Die Gartenlaube (1874)/Heft 7

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 7.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die zweite Frau.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Mainau hielt inne, wie in Erwartung einer bestätigenden Antwort; aber sie sah ihn nicht einmal an. Sie meinte, es sei überflüssig, ihn vom Gegentheil zu überzeugen, was er gar nicht wünschte. Prüfend bog sie den Kopf zurück und verglich eine eben eingesetzte Schattirung mit dem Ganzen. Ihre zarten Lippen lagen sanft geschlossen aufeinander, und die bleiche Sammethaut ihrer Wangen nahm nicht einen Hauch von Röthe an; bei der ausgeprägtesten Lieblichkeit, die den beobachtenden Mann in diesem Momente abermals frappirte, hatte der junge Frauenkopf mit den seitwärts gewendeten Augen doch die Leblosigkeit eines Steinbildes, und unwillkürlich mußte er denken, ob es denn wirklich einzig und allein der Familienstolz vermöchte, diese tief in das Innerste zurückgezogene Seele aufzuregen – im nächsten Augenblicke erfüllte ihn eine tiefe Genugthuung darüber, daß es so und nicht anders sei.

„Das ist doch eine reizende Zeichnung,“ sagte er und deutete auf die Cactusblüthe. „Ich begreife, wie sich eine stille Frauennatur in diese Art von Beschäftigung so tief versenken kann, daß ihr von der lärmenden Außenwelt viel Unerquickliches entgeht. Du hast den Differenzen zwischen dem Onkel und mir wohl kaum Beachtung geschenkt?“ Das klang so wohlwollend nachsichtig, als wünsche er zu hören, daß sie in der That so indolent gewesen sei.

„Ich habe genug gehört, um mich zu wundern, daß Du Dein mir aufgestelltes Programm selbst so wenig respectirst,“ versetzte sie gelassen. „Du wünschest ein ruhiges, leidenschaftslos und gleichmäßig verlaufendes Familienleben, und hast doch vor wenigen Augenblicken Alles gethan, um den Hofmarschall zu reizen.“ – Sie nannte den alten Herrn nie Onkel.

„Liebe Juliane, das ist ein kleines Mißverständniß,“ rief er lachend, indem er aufstand. „Das Programm ist nicht so bitterernst gemeint, so lange ich da bin, so lange ich den Zügel in der Hand habe und lenken kann, wie ich will – ich werde mich doch wahrhaftig nicht selbst ertränken in diesem stagnirenden Wasser der Langeweile!“

„Ich will nur nicht, daß man sich zankt, wenn ich auf Reisen bin,“ fuhr er fort. „Gott im Himmel – was für eine Fluth von lamentablen Briefen stürmt da von allen Seiten auf solch einen unglücklichen Abwesenden ein! … Was hat nur Valerie allein in dieser Beziehung gesündigt! – Im dunkelsten Winkel meines Schreibtisches liegen sie noch, diese Boten der – Liebe. Ich habe sie damals pflichtschuldigst mit einem zärtlichen Rosenbande umwickelt, aber berührt hat meine Hand sie nie wieder, aus Angst vor den herausplatzenden Geistern der Zwietracht, der Herrschsucht und der kindischen Launen. … Und dabei kam ich doch immer erst in zweiter Linie – die kleine Frau hatte den vortrefflichen Beichtvater, den Hofprediger, zur Seite, dem sie ihr Herz stets in der ersten Aufwallung rückhaltlos auszuschütten pflegte.“

Ein böses Lächeln erschien und verschwand wie ein Blitz auf seinem schönen Gesichte.

„Bah, was willst Du?“ sagte er plötzlich nach längerem Schweigen wieder – er war in die offene Glasthür getreten und hatte dem Spiele der beiden Knaben zugesehen. „Gerade auf meine Art und Weise, mit dem Onkel zu verkehren, bin ich stolz, ungefähr so eingebildet, wie ein Kind auf die Heldenthat, ein Stück Kuchen nicht anzubeißen, das der Mutter mitgebracht werden soll. Sahst Du mich jemals jähzornig? Frage die lieben Nächsten – die Haut wird Dir schaudern, was sie Alles von meiner brutalen Heftigkeit zu erzählen wissen. … Hier beherrsche ich mich, allerdings zuvörderst in dem Wunsche, auch einmal ein wenig – wie andere Glückliche ihr ganzes Leben lang – in die Wonne der Selbstbewunderung versinken zu können.“

Die junge Frau warf einen Blick nach ihm hinüber, welcher dem seinen begegnete. Da war nicht eine Spur jener Flamme, die blitzähnlich von Auge zu Auge züngelt und das Verständniß zweier Menschen vermittelt. Sie sagte sich, daß über die vom Schicksale verzogene, durch Frauengunst verhätschelte Männerseele dort Nichts auf Erden je Gewalt haben werde, als das eigene stürmische Wünschen und Wollen, und er griff achselzuckend nach seinem Hute und meinte, in den grauen Augen die Zahl der Stiche lesen zu können, die sie während seiner Rede mit dem rothen Seidenfaden gemacht hatte.

„Ich gehe,“ sagte er. „Nimm Dich in Acht, Juliane – es wird dämmerig, und unsere tapferen Schloßleute verschwören Leben und Seligkeit, daß Onkel Gisbert’s Schatten dort in dem Fensterbogen sein Wesen treibe – er hatte sich im Todeskampf hierher tragen lassen. Doch was ich rede – sündenlosen Seelen, wie der Deinen, passirt dergleichen nicht.“

„Andere Geister haben nur Macht über uns, je nachdem wir sie fürchten oder lieben,“ versetzte sie einfach, ohne den Spott [106] in seiner Stimme zu beachten. „Ich fürchte Onkel Gisbert’s Schatten nicht, möchte ihn aber wohl fragen, weshalb er gewünscht hat gerade hier zu sterben.“

„Das kann ich Dir auch sagen. Er hat einen letzten Blick auf sein Thal von Kaschmir werfen wollen,“ erwiderte er lebhafter. Er trat dicht neben sie und zeigte über sie hinweg nach dem Garten. „Dort unter dem Obelisken hat er sich begraben lassen. … Ach, Du kannst das Monument nicht sehen; es liegt zu sehr seitwärts – dort.“ Er nahm plötzlich ihren Kopf mit sanftem Drucke zwischen seine Hände, um ihrem Blicke die Richtung zu geben – seine Finger versanken tief in den rothgoldenen Haarmassen. Die junge Frau fuhr empor, schüttelte heftig seine Hände ab und starrte ihn mit weitgeöffneten Augen beleidigt, in unverstelltem Widerwillen an. Er stand einen Augenblick fassungslos vor ihr – eine dunkle Gluth schoß über sein Gesicht.

„Verzeihe! Ich habe Dich und mich erschreckt. … Ich wußte nicht, daß Dein Haar bei der Berührung solche Funken sprühe,“ sagte er mit unsicherer Stimme, indem er von ihr wegtrat.

Sie saß schon wieder und bückte sich über ihre Stickerei. Das war dasselbe ruhige „Insichzusammenschmiegen“ der elastischen Gestalt, wie vorher, aber Mainau fiel es nicht mehr ein, zu denken, daß diese Frau die Stiche ihrer Nadel zähle. Sein Auge haftete auf dem schmalen Streifen ihres Nackens, der erst so gleichmäßig perlmutterweiß zwischen den niederhängenden Haarflechten geleuchtet – jetzt sah er ein dunkles Rosenroth unter der Haut fließen. Er griff nicht wieder nach dem Hute, den er hingeworfen – er war erbittert über das unberechenbar hervorbrechende verneinende Element in „diesem rothhaarigen Frauenkopfe“, noch zorniger aber auf sich selbst, daß er im harmlosen Sichgehenlassen eine Niederlage erlitten, noch dazu durch eine ungeliebte Frau. Darüber hinweg half nur ein völliges Ignoriren des Geschehenen.

„Ich möchte wirklich wünschen, Onkel Gisbert könnte wiederkommen und da hinabsehen,“ sagte er, in den spukhaften Fensterbogen tretend – er sprach sehr ruhig. „Dreizehn lange Jahre liegt er dort unter dem rothen Marmor; unterdeß haben seine indischen Pflanzenlieblinge unter dem nordischen Himmel eine Ausdehnung erreicht, wie er sie vielleicht selbst nicht geträumt hat. Das ist auch häufig ein streitiger Punkt in Schönwerth. Die ganze Pflanzenherrlichkeit muß mit dem Eintreten der rauhen Jahreszeit unter riesige Glashäuser gesteckt werden, und die exotische Thierwelt verlangt sorgfältige Pflege. – das kostet viel Geld. Der Onkel macht jedes Jahr neue Anstrengungen, die kostspielige Schöpfung womöglich von der Erde wegzurasiren, und ich leide entschieden nicht, daß auch nur ein Blatt abgepflückt wird.“

„Und das Menschenleben, das der deutsche Edelmann unter den nordischen Himmel entführt hat?“ fragte sie hinüber – ihre melodische Stimme verschärfte sich.

Er stand rasch wieder neben ihr. „Du meinst die Frau im indischen Hause,“ sagte er. „Da, sieh Dir einmal den Burschen an!“ – Er deutete auf Gabriel. Leo war auf den Rücken des Knaben gesprungen. Die feingliedrige Gestalt des improvisirten Pferdes bog sich geduldig trabend unter dem wilden Peitschenschwinger. – „Das ist der Typus der Menschenrace, die als kostbarstes Kleinod über das Meer gebracht worden ist – feig, hündisch unterwürfig und treulos, sobald die Verführung an sie herantritt. … Der Knabe ist mir unsäglich zuwider. Ich würde ihm ein paar blaue Flecken der Satisfaction auf dem Rücken meines Jungen weit eher verzeihen, als diesen hündischen Unterwerfungstrieb hinter einem gottähnlichen Menschengesichte. … Leo, wirst Du gleich heruntergehen!“ schalt er hart, mit grimmig gerunzelten Brauen zur offenen Thür hinaus.

Gabriel stieg eben die letzten Stufen herauf. Er war sehr erhitzt durch die unruhige Last, die er auf seinen Schultern treppauf getragen; trotzdem erschien sein Gesicht bleich, wenn auch die schöne Linie des Ovals so fest und gesund verlief, als begrenze sie gelbangehauchten Marmor.

„Mache, daß Du heimkommst!“ befahl Baron Mainau barsch und drehte ihm den Rücken.

Das kindlich naive, und doch melancholische Lächeln, das beim Ersteigen der letzten Stufe um die ausathmenden Lippen des Knaben geflogen war, verschwand – der Schrecken trieb ihm den letzten Blutstropfen aus dem Gesichte. Es durchschnitt der jungen Frau das Herz, zu sehen, wie er trotzdem mit zärtlicher Aufmerksamkeit das Kind des harten Mannes auf den Boden gleiten ließ, wie er sich nicht versagen konnte, noch einmal scheuliebkosend mit der geschmeidigen Hand über Leo’s Lockenkopf hinzustreichen. … Der arme Prügelknabe! Seine junge Seele war in die Hand der strengen Kirche und der orthodoxesten Aristokratie gegeben, und der herrische Mann dort, der sie mittelst seiner Energie beschützen konnte, er trat blind und vorurtheilsvoll in tödtlicher Verachtung auch noch mit dem Fuße darauf.

„Gute Nacht, mein liebes Kind!“ rief sie hinaus, als der Knabe unhörbar die Treppe hinabhuschte. Zugleich legte sie ihre Arbeit zusammen und erhob sich. Im Bewußtsein ihrer vollkommenen Einflußlosigkeit ließ sie kein Wort zu Gunsten des mißhandelten Kindes fallen, aber so, wie sie jetzt dastand, war ihre ganze Erscheinung ein Protest gegen das Verfahren des rauhen Schloßherrn.

Er sah sie einen Augenblick schweigend von der Seite an; dann bemühte er sich, seine Cigarre auf’s Neue in Brand zu stecken.

„Siehst Du die köstliche Musa dort?“ fragte er kalt und zeigte nach einer der Bananen im indischen Garten. „Sie strebt dankbar empor zu dem kalten Himmel, während das fremdländische Menschengeschmeiße sich sofort hinabverirrte bis in die Region der – Stallbedienung. Da kenne ich kein Erbarmen.“

Die junge Frau stand mit dem Rücken nach ihm und ordnete die Stickwolle im Arbeitskorbe – sie hob die Wimpern nicht.

„Willst Du wohl die Güte haben, mich auch einmal anzusehen?“ sagte er plötzlich streng. Er fiel zum ersten Male aus dem Umgangstone des guten Cameraden und sprach als Herr und Gebieter – er war beleidigt. „Es hätte noch gefehlt, daß sich meine Frau mit dem ganzen Rüstzeuge ihrer tugendhaften Verachtung, ihres moralischen Uebergewichts umgürte, um dieses – Bastards willen!“

Ein ähnlicher Schrecken durchfuhr sie wie daheim, wenn unvermuthet die gebieterische Stimme der Mutter ihr Ohr berührt hatte. Sie wandte ängstlich das entfärbte Gesicht nach ihm – in diesem Augenblicke der Bestürzung war es das lieblichste, unschuldigste Mädchengesicht, das mit großen, erschreckten Augen zu ihm hinsah.

Sein Blick voll Aerger und Verdruß milderte sich sofort.

„Mein Gott, wie blaß Du bist, Juliane! Du siehst mich ja mit Augen an, wie Rothkäppchen den bösen Wolf. … Nun ist’s wohl auch um unser gutes, cameradschaftliches Einvernehmen geschehen – wie? – Das sollte mir leid thun,“ sagte er mit einem Achselzucken des Bedauerns, als wollte er seine Angst um die sorgfältig cultivirte Langeweile im Schlosse Schönwerth ausdrücken.

„Ich will Dich ein wenig über die Verhältnisse aufklären,“ setzte er hinzu, nachdem er einmal im Salon rasch auf- und abgeschritten war. „Als Onkel Gisbert nach langer Abwesenheit in die deutsche Heimath zurückkehrte, war ich ein Knabe von vierzehn Jahren, der den ‚indischen Onkel‘ vergötterte, ohne ihn je gesehen zu haben. Man wußte, daß er sein Erbtheil auf dem Handelswege vertausendfacht hatte; man erzählte sich Dinge von seinem Leben und Treiben, die recht gut unter den Märchen von ‚Tausend und einer Nacht‘ hätten figuriren können – und doch, als er Schönwerth noch von Benares aus ankaufen und nach seinem Sinne einrichten ließ, da sperrten die Pfahlbürger unserer guten Residenz Mund und Nase auf. … Ich werde ihn nie vergessen, niemals – den schönen Mann mit den eigenartigen Geberden und dem genialen Kopf, in welchem bereits die finsterste Schwermuth brütete. Sein Thal von Kaschmir war sein Idol, und hinter dem Drahtgitter athmete ein Wesen, das er vom Reisewagen in die Sänfte und von da in das indische Haus hatte tragen lassen, und die so glücklich gewesen waren, ‚die blasse Lotosblume des Ganges‘ während dieser Procedur auf den Armen zu halten, sie schwuren, es sei kein Frauenleib, sondern ‚eine Nixe aus Luft und Duft zusammengeblasen‘ gewesen.“

Den Eindruck machte es noch, jenes fremdländische Geschöpf, das, halb Weib, halb Kind, drüben auf dem Rohrbette lag, eine Luftgestalt, die scheinbar nur die metallenen Ketten und Ringe an der Erde festhielten.

„Außer dem Onkel Hofmarschall und dem Hofprediger, der damals noch ein simpler Caplan war, verkehrten nur Wenige in [107] Schloß Schönwerth – die stolze Haltung des Besitzers scheuchte Alles zurück,“ fuhr Mainau fort. „Ich selbst habe nur einmal die Gunst genossen, ihn auf drei Tage besuchen zu dürfen – und da erging es mir wie den neugierigen Frauen im ‚Blaubart‘.“ Er lachte belustigt vor sich hin und stippte die Asche von seiner Cigarre. „Um Blut und Leben ging es freilich nicht, aber der Onkel verbat sich einfach das Wiederkommen. … Die Indierin hinter dem Drahtgitter spukte mehr, als gut war, in meinem heißen Jungenkopfe. – Bekreuze Dich, Juliane! Es ist ein toller Reigen von Narrheiten um der Frauenschönheit willen, auf den ich zurückblicken muß – ich bin durch reißende Flüsse geschwommen, um eine weggewehte Busenschleife zu erhaschen, und habe landesüblich Champagner aus Balletschuhen getrunken – warum sollte ich da nicht auch über das Drahtgitter von Schönwerth klettern, um das Weib zu sehen, das Onkel Gisbert ‚wie toll‘ lieben sollte? Die Thür war zwar nicht verschlossen, und die ‚Lotosblume‘ wurde nichts weniger als in Gefangenschaft gehalten; aber ich bin überzeugt, sie hat von dem bartlosen Neffen ihres Herrn und Gebieters nicht belästigt sein wollen, und deshalb war mir das Umherwandeln im Thale von Kaschmir verboten. … Nun also, ich kroch unter stürmischem Herzklopfen durch das Gebüsch und sah nicht eher auf, als bis – der Onkel vor mir stand. Er sagte kein Wort; aber der mitleidig lächelnde Spott, der seine düsteren Augen für einen Moment förmlich erhellte, beschämte mich dergestalt, daß ich meinen ganzen gewaltigen Jünglingsstolz vergaß und schleunigst Fersengeld gab. … Noch denselben Morgen hielt, ohne daß ich Befehl gegeben, mein Reisewagen vor dem Schönwerther Schloßthore; der tödtlich bestürzte Junge wurde von dem Onkel unter freundlichem Abschiedsgruße ohne Weiteres hineingeschoben und in das Institut zurückgeschickt – das war kaltes Wasser.“

Er trat lächelnd in das Fenster und sah hinüber nach dem indischen Garten. Es dämmerte stark – das niedrige Rohrdach des indischen Hauses verschwamm bereits mit den Wipfeln der Rosenbäume, und nur auf den goldglänzenden Kuppeln des Tempels sammelten sich noch schwarze Reflexe des verlöschenden Abendlichtes.

„Ich habe den Onkel erst wieder gesehen,“ sagte er nach einer Pause sich umwendend, „als sein letzter Wunsch erfüllt werden sollte, als der Arzt im Begriff war, seine Leiche mit einem zersetzenden Präparat zu tränken. Man hatte mich von der Universität zur Beisetzung nach Schönwerth berufen. … Da lag er entstellt in weißen Atlasdecken – statt der Rosendüfte von Kaschmir flossen häßliche Weihrauchwolken über ihn hin; kein Nachtigallenton drang durch die schwarzumhüllten Fenster – dafür umflüsterten ihn gemurmelte Gebete, und aus geistlichem Munde wurde er gepriesen, daß er zur rechten Stunde noch aus der Irre auf den wahren Heilsweg zurückgekehrt sei – unrühmlich genug für diese Dogmen“ – unterbrach er sich grollend – „daß die Seele sie erst annimmt, wenn sie vom kranken Körper angesteckt ist, wenn alle Nervensaiten verstimmt und gebrochen sind und das arme Gehirn urtheilslos und beängstigt in den Nebelwolken des herannahenden Todes schwimmt! – Ja, das war das Ende, der jammervolle Schluß eines märchengeschmückten Lebens voller Ideale.“

Die junge Frau stand noch vor dem Arbeitskorbe – sie war sich selbst nicht bewußt geworden, daß sie die bunten Wollsträhne unzählige Male aus- und eingepackt hatte. … Dort wölbte sich der mächtig geschwungene Fensterbogen, in welchem Onkel Gisbert gestorben war, gestorben mit dem Blicke auf seine irdische Schöpfung, und mit diesem Bilde „aus der Irre“ war die Seele heimgegangen, trotz aller Weihrauchwolken und sonstigen kirchlichen Apparate und Anstrengungen… Ein graues, spukhaftes Dämmerlicht kroch in Fensterbreite über das Parquet und ließ in schwarzen Umrissen ein riesiges Kreuz auf die Eichentafeln fallen; es floß auch über den erzählenden Mann, dessen Stimme alle Register von der heitersten Selbstverspottung bis zum Ingrimm durchlaufen hatte.

„Ich wußte, daß ein Kind im indischen Hause geboren worden war,“ fuhr er nach einem augenblicklichen Schweigen fort. „Ich hatte es auch auf dem Arme der Frau Löhn gesehen – damals rührte mich das kleine Geschöpf mit dem melancholischen Gesichte. … Es war kein Testament da, und nach meiner moralischen Ueberzeugung war der Knabe als erster Erbe anzusehen. Ich sprach Das aus – da wurde mir ein Zettel vorgelegt. Onkel Gisbert war an einem furchtbaren Halsübel gestorben; er hatte schon monatelang vor seinem Tode kein Wort mehr gesprochen und sich nur noch mittelst der Feder verständlich machen können – solcher Zettel sind viele da – hier“ – er zeigte auf einen Rococoschreibtisch mit hohem Aufsatze – „in diesen sogenannten Raritätenkästen des Hofmarschalls sind sie aufbewahrt. Jener eine Zettel verstieß in strengen Worten die Frau im indischen Hause als eine Treulose und verlangte auf das Bestimmteste, daß ihr Knabe im Dienste der Kirche erzogen werde. Dagegen ließ sich nichts thun, und ich wollte auch gar nicht mehr; ich war empört und bin es noch heute, daß selbst ein Mann wie er unter der Schlangenfalschheit des Weibes schwer leiden mußte. … Der Onkel und ich waren die rechtmäßigen Erben. Wir traten die Hinterlassenschaft an. … Nun war ich selbst Herr im indischen Garten; nun trat sie mir nicht mehr entgegen, die prächtige Gestalt des Onkels, mit ruhig verschränkten Armen und dem feurigen Schwerte des Spottlächelns – und im Hause mit dem Rohrdache lag die vergötterte Lotosblume wie von einem rächenden Blitzstrahle getroffen –“

„Nun durftest Du sie sehen,“ kam es wie unwillkürlich von Lianens Lippen.

Er fuhr mit einer Geberde voll Abscheu herum.

„Meinst Du? – Mit nichten! Ich war geheilt für immer! Ein treuloses Weib stoße ich nicht mit der Fußspitze an. Und dann“ – er schüttelte sich – „ich kann keinen so kranken Menschen sehen; jede gesunde Fiber in mir empört sich dagegen. … Die Frau ist wirr im Kopfe, gelähmt an allen Gliedern und schreit zu Zeiten, daß Einem die Ohren gellen – sie stirbt seit dreizehn Jahren. – Ich habe sie nie gesehen und vermeide, so viel ich kann, den Weg am indischen Hause.“

Liane legte den Deckel auf den Korb und rief nach Leo, der sich unterdessen mit Steinwerfen drunten auf dem Kiesplatze die Zeit vertrieben hatte. Während Mainau’s Erzählung war ihr gewesen, als müsse sie zu ihm treten und, das Geschilderte warm miterlebend, zu ihm aufsehen – nun zischte der häßliche Schlangenkopf des empörendsten Egoismus plötzlich wieder empor und trieb sie weit weg von dem Uebermüthigen, der im unüberwindlichen Kraftgefühle sich selbst gegen jede Heimsuchung gefeit wähnte, und das ihn widerwärtig Berührende ohne Weiteres bei Seite schob, um sich den Lebensgenuß in keiner Weise verkümmern zu lassen.

„Sage dem Papa gute Nacht, Leo!“ ermahnte sie den Knaben, der stürmisch auf sie zuflog und sich an ihren Arm hing.

Mainau hob ihn empor und küßte ihn. „Nun wirst Du nicht wieder nach der Frau im indischen Hause fragen, Juliane?“

„Nein.“

„Ich hoffe auch nie mehr das oppositionelle und zärtliche ‚Gute Nacht, mein liebes Kind‘ zu hören. Du begreifst, daß ich so handeln muß –“

„Ich bin langsam im Denken und brauche Zeit, um mir ein Urtheil zu bilden,“ unterbrach sie ihn. Sie verbeugte sich leicht und verließ mit Leo den Salon.

„Schulmeister!“ murmelte er verdrießlich zwischen den Zähnen, indem er ihr den Rücken wandte. … „Bah, sie paßt vortrefflich,“ dachte er gleich darauf erheitert und rief nach seinem Pferde. Er ritt noch nach der Residenz, um den Spätabend und die Nacht dort zu verbringen.

Eine Stunde später sagte er im adeligen Casino zu Freund Rüdiger: „Ich habe das große Loos gezogen: Meine Frau singt nicht, malt nicht und spielt auch nicht Clavier. – Gott sei gedankt, ich werde nie durch Dilettantenaufdringlichkeit ennuyirt! … Sie sieht manchmal hübscher aus, als ich ihr anfänglich zugetraut; aber sie hat keinen Esprit und nicht die geringste Neigung zum Coquettiren – sie wird nie gefährlich werden. … Bei weitem nicht so beschränkt, wie ich meinte, und viel weniger sentimental, denkt sie doch sehr langsam und wird ihre im Pensionate empfangenen Anschauungen mit der zähen Beharrlichkeit phantasieloser Menschen zeitlebens festhalten – desto besser für mich! – Ihre Briefe an mich kann ich jetzt schon analysiren – steife Stilübungen einer ernsthaften Pensionairin mit Wirthschaftsberichten als Vorwurf – sie werden mir keine schlaflose Nacht verursachen. … Leo hat sich sehr an sie attachirt und lernt gut, und dem Onkel scheint sie zu imponiren durch ihre Ruhe, ihre [108] natürliche Kälte und den Trachenberg’schen Hochmuth, den sie in geeigneten Momenten prächtig herauszukehren versteht – in vierzehn Tagen reise ich.“





Die Frau Herzogin hatte sich mit ihren beiden Knaben beim Hofmarschall angemeldet – das konnte nicht auffallen. Zu Lebzeiten ihres Gemahls hatte der Hof fast ganze Tage in Schönwerth verlebt; denn der Hofmarschall stand hoch in Ehren und wurde stets mit Gnadenbeweisen überschüttet, als ein „in unerschütterlicher Treue ersterbender Anhänger“ des herzoglichen Hauses. Selbst während des Trauerjahres, wo sich die hohe Frau mit musterhafter Strenge von Allem fernhielt, was auch nur den leisesten Anstrich einer geselligen Vergnügung annehmen konnte, hatte sie auf ihren Spazierritten durch das Thal von Kaschmir öfter den Nachmittagskaffee im Schönwerther Schlosse eingenommen. Freilich war dabei ihr schönes Gesicht unter der schwarzen Krepprüche stets wie in Leid versteinert erschienen, und selbst der Hofmarschall mit seinem geübten Höflingsblicke hatte sich allmählich der Ueberzeugung hingegeben, diese gebeugte Wittwe müsse ihren Gemahl in der That innig geliebt haben. Während der Zeit vor und nach Mainau’s Vermählung war sie nicht im Schlosse eingekehrt und hatte es bei einem hinübergesandten Gruß bewenden lassen, weil ja der alte Freund schlimmer als je von seiner Gicht geplagt wurde.

Nun erschien eines Nachmittags Herr von Rüdiger und beglückte ihn mit der Nachricht, daß die kleinen Prinzen morgen, wie bisher jedes Jahr geschehen, sich höchsteigenhändig Frühtrauben und Zwergobst von den Spalieren im Schönwerther Schloßgarten zu pflücken wünschten. … Man saß gerade beim Dessert. Der Hofmarschall erhob sich wie verjüngt; er lehnte seinen Krückstock in die Ecke und machte mit zusammengebissenen Zähnen und einem schielenden Seitenblicke nach dem Spiegel einen Gehversuch ohne Stütze bis nach dem nächsten Fenster; von dort aus winkte er Liane zu sich und gab ihr Befehle für Küche und Keller.

„Da haben wir’s!“ sagte Mainau zu der jungen Frau – er war ihr gefolgt, als sie das Zimmer verlassen hatte. „Ich bin gern auf Deinen Wunsch eingegangen, Dich erst nach meiner Rückkehr vorzustellen; nun zwingt Dich die Herzogin, morgen vor ihr zu erscheinen.“ Er zuckte mit einem schwer zu beschreibenden Gemisch von verhaltenem Lachen, geschmeichelter Eitelkeit und boshaftem Spotte die Achseln. „Da giebt es kein Ausweichen mehr.“

„Ich weiß es,“ erwiderte sie mit vollkommener Gelassenheit und zog ein Notizbuch aus der Tasche, um im langsamen Weitergehen die Befehle des Hofmarschalls flüchtig zu notiren.“

„Schön – Deine Gemüthsruhe in allen Lagen und Verhältnissen ist wahrhaft bewundernswürdig. Nur auf Eins möchte ich Dich ein wenig aufmerksam machen – Du erlaubst es wohl, Juliane? Die Herzogin hat für allzu gesuchte Einfachheit in Toilettenangelegenheit sehr leicht ein verwundendes Spottlächeln – Deine Neigung –“

„Ich hoffe, Du traust mir so viel Tact zu, daß ich zu unterscheiden weiß, wo ich meiner Neigung oder den Pflichten meiner Stellung zu folgen habe,“ unterbrach sie ihn freundlich ernst und steckte den Bleistift in das Notizbuch.

Sie hatten mittlerweile die Corridorthür vor Mainau’s Appartements erreicht. Dort standen ein paar neue Reisekoffer von Juchtenleder, die man während des Diners gebracht hatte. Mainau’s Augen leuchteten auf bei ihrem Anblick, als sähe er sich schon über Berg und Thal, weit, weit weg von Schloß Schönwerth, in die Welt hineinfliegen. Er hob einen der Koffer empor und prüfte die Beschläge – währenddem stieg Liane in die Schloßküche hinab, um mit Frau Löhn und dem Koch zu verhandeln.

Der Hofmarschall hatte es stillschweigend acceptirt, daß sie die Oberaufsicht über das Hauswesen in die Hand genommen. Damit hatte sie sich freilich wie auf Brennnesseln gebettet. Unausgesetzt mußte sie ringen mit dem schmutzigen Geiz des alten Herrn, der um jeden Pfennig feilschte. Sein grenzenloses Mißtrauen, die Furcht, bestohlen und betrogen zu werden, machten sich stündlich in fast ekelerregender Weise geltend. Dazu kam sein unverminderter Groll über die verhaßte zweite Heirath Mainau’s – die junge Frau stand fortwährend in Waffen ihm gegenüber. Sie wußte, daß er jeden ihrer Schritte belauerte, so weit es ihm möglich, daß sogar die Briefe aus der Heimath durch seine Hände gingen, ehe sie zu ihr gelangten. Die Briefe der Geschwister mochten ihm unverfänglicher erscheinen – sie trugen selten die Spuren eines Attentates. Dagegen war vor einigen Tagen ein Schreiben ihrer Mutter eingelaufen – das erste seit Lianens Verheirathung. Sie konnte sich nicht verhehlen, daß das Siegel erbrochen gewesen war, und das empörte sie doppelt im Hinblick auf den Inhalt. Die Gräfin Trachenberg erging sich in Klagen über ihr Leben, das ihr die schrecklichsten Entbehrungen auferlege. Von ärztlicher Seite sei ihr eine Badereise dringend zur Pflicht gemacht worden; Ulrike hüte jedoch das Einkommen wie ein Drache und bewillige ihr keinen Groschen; sie wende sich daher an „die Lieblingstochter“ und ersuche sie, ihr einen kleinen Theil ihres reichen Nadelgeldes zufließen zu lassen. Daß der Hofmarschall diesen Brief in der That gelesen hatte, bestätigte ihr der stechende, boshaft fixirende Blick, mit welchem sie an jenem Tage bei ihrem Erscheinen im Eßzimmer von ihm begrüßt wurde. … Diese fortgesetzten Kämpfe blieben Mainau verborgen. In seinem Beisein hütete der Hofmarschall Gesicht und Zunge mit der Meisterschaft des gewiegten Höflings, und ihn zu verklagen bei dem Manne, der um jeden Preis Frieden sehen wollte, fiel der jungen Frau nicht ein.

Es war in der dritten Nachmittagsstunde, als Liane in den Salon trat, dessen Glasthür auf die große Freitreppe mündete – von dieser Freitreppe aus wollte der Hofmarschall die Herzogin beim Vorfahren begrüßen. Er war bereits im Salon anwesend und sprach mit dem Hofprediger, der neben ihm saß.

Als die junge Frau hereintrat, war es, als fliege mit ihr ein verklärender Schein in das Zimmer. Sie trug eine mäßig lange Schleppe von seeblauem Seidenstoff, den Oberkörper dagegen umschloß Sammet von einer tieferen Nüance. Das schimmernde, gesättigte Blau und der dunkle Goldglanz der Haarwellen über der Stirn dieser mädchenhaften Frau waren von wundervoller Wirkung. Weite, offene, mit Seide gefütterte Aermel fielen bis weit über die Hüften hinab und ließen die Arme völlig frei, die, wie die Büste im viereckigen Ausschnitt, von einem weißen Spitzenchemisette wie von einem Schleier leicht umrieselt erschienen. Selbst im silberstoffnen Brautkleide war die tadellose Gestalt der „Trachenbergerin“, die köstlich reine und klare Hautfarbe dieses „Rothkopfes“ nicht so zur Geltung gekommen, wie heute.

„Noch viel zu früh, meine Gnädigste!“ rief ihr der Hofmarschall entgegen. „Die Herzogin kommt nicht vor vier Uhr.“ Er fixirte mit unverkennbarem Aerger das riesige Bouquet, das die junge Frau in der Hand hielt. „Mein Gott, was für eine Blumenverschwendung! Sie müssen ja das ganze Warmhaus geplündert haben, meine Liebe! … Raoul ist ein Narr mit seinen Gloxinien, Gesneriaceen und wie diese kostspieligen Südamerikanerinnen alle heißen mögen! … Kosten Unsummen und dienen zu nichts, als in unberufenen Händen zu verwelken – von der Hausfrau verlangt man nicht, daß sie ballmäßig erscheint.“

Liane war stehen geblieben und hatte ihn auspoltern lassen. Sie hätte ihm entgegnen können, daß seine Tochter die köstlichsten Bouquets in Uebermuth oder schlechter Laune oft in Atome zerpflückt und auf dem Boden verstreut habe, um sie mit ihren kleinen Füßen zu zerstampfen – aber sie begnügte sich zu sagen: „Mainau hat gewünscht, daß ich der Herzogin diese Blumen bei der Begrüßung überreiche.“

„Ah so – dann bitte ich tausendmal um Verzeihung!“ Er sah nach seiner Uhr. „Wir haben Zeit, und die will ich benutzen, um Ihnen etwas mitzutheilen, das mir höchst fatal und peinlich ist – ich kann aber leider das Geschehene nicht ändern. … Sie haben heute Morgen ein Kistchen nach Rudisdorf an die Gräfin Ulrike abgeschickt. Ich habe es gern, wenn alle Poststücke vor meinen Augen in den Blechkasten gelegt werden, der jeden Morgen nach der Stadt abgeht. … Ich weiß nicht, was für ungeschickte Hände es gewesen sind, denen man die kleine Kiste anvertraut hat – genug, sie wurde mir zerbrochen übergeben.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 17.
[109]

Ein Mene Thekel für Ascher-Mittwoch.




Er zog unter seinem Stuhle das Kistchen hervor, von welchem ein Stück Deckel lose herabhing.

Im ersten Augenblick schoß eine helle Gluth über das Gesicht der jungen Frau, dann aber wurde sie auch ebenso schnell todtenbleich, selbst die in fast harter Weise geschlossenen Lippen erschienen völlig farblos – man hätte meinen können, sie müsse an den jäh nach dem Inneren zurücktretenden Blutwellen ersticken. … Ihr Blick fiel unwillkürlich auf den Hofprediger, der eine Bewegung machte – seine beredten heißen Augen hingen an ihrem Gesicht mit einem seltsamen Gemisch von düsterer Gluth und angstvoller Besorgniß. Dieser eine Blick gab ihr sofort die Haltung zurück. Sie legte das Bouquet auf einen Tisch und trat näher.


(Fortsetzung folgt.)
[110]
Der Eisenbahnschwindel in Amerika.


Zur Warnung für meine Landsleute in Deutschland.


Es ist wohl zu erwarten, daß die Streiflichter, welche der jüngste Börsenkrach in New-York, durch die Zahlungseinstellung von Jay Cooke und Compagnie veranlaßt, auf das Eisenbahnwesen der Vereinigten Staaten geworfen, auch dem deutschen Volke sichtbar geworden und ihm künftig zur Lehre dienen werden. Gleichwohl sind die Anerbietungen der amerikanischen Eisenbahnmusterreiter so verlockend, und die Empfehlungen und Anpreisungen deutscher Geschäftshäuser, ihrer nach Procentsätzen des von ihnen angebrachten Capitales bezahlten Unterhändler, so verführerisch, daß es nicht eine unverdienstliche Aufgabe sein dürfte, durch ein Blatt wie die Gartenlaube, die allen Classen der Deutschen eine willkommene Lectüre ist, ein Bild von der Weise zu geben, wie hier Eisenbahnen zu Stande kommen. Es scheint dies um so dringender, als diese Weise so total verschieden von der deutschen ist und als kaum ein Zweifel besteht, daß dieses System binnen Kurzem wieder in voller Blüthe stehen wird.

Es ist hier nicht nöthig, auf die deutsche, oder ich kann wohl sagen europäische, Weise des Zusammenbringens des benöthigten Capitals und dessen Verwendung zu dem bestimmten Zwecke durch die aus der Wahl der Actionäre hervorgehenden Gesellschaftsbehörden einzugehen. Ich darf das wohl als meinen Lesern bekannt voraussetzen. Einigermaßen diesem System ähnlich war das, welches in den weitaus meisten Fällen in den Vereinigten Staaten vor Beginn des Secessionskrieges vorherrschte. Allerdings bedingten einerseits die ungeheure Ausdehnung des Landes und die mit reißender Schnelle nach Westen über neue Territorien sich hinwälzende Ansiedlung, sowie andrerseits der jedem neuen, allseitiger Verwendung und Speculation ein reiches Feld bietenden Staate anklebende Mangel an brach liegendem Capitale Abweichungen von dem Baarsysteme Europas. Ein Theil des nöthigen Capitales (meistens zwei Drittheile) wurde baar unterzeichnet und in Einzahlungen abgetragen, wie sie die Bedürfnisse des Baues erheischten. Für ein Drittheil wurden Schuldscheine (bonds) ausgestellt, welchen die Rechte erster Hypothekenschuld auf die ganze Bahn und alles Zubehör gegeben wurden, die also Aehnlichkeit mit den in Deutschland üblichen Prioritätsactien hatten.

Schon während des Krieges, besonders aber nach dessen Beendigung, trat eine vollständige Aenderung ein. Die Ueberfluthung des weitaus größten Theiles der Vereinigten Staaten mit über achthundert Millionen Dollars Papiergeld (greenbacks) (Texas, gestützt durch seinen Nachbar Mexico, und alle Staaten und Territorien westlich von Ogden am großen Salzsee haben Gold- und Silberwährung beibehalten) und Noten der Nationalbanken rief in der ganzen Nation einen wahren Speculationstaumel hervor, der um so gefährlicher werden mußte, als die großartigen Betrügereien, zu welchen der vierjährige Krieg gegen die Rebellion die schönste und nie verschmähte Gelegenheit geboten, die allgemeine Moralität tief unter das bisherige Niveau herabgedrückt hatte. Nach allen Richtungen hin entwickelte sich ein Unternehmungsfieber, das vor keiner Summe zurückschreckte, dem kein Hinderniß unüberwindlich erschien.

Als nun drei Jahre vor der durch Congreßacte vorgeschriebenen Zeit die Eisenbahn nach San Francisco fertig gestellt und es ruchbar wurde, daß dabei eine Anzahl Männer von fünf bis zu fünfzehn Millionen Jeder gewonnen hatte, da warf sich die Speculation mit wahrer Tollhauswuth auf den Eisenbahnbau. Schreiber Dieses wohnte damals – es war in den Jahren 1868 und 1869 – den Sitzungen des Congresses bei und hatte Gelegenheit, nicht nur die zahllose Menge der gewissenlosesten Mondscheinprojecte kennen zu lernen, sondern auch die Befriedigung, eine Zahl derselben hintertreiben zu helfen und damals schon – der Erste von Allen – auf die Gefahren der Land- und Geldverschleuderung durch den Congreß aufmerksam zu machen. Kein Stand, kein Alter, kein Geschlecht, das nicht dem rasenden Schwindel Opfer lieferte. Die Hallen des Congresses wurden der bevorzugte Tummelplatz desselben; fast schien es, als ob jedes Mitglied desselben seinen Preis hätte, und das amerikanische Volk mußte die tiefe, unvergeßliche Schmach erleben, Männer, die es zu seinen Besten gezählt und mit Ehren überhäuft hatte, der Verführung der Eisenbahnlobbyisten unterliegen zu sehen. Hunderte von Millionen von Aeckern Landes, das geheiligte Erbe kommender Generationen und die künftige Heimstätte von Hunderttausenden von Einwanderern aus der alten Welt, wurden dem Moloch des Eisenbahnschwindels in den nimmersatten Rachen geworfen und dazu noch als Würze über hundert Millionen Vereinigte-Staaten-Schuldscheine.

Aber auch mit den weitesten Länderstrecken und mit ganzen Schiffsladungen von Staatsschulden allein baut man noch keine Eisenbahnen, dazu bedarf man des baaren Geldes. Dieses zu beschaffen war also die Aufgabe, und mit dieser Aufgabe beschäftigten sich Tag und Nacht und Jahr um Jahr viele der tüchtigsten und ersten Geschäftsleute, aber mehr noch Tausende der gewitzigtsten, schlauesten und gewissenlosesten Schurken aller Nationalitäten.

In kaum glaublich kurzer Zeit entwickelte sich aus dem auf das Höchste gespannten Gährungsprocesse all dieser Elemente ein System, das an Vollkommenheit alles bisher in dieser Richtung Geleistete übertrifft, und mit geringen Abweichungen oder speciellen Verhältnissen Rechnung tragenden Zusätzen und Aufstutzungen bis zum Septemberkrach wunderbar arbeitete, eine und zwar die kühnste Verwirklichung jener Lehre, die ein Yankee einst seinem Sohne als Lebensregel empfohlen haben soll mit den Worten: „Gewinne Geld, auf ehrliche Weise, wenn Du kannst, aber auf alle Falle erwirb Geld!“

Kraft dieses neuen „amerikanischen“ Systems wurde der Bau von Eisenbahnen nunmehr, anstatt wie bisher das Ergebniß eines commerciellen Bedürfnisses, ein Geschäft, dem sich Contractoren und Speculanten widmeten, oft nicht mit Geld oder Credit genug, um eine einzige Schiene zu bezahlen. Das Verfahren ist folgendes:

Der Speculant sammelt um sich eine Anzahl Leute, welche einigermaßen auf der projectirten Linie bekannt, von gewandten, einschmeichelnden Manieren und der öffentlichen Rede, entweder für den Farmersconsum oder den feinen städtischen Gebrauch, mächtig sind. Diese – in Amerikanisch the ring, der Ring – unterzeichnen einige Actien und es ist ihre Aufgabe, bei ihren Freunden und Bekannten auf der Linie noch einige Unterschriften mehr zu erhalten, was denn auch leicht gelingt, denn wer wollte nicht mit einem kleinen Opfer sich eine Eisenbahnverbindung sichern? Es wird diesen Zeichnern zugleich zu verstehen gegeben, daß man es nicht wünsche, viele Actien genommen zu sehen, da ja dadurch der beabsichtigte Vortheil für die Ringleute geschmälert werde, und zugleich die Zusicherung, daß nur ein ganz kleiner Procentsatz des unterzeichneten Capitals eingefordert werden würde. Bis zu welchem kaum glaublichen Grade dies practicirt wurde, beweist zum Beispiel die St. Joseph- und Denver-City-Eisenbahn, die unter passender Behandlung über zwölf Millionen Dollars gekostet hat, noch nicht ausgebaut ist, keinen Verkehr hat, und blos mit vierzehnhundert Dollars Baarunterschrift begonnen wurde!!

Nunmehr beginnt Seitens der Unternehmer wie der Zeichner, denn sie sind nun „in einem Boote“, durch die Presse, deren Herausgeber mit Versprechungen geködert werden, und in Volksversammlungen die Bearbeitung der Bevölkerung, die regelmäßig bald auf Fiebertemperatur steht. Die Grafschaften, Städte, Städtchen und Dörfer werden um Schenkungen, nicht in Geld, bewahre, nein, blos in Schuldscheinen, meistens in zwanzig Jahren zahlbar mit Zinsen, angegangen. Warum sollte man sich weigern? Geld kostet es nicht; wenn’s zur Zahlung kommt, ist man durch die Bank reich geworden, oder fortgezogen, oder todt. Ja, es liegt ein gewisses Hochgefühl darin, zu wissen, daß die Stadt Abdera, die Grafschaft Münchhausen, von der bisher kaum Mitchell’s Atlas etwas wußte, auf den Londoner, Berliner oder Frankfurter Markt kommen sollen. Es entsteht ein Wetteifer, in dem sich die Grafschaften und Gemeinden überbieten. Fünfzigtausend, hunderttausend, ja fünfhunderttausend Dollars werden votirt. Es geht herrlich. Aber mit dem größten Schlage haben die aufopfernden Bürger, die sich der schweren [111] Aufgabe unterzogen haben, alle ihre Mitbürger reich zu machen, bis jetzt gewartet. Denn es steht nächstens eine Wahl von Abgeordneten nach der Staatslegislatur und nach dem Vereinigten-Staaten-Congresse bevor. Die Bahn aber ist für die Entwickelung des Staates, wenn nicht für seine Existenz unentbehrlich, und die Vereinigte-Staaten-Regierung würde auf irgend eine haarscharf nachgewiesene Weise durch den Bau derselben jährlich Millionen gewinnen. Man muß daher den Congreß und die Staatslegislatur wenigstens um Landschenkungen, womöglich aber um Unterstützung durch Bonds angehen. Es müssen deshalb blos Leute als Abgeordnete gewählt werden, die das Wohl des Staats im Auge haben und die ganze Bedeutung des Projects verstehen und zu würdigen wissen. Wer verstände dies aber besser als die Herren Scharf, Schneid etc., das heißt Mitglieder des Ringes oder der Actionäre. Gewöhnlich gelingt es diesen denn auch in der That – durch welche Mittel mag hier übergangen werden, da es mich zu weit führen würde und zu tief in den Schmutz, der die Hallen des Congresses und der Staatslegislaturen umgiebt.

Ist man so weit gelangt, so wird eine hübsche runde Summe erste Hypothekenbonds angefertigt (in dem oben angeführten Falle der St. Joseph- und Denver-City-Bahn mit eintausendvierhundert Dollars gezeichnete Actien nur für nahezu sieben Millionen), und nun reisen die Herren Speculanten, mit Hypothekenbonds, Staats-, Grafschafts-, Stadt- und Dorfschuldscheinen beladen, nach New-York. Sie reisen wie Prinzen und kehren in den ersten und theuersten Gasthöfen ein. Es wird dafür gesorgt, daß ihre persönliche und ihres Unternehmens Bedeutung in den sofortigen Ankündigungen eines oder mehrerer der ersten Tagesblätter nicht zu kurz kommen. Bald erfährt man, wenn nicht Grund vorhanden, es zu verheimlichen – und dies sind die bedenklichsten Fälle –, daß diese oder jene Bank, ein Banquier oder Stockjobber den Vertrieb jener Papiere übernommen. Im Anfange und so lange das Manöver dem Publicum weniger bekannt oder der damit beabsichtigte Betrug nicht so offenbar war, fanden dieselben in den Vereinigten Staaten willige Käufer. Farmer, Handwerker, Wittwen zeigten besonderes Vertrauen dazu und zogen es vor, ihre Ersparnisse in denselben statt in den blos sechs Procent Zinsen zahlenden Sparbanken anzulegen.

Allein bald bemächtigte sich ein sehr still wachsendes Mißtrauen der Masse Derjenigen, welche Geld in kleineren Beträgen anlegen. Das Manöver zog nicht mehr recht – es mußte ein anderes Feld gesucht werden. Da war ja ganz Europa, strotzend von Schätzen: England, das unerschöpfliche; Frankreich, das nach jedem Falle kräftiger sich wieder erhob; Deutschland, das, von der Wünschelruthe des Zauberers Chase vor einigen Jahren berührt, erst anfing zum Bewußtsein seiner Vermöglichkeit zu gelangen. Germany above all!! (Deutschland vor Allem) war der Traum und nicht selten der Spruch der verzweifelten Eisenbahnschwindler. Englisches Capital hatte bereits etwas unangenehme Erfahrungen hier (Erie-Eisenbahn), in Canada (Stille-Meer-Bahn), in Central-Amerika (Honduras- und Costarica-Bahn) gemacht. In Frankreich braute es etwas drohend. Aber die Deutschen, denen noch der Mund überlief von dem hübschen Geschäfte, das sie in Vereinigte-Staaten-Fünf-Zwanzigern gemacht, die keine amerikanischen Zeitungen lesen, die nichts von amerikanischen Verhältnissen wissen und verstehen und so ehrlich sind, daß sie solche Schwindeleien für unmöglich halten, ohne ein Einschreiten der Behörden zu veranlassen – das sind unsere Leute. Und wie leicht macht sich die Sache! Haben wir nicht Hunderte von deutschen Häusern ersten Ranges hier? und wenn diese die Sache nicht im rechten Lichte sehen wollen, so können ja einer oder mehrere unserer unternehmenden Unternehmer einen kurzen dreimonatlichen Ausflug nach Frankfurt und Berlin machen. Ja, so geschah es, und die Yankees hatten richtig gerechnet – Millionen und abermals Millionen Dollars befinden sich heute in den Händen von Deutschen in Actien, die nicht das Papier werth sind, auf das sie gedruckt wurden.

Es ist hier natürlich unmöglich, schon der Raum verbietet es, in jedem einzelnen Falle nachzuweisen, was aus den durch den Papierverkauf erzielten ungeheuren Summen geworden, doch will ich den Versuch machen, meinen Lesern wenigstens einen oberflächlichen Einblick zu geben. Dieselben muß ich vor Allem vor der altmodischen Idee warnen, als sei es die Absicht jener Leute, überhaupt Eisenbahnen zu bauen. Bewahre: sie wollen einfach stehlen; der Eisenbahnbau ist blos der Lockvogel, um Gimpel heranzuziehen, und der Vorwand wird blos so lange und so weit festgehalten und vorgeschoben, wie der Endzweck es dringlich erheischt. Die Gesetze und Gerichte kümmern sich so wenig oder so unvollständig darum, daß der Vereinigte-Staaten-Schatz selbst noch allhalbjährlich die ihm abgeschwindelten Zinsen der Eisenbahn nach dem Stillen Meere bezahlen muß, obwohl er schon weit über sechszig Millionen derselben für die zwei Gesellschaften vorgeschossen und nicht die entfernteste Aussicht auf Wiedererstattung hat. Und nun zu den versprochenen Andeutungen:

1) Es ist leicht begreiflich, daß ein Haus, welches sich mit einem derartigen Unternehmen abgiebt und seinen Namen damit in Verbindung bringt, dies nicht ohne eine hübsche runde Commission thut. Es ist ein ganz Anderes, die Schuldscheine eines Unternehmens gleichsam als Pflegevater auf den Markt zu bringen oder in den auf dem Markte befindlichen zu speculiren. Das Letztere thut Jeder, je nach den Constellationen und seinen Berechnungen; das Erstere führt eine gewisse moralische Verantwortlichkeit mit sich, die auf sich zu laden früher gute Häuser sehr zögerten. In dem mehrangeführten Falle der St. Joseph- etc. Bahn betrug der Verlust an Papieren zum Gesammtwerthe von sieben Millionen achthundertfünfzigtausend Dollars fast genau zwei und eine halbe Million, also etwa dreiunddreißig Procent. Dies ist so ziemlich ein durchschnittlicher Satz, manchmal etwas höher, ein anderes Mal etwas niedriger.

2) Der oben erzählte Gang des Unternehmens macht es unumgänglich, die active Hülfe einer großen Menge von Mittelspersonen zu gewinnen, entgegenstehende Interessen abzukaufen und principiellen oder speculativen Gegnern den Mund zu stopfen. Alle diese Elemente aber verstehen das Spiel vollständig, und da sie die Unternehmer auf Millionen Jagd machen sehen, so stellen sie ihre Forderungen demgemäß. Vom gewöhnlichen Wirthshauspolitiker und Wahlrowdy durch die Reihe der einflußreichen Männer, Stadträthe, Grafschaftscommissäre und Richter bis zum Abgeordneten in der Staatslegislatur und im Congreß und dem unentbehrlichen Lobbyisten hält Alles die Hände auf, und manches Hunderttausend wandert dahin, natürlich in Schuldscheinen oder auf die Realisirung des Projectes gestellten Versprechungen, damit alle diese Leute und ganz besonders die Presse mit den Unternehmern „in ihres Glückes Schiff steige“.

3) Der unverkäuflich bleibende Theil der Schuldscheine wird an in- und ausländische, besonders englische Lieferanten von Schienen, anderen Eisentheilen, Locomotiven, Wagen u. dgl. als Theilzahlung abgeliefert.

4) Wie sich aus dem oben über den Ursprung des Unternehmens Gesagten ergiebt, besteht eigentlich gar keine Eisenbahngesellschaft im deutschen Sinne mit den von den Actionären gewählten Collegien der Directoren und Verwaltungsräthe. Die „kühnen“ Unternehmer mit den wenigen oft blos euphemistisch so genannten Actionären haben das Ganze in’s Leben gerufen und betrachten sich also auch vollständig berechtigt, ohne alle Controle und ganz nach ihrem Gutdünken mit ihren zusammengebrachten Mitteln zu wirthschaften. Sehr natürlich und entschuldbar halten sie sich selbst und alle ihre Verwandten bis zum fernsten Grade berechtigt, zuerst jeden möglichen Privatvortheil zu ziehen. In dem vielseitigen Geschäftsbetriebe wird eine an’s Unglaubliche grenzende Verschwendung in Gehältern und Beamtenpersonal organisirt, und die Verschleuderung und das Raubsystem hat keine andere Grenze als blos die durch die Erwägung gezogene, es nicht zu toll zu treiben, damit man nicht die Gans schlachte, bevor sie noch Zeit gehabt, alle ihre goldenen Eier zu legen.

5) Mit dem Beginne des Baues und den fällig werdenden ersten Zinsen für die ersten Hypothekenscheine wird es nöthig, auf der Zinszahlung durch die Städte, Grafschaften etc. zu bestehen. Diese, denen mittlerweile einige Streiflichter aufgegangen, machen allerlei Einwendungen, weigern sich zuletzt. Die Folge sind zahlreiche, weitläufige und kostspielige Processe.

Man kann als ziemlich sicher annehmen, daß die ursprünglichen Unternehmer und Unterzeichner inzwischen die von ihnen genommenen oder unterschriebenen Antheile veräußert haben. Dies ist wohl meistens und namentlich dann der Fall, wenn das [112] Unternehmen nur darauf ausging, seinen „Gründern“ Gelegenheit zu geben, sich während der dem Baue selbst vorhergehenden Schritte zu bereichern. Die höheren Eisenbahnschwindler sehen aber auf Leute solchen Calibers als Stümper herab; denn da, wo diese sich befriedigt, fast beschämt und die Nemesis fürchtend, möglichst still zurückziehen, fängt das Talent und die eiserne Frechheit jener erst an sich zu entwickeln, und zwar in einem Manöver, das vorläufig als die höchste Blüthe der Eisenbahnwissenschaft bezeichnet zu werden verdient. Es ist dies das in den Vereinigten Staaten sogenannte Credit-Mobilier-System, dessen Erfinder Oakes Ames von Boston war. Er setzte es zuerst beim Baue der Union-Pacific-Eisenbahn (von Omaha am Missouri bis Ogden am Großen Salzsee) in’s Werk und hinterließ bei seinem vor einigen Monaten erfolgten Tode über fünfzehn Millionen Dollars als Lohn seiner Erfindung, bei deren Beginne er kaum so viele Tausende besaß. Es ist dies Derselbe, der, zum Durchsetzen seiner schönen Idee in den Congreß gewählt, die bedeutendsten Männer desselben mit seinen Credit-Mobilier-Actien bestach. Um meinen Lesern das System verständlicher zu machen, will ich den Fall einer solchen Bahn erzählen, bei dem es angewendet wurde.

Im Staate Illinois wurde von Gilman nach Springfield eine hundertzwanzig Meilen lange Bahn für ein und eine halbe Million Dollars erbaut. Sie zahlte die laufenden Ausgaben und einen bedeutenden Ueberschuß zur Deckung der Zinsen des Anlagecapitals, so daß nicht einzusehen war, weshalb es nicht eine gute Speculation sein sollte. Aber nun wollen wir einmal zusehen, wie manipulirt wurde. Die ersten Faiseurs unterzeichneten für dreißigtausend Dollars Actien und zahlten darauf zehn Procent oder dreitausend Dollars. Sie bewogen Grafschaften und Städte dazu, für fünfhundertachtundneunzigtausend Dollars Actien zu zeichnen, die mit Schuldscheinen bezahlt wurden. Dann gaben sie für drei Millionen Dollars (also das Doppelte der ganzen Kosten der Bahn) erste Hypothekenscheine (Prioritätsactien) aus. Die thatsächliche Folge hiervon war, daß der Werth aller früher unterzeichneten Actien auf Nichts reducirt wurde, und ihnen für weitere Operationen ein nettes Sümmchen zur Verfügung blieb. Wie sollte man es nun anfangen, um so viel wie möglich hiervon sich anzueignen? Die Directoren oder einige derselben begaben sich nach Philadelphia, woselbst sie unter Zuziehung einiger Andern ein „Credit-Mobilier“-Geschäftchen unter dem Namen die „Morgan-Verbesserungsgesellschaft“ organisirten. Diese letztere Gesellschaft, – d. h. die Directoren, als Credit-Mobilier organisirt, – übernahm nun von denselben Personen als Directoren der genannten Eisenbahngesellschaft den Bau der Bahn und erhielt als Zahlung 1) zwei Millionen der Prioritätsactien (die übrige Million blieb für Betriebsmaterial stehn), – 2) eine Million und vierhunderttausend Dollars in Actien, – 3) fünfhundertachtundneunzigtausend in Stadt- und Grafschaftsschuldscheinen (also im Ganzen drei Millionen neunhundertachtundneunzigtausend Dollars). Darauf verpachteten dieselben Directoren die Bahn auf ewige Zeiten an die Pennsylvanische Eisenbahngesellschaft, – so daß den Actionären absolut nichts übrig blieb. Aber damit noch nicht genug, machten der Präsident und zwei Directoren, als Zwei-Dritttheil-Eigenthümer einer Steinkohlenmine, mit sich selbst als Präsident und Directoren der Eisenbahn einen Vertrag, wodurch die Bahn verpflichtet wurde, alle ihre Kohlen zu einem festgesetzten Preise von jener Mine zu kaufen und die Kohlen derselben zu einem bestimmten Preise zu verfahren.

Ich habe diesen Fall so ausführlich beschrieben, weil er als Muster für ähnliche dienen kann und weil die Thatsachen gerichtlich festgestellt wurden in einem Verfahren, das die Actionäre gegen die Directoren anstrengten und dessen Ergebniß war, daß die Handlungsweise der Directoren für Vertrauensbruch erklärt und die Bahn einem vom Gerichte bestellten Dritten (Receiver) so lange zur Verwaltung übergeben wurde, bis sie den wahren Eigenthümern zurückerstattet werden könnte. Es würde mich zu weit führen, wollte ich alle die Bahnen aufzählen, die in dem erläuterten Systeme gebaut werden. Die Ausnahmen sind so wenige, daß ich mich für berechtigt halte zu sagen: alle.

Ich habe in Vorstehendem ängstlich vermieden, Namen von Personen zu nennen, obwohl mir die Hauptunternehmer und Schwindler ebenso gut bekannt sind, wie die hiesigen und deutschen Häuser, welche sich mit dem sauberen Geschäfte abgeben, das Vertrauen ihrer Mitbürger zu mißbrauchen und die Ersparnisse fleißiger Arbeiter, ja die von Wittwen und Waisen in den Strudel hiesigen Eisenbahnschwindels zu werfen, sie, die Millionäre, um ein paar Dollars Commission zu gewinnen. Ich habe es vermieden, nicht weil ich meiner Sache nicht gewiß wäre oder persönliche Unannehmlichkeiten scheute, sondern weil ich es für unpassend halte, ein Blatt wie die Gartenlaube zum Pranger zu benutzen. Ich schrieb nicht um Verbrechen zu strafen – dafür sind die Gerichte –, sondern um, getreu der Mission der Presse, die Unerfahrenen zu warnen, sie zu warnen nicht nur vor dem fremden Verführer, sondern auch vor der eigenen Geldgier, die jeder vernünftigen Ueberlegung spottet. Wenn wahr wäre, was ihnen vorgespiegelt wird, dann würden die Eisenbahnpapiere nicht den Deutschen angeboten werden, es würden sich Käufer genug hier finden, denn für jede wohlbegründete Speculation ist Geld genug hier. Die hölzernen Schinken und gedrechselten Muscatnüsse – eine hübsche Yankee-Erfindung – wurden nicht im eigenen Lande consumirt, sondern nach den spanischen Colonien vertrieben.

New-York, im Januar 1874.
G. O.


Aus der Beamtenwelt.


Nr. 4. Der Postschein.


Am 9. März 1869 saß ich Morgens in meiner Amtsstube hinter dem Schalter und hatte alle Hände voll zu thun. Vor dem Fenster stand eine Menge von Leuten, die sich drängten und stießen, um einen Platz möglichst nahe an meinem Schiebefensterchen zu erhalten, und die in der Absicht, schnell abgefertigt zu werden, mir Rufe und Bitten zukommen ließen, welche mich nur störten und die Erledigung meiner Geschäfte verlangsamten. Ich sollte nach ihrer Ansicht zugleich Geldbriefe eintragen, Passagiere einschreiben und Francosätze in den Listen nachschlagen. Während ich in der vollsten Arbeit war, mir die Kehle heiser schrie, mir die Finger lahm schrieb und innerlich über die Rücksichtslosigkeit eines Theiles der Menschen da draußen, die nie das Warten gelernt zu haben schienen, fluchte, trat einer unserer Unterbeamten an mich heran.

„Herr Postexpedient,“ sagte er, „da draußen ist ein Herr, der Sie auf einen Augenblick zu sprechen wünscht.“

„Sagen Sie ihm,“ entgegnete ich, „daß ich augenblicklich keine Secunde Zeit zu Gesprächen übrig hätte!“

Der Unterbeamte ging hinaus und kam nach einigen Minuten zurück.

„Der Herr will sich durchaus nicht abweisen lassen; er sagt, in einem Scheine, den Sie ihm ausgestellt hätten, wäre ein Irrthum enthalten, und wenn Sie ihm nicht einen Augenblick zur Aufklärung schenken könnten, so müßte er sich bei der Oberpostdirection beschweren.“

Jeder Beamte weiß, wie entsetzlich diese Beschwerden sind. Wenn man seine Pflicht thut – und die erfüllen, Gott sei Dank! ja fast Alle –, so befindet sich der Beschwerdeführer im Unrecht und bekommt auch Unrecht; aber wie viel Schreiberei erfordert das nicht erst! Die Beschwerde geht durch alle Instanzen bis zu Demjenigen, über den die Beschwerde lautet, hinunter, zur Verantwortung etwa binnen drei Tagen. Um nicht Unrecht zu bekommen, muß man den Herren Vorgesetzten die Sache ganz außerordentlich deutlich machen und den gehorsamsten Bericht so verfassen, daß Form und Inhalt tadellos sind. Hat man sich damit auch genugsam gequält, so kann es doch Jedem begegnen, daß er im Berichte ungenaue Kenntniß dieser oder jener Bestimmung verrathen hat, und dann wehe dem Unglücklichen, gegen welchen dem Vorgesetzten ja ein ganzes Arsenal von Mahnungen, Verweisen, Geldstrafen und anderen schönen Mitteln zu Gebote steht! Kurz, das Berichten auch auf die alleralbernsten Beschwerden ist immer ein Ding, das Jeder, [113] der es kennt, auf das Peinlichste vermeidet. Ich entschloß mich daher, dem Petenten Gehör zu geben, und sagte dem Unterbeamten, er könne den Herrn in das Bureau führen.

Gleich darauf stand ein sehr elegant gekleideter Herr vor mir, der mir völlig fremd war. Er hatte einen schwarzen, in der Mitte ausgeschnittenen Bart, graues Haar, etwas eingefallene Wangen, eine auffallend bleiche Gesichtsfarbe und große graue Augen. Sein Benehmen war sehr sicher, gewandt und höflich.

„Was wünschen Sie?“ fragte ich kurz.

„Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, Herr Oberpostsecretär,“ redete er mich mit einer leichten Verbeugung an, „daß ich Sie in so vieler Arbeit störe. Es handelt sich nur um ein ganz unbedeutendes Versehen, das ich erst in diesen Tagen zufällig entdeckt habe.“ Er griff in die Tasche und holte einen Zettel heraus. „Sind Sie nicht derselbe Herr, der mir am Sylvesterabend diesen Posteinlieferungsschein ertheilt hat?“

Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Schein. Da er von meiner Hand herrührte, bejahte ich seine Frage und erkundigte mich, worin denn der Irrthum stecke.

„Im Datum. Ich habe Ihnen den Geldbrief, wie gesagt, letzten Sylvester, also am 31. December 1866 übergeben; Sie haben mir aber hier hineingeschrieben: ‚.....burg, den 31. December 1867.‘ Da wir heute den 9. März 1867 zählen, haben wir bis zu dem Tage der Einlieferung des Briefes noch mehr als neun Monate. Sie haben mir vielleicht dieses unmögliche Datum auf den Schein gesetzt, weil Sie einzelne Sachen am letzten December schon mit der Jahreszahl 1867 versehen mußten. …“

„Und was wünschen Sie nun?“

„Daß Sie gefälligst das richtige Datum auf dem Scheine angeben.“

Ich nahm den Schein und betrachtete ihn aufmerksam. Gegenstand war ein Brief, angegebener Werth dreitausend Thaler, Zeichen und Gewicht drei und ein Drittel Loth, Adressat Gutsbesitzer Fernow und Bestimmungsort Hagen. Alle diese Bezeichnungen hatte ich geschrieben. Auch meine Namenszüge waren es, die unter dem Worte „Post-Annahmestelle“ standen. Während ich mich noch bedachte, was ich thun sollte, hörte ich, wie sich in der Menge vor dem Schalter laute Rufe nach Abfertigung erhoben, und als jetzt noch der Fremde sagte: „Wenn Sie mir keinen richtigen Schein ausstellen wollen, so fällt die Verantwortung etwaiger Folgen ganz auf Sie; geben Sie mir den Schein nur wieder!“ –nahm ich rasch meine Feder und malte über die Ziffer 7 in der Zahl 1867 eine dicke 6. Dann gab ich den Schein dem Herrn zurück, der ihn leichthin in die Brieftasche steckte, und stürzte zu meinen Geschäften am Schalter, ohne weiter auf ihn Acht zu geben.

Nachdem ich bis ein Uhr eine wahre Sündfluth von Arbeit bewältigt hatte, ging ich zu Tische und dann zu meiner Braut. Im Gespräch mit derselben erinnerte ich mich, wie schwer es mir immer wird, im Anfange des neuen Jahres die Zahl des verflossenen zu vermeiden, und daß ich in den ersten Tagen des neuen Jahres stets irrthümlich aus alter Gewohnheit die Zahl des vorhergehenden hinsetze. Ich wußte nicht, daß mir je das Umgekehrte begegnet wäre, und es kam mir höchst wunderbar vor, daß ich am 31. December 1866 die Zahl 1867 lediglich aus Vergeßlichkeit geschrieben haben sollte. Allein es war ja sehr leicht möglich, und in der Annahme dieser Möglichkeit hatte ich auch das Verlangen des Fremden erfüllt und ihm den Schein verbessert. Ich nahm mir vor, am Abend die Bücher nachzusehen und zu prüfen, ob ich bei der Eintragung des Geldbriefes in die Annahmeliste denselben Fehler begangen hätte. Aber als ich Nachmittags in die Amtsstube kam, fand ich wieder so viel Arbeit vor, daß ich mein Vorhaben vergaß. Später fiel mir die Begebenheit noch einmal ein, und ich tröstete mich damit, daß, da ich mich in den letzten Tagen des Jahres 1866 verlobt hatte, in dem Rausche jener Tage meine Hand mechanisch verschiedene Dinge geschrieben haben mochte, von denen mein Kopf nichts wußte, so wenig mir dies auch wahrscheinlich war. – –

Es war am 14. Juni Morgens gegen zehn Uhr – ich werde dieses Datum nie vergessen – als der Postdirector einen Eleven in das Bureau schickte, welcher mir die Geldbriefannahmeliste vom Monat December 1866 abforderte. Ich suchte sie heraus und gab sie dem Eleven. Nach kurzer Zeit kam dieser zurück und citirte mich zum Director. Ich zog meinen Schreibärmel aus und begab mich in dessen Arbeitszimmer. In diesem fand ich außer dem Director, der mich auffallend kühl empfing, zwei mir unbekannte Herren vor, mit denen der Director augenscheinlich soeben ein sehr erregtes Gespräch geführt haben mußte. Auf den großen Linden vor den Fenstern des Zimmers und auf dem grünen Tuche des Pultes lag der prächtigste Sonnenschein und die Finken jubilirten draußen, als hielten sie Hochzeit, während das Gesicht meines Vorgesetzten nur Sturm und Gewitter verkündete. Als ich eben überlegte, was ich denn verbrochen haben könne, wandte sich der Director an die beiden Herren und sagte:

„Die Angelegenheit ist zu wichtig, als daß ich mir eine Entscheidung in derselben anmaßen dürfte. Haben Sie die Güte, ich bitte Sie, und folgen mir mit dem Postexpedienten da zum Chef, dem Herrn Oberpostdirector, derselbe wird auf Ihren Vortrag befinden.“ Der Director schritt zur Thür und begab sich mit uns in das elegante Bureau des Chefs.

Wir waren bald in dasselbe gelangt. Derselbe, ein äußerst liebenswürdiger, herzensguter und wohlwollender alter Herr, erhob sich bei unserm Eintritte von seinem Bocke, zog sich einige weiße spärliche Haare aus dem Nacken über den kahlen Scheitel und fragte nach unserm Begehre.

„Hier sind,“ nahm der Director das Wort, „die Herren Justizrath Giese aus Hagen und Rechtsanwalt Helmreich von hier. Herr Oberpostdirector Schmidt. Herr Justizrath, Sie wollen die Freundlichkeit haben, den Herrn Oberpostdirector selbst unter Mittheilung des Sachverhalts zu befragen.“

„Ich werde mich kurz fassen,“ sagte dieser, ein hoher stattlicher Mann mit rundem Gesichte und blondem Schnurrbarte. „Ich komme im Namen und Auftrage meines Mandanten, des Gutsbesitzers Fernow in Hagen. Herr Fernow hat eine Darlehnsforderung an den Rittergutsbesitzer Kuntz hierselbst zum Betrage von sechszigtausend Thalern. Diese Forderung ist auf dem Gute des Herrn Kuntz eingetragen, und Herr Kuntz hat am ersten Januar jedes Jahres die Zinsen des Capitals im Belaufe von dreitausend Thalern an meinen Mandanten in Hagen zu zahlen. Die am ersten Januar 1867 fällige Zinszahlung ist ausgeblieben. Nachdem wir den Herrn Kuntz verklagt haben, hat derselbe eingewendet, er habe das Geld rechtzeitig zur Post gegeben. Auf diese Einrede kommt es im Processe meines Erachtens nicht an; denn Herr Kuntz ist durch die Darlehnsurkunde, wie ich sie auslege, verpflichtet, das Geld in Hagen zu zahlen, entweder persönlich oder durch einen Bevollmächtigten. Wir wollen jedoch Herrn Kuntz nicht drücken, ihm namentlich nicht unnütze Kosten verursachen, und so sind wir denn mit seinem Vertreter, Herrn Rechtsanwalt Helmreich hier, dahin übereingekommen, daß wir eventuell die Klage zurücknehmen, wenn uns Herr Kuntz, juristisch gesprochen, seinen Regreß cedirt. Das heißt: Herr Kuntz soll uns den Entschädigungsanspruch abtreten, den er an die Post hat –“

„Und wir sind hier,“ nahm der Rechtsanwalt Helmreich das Wort, „um Sie zu bitten, Herr Oberpostdirector, uns gütigst Ihre Ansicht über die Anerkennung dieses Anspruchs mittheilen zu wollen. Sagen Sie uns, daß die Postbehörde für den verlorenen Geldbrief ohne Weiteres aufkommen wird, so cedire ich sofort unsere Forderung an Sie dem Herrn Fernow. Müssen Sie aber Schwierigkeiten erheben, so –“

„Wird aus der Zurücknahme der Klage nichts,“ unterbrach ihn Giese, „denn mein Mandant hat keine Lust auf den Ausgang eines Processes zwischen Herrn Kuntz und der Post über den Schadenersatz zu warten. Unser Proceß mit Herrn Kuntz mag dann seinen Gang gehen.“

„Meine Herren,“ nahm der Chef das Wort, während mir plötzlich eine dunkle Ahnung aufstieg, „Sie interpelliren mich da über eine Sache, für die mir noch alle Grundlagen fehlen. Zunächst muß ich Sie bitten, mir Ihre Beweise dafür, daß der Geldbrief verloren gegangen, vorzuführen.“

„Der Beweis, daß er verloren gegangen ist, liegt mir nicht ob, Herr Oberpostdirector,“ antwortete der Rechtsanwalt Helmreich, „ich habe nur den Beweis zu führen, daß der Brief aufgegeben ist. Und das ist er; denn wir haben nicht allein mehrere Zeugen, welche gesehen haben, wie Herr Kuntz am 31. December 1866 das Geld einpackte und zur Post trug, wir haben auch hier diesen Annahmeschein Ihres Postexpedienten; wir haben ferner [114] dessen am 9. März 1867 im Bureau vor drei Zeugen abgegebenes, ausdrückliches Anerkenntniß, es habe mit dem Postscheine seine Richtigkeit – was wünschen Sie mehr?“

Wie mit einem Schlage trat mir jetzt der Vorfall vom 9. März mit voller Helligkeit vor die Seele, und der kalte Angstschweiß kam mir auf die Stirn.

„Daß der Brief nicht angekommen ist,“ fuhr Herr Helmreich fort, „hat Ihnen Herr Justizrath Giese schon erzählt.“

„Ich habe Ihnen bereits gesagt,“ warf dieser ein, „daß ein solcher Beweis meines Erachtens ganz unerheblich ist, weil wir den Schaden nicht tragen würden, sondern Sie oder die Post; aber wenn es darauf ankäme, könnte ich ihn allerdings führen. Mein Freund, der Postvorsteher Lauk in Hagen, hat schon privatim constatirt, daß ein solcher Brief in Hagen nie eingelaufen und ausgegeben ist. Er sagte, erfahrungsmäßig verschwänden Werthsachen, wenn sie fortkämen, in der Regel am Aufgabe- oder Ausgabeort, selten dagegen auf dem Transporte, und Alles spreche hier dafür, daß der Geldbrief nicht am Ausgabeort verschwunden sei. Ich und mein College haben uns ganz zufällig hier getroffen und dachten die Sache kurzer Hand durch eine Audienz bei Ihnen, Herr Oberpostdirector, abmachen zu können. Wollen Sie die Güte haben, uns Bescheid zu geben, so werden wir Sie auch keine Minute länger als nöthig belästigen.“

Der Oberpostdirector hatte während des ganzen Gesprächs dasselbe gleichgültige Aussehen beibehalten. Er sagte höflich zu den Advocaten: „Die Herren werden wohl so freundlich sein, einen Augenblick in mein Sprechzimmer hier links zu treten. Ich muß mit meinen Beamten conferiren, ehe ich Ihnen Bescheid geben kann.“

Als die Beiden abgetreten waren, wandte er sich an den Director mit der Aufforderung, ihm Vortrag über die Sache zu halten, und hieß mich, so lange dieser dauere, draußen zu verweilen. Nach einer für mich endlos langen Zeit rief er mich wieder hinein. Er war allein. Sein gutes Gesicht sah sehr bekümmert aus.

„Haben Sie am 31. December 1866 einen Geldbrief mit dreitausend Thalern angenommen?“

Ich konnte nicht Ja und nicht Nein antworten. In den letzten Tagen des December ist der Geldverkehr ein außerordentlich reger und er hatte kurz vor Neujahr 1867 zehn- bis zwanzigtausend Thaler täglich betragen. Ob darunter auch ein Brief mit dreitausend Thalern gewesen war, wer konnte sich dessen erinnern? Ich sagte das dem Vorgesetzten.

„Schlimm,“ erwiderte er, „dann haben wir als nächsten Anhalt nur den Schein und die Bücher. In den Büchern – hier sind sie – ist der Brief nicht verzeichnet …“

„Um Gotteswillen,“ stieß ich, auf das Höchste erschreckt, hervor. „Unmöglich, unmöglich …“

„Nicht verzeichnet, also bleibt nur der Schein. Betrachten Sie den! Ist er von Ihnen ausgestellt worden?“

Bleich vor innerer Aufregung, starrte ich das Papier an. Ich hoffte, es sollte mir irgend etwas daran fremd sein; aber nein, es war das gewöhnliche Formular, ausgefüllt mit meinen Schriftzügen und an diesen meinen Buchstaben war kein Häkchen und kein Punkt, den ein Anderer als ich gemacht haben konnte. Und doch sagte mir eine innere Stimme, die Sache könne nicht in Ordnung sein.

„Es ist unbestritten,“ antwortete ich, „daß ich das Papier beschrieben habe. Es hat jedoch schon einmal in meinem Leben eine Rolle gespielt, und zwar folgende.“ Ich erzählte dem Vorgesetzten darauf den Vorfall vom 9. März, den er kopfschüttelnd anhörte.

„Das ist ja eine fatale, merkwürdige Geschichte,“ sagte er nachdenklich, „das heißt nur dann merkwürdig, wenn Sie von jeder Schuld frei sind. Das ist aber schon der dritte Geldbrief, der seit Ihrer Amtsführung verloren gegangen ist. Sie wollen heirathen; Ihre Braut ist arm; Sie schaffen die ganze Aussteuer an; Sie brauchen dazu Geld –“

„Halten Sie ein, Herr Oberpostdirector!“ rief ich empört, „verurtheilen Sie nicht, ehe Sie die Sache kennen! Ich schwöre Ihnen, daß ich niemals auch nur einen Pfennig bei Seite gebracht habe.“

Der Oberpostdirector sah mir mit bewegter Miene einen Moment tief in die Augen. Sein Blick war so scharf und durchdringend, daß ich ihn nicht ausgehalten haben würde, hätte ich auch nur das mindeste Schuldbewußtsein gehabt. Ich blickte ihm frei und frank in’s Gesicht, dann lenkte er seine Augen wieder auf das verhängnißvolle Papier, das vor ihm lag, und sagte kurz:

„Leider spricht der Schein gegen Sie. Ich kann unter diesen Umständen nichts Anderes thun, als Ihnen achtundvierzig Stunden Bedenkzeit gehen. Binnen dieser Frist haben Sie den Beweis zu schaffen, daß der Brief niemals eingeliefert worden ist. Gelingt Ihnen dies nicht, so haben Sie um Ihre Entlassung einzukommen. Dies ist mein letztes Wort. Sie können Gott danken, daß ich Sie, nachdem Sie die Ausstellung des Scheines eingeräumt haben, nicht sofort verhaften lasse.“

Dann schritt er zu dem Zimmer, in dem die Adressaten verweilten, gab Helmreich den Schein zurück und theilte ihnen mit, daß er ihnen nach drei Tagen die bestimmteste Antwort geben könne und werde. Ich hörte dies, auf meinem Platz wie angenagelt stehen bleibend, mit an, ja, ich sah deutlich, wie einer der Adressaten, der Justizrath Giese, beim Fortgehen sein Taschentuch verlor; ich machte die Bemerkung, wie dick die Stiefelsohlen des Herrn Oberpostdirectors seien, und zugleich wußte ich, daß ein ungeheures Unglück über mir schwebte und daß ich nach achtundvierzig Stunden wahrscheinlich ein ehrloser und brodloser Mensch sein würde, ein Hund, auf den die Anderen mit Fingern zeigten, ein –

Eine Handbewegung des Oberpostdirectors wies mich zur Thür hinaus.




Es begann jetzt die Hetzjagd auf Beweise. Ich hatte bis zum Sechszehnten Mittags Zeit für meine Nachforschungen und überlegte in der ersten Stunde, wie ich diese Zeit verwenden solle. Ich entwarf einen Feldzugsplan. Zunächst schien mir die Ermittelung erforderlich, ob der Rittergutsbesitzer Kuntz Gründe zur Vornahme einer Fälschung hatte. Ich begann deshalb damit, daß ich Erkundigungen über seine Verhältnisse einzog, und hatte das große Glück, sehr bald auf einen Mann zu stoßen, der mit der Lage des Herrn Kuntz genau vertraut war und mir für einen Zehnthalerschein noch an demselben Abend Alles erzählte, was ich wissen wollte. Der Inhalt seiner Mittheilungen war kurz folgender.

Der Rittergutsbesitzer Kuntz besaß ein sehr hübsches und ertragreiches Areal. Dasselbe war für jene sechszigtausend Thaler, die der Gutsbesitzer Fernow zu fordern hatte, verpfändet. Außerdem hatte Herr Kuntz aber noch andere Schulden zum Betrage von sechs- bis achttausend Thalern, nicht eingetragene große und kleine Lappenschulden. Um die Schuld von sechszigtausend Thalern auf einen niedrigeren Zinsfuß zu bringen und die Lappenschulden zu bezahlen, hatte er sein Gut zur Aufnahme in die sogenannte „Landschaft“ angemeldet und um ein Darlehen von achtzigtausend Thalern in Pfandbriefen nachgesucht. Die Gewährung dieses Gesuches hing von dem Syndicus des Verbandes der Rittergüter ab, und dieser, das wußte man allgemein, befürwortete kein Darlehen an einen Schuldner, gegen den im letzten Jahre Execution vollstreckt war. Unter diesen Umständen mußte sich Kuntz, wollte er die Aussicht auf Ordnung seiner Verhältnisse nicht verscherzen, ängstlich vor Executionen hüten. Er hatte im December 1866 gerade das Geld zusammen, das er als Zinsen nach Hagen zu schicken hatte, als sich plötzlich das Gerücht verbreitete, er sei insolvent geworden. Jetzt stürmten ihm die Gläubiger das Haus. Er hatte sich darauf an Bekannte, Verwandte, Freunde und Fremde mit der Bitte gewandt, ihm wenigstens so lange das Geld für die Befriedigung der am meisten stürmischen Gläubiger zu leihen, bis er die Pfandbriefe erhalte, sie verkaufe und mit dem Erlös ihnen Alles zurückzahle. Meine Quelle wußte, daß ihm diese Bitten an vielen Orten abgeschlagen worden waren. Am letzten December 1866 hatte er dann die dreitausend Thaler eingepackt und sie zur Post getragen. Er war darauf mit dem Annahmeschein zurückgekehrt. Im Anfang des Monats Januar hatte er sämmtliche auf Bezahlung dringende Gläubiger befriedigt und dazu mindestens drei- bis viertausend Thaler ausgegeben. Bis zu einer Execution war es so nicht gekommen.

Der, welcher mir das erzählte, war bisher Inspector, [115] Schreiber, Commissionär und Factotum bei Kuntz gewesen, daher seine genaue Kenntniß.

Der folgende Morgen fand mich im Bureau des Rechtsanwalts Helmreich. Ich erlangte eine Unterredung mit dem Bureauvorsteher, bevor der Rechtsanwalt in seiner Geschäftsstube erschienen war. Diese Unterredung kostete mich den zweiten Zehnthalerschein; dafür wurde mir aber auch der Einblick in die Manualacten des Advocaten gestattet. In diesen steckte der Original-Einlieferungsschein, den ich ausgestellt haben sollte und von dem nur eine Copie als Beweisstück zu den Proceßacten Fernow wider Kuntz gegeben worden war. Ich nahm das Actenheft in die Hand und trat damit zum Fenster. Vor diesem lag ein öder Hof, auf welchen ab und zu ein Regenschauer niederklatschte. Hier und da trat auch die Sonne durch die Wolken und erhellte den nassen Hof und die staubigen Acten da drinnen mit demselben freundlichen Glanz. Ich hob den Postschein, der lose im Heft lag, aus demselben heraus und betrachtete ihn. Ein Fremder müßte geglaubt haben, ich hätte das Papier mit den Augen durchbohren wollen; so stierte ich es an. Natürlich richtete ich meine Aufmerksamkeit zunächst auf die Jahreszahl; denn hätte es mit dieser seine volle Richtigkeit gehabt, so würde der Absender wohl nicht in die Amtsstube gekommen sein, dachte ich, um die Zahl von mir verändern zu lassen. Allein mit welcher Herzensangst ich auch jeden Strich prüfte und studirte, es war ganz unzweifelhaft: da hatte früher gestanden: „den 31. December 1867“, und ich hatte durch die unzweifelhafte Sieben dick eine Sechs geschrieben. Ich hielt den Schein gegen das Licht, wendete ihn links, wendete ihn rechts, besah die Vorder-, durchforschte die Rückseite; aber Alles vergeblich. Trostlos ließen meine Hände das Papier sinken; es war gar nicht anders möglich: war dieser Schein echt, so hatte Herr Kuntz den Brief auch eingeliefert und dann, so unglaublich es mir schien, mußte ich ihn einzutragen vergessen haben, und er mußte verschwunden sein. Aber es war ja gar nicht denkbar, daß ich die Eintragung vergessen haben sollte, und daher war der Brief nicht eingeliefert, und deshalb mußte der Schein falsch sein. Der Bureauvorsteher, der mein Gebahren schon lange mit ängstlichen Blicken verfolgt hatte, sagte barsch:

„Jetzt geben Sie mir meine Acten wieder, Gutester! Es könnte sonst durch irgend einen Zufall etwas wegkommen.“

Ich nahm den Schein nochmals auf und hielt denselben, ihn wie ein Ertrinkender, der den Horizont über sich zum letzten Male sieht, betrachtend, in die Höhe. In diesem Augenblicke flog ein freundlicher Sonnenstrahl zum Fenster herein und auf den Schein. Da, da war es! Ich hatte es gefunden! Gott sei Dank!

Ein nervöses Zittern durchlief mich vom Scheitel bis zur Sohle. Ich versuchte, mich möglichst zu beherrschen, legte das Papier anscheinend ruhig wieder in die Acten, übergab diese dem Bureauvorsteher, ergriff meinen Hut, empfahl mich und stürzte davon. Ich eilte auf dem kürzesten Wege zum Postgebäude. Ich glaube, daß ich auf der Straße ein halbes Dutzend kleine Kinder umgerannt habe und mit tausend Personen carambolirt bin; ich erinnere mich dunkel, daß ich gegen einen Milchwagen rannte und Gefäße mit Milch umstieß. Ich meine, daß ich einen Leichenzug durchbrechen mußte und dabei fürchterliche Püffe erhielt, aber endlich, endlich war ich am Ziele.

Im Postgebäude angekommen, eilte ich zu meinem Freunde, dem Postassistenten B., welcher den Schlüssel zu der Stube der reponirten Acten hatte, bat ihn, mir dieselbe aufzuschließen, und stürzte dann, während er mir langsam folgte, zu jenem Zimmer. Dort erklärte er sich bereit, mir zu helfen, wenn ich irgend etwas suchen wollte, und als ich ihm entgegnete, ich müsse in der Annahmeliste für December 1864 nachforschen, ob sich dort nicht ein Geldbrief von dreitausend Thalern nach Hagen eingetragen fände, fingen wir Beide an, in dem Actenwust zu wühlen, daß die Staubwolken um uns aufwirbelten.

„Um ein Haar,“ sagte B., „wärst Du zu spät gekommen; denn die Listen für 1864 werden binnen Kurzem zum Einstampfen verkauft werden. Jetzt ist es aber noch früh genug, wie es scheint; denn hier habe ich die letzte Liste von 1864.“

In fünf Minuten mußte sich mein Schicksal entschieden haben. Während mein Freund gleichgültig in dem Actenstücke blätterte, nahm ich wahr, wie mir dicke, schwere, kalte Tropfen über die Stirn rannen. Ich fühlte, wie mich eine große Schwäche überkam, und mußte mich an ein Repositorium lehnen, damit ich nicht umfiel. Ich wollte meinem Freunde die Acten fortnehmen und selbst darin blättern, allein ich hatte nicht die Kraft dazu und ließ die ausgestreckte Hand wieder sinken.

„Mein Gott, was ist Dir?“ sagte B. erschreckt. „Du bist ja weiß, wie die Wand. Ich will Dir Wasser holen.“

„Nein, nein, fliege zuvor die Liste durch, ob Du den Geldbrief findest!“

B. hatte zwei Seiten flüchtig angesehen, dann, in der Mitte der dritten stutzend, sagte er:

„Nummer 219, dreitausend Thaler, Fernow, Hagen.“

Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entrang sich meiner Brust.

„Und Colonne ‚Gewicht‘?“

„Drei und ein Drittel Loth.“

„Und angenommen?“

„Von Dir.“

Ich hätte aufjauchzen mögen vor Entzücken. Ich hatte Recht gehabt: der Einlieferungsschein vom December 1867 war falsch. Er war damals auf den Brief hier in dieser Liste ertheilt und nun von dem Absender für neu ausgegeben worden. Um letzteres zu ermöglichen, hatte Kuntz auf dem Scheine aus der 4 in der Zahl 1864 eine 7 gemacht. Dies hatte er einzig und allein durch Folgendes bewerkstelligt. Die Ziffer 4 besteht aus einem Verticalstriche und einem Winkel, dessen einer Schenkel den Strich trifft. Die Linie jenseits des Punktes, in dem der Strich von dem einen Schenkel getroffen wird, nach oben zu, hatte Kuntz ausradirt und so aus der 4 ein Zeichen gemacht, das von der Ziffer 7 durchaus nicht zu unterscheiden war. Dann hatte er mich, den Zeitpunkt, wo ich viel Arbeit unter den Händen hatte, auswählend, bewogen, über diese 7 noch die 6 zu malen, und ich hatte seine Manipulation erst recht unfindbar gemacht und versteckt, obendrein auch noch den Schein als richtig anerkannt.

Pünktlich beim Ablaufe der mir gegebenen Frist stand ich vor dem Oberpostdirector. Ich hatte kaum meinen Vortrag beendigt, als auch schon die Requisition an den Staatsanwalt um Beschlagnahme des Scheins bei dem Rechtsanwalt Helmreich unterwegs war.

Drei Monate später standen der Rittergutsbesitzer Kuntz und ich uns wieder gegenüber; aber diesmal nicht in meinem Bureau, sondern im Schwurgerichtssaale. Unter den Geschworenen waren nur zwei, welche erklärten, daß sie die Rasur in dem ihnen vorgelegten Einlieferungsscheine erkennen könnten, die Augen der übrigen Herren reichte dafür nicht aus. Der Angeklagte, der während der ganzen Verhandlung alle Anschuldigungen mit dem Scheine der tiefsten Entrüstung bestritten und das Ganze für ein ruchloses Complot, eine Komödie der Post erklärt hatte, ließ, als ihm der Präsident verkündigte, die Geschworenen hätten die Thatfrage bejaht, plötzlich die Maske fallen. Er flehte den Gerichtshof um Milde bei der Strafzumessung an und erzählte von den schlimmen Umständen, in denen er sich befunden habe, von der Nothwendigkeit, die dreitausend Thaler zur Deckung anderer Schulden als der Zinsschuld zu verwenden, und von der Reue, die er darüber empfinde, in dieser Noth gefehlt zu haben. Er räumte Alles ein, was vorher von ihm so energisch zurückgewiesen worden war. Der Gerichtshof nahm aber mehr Rücksicht auf die fürchterliche Lage, in welche mich der Unselige gebracht hatte, als auf seine Bitten. Er verurtheilte ihn wegen Urkundenfälschung zu fünf Jahren Zuchthaus.

Ab und zu begegne ich einem gänzlich verkommen aussehenden Individuum mit langem struppigem Barte und großen grauen Augen. Es richtet sie immer starr auf mich, murmelt etwas in den wirren Bart, das einem bösen Fluche gleicht, und wendet dann heftig den Kopf zur Seite, wie um mir seinen Haß zu zeigen. Er scheint mir noch nicht vergeben zu haben, wie ich ihm längst vergeben habe, obwohl jene Stunden solche waren, die ich nie wieder erleben möchte.

Sch.




[116]

Der Arndt-Thurm auf der Insel Rügen.
Nach dem Entwurf und der Aquarelle vom Baumeister Eggert in Berlin.

[117]
Winter im Allgäuer Hochgebirge.


Stürme in den Bergen. – Im Allgäu. – Hart neben dem Vieh. – Gegen Langeweile. – Das Schalenkern. – In der Sennkuchn. – Hausindustrie im Winter. – Die Bregenzer Stickerinnen. – Bei verschneiten Wegen.


Der Winter im Gebirge, besonders hoch oben in den abgelegensten Winkeln und Thälern, ist ein wilder, ungestümer Geselle, dessen eisiger Hauch als tobender Schneesturm die uralten Wettertannen oben auf den Felsschrofen erzittern macht, zugleich aber auch die Zacken und Hörner der hochragenden Berge mit unvergleichlicher Pracht versilbert. Wenn er im Spätherbste einzieht in die Berge und von ihrem eisbehängten Lockenhaupte den ersten Schnee in die stillen Thäler schüttelt, so beginnt für die Bergbewohner die lange Zeit stiller, abgeschlossener Zurückgezogenheit. Während in der fernen Großstadt mit dem ersten Schnee die genußreiche Saison beginnt, in welcher die glänzenden Theater und Concertsäle sich füllen und unter rauschenden Klängen der Musik im Kreise froh genießender Gesellschaft die langen Winterabende rasch entschwinden, kehren in den Hütten der Bergbewohner Ruhe, Einförmigkeit und Einsamkeit ein und wird deren ganzes Leben und Treiben nebst Lust und Leid in die engbegrenzten Räume des Hauses gedrängt.

Der Mensch in den Bergen ruht aus im Winter gleichwie die Natur. Die im Sommer von zahlreichen Heerden und dem Jauchzen der Sennen belebten Hochalpen sind vereinsamt und still; die steilen Bergwiesen, auf denen noch im Herbste die Sensen und Sicheln erklangen, womit das duftende Alpenheu gewonnen wurde, liegen unter tiefem Schnee – nur noch in den Wäldern regt sich hier und da Leben, wenn „die Holzer“ mit dampfenden Rossen auf rohgezimmerten Schlitten mächtige Baumstämme und Scheitholz zu Thale befördern und der hartgefrorene Schnee unter den harzduftenden Holzlasten knirscht.

Verwöhnten Städtern würde ein Winter im Hochgebirge freilich nicht besonders behagen. Wenn es so recht wettert und stürmt und die Jahreszeit ihre rauhesten und unangenehmsten Seiten hervorkehrt, so geht selbst der abgehärtete Bergler nicht vor die Thüre hinaus in das „wüste kehle Wetter“ und bleibt ruhig in seiner niedrigen Stube am mächtigen Ofen sitzen, in welchem schwere Fichtenklötze prasseln. Ein echter stürmischer Wintertag zeigt den Kampf der Elemente in voller Kraft und Lebendigkeit und bietet ein hochinteressantes Schauspiel. Millionen von Flocken, vom Winde gepeitscht, wirbeln durch die Luft, eilen in tausendfach verschlungenen Linien von den düstern Wolken zur Erde und weben die schimmernde Decke, in welche Mutter Erde sich hüllt, um nach blüthe- und fruchtreichen Monaten langen Winterschlaf zu halten. Einzelne Windstöße zerwühlen die aufgehäuften Schneemassen, fegen mit Macht über die steilen Höhen und durch die engen Thäler, durchziehen rauschend die dunklen Tannenwälder und führen von den niedrigen steinbelasteten Schindeldächern den Schnee in langen wehenden Schleiern durch die Luft. Hier baut der Wind in wenigen Minuten mannshohe Schneewälle auf; dort stürzen morsche Tannen krachend unter der eisigen Last zusammen, und die Schneekrystalle hüllen unter unaufhörlich wechselndem Spiele und in lustigem Tanze Feld und Flur, Wälder und Gipfel in das schneeige Kleid. Hoch auf den Bergen zieht sich das Murmelthier in die Felsklüfte, um den Winterschlaf zu beginnen; die schnelle Gemse flüchtet in geschützte Schluchten und die Alpenkrähe in ihr versteckt liegendes Nest. Oed und scheinbar leblos ist die Natur. –

Tagelang dauert oft dieses Stürmen und Stöbern, so daß aller Verkehr zwischen den höchstgelegenen Orten unterbrochen wird und derselbe selbst in dem geschützten Innern der Gebirgsstädtchen auf das Nothwendigste beschränkt wird. Dann erscheint allerdings das Leben im Gebirge manchmal sehr einförmig und einsam, und wenn der Blick sinnend durch die Fenster auf die wirbelnden Flocken fällt, regt sich wohl die Sehnsucht nach den sonnigen Tagen des Sommers und vor dem Geiste steigen die Berge auf mit alpgrünen Matten, rothen Felsen und Schrofen und hochragenden Gipfeln, auf welchen das Alpenglühen thront. Dann weiß man aber auch das trauliche Heim mit seinen gemüthlichen Räumen zu schätzen und freut sich doppelt auf die Herrlichkeiten sonnenbeschienener Bergnatur.

Der Winter äußert selbstverständlich bedeutenden Einfluß auf die Lebensweise der Bergbewohner. Wir reden hier nicht von den Gebirgsstädtchen, in welchen der Winter in ähnlicher Weise wie in den übrigen Kleinstädten zugebracht wird, wo die in engbegrenzter Anschauungsweise befangenen Bewohner mit naiver Selbstgefälligkeit sich gewaltig anstrengen, durch Veranstaltung „feiner Abendunterhaltungen, geistreicher Spielpartien und urfideler Kneipereien“ die Winterabende „höchst gemüthlich“ auszufüllen, – sondern wir wollen uns umsehen, wie es in den verschneiten abgelegensten Gebirgswinkeln aussieht und was da die Menschen thun und treiben. Die Bewohner der oft von allem Verkehr abgeschnittenen Gebirgsdörfer und hoch gelegenen Einzelhöfe kommen tage- und oft auch wochenlang nicht aus ihren Häusern, die im tiefsten Schnee halb vergraben liegen. Die ländlichen Beschäftigungen im Freien sind größtentheils eingestellt, und die Arbeit des Gebirgsbauern ist auf die Räume im Innern des Hauses beschränkt.

In den Gebieten des Allgäu und der angrenzenden Gebirgsbezirke von Vorarlberg concentrirt sich die Hauptthätigkeit auf die Besorgung des Viehstandes, der Haupterwerbsquelle der meisten Gebirgsländer. Aufzucht und Pflege desselben, Gewinnung von Milch, Butter, Käse und Eiern, sowie Verkauf von Kühen und Kälbern bilden die Angelpunkte, um welche sich daselbst sämmtliche Interessen der Landbevölkerung drehen und die auch im Winter nicht aus dem Auge gelassen werden. Unmittelbar hinter den Wohnräumen, von denselben nur durch die zum Theil als Küche benutzte Hausflur getrennt, befinden sich die Stallungen, über welchen geräumige Böden die Lasten des würzigen Alpenheues bergen. Sorgsam werden diese Futtervorräthe gesammelt und aufbewahrt, denn von ihnen hängen die Erhaltung und das Gedeihen des werthvollen Viehstandes während der langen Wintermonate ab.

In diesem Vereintsein der Stallungen mit den Wohnräumen unter einem Dache des schmucken Gebirgshauses drückt sich die hohe Bedeutung aus, welche der Bergbauer seinen gehörnten Zöglingen beilegt. Er will das Vieh in seiner Nähe und unmittelbar unter seiner Aufsicht haben und hat sich schon aus diesem Grunde die Bauart seines Hauses so eingerichtet, daß er nur wenige Schritte zu gehen braucht, um von der Wohnstube in den Stall zu gelangen. Dieser ist für ihn überhaupt der wichtigste Bestandtheil des Gebäudes; daher baut er ihn auch bei Aufführung eines neuen Gehöftes zuerst fertig und geht erst nach Vollendung desselben an den Ausbau der Wohnräume. Der Stall ist auch im Winter vorzugsweise der Schauplatz seiner Thätigkeit, und er besucht denselben täglich mehrmals, um die Fütterung und das Melken des Viehes zu besorgen. In den Zwischenstunden hat er allerdings wenig zu thun und Zeit genug, einen Theil des Tages auf der sogenannten Gautsche, einem in der Nähe des Ofens befindlichen Sopha von höchst primitiver Form, in behaglichem Nichtsthun zu verbringen.

Die Wintermonate sind somit für den Gebirgsbauer eigentlich die Zeit der Ruhe, welche er größtentheils in einer Art von Winterschlaf zubringt. In seinem hölzernen Hause ist er wohlgeschützt gegen Wind, Kälte und Schneegestöber, denn das Holzhaus hält warm, und wenn es recht arg wettert und die Schneestürme an den Pfosten des Gebäudes rütteln, so verschließt er die Fenster mit den bemalten Holzläden und schiebt auch wohl in der Wohnstube ein weiteres Ladenpaar vor, welches sich auf Falzen aus dem Getäfel schieben läßt. Wintervorräthe, bestehend in Brod, Mehl, Kraut und Rauchfleisch, hat der Gebirgsbauer schon im Herbste gesammelt, und der mächtige, oft nahezu den vierten Theil der Wohnstube einnehmende Ofen verbreitet die behaglichste Wärme. Unter diesen Umständen kann er dem Winter in seiner reinlich gehaltenen, niedrigen Stube getrost entgegensehen. Hat er vielleicht einmal Langeweile – und das kommt beim Bauer ohnehin selten vor – so holt er ein Paquet vergilbter Karten aus der Lade, steckt sich eine frische Pfeife an und macht mit seinen Hausgenossen oder Nachbarn einige Spiele, oder wenn es gut geht, liest er im Kalender oder in einem Zeitungsblatte und studirt allenfalls auch noch in einem alten Flurplane. Eingeweihte versichern übrigens, daß die meisten Processe, welche der [118] Gebirgsbauer führt, in den langen Wintermonaten während seines Nichtsthuns ausgeklügelt werden.

Die häuslichen Beschäftigungen des Gebirgsbauern werden übrigens durch Arbeiten in den Wäldern, den Transport des Bergheues und die Besorgung des Milchverkaufes unterbrochen. Von hochgelegenen und mit wilden tiefen Schluchten durchzogenen Waldparcellen wird das im Sommer gefällte Holz meist im Winter abwärts geführt, da der Transport desselben in vielen Fällen wegen ungünstiger Terrainbeschaffenheit nur dann vorgenommen werden kann, wenn eine feste Schneedecke den Gebrauch von Schlitten gestattet. Im Sommer würden die schweren Holzfuhren und mehr noch das Abwärtsschleifen der Stämme über die steilen Bergwiesen den weichen Boden aufwühlen und die Holzbeförderung sehr erschweren. Das Bergheu, welches auf den steilsten, hochgelegenen Wiesen im Herbst gemäht und in kleinen Städeln, den sogenannten Schinten, die zu Tausenden im Hochgebirge zerstreut liegen, aufbewahrt wird, bringt man ebenfalls erst im Winter thalabwärts. Man bedient sich dabei kleiner Schlitten oder wendet noch häufiger das „Schalenkern“ an, eine originelle, allerdings nur den Bergsöhnen gefahrlos erscheinende Speditionsweise. Man bindet dabei das Heu zu großen, centnerschweren Ballen zusammen, verschnürt diese fest mit Stricken und reiht dieselben zu drei bis vier mit Seilen aneinander. Diese zusammengehängten Bündel bringt man an steile und tief gegen das Thal absteigende, schneebedeckte Bergblößen. Ein starker Ruck reicht hin, um die Ballen in sausenden Galopp zu versetzen; mit Windeseile gleiten dieselben über die glatte gefrorene Fläche, und hoch stieben die glänzenden Schneeflocken in die Luft; nach wenigen Secunden hat das eigenthümliche Fuhrwerk einen Weg von vielen tausend Fuß zurückgelegt. Will sich nun der Bergler einen besondern Spaß machen, so setzt er sich auf einen dieser Bündel und fährt mit ihm jauchzend in die Tiefe. Allerdings kommt es vor, daß durch Unebenheiten des Bodens oder unrichtige Vertheilung des Gewichtes der einzelnen Ballen der Schlittenfahrer plötzlich aus dem Sattel geworfen wird und dann über die steile Schneefläche mit größter Geschwindigkeit abwärts kollert. Wenn ihm dies passirt, so gewärtigt er übrigens nur, daß er von seinen Cameraden, die, hoch oben am Ausgangspunkt der Schlittenbahn stehend, seine Fahrt aufmerksam verfolgten, tüchtig ausgelacht wird.

Wie schon erwähnt, beschäftigt den Gebirgsbewohner, besonders im Allgäu, auch während des Winters der Verkauf von Milch und die Käseproduction. In den meisten Gebirgsdörfern bildet die „Sennkuchn“ das Centrum, in welchem alle Bestrebungen des Bauern zusammenlaufen. Dieselbe stellt gleichsam die Sennhütte des Thales vor. Wie man im Sommer hoch oben in der auf grüner Fläche gelegenen Alpenhütte die Milch, das Haupterträgniß der Viehzucht in den Bergen, in Käse und Butter verwandelt, so wird auch im Winter in der Sennküche die aus allen Stallungen des Dorfes zusammengetragene Milch zum größten Theil in dem riesigen kupfernen Kessel zu Käse verarbeitet, zum geringeren Theil im blanken Butterfasse zu Butter gerührt. Täglich zweimal zu bestimmten Stunden tragen junge Mädchen und Bursche die frischgemolkene Milch auf dem Rücken in blechernen oder hölzernen Butten zur Sennerei, und selbst von entfernteren Gehöften wandeln die jugendlichen Träger und Trägerinnen durch den tiefen Schnee zur Sennküche. Schon Morgens prasselt das Feuer lustig unter dem rußigen Kessel, der mit Ketten am mächtigen hölzernen Krahnen aufgehängt ist. Der Obersenn, dem die Leitung der Käserei obliegt, eine wichtige Persönlichkeit, ist sich seiner Würde und Bedeutung wohl bewußt. Mit Leichtigkeit wendet der starke Bergsohn die über einen Centner schweren Käslaibe, welchen er in Bezug auf Aufbewahrung, Einsalzen etc. die größte Sorgfalt zu Theil werden läßt. In seinem Reiche herrscht er mit unumschränkter Machtvollkommenheit, welche nur durch die von den klugen Gebirgsbauern mit ihm abgeschlossenen Verträge über seine Regentenpflichten einigermaßen eingeschränkt wird. Mit Vorliebe trägt er gleichsam als Zeichen seiner Herrscherwürde eine rothe fezartige Kappe mit langer Troddel auf dem mit kräftigem Vollbart umrahmten Kopfe. Unmittelbar unter seinen Befehlen stehen im Sommer Hirten, Melker und der Untersenn, welch Letzterer auch im Winter seinen Gehülfen bildet.

Wenn es während der Wintermonate in den einsamen Dörfchen auch sonst still und ruhig ist, so entwickelt sich doch immer in der Sennerei einiges Leben. Aus dem niedrigen Gebäude leuchtet der rothe Feuerschein auf die fest gefrorenen Schneeflächen; am Kessel hantiren hemdärmelig die kräftigen Gestalten der Sennen, und um das flackernde Feuer versammeln sich die Milchträger mit ihren Butten und verplaudern unter lustigen Scherzen manches Stündchen in dem rußigen, niedrigen Raume.

Mit den geschilderten Beschäftigungen ist übrigens das Leben und Treiben der Bergbewohner während des Winters noch nicht vollständig abgeschlossen. Es werden nämlich außerdem in vielen Gegenden des Hochgebirges auch verschiedene Arten von Hausindustrie gepflegt, wozu jedenfalls die Wintermonate, in welchen die Arbeiten im Freien größtenteils eingeschränkt werden müssen, Veranlassung gegeben haben. Im Allgäu wurde früher besonders lebhaft Leineweberei betrieben, und dieselbe bildete die Hauptbeschäftigung während der strengen Jahreszeit. Der Webstuhl schnurrte in jedem Hause, denn damals hatte dieser Industriezweig nahezu dieselbe Bedeutung, wie gegenwärtig die Käseproduction. Alljährlich wurden die gefertigten Gewebe zur Leinwandbeschau gebracht, mit welchem Namen man die Leinwandmärkte bezeichnete, die vorzugsweise in Immenstadt abgehalten wurden. Mit dem Emporblühen der Käserei gewann die Graswirthschaft mehr und mehr an Bedeutung, der Anbau von Flachs wurde aufgegeben und die Leineweberei eingestellt. Dafür rief die Käseproduction eine andere Winterbeschäftigung hervor, nämlich die Fertigung hölzerner Geräthschaften für die Sennerei. Aus dem weißen Holze der Bergtannen und dem festen, mit engen Jahresringen durchzogenen Holze des Gebirgsahorns schnitzte man besonders im Allgäuer Oberlande Butter- und Milchfässer, Milchkübel, Stotzen, in welchen die Milch zum Aufziehen des Rahmes im Keller aufbewahrt wird, Käseschueffen zum Abnehmen der Sahne, Melkstühle u. dgl.

Der weibliche Theil der Gebirgsbevölkerung beschäftigt sich im Allgäu, besonders aber in den Bergen des Bregenzerwaldes mit Weißstickerei. Die Stickerinnen, welche im Sommer vor dem schindelgepanzerten Gebirgshause unter schattigen Bäumen ihre Beschäftigung ausüben, sammeln sich im Winter in der gemüthlichen Wohnstube und kommen in Dörfern abwechselnd in dem einen oder anderen Hause in größerer Zahl zusammen um mit munterem Geplauder ihre Arbeit zu verkürzen. Tritt man in ein Bregenzerwälderhaus, so trifft man oft ein Dutzend Mädchen und Frauen in emsiger Thätigkeit vor ihrer Stickerei, welche über einen kreisrunden Rahmen, das Tambourin, gespannt und auf einem drehbaren senkrechten Stocke befestigt ist. Hier begegnet man jenen feingeschnittenen, von dichtgeflochtenen Zöpfen eingerahmten Gesichtern mit den meist dunkeln Augen, welche dem Typus der weiblichen Bevölkerung des reizenden Bregenzerwaldes eigen sind. (Siehe Abbildung in Nr. 12, Jahrgang 1872.) Die graciösen, jugendlichen mit schwarzen und enggefalteten Röcken bekleideten Gestalten der meist hübschen Arbeiterinnen beugen sich in anmuthiger Haltung über das weiße feine Linnen, flechten in dasselbe mit kunstfertiger Hand die schönsten Blumen und durchweben den Stoff mit Früchten und lieblichen Arabesken. Eine solche Stickgesellschaft in der getäfelten Stube, in welcher die Schwarzwälderuhr in braunem Holzkasten mit ihrem gemessenen Ticktack und das Gezwitscher einer Anzahl von Singvögeln das muntere Geplauder der Mädchen begleiten, gewährt ein Genrebild voll Alpenfrische und Originalität, zumal wenn durch die hellen kleinen Fensterscheiben die schneeglänzenden Berge leuchten. Die kunstgeübteren Stickerinnen oder eine mit Hornbrille bewaffnete würdige Matrone, die gröbere Muster ausführt, überwachen die jungen Anfängerinnen, welche als ersten Versuch kleine vereinzelte Blümchen in den weißen Stoff einzusticken haben. Die ersten Künstlerinnen im Fache der Weißstickerei, die besonders bedeutend im benachbarten Appenzellerlande getrieben wird, führen dagegen mit unverwüstlicher Geduld Stickereien aus, welche durch unendliche Zartheit die Bewunderung jedes Kenners herausfordern.

Wie wenige der Damen, die mit dem in feinster, durchwobener Arbeit ausgeführten Spitzenschmucke im strahlend erleuchteten Ballsaale glänzen, denken an die einfachen Stickerinnen, die vielleicht zur selben Stunde fern in den verschneiten Gebirgsdörfchen des Bregenzerwaldes und Appenzellerlandes beim Scheine [119] einer kleiner Lampe Tausende und Abertausende von Stichen ausführen, um die bevorzugten Schwestern in der Großstadt schmücken zu helfen.

Mit der Außenwelt steht der Mensch in den Bergen zur Winterszeit in geringem Verkehr. Doch ist dieser, die höchstgelegenen Orte und Einzelhöfe abgerechnet, nur zeitenweise ganz eingestellt. Schon im Spätherbste werden die zum Hauptdorf führenden Pfade mit aufgesteckten Stangen bezeichnet, welche hoch genug sind, um auch nach dem stärksten Schneefalle aus den Schneemassen hervorragen zu können. Auf den Hauptverbindungswegen in den Thälern wird zuweilen der Schnee ausgeschaufelt oder mit großen hölzernen Schneepflügen beseitigt, und zu diesen winterlichen Arbeiten vereinigen sich oft sämmtliche Bewohner einer Gemeinde. An Sonn- und Feiertagen wandeln die Bergler zur Kirche, und treffen sich dann in den Wirthschaften des Pfarrdorfes, um in denselben einige Stunden zuzubringen, gemeindliche Angelegenheiten zu besprechen u. dgl. Hier und da kommen auch wohl Jäger in die abgelegenen Winkel, um Alpenhasen und Füchsen nachzuspüren und kehren dann auch in den einsamen Gebirgshäusern ein, in denen sie sich nach frostiger Wanderung erwärmen. Kindstaufen und Hochzeiten geben auch im Winter willkommene Gelegenheit zu ländlichen Festen, wodurch ebenfalls einige Abwechselung in das einförmige Leben der Bergbewohner gebracht wird. Auch Gevatter Tod, welcher bekanntlich weder Sonnengluth, noch das wildeste Schneegestöber scheut, macht zuweilen seine Wanderungen in die Hochalpen und giebt hierdurch ihren Bewohnern Veranlassung, zusammenzukommen, um Leid und Trost bei der letzten Thalfahrt eines Dahingeschiedenen auszutauschen. Von allen Seiten steigen dann die schwarzbekleideten Gestalten auf den beeisten Bergpfaden von den beschneiten Höhen herunter und wandeln dem Pfarrdorfe zu, dessen Kirchthurm tief unten im Thale die niedrigen wetterbraunen Holzhäuser überragt. Es ist übrigens schon vorgekommen, daß haushohe Schneewälle den Transport und die Beerdigung der Leichen aus hochgelegenen Berghütten unmöglich machten, und in solchen Fällen werden dieselben in den oberen Räumen des Hauses bis zum Eintritte günstiger Witterungsverhältnisse aufbewahrt. Die schneidende Kälte, die monatelang in solchen unzugänglichen Bergwinkeln herrscht, schützt die Leichen vor Verwesung.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Zu einem Denkmal für Ernst Moritz Arndt ist an seinem hundertjährigen Geburtstage, am 26. December 1869, auf dem Rugard bei Bergen auf der Insel Rügen, seinem Geburtslande, der Grundstein gelegt worden, und es beginnt bereits auf diesem höchsten Punkte des größten deutschen Eilandes das Denkmal in Form eines Wartthurmes emporzusteigen.

Von neunzehn Zeichnungen, welche deutsche Architekten für den Bau einsandten, hat die Beurtheilungs-Commission des Architektenvereins zu Berlin auf Veranlassung des Baucomités die Wahl getroffen und den von dem Baumeister Eggert in Berlin gezeichneten Thurm, welcher auf S. 116 dieser Nummer der Gartenlaube bildlich dargestellt ist, als den passendsten Entwurf empfohlen. In ihrer Beurtheilung macht die Commission an das Denkmal für Arndt folgende Anforderung: „Die äußere Gestaltung muß neben dem praktischen Zwecke eines Aussichtsthurmes in erster Linie den Eindruck eines Ehrendenkmals erwecken, da durch dieses Bauwerk das deutsche Vaterland die Stätte ehren will, wo Arndt geboren und wo er oft genug, ein Flüchtling von deutscher Erde, hinüber gesehen hat in das deutsche Vaterland.“ Dieser Anforderung – sagt die Beurtheilung – entspricht der Eggert’sche Entwurf am meisten. Deshalb hat das Comité den Bau dieses Thurmes begonnen.

Eine etwa zehn Fuß hohe aufgeschüttete Terrasse bereitet die nächste landschaftliche Umgebung für das Bauwerk architektonisch vor. In untereinander wohl abgewogenen Höhenverhältnissen erhebt sich fast neunzig Fuß hoch ein Rundthurm in drei Geschossen, das untere Geschoß mit tiefen gegen außen sich öffnenden Nischen, zum Schutze gegen Wind und Wetter. In der Mitte führt eine Wendeltreppe zum zweiten und dritten Geschoß, und von dort zur Rundschau unterhalb der Kuppel. Das Mauerwerk von rothen Ziegeln ist durch dunkle Glasuren passend verziert. Die derbe Ziegelbauart hat allzu zarte und feine Details in den Gesimsen etc. glücklich vermieden.

Das erste Geschoß steht im Rohbau vollendet. Ueber den die Nischen bildenden Pfeilern läuft rings um das zweite Geschoß ein genügend breiter und mit einer Brüstung versehener Umgang, von wo Denen, welche nicht höher steigen wollen, der Ueberblick über die reizende Insel frei ist. In seiner Vollendung wird das schöne Bauwerk weit hinaus leuchten auf das Meer, ein Merkzeichen deutschen Landes, an dieser weihevollen Stätte dem Andenken des großen Vaterlandsfreundes würdig.

Unsere Leser kennen das Bild, welches vom Arndtthurm ihnen sich aufthun wird; eine Illustration, die wir im Frühling desselben Jahres (1870, Nr. 5) mittheilten, in welchem endlich, nach fünfundsechzig Jahren, des Schicksals Antwort kam auf die weltbekannte Frage des alten Heldenbarden: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ – gestattete uns einen Blick in die den Rugard umgebende Naturpracht. Der Thurm wird auf jener Höhe Tausende erfreuen und mit der Erinnerung als „den alten Arndt“ den doppelten Dank erwecken, daß er ein solcher Mann war, dem man hier einen solchen Ehrenthurm erbauen mußte.

Umsomehr wäre es aber zu beklagen, wenn dieser „deutsche Ehrenthurm“ das Schicksal des babylonischen Thurmes oder des Gothaischen Museums theilen, d. h. in Folge des neuesten traurigen inneren Parteikrieges oder aus Geldmangel unvollendet bleiben müßte. Eine solche Schmach darf uns nicht treffen! Und wer kann und muß da ist erster Linie hervortreten, um in der würdigsten Weise die fehlenden Mittel zu beschaffen? Die große Gesammtheit unserer Liedertafeln und Sängervereine ist es, ihr steht die Macht zu Gebote, Volk und Volkesgeld herbeizuziehen zu einer Sängerthat für den Sänger der That, für das reinste Spiegelbild des „deutschen Gewissens“! Wir sind überzeugt, daß unsere deutschen Sänger ihre Pflicht verstehen und thun!




Ein Brief Schleiermachter’s. Nachstehender Brief, welcher – leider ohne Datum – durch die Güte einer entfernten Verwandten des großen Theologen in unsere Hände gelangte, stammt nachweislich aus der zweiten Hälfte des zweiten oder aus der ersten des dritten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts und wurde von Schleiermacher an einen ihm verschwägerten jungen Theologen gerichtet. Zum Verständnisse des Briefes schicken wir voran, daß der Adressat, welcher sich später um das praktische Schulwesen Preußens ein hervorragendes Verdienst erworben hat, gerade glücklicher Bräutigam geworden war. Zum Abdrucke des bisher noch nicht veröffentlichten Briefes veranlaßte uns der in demselben enthaltene schöne und echt männliche Anspruch Schleiermacher’s über die Berufserfüllung des Mannes und seine davon auch innerlich abhängige Stellung zum weiblichen Herzen. Der Brief lautet:

„Schon lange habe ich Ihnen danken wollen für das Vertrauen, das Sie mir bewiesen, und für die Art, wie Sie mich in Ihr Leben hineinschauen lassen. Nur weil ich gern ausführlich schreiben wollte, ist es immer unterblieben, und nun werde ich auch heute nur in wenige Worte zusammendrängen müssen, was ich Ihnen sagen möchte.

Die Art, wie sich Manches schon in Ihrem früheren Leben auf das Glück, dessen Sie sich jetzt erfreuen, bezieht, und wie Sie sich im Vergleich mit früheren Zuständen beruhigt fühlen, das muß Ihnen noch eine höhere Bürgschaft geben von der Wahrheit und Sicherheit desselben. Mir ist nun bei Ihrer Darstellung Etwas eingefallen, das ich nicht umhin kann, Ihnen mitzutheilen; daß nämlich doch nicht Alles, was früher in Ihnen unstät und unruhig war, sich auf dieses Bedürfniß des Herzens bezogen hat, und daß Sie sich leicht in ein tiefes Mißverständniß verwickeln können, wenn Sie sich ganz gestillt glauben. – Den Mann treibt in seinem Innern noch etwas Anderes; er muß einen Beruf haben, einen sichern Antheil am gemeinsamen Leben und Wirken, den er nicht nur betreibt um des Lebens willen, oder weil es so sein muß, oder untergeordnet neben und hinter einer andern Liebe her, sondern so ganz aus voller Seele, daß dieser Beruf sich nichts Anderem unterordnet, sondern alles Andere nur verschmilzt und aufnimmt. Ohne dies können auch die treuesten und reinsten Verhältnisse der Freundschaft und Liebe uns nicht ganz zufrieden stellen, ja, sie können nicht einmal bestehen; die Gefühle stumpfen sich ab oder nehmen einen weichlichen Charakter an, bei dem wir dann auch des weiblichen Herzens nicht recht werth sind, welches immer diesen Enthusiasmus des Berufes an uns über alles Andere schätzt, weil es nur so durch uns unmittelbar mit der ganzen Welt zusammenhängt. Ich wollte, Sie hätten mir darüber ein Wort gesagt, welches Ziel Sie sich in dieser Hinsicht für Ihr Leben gesteckt haben, und welches der Gegenstand Ihrer Bestrebungen und Ihres Eifers ist – oder wenn Ihnen darin die volle Klarheit und Wahrheit noch fehlt, so möchte ich Ihnen durch meine Worte einen Stachel einsetzen können, der Ihnen nicht Ruhe ließ, bis Sie auch Das gefunden hätten. – Sehen Sie darin nur die thätige und lebendige Hinneigung meines Herzens, und lassen Sie uns schon immer vorläufig näher bekannt werden bis eine günstige Zeit uns zusammenführt.“




In der Unsicherheit des Lebens scheint New-York der Kaiserstadt Berlin doch noch „über“ zu sein. In den Gewässern, welche New-York umspülen, wurden hunderteinundfünfzig Leichen gefunden, von denen sechsundfünfzig unerkannt im Armenfriedhofe eingescharrt wurden. Nur in wenigen Fällen konnte constatirt werden, ob Absicht, Unfall oder Mord die Schuld an dem Tode der Unglücklichen trug. – Hundertdreizehn neugeborene Kinder fand man leblos in den Straßen, auf Hofräumen und in Cloaken, und sechsundzwanzig wurden von ihren Müttern absichtslos im Bette erstickt. Hundertundein Selbstmorde fanden, die meisten im April und September, statt, wovon in vierunddreißig Fällen Gift als der schmerzloseste, in achtundzwanzig Fällen die Kugel als der schnellste und in fünfzehn Fällen der Strick als der einfachste Vermittler des Todes gewählt wurden, während Fünfzehn sich an Stichwunden verbluteten. Mord und Todtschlag waren in sechsundfünfzig Fällen nachweisbar – aber Hinrichtungen fanden nur zwei statt. „Zufällig“ erschossen oder vergiftet (letzteres fast immer durch die Unvorsichtigkeit von Apothekergehülfen) wurden Fünfzehn. Unvorsichtigkeit in der Handhabung von Feuer und Licht kostete zweiundfünfzig Personen das Leben, und den Feuertod in brennenden Gebäuden fanden sieben. Verbrüht wurden (meist bei Dampfkesselexplosionen) Siebenundvierzig. Die Dampfeisenbahnzüge innerhalb des Stadtgebietes tödteten Sechsunddreißig, die Pferdeeisenbahnen


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.

[120] brachten es dagegen auf Zweiundfünfzig (meistens durch unvorsichtiges Herabspringen, während der Wagen im Laufe war); gewöhnliche Gefährte nahmen achtunddreißig Personen das Leben. Die tödtlichen, durch Sturz veranlaßten Unfälle waren am zahlreichsten; Siebenundvierzig starben durch einen Sturz auf den Straßen, größtentheils zur Winterszeit auf dem Glatteise; Neununddreißig durch einen Fall aus dem Fenster; Fünfundvierzig durch einen auf der Treppe erlittenen Fall. Fünfundzwanzig fielen in offene Kellerluken, Einunddreißig von im Baue begriffenen Häusern, Sechsundzwanzig von Stellagen und Leitern, Zwanzig in Schiffsräume, Fünfzehn von Dächern, Neunzehn von Wagen etc. Sonstige Unfälle von verschiedener Beschaffenheit erforderten hundertzehn Menschenleben. Unvorsichtige Felsensprengungen brachten neun Personen den Tod, Explosionen acht, und von Maschinen zerrissen oder zerstampft wurden neunzehn. Elf wurden von Pferden erschlagen, Siebenzehn von wilden Stieren getödtet und Zwei von Hunden zerfleischt.

Dies macht ein Jahresopfer von tausendeinhundertsiebenundzwanzig Menschenleben bei einer kaum eine Million erreichenden Bevölkerung!

A. D.




Die Fortpflanzung des Aales. Wer mit den Erfolgen der künstlichen Fischzucht vertraut ist und die Bedeutung derselben für das Gemeinwohl kennt, wird nicht bezweifeln, daß die Kenntniß der Entwickelung der

Vergrößerter Aal-Embryo.

Fische nicht nur für die Wissenschaft werthvoll, sondern auch von großem praktischen Nutzen ist. Schon Aristoteles und nach ihm viele bedeutende Naturforscher bis auf die Jetztzeit suchten unter Anderem auch die Fortpflanzungsweise des Aales zu ergründen, ohne jedoch durch zweifellose Thatsachen ihre Ansichten beweisen zu können. Es ist immerhin auffallend, daß man bisher so wenig Sicheres über die ganze Lebensweise eines so gemeinen Fisches, wie der Aal es ist, hat in Erfahrung bringen können. Man hat weder die Beziehung des Weibchens, noch die des Männchens zur Fortpflanzung in genügender Weise kennen gelernt; ja man hat noch nicht einmal erreicht, mit Sicherheit einen männlichen Aal nachweisen zu können.

Mir ist es durch die Aufmerksamkeit eines Schülers unserer Lehranstalt, Namens Westendorf, möglich geworden, in den Besitz einer ziemlich ausgebildeten Aalbrut zu gelangen. Derselbe hatte seiner Tante, welche im Hause einer hiesigen Aalräucherin wohnt, mitgetheilt, daß man trotz der vielen jährlich gefangenen Aale über die Entstehungsweise derselben bis jetzt noch nicht im Klaren sei. Als nun vor einigen Wochen die Aalräucherin beim Aufschneiden eines solchen einen außergewöhnlichen Inhalt fand, theilte sie die Merkwürdigkeit ihrer Hausgenossin mit. Diese, sich der Worte ihres Neffen erinnernd, nahm einen Theil des Fundes an sich, um mir denselben durch Westendorf zukommen zu lassen. Leider kam ich durch ein Versehen erst einige Wochen später in den Besitz der Sendung, so daß mir die Möglichkeit abgeschnitten war, auch den seltenen Mutteraal zu erlangen.

Von der Aalräucherin erfuhr ich, daß der Fisch von gewöhnlicher Länge, aber auffallender Dicke war. Im Innern des Leibes, in einem netzartigen Beutel, befanden sich gegen tausend jener kleinen Embryonen – denn aus solchen bestand der Inhalt – und dieselben krochen noch längere Zeit munter umher, nachdem sie an’s Tageslicht befördert waren. Siebenundzwanzig dieser Aalsprößlinge habe ich erhalten und in Spiritus aufbewahrt; beifolgende Abbildung stellt einen derselben in fünffacher Vergrößerung dar. Die Farbe derselben ist grünlich weiß, die des Kopfes und Bauches mehr gelblich. Die Länge der Embryonen beträgt durchschnittlich fünfundzwanzig Millimeter. Die dunklen Augen fallen durch ihre Größe auf, und ein grauer, etwas verschwommener Ring deutet die Iris an. Der Unterkiefer ist etwas länger als der Oberkiefer. Auf dem Rücken, ein wenig vom Kopf entfernt, beginnt eine den ganzen Rücken umspannende zarte Flosse. Auch zwei Brustflossen sind sichtbar, dagegen fehlen Bauchflossen. Schon mit bloßem Auge bemerkt man das durchscheinende Skelet. Vermittelst einer vollkommen durchsichtigen zähen Haut ist eine gallertartige Substanz, die einen gelben Tropfen enthält, an der Brust befestigt: dies ist der Dottersack. Der Leib ist aufgetrieben.

Daß wir es hier mit einem Fisch zu thun haben, ist eben so klar, wie daß dieser Fisch ein junger Aal ist. Der Möglichkeit, daß ein alter Aal einige seiner nächsten, in sehr jugendlichem Zustande befindlichen Verwandten verschluckt habe, treten von vornherein zwei Umstände entgegen, nämlich erstens der, daß die Embryonen so zahlreich waren, und zweitens, daß sie lebend aus dem schon vor längerer Zeit eingefangenen Aal herausgenommen werden konnten.

Ich glaube nun, mich auf die angegebenen Verhältnisse stützend, die Behauptung aussprechen zu dürfen, daß der Aal lebendige Junge zur Welt bringt, und ferner glaube ich nicht fehl zu gehen, wenn ich aus dem Vorhandensein des Dottersackes schließe, daß die Ernährung der Jungen im Mutterleibe auf dieselbe Weise vor sich geht, wie bei den Haien, nämlich auf Kosten jenes Dottersackes. –

Ohne Zweifel würde der Laie viel zur Aufklärung mancher Geheimnisse der Thierwelt beitragen können, wenn er die sich hier und da bietende Gelegenheit, Beobachtungen anzustellen, benutzen und etwaige Entdeckungen veröffentlichen oder einem Fachmann mittheilen wollte. Gelingt es mir, einen Theil der zahlreichen Leser der Gartenlaube für die Sache zu interessiren, dann werden wir gewiß bald neue Aufschlüsse über die geheimnißvolle Herkunft derartiger Fischsonderlinge zu erwarten haben.

Rostock, Anfang December.

Dr. K. Eberhard.




Ein bisher ungedrucktes Gedicht von Hoffmann von Fallersleben. Das nachstehend mitgetheilte Lied des nun zur Ruhe eingegangenen Sängers von Schloß Corvey dürfte unseren Lesern als ein Gedenkblatt an den Verewigten willkommen sein. Bezüglich der Entstehung des Gedichtes bemerken wir, daß es vor zwölf Jahren gelegentlich eines Zusammentreffens des Dichters mit dem nun auch verstorbenen geistvollen Componisten H. Hugo Pierson in Nürnberg verfaßt und dem Letztern beim Abschiede überreicht wurde. Das zur Composition bestimmte Lied wurde uns aus dem Nachlasse Pierson’s freundlichst zur Verfügung gestellt, und wir erfüllen durch den Abdruck desselben eine Pflicht der Pietät gegen die beiden heimgegangenen Liederdichter.


 Abschied.

Die duftenden Kräuter auf der Au,
Die Halm’ im frischen Morgenthau,
Die Bäum’ im grünen Kleide,
     Ein jedes ruft: ich scheide,
     Leb’ wohl! ich scheide.

Die Rosen in ihrer lichten Pracht,
Die Lilien in ihrer Engelstracht,
Das Blümchen auf der Haide,
     Ein jedes ruft: ich scheide,
     Leb’ wohl! ich scheide.

Ist Alles nur ein Kommen und Geh’n,
Ein Scheiden mehr als Wiederseh’n;
Wir freu’n uns, hoffen und leiden,
     Und müssen endlich scheiden,
     Lebt wohl! wir scheiden.

Und muß es denn geschieden sein,
Lebt wohl! gedenket freundlich mein,
In Freude wie im Leide!
     Lebt wohl! lebt wohl! ich scheide;
     Lebt wohl! ich scheide.

     Nürnberg, Herrn Pierson

9. September 1862. H. v. F.

Pierson ist zur Composition des Liedes nicht gekommen. Vielleicht stellt eine jüngere musikalische Kraft sich die lohnende Aufgabe, diesen schönen „Abschied“ in Tönen nachzudichten.



Kleiner Briefkasten.


Kl. in Drsd. Nachdem wir bereits verschiedene Male die Erklärung abgegeben haben, daß die Gartenlaube an ihre Abonnenten keinerlei Prämien liefert, laufen doch bei Beginn des neuen Jahrganges immer wieder Anfragen wie die Ihrigen an uns ein. Ein für alle Male denn: Die Gartenlaube hat mit etwaigen Versprechungen von Prämien, wie Bildern, goldenen Herrenringen oder Damenbroschen etc., gar nichts zu schaffen und mißbilligt diese Manipulationen einzelner Colporteure, die damit ihre Abonnenten mehr oder weniger beschwindeln, auf das Allerentschiedenste. Wir bitten aber dringend, von dieser Erklärung endlich Notiz zu nehmen.

Gr. in Blackhawk. Für die Gartenlaube nicht verwendbar, aber den betreffenden Autoren zur Einsichtnahme zugesandt.

Aus Stuttgart sind uns vor einigen Wochen 20 fl. nur mit der Bezeichnung: „Einem Bedürftigen“ zugesandt worden. Indem wir dafür freundlichst danken, benachrichtigen wir den unbekannten Geber zugleich, daß wir den Betrag an zwei hülfsbedürftige Lehrer vertheilt haben.

J. D–r in Wien. Jedenfalls waren Sie in einer fröhlichen Carnevalslaune, als Sie uns die beiden Manuscripte „Meine Frau geht auf den Ball“ und das „Capitel aus dem Buche des Hellsehers Davis" übersandten. Verfügen Sie über Ihre Stilübungen und verschonen Sie uns für die Zukunft mit Hellsehereien, denen nach Ihrer Zuschrift in Amerika einige Millionen „vernünftige" Männer anhängen sollen.




Zur Ehren-Dotation für Roderich Benedix

gingen abermals ein: Von der General-Intendanz des k. k. Hoftheaters in Wien, durch Hofrath von Dingelstedt 1000 fl.; Klevetzer Gesangverein in Viergut 2 Thlr.; Dr. W. in U. 1 Thlr.; Fidelio in Berlin 9 Thlr. 10 Sgr.; B. L. K. 1 Thlr.; N. N. in Birkenfeld 3 Thlr.; R. M. in Höchstedt 1 Thlr.

Die Redaction.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)