des Schweigens auf Augenblicke zu verweilen.
Bei meinem Eintritte in den geräumigen Klosterhof bemerkte ich eine Schaar von Pilgern, die, schon vor mir hier angelangt, in anscheinend ziemlich erschöpftem Zustande um einen großen Brunnen lagerte und Eimer auf Eimer des köstlichsten Wassers aus dessen Tiefe schöpfte, um die schmachtende Zunge zu netzen. Männer und Weiber hatten sich in chaotischem Durcheinander auf der platten Erde niedergelassen und neben sich Kreuze, Laternen und Fahnen an die Mauer gelehnt. An dem hochgeschwungenen Portale empfing mich der mir schon bekannte Pförtner, der von dem Gelübde des Schweigens diesmal durch einen Dispens des Priors entbunden worden war, denn mit freundlichen Worten lud er mich zum Eintreten und zu einem kühlen Labetrunke des köstlichen Bieres ein, das hier an Ort und Stelle gebraut wird.
Durch weite Bogenhallen hindurch am Refectorium vorbei geleitete er mich in das Ansprachszimmer, wo er mich verließ, um mich dem Prior zu melden. Ich war allein und hatte Muße, die ziemlich kahle Ausstattung des Zimmers zu mustern, das außer einigen massiven alterthümlich aussehenden Stühlen, einem Tische von ähnlicher Façon und einigen an den nackten Wänden hängenden werthlosen Heiligenbildern nichts Bemerkenswerthes bot.
[619][620] Der Prior begrüßte mich bald darauf. Sein Gesicht trug den ausgeprägtesten Stempel des vollendeten Asceten; die scharfgeschnittenen Züge verriethen Intelligenz und Strenge zugleich, und mit lauerndem Blicke musterte er meine ihm noch unbekannte Persönlichkeit. Im Laufe des Gespräches wurde er ziemlich mittheilsam und gab mir bereitwillig erwünschte Auskunft.
Das Kloster besteht nach den in Preußen geltenden Gesetzen als solches eigentlich nicht, ist vielmehr als eingetragene Genossenschaft angemeldet, deren Mitglieder zum Prior wie die Knechte auf jedem Bauernhofe zum Herrn in dienendem Verhältnisse stehen. Es ist dies nur eine Beobachtung kluger Vorsicht, eine leere Form zur Umgehung des Staatsgesetzes, da in Wirklichkeit sämmtliche Ordensbrüder einen Zweig des noch heute in Frankreich existirenden ausgedehnten Ordens der Trappisten bilden und die genaue Observanz der strengen Regeln dieser Congregation zu halten verpflichtet sind. Diese Regeln, aus einer Verschmelzung und Verschärfung der Gebote und Gelübde der Benedictiner und Cisterzienser hervorgegangen, legen jedem Mitgliede ewiges Schweigen auf, das zu brechen nur auf vorherige Erlaubniß des Priors in seltenen Fällen gestattet wird.
Die Nahrung der Mönche besteht in Kräutern, Gemüsen und Wasser, dann und wann in einem Zusatze von Bier, das, wie ich schon bemerkte, von ihnen selbst bereitet wird. Fleisch, Wein und andere geistige Getränke sind ihnen gänzlich untersagt; nicht einmal bei der Zubereitung der Gemüse dürfen sie sich irgend einer Art von Fett bedienen. Die Kleidung besteht bei den Laienbrüdern in einer groben dunkelbraunen, mit einer beweglichen Kapuze versehenen Kutte, die um die Lenden durch einen Strick zusammengehalten wird und worin sie, dieselbe auf dem bloßen Leibe tragend, Sommers und Winters arbeiten und schlafen. Die ordinierten Priester, die auch Messe lesen dürfen, sowie auch der Prior, tragen dieselbe Kutte, jedoch feiner gewebt und in weißer Farbe; alle ohne Ausnahme gehen in Holzschuhen. Sie stehen zu jeder Jahreszeit um zwei Uhr Morgens auf, beten eine ziemlich lange Zeit und bringen die übrigen Stunden des Tages bei harter ihnen bestimmt angewiesener Arbeit, der sich selbst der Prior und die übrigen Priester unterziehen, schweigend zu; meistens besteht diese Arbeit in der Urbarmachung, Aufbesserung und Bearbeitung der umliegenden Ländereien; doch da unter ihnen fast alle Handwerkerstände vertreten sind, so wird auch zur Ausführung der in’s technische Fach einschlagenden Verrichtungen selten ein Fremder zugezogen, und der Prior versicherte mich, daß Alles bis in’s Kleinste hinein, sogar die Anfertigung der Kleidungsstücke, von ihnen allein und selbstständig betrieben würde, wobei ich gestehen muß, daß Brod, Butter und Bier, die man mir vorsetzte, ihren Zubereitern alle Ehre machten.
Krankheiten kommen, was bei einer so diätetischen Lebensweise natürlich ist, selten unter ihnen vor; die meisten Todesfälle betreffen den Zeitabschnitt des Lebens zwischen zwanzig bis dreißig Jahren; hat sich aber der Körper einmal an die ihm auferlegte strenge Behandlung gewöhnt, so erreichen viele von den Mönchen, erprobt in Mäßigkeit und Abhärtung, ein hohes Alter, zu dessen Erreichung aber auch nicht wenig das an solchen Orten weit häufigere Verschwinden der Leidenschaften, die Ruhe und Ergebenheit des Gemüthes beitragen mögen.
Daß die Trappisten jeden Abend an der Herstellung ihrer Gräber arbeiten und dabei das sprüchwörtlich gewordene memento mori murmeln, bestritt der Prior ganz entschieden. Ihr ganzes Leben ist aber eine ununterbrochene Kette von Gebet, schwerer Arbeit und harten Bußübungen, der Tod der vornehmlichste Gegenstand ihrer Betrachtungen, und indem sie, abgeschlossen von der Welt, allen Freuden der Welt entsagen, die Zunge nur zum Lobe Gottes gebrauchen zu dürfen wähnen, geben sie, frömmelnder Beschaulichkeit nachhängend, in sclavischer Unterwürfigkeit und knechtischem Gehorsam gegen ihre Oberen verharrend, das Beispiel einer Classe von Menschen, deren Thun und Treiben nothwendig alles edlere Gefühl im Menschen ersticken und ertödten muß. Wahrhaft peinlich berührte es mich jedes Mal, wenn ich sie die geringste Erlaubniß vom Prior knieend erbitten sah. Wie mir der Letztere versicherte, rekrutiert sich die Gesellschaft der Mehrzahl der dienenden Brüder nach aus Oesterreich. Wie Mancher unter ihnen mag vor seinem Eintritt in’s Kloster ein bewegtes Leben geführt haben; beruht es doch auf der durch die Erfahrung bewiesenen Thatsache, daß getäuschte Hoffnungen, Unglücksfälle, gedemüthigter Ehrgeiz, in Ausschweifung verbrachte Jugend die Haupttriebmittel sind, die das Individuum dazu vermögen, solche der Abgeschlossenheit von der Welt und kränkelnder Frömmelei geweihte Orte als letzte Zufluchtsstätte, wo es den Verlockungen des Lebens entflohen zu sein wähnt, auszuwählen. Beim Eintritt in’s Kloster bringt Jeder demselben seine ganze Habe als Eigenthum zu; doch ist es auch jedem Einzelnen freigestellt, vor erfüllter Probezeit den Orden ebenso zu verlassen, wie er gekommen ist. Die Probezeit selbst ist, wie ja überhaupt der ganze Dienst, hart und anstrengend, doch versicherte mir der Prior, daß schwerer als die strengsten Bußübungen und die größte Enthaltsamkeit von den Meisten die Beobachtung fortwährenden Schweigens empfunden werde, zu welcher Behauptung er mir den sprechendsten Commentar lieferte.
Mit meinem besten Danke gegen den Aufschlußgeber schied ich von demselben, froh, die Mauern des düsteren Gebäudes hinter mir zu haben und wieder freier in Gottes schöner Natur zu athmen, einem Kreise von Menschen entrückt, die, anstatt sich als nützliche Glieder der Gesellschaft mitten im vollen Leben, in der großen Kette der Menschheit helfend und fördernd zu bewegen, in thörichter Verblendung ein verwerfliches Dasein führen und durch strenge Abgeschlossenheit, mystisches Formenwesen, durch Mißachtung des Höchsten, was uns vor der unvernünftigen Creatur verliehen wurde, durch Verstümmelung der Sprache, ihrem Schöpfer angenehm zu sein wähnen. –
Der Weg vom Kloster Mariawald nach Heimbach, sich immer bergab ziehend, läuft dicht am Abhange eines Berges an üppigen Wiesen und anmuthigen Fruchtfeldern vorbei, und plötzlich, ehe der Wanderer sich dessen noch versieht, liegt Heimbach, rings vom Gebirge umschlossen, wie in einem Kessel tief unten zu seinen Füßen. Bei meinem Eintritt in den Ort drängte und schob sich auf den Straßen desselben eine unglaubliche Menge von Menschen, so daß man häufig seine liebe Noth hatte, sich ungestoßen durch den Knäuel hindurch zu arbeiten. Alle Wirthshäuser und die meisten Privatwohnungen waren überfüllt, so daß man mit Mühe ein Unterkommen fand; Männer, Weiber und Kinder flutheten bunt durcheinander und boten, aus allen möglichen Orten der Eifel zusammengeworfen, dem Auge ein Bild der sonderbarsten Trachten und Moden dar. Procession nach Procession, von der manche meilenweite Strecken Weges zurückgelegt hatte, bewegte sich, Hymnen singend und Gebete murmelnd, zu dem in der Mitte des Fleckens stehenden reich bekränzten Kreuze, einem der primitivsten in seiner Art, um dort gemeinschaftlich die Andacht zu verrichten; wenigstens elf derselben sah ich in kurzem Zeitraume an mir vorüberziehen.
Unterdeß läutete es zur Kirche, die in ihrem Schooße das weit und breit berühmte Mirakel birgt und, obgleich dieselbe räumlich eine ziemliche Ausdehnung hat, doch kaum zur Hälfte die Anzahl der Seelen zu fassen vermochte, die sich mit gläubigem Verlangen zu ihr hindrängten, während die andere Hälfte, rund um das Gebäude gelagert, noch weit bis in die angrenzenden Straßen und Plätze hineinfluthete und dort während der ganzen Dauer des Gottesdienstes in knieender Stellung unter dem heißen Brande der Julisonne betend verharrte. An den Thüren des Gotteshauses waren große Placate angeheftet, die allen Wallfahrern, natürlich gegen Hinterlegung eines angemessenen Opfergeldes und nach Ableierung der vorgeschriebenen Anzahl von Gebeten, reichlichen Ablaß versprachen. Daß der Ortsgeistliche dabei nicht am schlechtesten wegkommt, versicherten mir einige Einwohner selbst, indem sie mir mittheilten, wie derselbe zur Zeit der Wallfahrt oft ganze Taschen voll Münze zu seiner Wohnung trage, und daß dies einen nicht unbeträchtlichen Zusatz zu seinem Gehalte ausmache, was bei der bedeutenden Menschenmenge, die an diesen Tagen in Heimbach verweilt, auch eben nicht allzu unglaublich klingt, da diese Menge doch oft so zahlreich ist, daß, wie mir ebenfalls Einwohner versicherten, es vorkommt, daß zwölf assistirende Geistliche bis spät in die Nacht hinein in Activität sind, um die sich zum Beichtstuhle Drängenden zu absolviren. Mag dieses größtentheils dem gemeinen unbemittelten Manne entlockte Geld auch fließen, wohin es will, jedenfalls verdient eine solche auf Kosten der religiösen Dummheit und Leichtgläubigkeit in Scene gesetzte Besteuerung des Geldbeutels des blöden Haufens keine andere Bezeichnung, als diejenige ist, welche man jenen Erpressungen beilegte, deren sich Tetzel im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts theilhaftig machte.
[621] Am Nachmittage, nach beendigtem Gottesdienste, besuchte auch ich unter Begleitung des Küsters die Kirche, um mir den Gegenstand, der eine so starke Anziehungskraft auf die Gemüther Vieler ausübt, näher zu beschauen. Das Innere des Gotteshauses ist ziemlich geräumig, eben nicht allzu sehr überladen, und trägt den allgemein bekannten Charakter katholischer Kirchen zur Schau. Durch das Mittelschiff schreitend, gelangt man direct zum Hochaltare, der von zwei Seitenaltären zur Rechten und Linken eingefaßt wird. Der linke Seitenaltar birgt das gesuchte Marienbild, das eine höchst einfache, buntbekleidete Figur der Mutter Gottes, ungefähr zwei Fuß hoch, mit einer Krone auf dem Haupte, den todten Christus im Schooße haltend, sitzend darstellt. Das also war der Magnet, der seit Decennien die Kraft besaß, alle Jahre einen Strom von Andächtigen, und unter diesen viele selbst den gebildeten Ständen ungehörige, namentlich Damen, zu sich hin zu ziehen! Ich muß gestehen, daß ich meine Erwartungen betreffs seiner doch etwas höher gestellt und, wenn auch kein Kunstwerk im wahren Sinne des Wortes, doch nicht ein so rohgeschnitztes Machwerk zu sehen erwartet hatte, wie man solche täglich in den Jahrmarktsbuden der Kirchweihfeste antreffen kann. Ziemlich enttäuscht verließ ich den Gottestempel und schlenderte nachlässig die Straßen entlang, dem Marktplatze zu, wo sich Bude an Bude lehnte und speculative Krämer sich bemühten, durch Verkaufen von Kreuzchen, Rosenkränzen, Heiligenbildern und Amuletten, die zur Heilung für Gehauene und Gestochene angepriesen wurden, geweihten Kerzen etc. dem blinden Volke die Mutterpfennige noch aus der Tasche zu locken, die ihm die Habsucht des Pfaffen gelassen hatte, was ihnen auf alle Fälle gelingen mußte, da, wie ich bemerkte, die obengenannten Dinge reißenden Absatz fanden.
Wenn man bedenkt: erstens das Quantum von Arbeitskraft, das durch solche Wallfahrten manchen Ortschaften in der beschäftigtsten Zeit des Jahres durch die sich oft wochenlang von Haus und Hof entfernenden, sich nichtsthuend umhertreibenden Bewohner entzogen wird; zweitens die unsinnige, nutzlose, für blödsinnige Zwecke dahingeworfene vermehrte Geldausgabe der Letzteren; drittens die zunehmende Immoralität, die nicht ausbleiben kann, wo sich eine Menge von Menschen beiderlei Geschlechts an einem zum nothdürftigsten Unterkommen bei Weitem nicht Raum genug bietenden Platze aufeinander häuft, und viertens die durch allerhand blödsinniges Zeug und übernatürliches Gaukelspiel genährte Verdummung des Volkes: so kann man nicht länger zaudern, ein berechtigtes Verdammungsurtheil über diese Wallfahrten und ihre Urheber auszusprechen, und muß es lebhaft bedauern, daß solchen Extravaganzen staatlicherseits nicht längst Zaum und Zügel angelegt worden sind.
Der Ort Heimbach selbst, überaus freundlich an der Ruhr gelegen, an deren Ufer sich, weit hinausschauend und eine prächtige Aussicht bietend, die uralten Ruinen einer Ritterburg erheben und der seiner romantischen Lage wegen während der schönen Jahreszeit von vielen Freunden der Natur besucht wird, umfaßt ungefähr fünfzehnhundert Bewohner, die sich meistens von Ackerbau und Viehzucht ernähren, daneben aber allerhand Werkzeuge und Geräthschaften, namentlich Löffel und Stühle, aus Holz verfertigen, die weit und breit ihren Absatz finden. Fast an jeder Thür, an welcher man vorbeigeht, liegen kunstgerecht aufgeschichtet Haufen von viereckig und länglich geschnittenen Bretchen und Täfelchen aus Holz, und aus vielen Häusern tönt uns, von heiterem Flöten und Singen begleitet, Hämmern, Klopfen, Sägen und Schnitzen fleißiger Arbeiter entgegen. Das Dorf mag aber auch keinen kleinen Nutzen aus der wochenlang dorthin pilgernden Menge ziehen, die durch Ankauf von Kleidungsstücken, Nahrungsmitteln und Waaren sicher eine bedeutende Quantität an Geld dort zurück läßt, und man kann es den Heimbachern nicht verargen, wenn sie auf den Fremdenbesuch dieser Art recht gut zu sprechen sind und ihn auf alle mögliche Weise zu heben suchen; zählte ich doch in dem verhältnißmäßig unbedeutenden Orte fünf ansehnliche Ladengeschäfte, die trotz der Concurrenz, welche ihnen die öffentlich im Freien aufgestellten Krambuden machen, anscheinend im besten Flor standen und existenzfähig waren. Das Klima ist hier, wo Alles rings von Bergen eingeschlossen liegt, ein ziemlich mildes. Weizen, Korn, Gerste und Obst gedeihen hier durchschnittlich zu guter Reise und in Fülle.
Am Horizonte zogen schon die Schatten der Abenddämmerung herauf, als ich den freundlichen Ort verließ und, den Berg ersteigend, die Schritte der fernen Heimath entgegen wandte. Angelangt auf der Höhe, blickte ich noch einmal in das tief unter mir liegende Thal hinab, wo, von den scheidenden Strahlen der Sonne begrüßt, die Häuser und umliegenden Bergspitzen in röthlichem Lichte erglühten. Mit prachtvollem Schimmer umgossen, tauchten die Wipfel des nahen Waldes aus einer Fluth goldenem Glanzes empor; die Fenster des über mir liegenden Klosters Mariawald, den feurigen Sonnenstrahl wiederspiegelnd, warfen schimmernde Lichtreflexe zur Erde hinab. Tiefen Frieden, erhabene Ruhe athmete die Natur, während hier oben, wie dort unten ein durch fanatische Verdummungssucht nach Macht und Gewinn ringender Priester irregeleitetes Volk in unbegreiflichem Wahne hinter Mauern und schalem Flitterkram den Gott suchte, der, auch dem Geringsten verständlich, überall sich so herrlich in seinen Werken der Schöpfung offenbart.
(Mit Abbildung, S. 619.)
Es wandelt vom Kloster am Felsenrand
Ein geistlich Paar herab in’s Land.
Sie schauen mit leuchtendem Augenstrahle
Die Kirchlein und Klöster der Höhen und Thale.
Auch der Hütten der Armuth haben sie Acht –
Denn ihr liebster Spruch wie gestern so heute
Ist: „Arme Leute – fromme Leute.“
Da ächzt bergauf ein schwer Gefährt.
Ein Mütterlein alt, ein Weib mit dem Kind,
Ein Mann und ein Bub’ Zugthiere sind.
Gleich öffnet sich der geistliche Mund:
„Gesegn’ Euch der Herr die glückliche Stund’!
„Ihr frei von Eures Nächsten Neid!“
Der Mann, die Noth im Angesicht,
Demüthig lüpft er den Hut und spricht:
„O, bittet für uns die heil’ge Marie,
„Der die Last aufleget, ist Gott der Herr!
„Drum hilft kein Beten, drum hilft nur: Zerr’!“
Da murmelt der Bub’ in zornigem Muth,
Barfüßig, die Feder keck auf dem Hut:
„Und Euch das neidlose Glück verleihn –
„Daß auch Ihr müßt zerren, ihm zur Freude,
„Als arme Leute – fromme Leute!“
Wie dringt des Lichts unaufhaltsamer Schein
Es bohrt und bohrt sich Riß um Riß
Selbst in tirolische Finsterniß! –
„Der Loder“ auf der Bühne. Wie Berliner Zeitungen melden,
ist Herman Schmid’s neueste Novelle „Der Loder“, welche bei den
Lesern der Gartenlaube einstimmigen Beifall erntete, in einer dramatischen
Bearbeitung von Ewers bei übervollem Hause und mit entschiedenem Erfolge
mehrmals im dortigen Belle Alliance-Theater zur Aufführung gekommen.
Man rühmt dem Stücke frische, lebenskräftige Charaktere und eine lebhaft
fortschreitende Handlung nach, Vorzüge, welche die Bearbeitung theilweise
aus der Novelle bereits fertig herüber genommen hat. Die „Volkszeitung“
bezeichnet diesen „Loder“ als eines der besten Volksstücke der
Neuzeit. Neben dieser einzig berechtigten Dramatisirung von Ewers macht
sich indessen auf einem Berliner Winkel-Theater noch eine andere dramatische
Bearbeitung des „Loders“ breit. Dieselbe stammt aus der um Stoffe nie
verlegenen Feder des bekannten Novellen-Annectirers Wexel in Berlin.
Indem wir diesen Fall literarischer Freibeuterei hiermit registriren, vervollständigen
wir die Reihe der bereits früher von uns mitgetheilten ähnlichen
Usurpationen. Der in Rede stehende Fall wirft ein um so grelleres Licht
[622] auf das bei uns in höchster Blüthe stehende dramaturgische Räuberthum, als Herman Schmid in Nr. 28 unseres Blattes ausdrücklich gegen eine Dramatisirung seiner Novelle „Der Loder“ Protest einlegte. Ist nun, Dank unserer leider noch immer ungeordneten Gesetzgebung über geistiges Eigenthum, die Frage über die Befugniß der Dramatisirung von Novellen juristisch auch heute noch eine offene, so darf doch behauptet werden, daß die öffentliche Moral längst dahin entschieden hat, daß eine Aneignung fremder Geistesproducte, wie eine solche in dem erwähnten Falle vorliegt, in das Gebiet der allergewöhnlichsten und unverschämtesten literarischen Wegelagerei gehört.
Nach Ungarn weiter hinein wanderte gegen Ende September 1868 ein Trüppchen Deutscher aus der erzherzoglichen Maschinenfabrik in Ungarisch-Altenburg, wo sie bis dahin gearbeitet; darunter befand sich auch der Schlossergeselle Karl August Büttner aus Deuben bei Dresden, jetzt dreiundzwanzig Jahre alt, der seitdem für seinen bekümmerten Vater völlig verschollen ist. Vielleicht giebt es für Diesen noch eine beruhigende Kunde.
K. in L. Leider sind wir auch heute nicht in der Lage, Ihnen eine bestimmte Zusage geben zu können. E. Marlitt, deren Erzählung Sie und viele Andere mit Spannung erwarten, fühlt sich durch ein betrübendes Familienereigniß seit langen Wochen bereits so schwer bedrückt, daß es ihr durchaus unmöglich ist, an der längstbegonnenen Erzählung weiter zu arbeiten. Sie selbst schreibt uns Ende August darüber: „In Bezug auf meine Erzählung muß ich – so peinlich mir auch diese meine Unzuverlässigkeit ist – abermals um Aufschub bitten. Ich bin außer Stande, den von mir selbst festgestellten Ablieferungstermin einzuhalten; ich kann nicht schreiben und fühle mich im Augenblick geradezu unfähig, den Gang der Erzählung wieder aufzunehmen, den das schwere Erkranken und der Heimgang eines theuren Familiengliedes so jäh unterbrochen hat. Haben Sie Geduld mit mir – ich werde mich redlich[WS 2] bemühen, die nöthige Fassung möglichst bald wieder zu gewinnen.“ –
M. in Berlin. Zu einer nochmaligen Abbildung der Siegessäule, die wir bereits in Nr. 3 des Jahrgangs 1872 veröffentlichten, können wir uns doch nicht entschließen, auch wenn in der damaligen Zeichnung die Figur der Siegesgöttin nicht ganz correct war. Es wird indeß in der übrigen illustrierten Presse an Abbildungen nicht fehlen.
Der Aufruf zu einer „Ehrengabe für einen deutschen Dichter“, mit welchem die Unterzeichneten am 10. Mai 1870 vor die Leser der Gartenlaube getreten sind, muß, als ein durch die Donnerstimmen des Krieges übertäubter und aus dem Gedächtnisse der Gegenwart verdrängter, nun im ruhmvollst errungenen Frieden von Neuem erlassen werden.
Es gilt dem verdienstvollsten vaterländischen Lustspieldichter der neuesten Zeit. Roderich Benedix vollendet am zwölften Januar 1874 sein dreiundsechszigstes Jahr und feiert zugleich sein vierzigjähriges Dichterjubiläum. Nahe an hundert Stücke sind in dieser Zeit aus seiner rastlosen Feder geflossen; an Tausenden von Theaterabenden haben Hunderttausende an den erquickenden Gebilden seines Geistes sich gelabt, und noch vergeht keine Woche, wo nicht deutsches Publicum im Theater einem Benedix’schen Stücke lauscht. „Wie muß dieser Dichter verehrt und glücklich sein!“ werden unsere Leser denken. Aber hat man denn wirklich im Publicum schon danach gefragt? Ist das überhaupt Sitte in Deutschland? Wir wollen annehmen, die Frage sei gethan; so erfolge denn auch die Antwort.
Roderich Benedix, der den Ehrentitel unseres dramatischen Volks- und Familiendichters verdient, hat aus reiner Liebe zu seiner Kunst und zu seinem Volke auf diesem Felde dichterischer Thätigkeit zu einer Zeit sein Bestes geschaffen, wo der Lohn dafür noch eben so gering als unsicher war, wo kein Gesetz ihn schützte, wo der deutsche Dramendichter so oft am Hungertuche nagen mußte, während seine Kunstgenossen in Frankreich und England Reichthümer erwarben. So war es auch Roderich Benedix nicht möglich, mit seinen besten Schöpfungen sich einen Nothpfennig für die alten Tage zu erringen, und jetzt, wo auch in Deutschland bessere Zeiten für den Dramendichter anbrechen, kommen sie für ihn zu spät.
Rastlos schuf der fleißige Dichter mit dem fruchtbaren Geiste noch so lange, als er es vermochte. Die Ueberanstrengung hat schon mehrmals durch Schlaganfälle sich gerächt, und nun liegt das greise Haupt schon seit sieben Monaten auf dem Krankenbette; die Hälfte des Körpers ist gelähmt; jeder Versuch zur Arbeit erfordert die äußerste Anstrengung – und zu alle diesem Leid der Gegenwart tritt noch der sorgenvolle Blick in die Zukunft.
Das ist „der verehrte und glückliche Dichter“! – Sollten unsere Leser an die Frage denken: „Aber wozu ist denn die Schiller-Stiftung da?“ so erlauben sie uns die Gegenfrage: „Wo sind denn in Deutschland Diejenigen, welche durch Schenkungen und Vermächtnisse das Vermögen der Schiller-Stiftung vermehren und auf eine Höhe bringen könnten, welche diese fähig machte, nicht blos der Schriftstellerarmuth genügend zu wehren, sondern auch Mittel zu Ehrengaben für wahres Dichterverdienst zu besitzen?“
So lange wir noch nicht in so schönen Zeiten leben, sind wir darauf angewiesen, zu Ehren-Dotationen für die verdienten Männer des Volkes aufzurufen und zu sammeln. Und dies geschieht hiermit für unsern Roderich Benedix! Die Unterzeichneten erwarten, daß die deutsche Nation sie in den Stand setze, unserm Dichter zu seinem dreiundsechszigsten Geburtstage und vierzigjährigen Dichterjubiläum eine Ehrengabe zu überreichen, die des Dichters und der Nation würdig ist.
Die Redactionen der „Gartenlaube“ und der „Illustrieren Zeitung“ sind bereit, jeden Beitrag in Empfang zu nehmen und zu quittiren.
Leipzig, August 1873.
General-Director Dr. Eduard Devrient in Carlsruhe. Alphons Dürr. Adolph Focke. Stadtrath Dr. Günther. Dr. Friedrich Hofmann. Hofrath Dr. Hoffmann, Ritter etc. Ernst Keil. Bürgermeister Dr. Koch, Ritter etc. Director Dr. Heinrich Laube in Wien. Hugo Scharff. Geheimrath Prof. Dr. von Wächter, Großkreuz etc. Stadtrath Franz Wagner. Consul J. J. Weber.
Dem Obigen hat die unterzeichnete Redaction hinzuzufügen, daß die Sammlungen für den Dichter-Ehrenlohn zu Gunsten unseres Roderich Benedix im gedeihlichsten Flusse waren und uns das erfreulichste Resultat erhoffen ließen, als, kaum zwei Monate nach der beginnenden Wirksamkeit des Ausrufs, unser Krieg mit Frankeich jede Herzens- und Geistesrichtung an sich und in dem großen Sturm jener Tage mit fort riß. Kaum aber hatte der Friede die Wiederkehr zu den alten Freuden und Leiden gestattet, so brach das Unglück über unsre Ostseeküsten herein und auch dieser Jammer mußte erst gestillt sein, ehe wie wieder an das Schicksal eines Dichters denken durften. Und dieses Schicksal ist ein härteres geworden, als je, und fordert nun dringend zur Hülfe auf. Darum brauchen wir Das nur zu wiederholen, was wir beim ersten Aufrufe zugesagt:
Ueberzeugt von der Opferwilligkeit unserer deutschen Hof- und Stadttheater, die gewiß jetzt diese Gelegenheit gern ergreifen werden, der Ehrenpflicht der Dankbarkeit gegen den dramatischen Volksdichter durch Benefiz-Vorstellungen nachzukommen, wenden wir uns zuvörderst an alle die einzelnen Theaterbesucher, welche seit langen Jahren sich an den lebensfrischen Gestalten der Benedix’schen Muse erfreuen und unter Thränen echten Humors das helle Lachen fröhlicher Heiterkeit aufschlagen konnten. Mögen sie, wie es das Comité will, dem alternden unbemittelten Dichter, der ihnen so oft eine Freude gemacht, durch Beisteuern zu der Ehrengabe nun auch eine Freude zu bereiten suchen.
Daß auch die deutschen Sänger und Sängervereine, deren Ehrenpräsident unser Benedix ist und die er so oft durch seine markigen Reden zur Begeisterung hingerissen, nicht zögern werden, ihren stürmischen Zustimmungen und Becherklängen jetzt auch die That folgen zu lassen, jetzt, wo es gilt, dem dreiundsechzigjährigen Greise zu den Lorbeeren vergangener Tage nun auch die Rosen eines sorgenfreien Lebensabends hinzuzufügen – das darf von uns mit Sicherheit vorausgesetzt werden. Deutsche Sänger haben ja nie gefehlt, wo es sich darum handelte, die beunruhigende Sorge von der Thür zu scheuchen – die Lieder zu Ehren ihres Präsidenten werden doppelt kräftig zum Himmel auftönen.
Und schließlich wenden wir uns an alle die Dilettanten- und Liebhabertheater, deren theatralischen Zwecken ja vorzugsweise die poetischen Schöpfungen unseres Dichters gedient haben; mögen sie durch Aufführungen und Festvorstellungen zu Gunsten des Dichters in Etwas den Lohn abzutragen suchen, den die Verhältnisse in Deutschland dem schaffenden Bühnendichter versagten. Sie erfüllen damit nur eine Pflicht der Anerkennung und des Dankes.
Die Redaction der Gartenlaube sieht abermals in freudiger Hoffnung den Resultaten des obigen Aufrufs entgegen und wird Dotationsbeiträge gern annehmen und öffentlich quittiren.
- ↑ In Rom fährt an jedem Donnerstag im October Alt und Jung, Reich und Arm auf’s Land, wo im Freien gespeist wird. Diese Ausflüge heißen 0ttobrate.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: an der Ruhr; vergl. Berichtigungen (Die Gartenlaube 1873/45)
- ↑ Vorlage: endlich; vergl. Berichtigung (Die Gartenlaube 1873/40)