Die Gartenlaube (1875)/Heft 14

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[225]

No. 14.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Ein kleines Bild.
Von Ernst Wichert.


„Ich bitte gleichwohl darum,“ nahm Arnold wieder das Wort. „Man pflegt eine solche Vorstellung auch dann für schicklich zu halten, wenn bei einer ersten Begegnung kein Theil im Zweifel über den anderen sein kann. Jeder gesellschaftliche Verkehr braucht eine formelle Einleitung, und da eine gemeinsame Reise unter allen Umständen häufige Berührungen –“

„Herr Arnold Rose, Kaufmann – meine Tochter Juliette,“ unterbrach Blanchard vorstellend, um weitere, jedenfalls unliebsame Erörterungen abzuschneiden. Das Mädchen verneigte sich flüchtig und nickte gleich wieder den Freundinnen zu. Rose konnte sich von einer nochmaligen Aufnahme des Gesprächs keinen Erfolg versprechen. „Wird sich mit der Zeit schon von selbst machen!“ tröstete er sich, stieg auf und trieb die Pferde an.

Vater und Tochter waren bald in eifriger Unterhaltung. Beide hatten viel zu fragen und zu erzählen. Alle kleinen Erlebnisse der letzten Wochen wurden ausgetauscht; Juliette hatte zu lachen und zu weinen und wieder zu weinen und zu lachen. Mit zärtlichster Sorge erkundigte sie sich immer wieder nach der Mutter, und des Bruders ungewisses Schicksal schien sie tief zu bekümmern. Dazwischen lief denn eine lebhaft humoristische Schilderung der Confusion im Pensionat bei der Nachricht von der Annäherung des Feindes; wie Demoiselle Tallandier ihre Lockenperrücke in der Eile verkehrt aufgesetzt und Madame Roland in der Küche alle ihre Recepte verwechselt habe. Es folgten heftige Exclamationen über die Unhöflichkeit des Feindes, alle diese Unruhe über eine friedliche Erziehungsanstalt gebracht zu haben, Klagen über das unglückliche Frankreich, das von seinen Generälen verrathen werde, Ausbrüche des Zornes gegen den Feind, dann wieder Berichte von Siegen, die als ganz zuverlässig gemeldet seien. Blanchard, der sich sonst so gern aus derselben Tonart äußerte, war jetzt auffallend zurückhaltend und still. Erst als das Gespräch die inneren Angelegenheiten des Landes zu berühren anfing, betheiligte er sich lebhafter dabei. Juliette war eine eifrige Republikanerin – wäre sie von Adel, sagte sie, so würde sie Legitimistin sein – er dagegen war Bonapartist gewesen und konnte sich noch immer nicht entschließen, Napoleon ganz aufzugeben. Darüber kamen beide in den muntersten Wortstreit. Arnold glaubte, sich jetzt einmischen zu dürfen, wendete sich zurück und warf eine Bemerkung in das Gespräch. Es folgte aber keine Antwort darauf, sondern die Unterhaltung war damit ganz abgebrochen. Juliette zog die Capote tiefer über die Stirn und hielt ihren Pelzmuff vor Mund und Kinn.

Arnold hatte aber doch wieder einen Blick aus ihren wunderbaren Augen erhascht. Seiner Eitelkeit schmeicheln konnte derselbe freilich nicht, es hätte denn die Feindseligkeit, die sich darin aussprach, für eine besondere Art von Theilnahme erachtet werden müssen. Wunderbar waren diese Augen doch, von einem tiefen Graublau und wie in einem feuchten Glanz schwimmend, der alles Licht einzufangen schien, um es in Blitzfunken auszuströmen. Der sprechende Gesichtsausdruck des Bildes wurde nun begreiflich; seine Anziehungskraft ließ sich gleichsam erklären, denn die Sonne hatte etwas von diesem Sprühfeuer aufgefangen, festgehalten und auf das Papier gefesselt. Nur daß die Wirkung Auge in Auge noch viel anregender, herausfordernder war. Jener Zug von naiver Freude an sich selbst, der das Bild so reizend machte, ließ sich jetzt nicht bemerken, aber das Bemühen, eine stolz abweisende Haltung anzunehmen, hatte doch etwas fast komisch Gezwungenes und, ganz der Absicht entgegen, gar nicht Imposantes. Arnold, der sich unausgesetzt in Gedanken mit der reizenden Feindin beschäftigte, mußte in sich hinein lachen über ihre patriotischen Schauspielerkünste, die ihn sicher doch ärgern sollten. Er ärgerte sich durchaus nicht, aber er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit fühlbar zu machen, daß er denn doch nicht nur für den Kutscher der Herrschaften gelten wollte und rücksichtsvollere Behandlung erwartete.

Nachdem die Fahrt unter mancherlei Hindernissen, namentlich durch Streifcorps herbeigeführt, die entweder Auskunft über die feindlichen Stellungen verlangten oder bei der Prüfung der Legitimation der Reisenden vorsichtig waren, mehrere Stunden gedauert hatte, wurde bei einem Wirthshause Station gemacht. Blanchard führte sogleich seine Tochter in’s Zimmer und überließ, ohne auch nur ein freundliches Wort zu sagen, Rose die Sorge für Wagen und Pferde. Als Letzterer nach einer Viertelstunde ebenfalls in die Wirthsstube trat, saßen die Beiden bei einem frugalen Male an einem kleinen Tische, der so gegen den Kamin vorgeschoben war, daß ein Dritter nicht mehr Platz daran finden konnte. Er merkte die Absicht. Blanchard schien sich zu geniren; er bückte sich tiefer, als nöthig, auf seinen Teller nieder und bearbeitete etwas lärmend mit Messer und Gabel ein Stück Fleisch. Juliette aber wendete das Köpfchen und suchte den näher Tretenden durch einen Blick fernzuhalten, der etwa sagen wollte: wir wünschen allein zu sein, mein Herr. Sie war also die Veranstalterin dieser künstlichen Absonderung und feierte nun ihren Triumph, da er wirklich einen Augenblick in Verlegenheit kam, wie er sich dieser Kriegserklärung gegenüber benehmen solle. Aber ein Rückzug war jetzt gefährlich. „Wir werden an [226] diesem kleinen Tische etwas unbequem zu Dreien essen,“ sagte er, „aber vielleicht um so gemüthlicher. Heda! Kellner, noch einen Stuhl! Dort an den Kamin – mich friert. Erlauben Sie, Herr Blanchard! Wir rücken den Tisch auf dieser Seite ein wenig ab. Lassen Sie sich deshalb gar nicht stören, mein Fräulein! Ich theile den Raum mit Ihrem Herrn Papa, der schon an meine Nachbarschaft gewöhnt ist. So! Sie haben nur nöthig, Ihren Stuhl ein wenig zu wenden. Was giebt’s denn zu essen? Hat der Wirth keine Augen gehabt oder kann er nicht bis drei zählen? Noch ein Glas und eine zweite Flasche! Aber geschwind!“ Er trieb den Burschen fort, der so gemessenen Weisungen gegenüber sich nicht zu weigern wagte und mit einem Achselzucken, das ihn bei der jungen Dame entschuldigen sollte, bei dem Arrangement half.

Juliette hatte Pelz und Capote abgelegt. Nun erst zeigte sich die sehr zierliche Gestalt, und das hübsche Gesichtchen fand in dem lockigen Haare seine natürliche Einfassung. Es hatte wenig Farbe, und ein Netz feiner blauer Aederchen auf beiden Seiten der Stirn in der Gegend der Schläfen, unter der sehr zarten Haut vorschimmernd, verstärkte den Eindruck nervöser Reizbarkeit, der in diesem Moment schon durch eine merkliche Unstätigkeit des Blickes und durch das Zucken der feinen Lippen, zwischen welchen die kleinen Zähne sichtbar wurden, gegeben war. Arnold saß ihr jetzt gegenüber und benutzte die Gunst, sich mit ihrer ganzen Erscheinung bekannt machen zu können, vielleicht etwas dreister, als sonst für schicklich gegolten hätte. War es nun dieser oder ein anderer Grund – das Mädchen stand plötzlich auf, warf die Serviette auf den Stuhl und entfernte sich nach dem anderen Ende des Zimmers. Sie blieb eine Weile am Fenster, dann vor einigen schlechten Bildern stehen und setzte sich endlich, möglichst dem Kamine abgewendet, auf ein wenig einladendes Sopha unter denselben.

Das gilt Dir! dachte Arnold; dieser kleine Eigensinn setzt sein Stück durch, nicht mit mir an einem Tische essen zu wollen. Es ist wie in Polen, wo auch die Frauen unversöhnlicher sind, als die Männer. – Ein Gefühl des Unmuths überkam ihn, wenn er sich fragte, welche Rolle er eigentlich spiele. Die des aufdringlichen Freundes unzweifelhaft; kaum eine andere konnte ihm so widerwärtig sein. Und was nöthigte ihn dazu? Nichts, wenn nicht das kleine Bild in seiner Brieftasche, das nun einmal seinen Spuk fortsetzen wollte, wie es ihn angefangen hatte. Er steckte wie in einem unsichtbaren Zaubernetze.

„Wir benutzen zusammen einen Wagen, Herr Blanchard,“ begann er, nachdem er nothdürftig seinen Hunger gestillt hatte, „aber es fehlt uns der Kutscher dazu. Nun habe ich, als der jüngere von beiden, damit angefangen die Leine zu führen. Wäre es nicht Zeit zu wechseln? Ich denke! Kutschiren Sie nun gefälligst bis zur zweiten Station! Ich will mir's unterdessen auf Ihrem bisherigen Platze bequem machen.“

Herr Blanchard blickte sehr verwundert zu ihm auf und auch Juliette schien aufmerksam zu werden. „Ich muß gestehen,“ antwortete er stotternd, „daß ich nicht die mindeste Uebung darin habe, eine Pferdeleine zu führen.“

„Auch ich habe die edle Kunst des Rosselenkens weder gelernt noch geübt,“ versicherte der junge Mann lachend; „wir sind Beide nur Dilettanten.“

„Aber bei meiner Ungeschicklichkeit läuft Juliette Gefahr …“

„Nicht die mindeste. Die Thiere sind sehr geduldig. Ich würde sonst der Letzte sein, dieses an sich gewiß sehr billige Abkommen vorzuschlagen.“

Herr Blanchard schielte zu seiner Tochter hinüber; er weigerte sich offenbar nur deshalb, weil er ihre Unzufriedenheit voraussetzte. Sie sollte stundenlang mit dem verhaßten Deutschen zusammen Schulter an Schulter sitzen und ihren Vater Knechtsdienste verrichten sehen. Er konnte sich ganz in ihre Seele versetzen und stotterte neue Entschuldigungen.

Juliette mischte sich ein. „Es steht meinem Vater so wenig an, als mir,“ sagte sie, „Sie um eine Gefälligkeit zu bitten, die Sie unaufgefordert zu leisten nicht den Willen haben. Gut! wir fügen uns.“ Sie stand auf und legte wieder Pelz und Capote an. „Deinen Arm, lieber Papa! Promeniren wir vor dem Hause, bis die Pferde ausgeruht sind. Die Luft in diesem Zimmer ist mir zu bedrückt.“

Herr Blanchard setzte seufzend seinen Hut auf und folgte ihr. Er sah sehr verdrießlich aus.

Arnold blieb allein im Zimmer. „Der Trotzkopf!“ rief er laut. Es blieb ihm nun nichts übrig, als sich mit den Bildern an den Wänden und mit einigen alten Journalen zu unterhalten, bis die Pferde gefüttert worden wären. Seine Stimmung schlug um. „Ist es nicht albern,“ sagte er sich, „daß ich mich um diese Leute bemühe, die ihrerseits nur darauf denken, wie sie mich fern halten können? Diese kleine Französin ist recht niedlich – aber was weiter? Ich beschäftige mich mit ihren Kindereien, als wäre mein Herz dabei betheiligt. Unsinn! Darunter muß ein Strich gemacht werden. Ich gebe das Quartier auf und werfe das Bild in den Kamin – das ist das Gescheiteste, was ich thun kann.“

Er ging hinaus und erkundigte sich beim Stallknecht nach den Pferden. Sie hatten gefressen, und die Reise konnte fortgesetzt werden. Blanchard und Juliette spazierten in einiger Entfernung und fanden sich beim Wagen ein, als die Pferde aufgeschirrt waren. Der Kaufmann schien unsicher, ob Rose seine Drohung wegen des Kutschirens ernst gemeint habe, aber dieser benahm ihm bald jeden Zweifel.

„Es wird gut sein,“ sagte er, „wenn Sie sich zuerst aufsetzen und die Leine fassen. Ich werde dem Fräulein beim Einsteigen behülflich sein.“

Blanchard widersprach nicht weiter; er bat nur den Stallknecht, die Pferde so lange zu halten, bis Alles in Ordnung sei.

Rose verneigte sich galant. „Bitte, mein Fräulein!“ Er reichte ihr die Hand, und sie mußte sich nun wohl darauf stützen. Aber kaum stand sie im Wagen, so faßte sie ihren Vater um die Schultern, schwang sich mit einer raschen Bewegung über den vorderen Sitz und kam neben ihn zu sitzen. Arnold konnte nun allein hinten Platz nehmen. Er war einen Augenblick ganz verblüfft über diesen neuen und ganz unerwarteten Schachzug, und auch Blanchard schien davon überrascht, denn er machte die etwas unzufrieden klingende Bemerkung, daß man hier zu Zweien hinter der Bagage doch sehr unbequem sitzen werde. Aber das Mädchen, das jetzt ganz vergnügt umschaute, warf einige Gepäckstücke hinter sich in den Wagen und rief muthwillig:

„Steigen Sie ein, mein Herr, steigen Sie ein, sonst fahren wir ohne Sie ab.“

Arnold mußte wohl gehorchen.

Es sollte noch verdrießlicher für ihn kommen. Eben als die Pferde sich in Bewegung setzten, nahm Juliette ihrem Vater die Zügel aus der Hand und trieb sie mit denselben zu rascherer Gangart an.

„Theilen wir uns in das Amüsement,“ sagte sie dabei neckisch; „Du kannst von Zeit zu Zeit die Peitsche schwingen, Papa, wenn unsere Pferdchen das Laufen vergessen.“

„Aber so war's nicht gemeint, mein Fräulein,“ warf Rose ein. „Hätte ich ahnen können, daß Sie …“ Er stand hinter ihr auf und faßte nach der Leine.

„Bitte, bemühen Sie sich gar nicht!“ wies sie ihn ab, „es macht mir Spaß zu kutschiren.“

„Nicht doch, Kind!“ äußerte sich nun auch Herr Blanchard; „erlaube mir …“

Sie hielt ihn mit der vorgestreckten Schulter ab. „Ich erlaube durchaus nicht. Was sich für meinen Papa nicht schickt, da man’s von ihm als eine Pflicht fordert, ist mir wohlanständig, wenn ich mir ein Vergnügen daraus mache. Ich bilde mir ein, in einem eleganten englischen Gig zu sitzen und meinen Papa in’s Boulogner Wäldchen spazieren zu fahren. Ist das nicht hübsch? Du kennst doch die Einrichtung eines solchen Fuhrwerkes?“

Herr Blanchard gab ihr nicht die Veranlassung, dieselbe näher auseinanderzusetzen, aber Arnold wußte recht gut, worauf sie anspielte. Es gab da einen Rücksitz für den Bedienten, und er nahm ihn ein. Er hätte nur noch die Arme über der Brust kreuzen dürfen, so wäre der englische Groom fertig gewesen. O, seine kleine Todfeindin fühlte sich als Siegerin und wurde übermüthig in ihrer Laune. Er zündete eine Cigarre an und verpaffte die edle Gabe des guten Onkel Helmbach mit wahrhaft verschwenderischer Eile. „Mag es nun gehen, wie’s geht!“ dachte er. „Ich kümmere mich nicht weiter darum.“

Juliette war jetzt die Munterkeit selbst; sie lachte und scherzte mit ihrem Nachbar, commandirte die Peitsche in seiner Hand und trieb beim Kutschiren allerhand Possen, die bei so [227] gutmüthigen Thieren und auf der breiten ebenen Landstraße ganz ungefährlich waren. Hin und wieder fiel eine Aeußerung, die Arnold als eine neckische Herausforderung hätte auffassen können, in diesen Ton einzustimmen, und es schien sie dann zu ärgern, daß er nun beharrlich schwieg.

Nach einer Stunde aber wurde die Unterhaltung matter und matter. „Gieb mir die Leine,“ sagte Blanchard, „Deine Hände ermüden.“

Doch das ließ nun der Eigensinn noch nicht zu. „O, gar nicht,“ antwortete sie, aber keinesweges mit überzeugender Munterkeit, sondern schon recht abgespannt und wie geärgert.

„Wir sind gewiß nicht mehr weit von der Station.“

Das war, wie Arnold wußte, ein Irrthum. Aber er schwieg auch jetzt; er that so, als ob der Wagen hinten ganz leer sei. Wollte er Juliette an seine Gegenwart erinnern, so konnte er kein wirksameres Mittel wählen. Es dauerte denn auch nicht lange, so wandte sie sich halb zurück und sagte ohne den bisherigen spitzen Accent:

„Können Sie uns vielleicht Auskunft geben, mein Herr, ob es noch weit bis zur Station ist?“

„Eine ziemliche Strecke,“ antwortete er, ohne sich zu rühren.

„Der Weg ist entsetzlich langweilig,“ bemerkte sie zu Blanchard, der schläfrig nickte, und dann wieder so weit zurückgewendet, daß für Arnold das ganze Profil des zierlichen Gesichtchens bemerklich wurde: „Sind Sie denn auch sicher, mein Herr, daß wir den richtigen Weg einhalten?“

„Es ist derselbe, auf dem wir die Hinfahrt gemacht haben,“ antwortete der Gefragte in gezwungen gleichgültigem Ton. Das Profil war allerliebst.

Wieder eine Pause.

„Aber es dämmert schon.“

Es dämmerte wirklich schon recht merklich. Der Himmel war grau bezogen, und der röthliche Streifen ganz unten am Horizont zeigte an, daß die Sonne untergegangen sei. Nach einer halben Stunde etwa gelangte man an eine Brücke. Der gemauerte Bogen war von Freund oder Feind gesprengt und dann nothdürftig mit Steinen und Holz ausgebessert worden. Auch der Weg wurde hier sehr schlecht, da augenscheinlich quer durch die Chaussee breite und tiefe Gräben gezogen waren, die man dann nur in der Mitte ziemlich lose einschüttete, um einen dammartigen Uebergang zu gewinnen. Es war inzwischen so dunkel geworden, daß man auf weitere Entfernung nur mit einiger Mühe die Unebenheiten der Straße erkennen konnte.

„Vorsichtig, mein Fräulein, vorsichtig!“ rief Rose.

„Der Weg wird schwierig,“ bemerkte Herr Blanchard, ängstlich zur Seite über das tief in das lose Erdreich einsinkende und sich dann wieder rasch hebende Rad hinabsehend.

„Doch einmal eine kleine Abwechselung,“ entgegnete die junge Dame, die Pferde mit dem Zügel antreibend.

Das Rad ging über einen Stein weg und Herr Blanchard machte auf dem Sitze eine hüpfende Bewegung. „Sollten wir nicht doch lieber Herrn Rose bitten …“

„Warum denn? Ich lenke schon zur Seite.“

„Steigen Sie ab, mein Fräulein!“ bat Rose, „es geht so nicht weiter.“

„Wir sind gleich wieder auf festem Boden.“

In diesem Momente sank das Vorderrad neben ihr wie in ein tiefes Loch. Arnold stand auf und nahm Blanchard die Peitsche aus der Hand. „Sie werfen um, mein Fräulein,“ rief er.

Juliette lachte. „Sind Sie so furchtsam?“ Sie riß dabei am Zügel und suchte die Pferde zu einer scharfen Wendung zu vermögen. Das eine stand hoch, das andere tief; die herumschwankende Deichsel schlug das untere gegen den Kopf und zwang es zu einem scheuen Ausweichen.

Rose beugte sich schnell über und griff nach der Leine. „Geben Sie, mein Fräulein, geben Sie!“ sagte er hastig. Sie suchte sich ihm zu entziehen und lenkte dabei unwillkürlich noch mehr nach der gefahrvollen Seite. Nun glitt auch das Hinterrad die Böschung hinab; Herr Blanchard sprang mit einem raschen Satze hinaus. Dabei verlor der Wagen nun ganz das Gleichgewicht, kam in's Kippen und überschlug sich. Arnold hatte nur noch gerade Zeit, das Fräulein vom Strohsitze zurückzureißen und in eine weniger gefährliche Lage zu bringen. Was in den nächsten Secunden geschah, wußte er nicht.

Als er sich wieder aufraffte, fühlte er einen heftigen Schmerz am Kopfe wie von einem Schlage. Er sank mit den Füßen in eine schlammige Masse, aus der mehrere große Steine hervorragten. Der Wagen lag völlig umgekehrt im Graben nicht weit von ihm. Ein wenig oberhalb bemühte sich Blanchard, seine Tochter aufzurichten. „Hast Du Dich beschädigt, mein Engelskind?“ hörte er ihn wiederholt fragen. Juliette gab keine Antwort. Eine furchtbare Angst überkam ihn; er nahm alle seine Kraft zusammen, sich aufrecht zu stellen und die Böschung hinaufzuklettern.

„Wie geht's dem Fräulein?“ fragte er besorgt. „Mein Gott! Doch kein größeres Unglück?“

Seine Stimme brachte Juliette wieder ganz zu sich. „Ich glaube nicht,“ sagte sie matt; „nur der rechte Fuß scheint ein wenig verstaucht zu sein – ich fiel gerade unter den Wagen. Sind Sie verletzt? … Ich würde es sehr bedauern, wenn meine Ungeschicklichkeit –“

„Sprechen wir nicht davon!“ fiel Arnold ein, dem diese freundliche Zusprache das beste Wundpflaster war. „Die Hauptsache ist, daß wir uns möglichst bald in reisefähigen Stand setzen. Kommen Sie, Herr Blanchard! Helfen Sie mir den Wagen untersuchen und aufrichten!“

„Verlangen Sie nichts Unmögliches von nur!“ replicirte derselbe mit sehr dünner Stimme. „Mir zittert jedes Glied von dem Schrecke. Welche Gefahr –! Nicht für mich, mein Herr, das war das Wenigste; aber für meine einzige Tochter – Juliette hätte von dem schweren Wagen erdrückt werden können! O, wenn ihre Mutter wüßte …“

„Wir werden noch Zeit genug haben, alle möglichen Folgen dieses bösen Sturzes durchzusprechen,“ unterbrach der junge Mann. „Declamiren wir jetzt nicht, handeln wir! Schwerlich werden Sie die Nacht unter freiem Himmel zubringen wollen. Folgen Sie mir!“

Er stellte sich seitwärts gegen die Böschung und ließ sich mit dem losen Erdreiche in den schlammigen Graben hinabgleiten. Aber Blanchard rührte sich nicht. „Hierher, mein Kind, hierher!“ rief er ängstlich, „setze Dich auf diesen Stein! Dein Fuß ist verletzt … o, o, o! Schone ihn! So! Ich bleibe bei Dir – es ist ja meine Pflicht. Herr Rose wird die Güte haben, den Wagen wieder auf den Damm zu bringen. Nicht wahr, Herr Rose? In Deinem ganzen Leben nimmst Du nicht wieder eine Leine in die Hand. Nun – wie steht's, Herr Rose?“

Arnold, der nicht mehr auf Beistand rechnete, stand mit den Füßen bis über die Knöchel im Schlamme, strängte die Pferde ab und versuchte mit Aufbietung aller Kräfte, den Wagen aufzurichten. Kaum aber hatte er ihn ein wenig gehoben, so daß die Last auf die Räder zu drücken anfing, als ein Knistern und Krachen des Holzes ihn belehrte, daß eines derselben gebrochen sein müsse. Bald überzeugte er sich von der Richtigkeit dieser sehr unerfreulichen Wahrnehmung. „Das Hinterrad total zertrümmert!“ rief er hinauf. „Es ist nicht daran zu denken, den Wagen wieder fahrbar zu machen. Das Vernünftigste ist, wir lassen ihn liegen, wie er liegt.“

„Aber was soll aus uns werden?“ fragte der Kaufmann besorgt.

„Wir gehen zu Fuß, Papa,“ meinte Juliette. „Es ist mir nur leid um mein Gepäck, das da im Graben liegen bleiben muß.“

Herr Blanchard knurrte etwas von „ungewohnten Strapazen, weiter Entfernung, vorgerückten Jahren, zitternden Knieen,“ wagte aber keine laute Opposition zu erheben. „Ließe sich nur wenigstens meine kleine Handtasche auffinden,“ sprach das Mädchen, laut genug, um auch unten im Graben verstanden werden zu können. „Es ist darin das Album, in das alle meine Freundinnen sich eingeschrieben haben; es sollte mir bis an mein Lebensende ein theures Andenken sein.“ Sie stand auf, stützte sich mit der Hand auf den Stein und prüfte mit dem Fuße die Festigkeit des Gerölles. „Haben Sie da unten sicheren Grund?“ fragte sie zögernd, denn der Fuß schmerzte heftig; „ich möchte die Tasche suchen.“

„Bemühen Sie sich nicht, mein Fräulein!“ bat Rose, der wieder ganz Mildherzigkeit war; „es ist völlig genug, wenn ich mir die Stiefel voll Wasser schöpfe. Hier ist die kleine Tasche schon, leicht genug trotz aller der schweren Abschiedsseufzer in Versen und Prosa, mit denen das Album belastet ist. Geben Sie Acht! Ich werfe sie Ihnen zu.“

[228] „O, Dank, besten Dank! Wenn Sie nur noch das kleine Flacon finden könnten, das sich mir vom Bande losgerissen hat! Es ist ein Geschenk von der guten Tallandier, in einer theuren Lehrerin, und ich verliere es ungern. Ach! wenn ich mir nur nicht den Fuß verstaucht hätte …“

Rose versicherte, daß er’s schon gefunden und eingesteckt habe. „Nichts lassen wir zurück,“ fuhr er fort, „als den zerbrochenen Wagen und das Stroh darauf. Wir haben ja die beiden Pferde. Mit der Leine, die nicht mehr gebraucht wird, befestigen wir das Gepäck auf ihren Rücken. Wie viel Stücke hatten Sie mit?“

Juliette zählte und beschrieb. Blanchard fing sich nun doch an zu schämen, so unthätig dazusitzen; er ließ sich die halbe Böschung hinabgleiten, nahm von Arnold die Sachen in Empfang und reichte sie seiner Tochter hinauf. „Es fehlt nichts mehr,“ bestätigte dieselbe endlich, „aber an einer von den Kisten ist der Deckel eingedrückt, und der Handkoffer scheint sehr naß geworden zu sein. Wenn nur das hübsche blauseidene Kleid verschont geblieben ist, das Mama mir zum letzten Geburtstage geschenkt hat!“

Arnold trieb die Pferde den Damm hinauf; die Sachen wurden geschickt aufgepackt und befestigt. Er nahm die Zügel in die Hand und commandirte den Aufbruch. „Wir haben noch eine gute Stunde bis zum Wirthshause,“ sagte er, zu rascherem Ausschreiten aufmunternd, „und die Nacht überfällt uns.“

Juliette hatte sich auf ihres Vaters Arm gestützt und bemühte sich, mit dem Führer Schritt zu halten. Anfangs zog sie den verletzten Fuß nur ein wenig nach, bald aber hinkte sie bedenklich und ließ ihre Last den kleinen Mann, ihren Vater, so empfindlich fühlen, daß dieser stöhnend den Vorschlag machte, den Arm zu wechseln. „Ich brauche aber gerade auf dieser Seite eine Stütze,“ versicherte das Mädchen weinerlich, „weiter, weiter, Papa!“

Blanchard fügte sich seufzend; aber schon nach wenigen Minuten blieb er wieder stehen. „Es geht so nicht, Kind,“ versicherte er. „Beim besten Willen –! Ich nehme gewiß auf mich keine Rücksicht, aber mein eigener leidender Zustand …“

Arnold wurde aufmerksam. „Wollen Sie ausruhen?“ fragte er.

„O, es wird dann nur schlimmer,“ entgegnete die Französin. „Nein, nein! eilen wir, unter Dach zu kommen.“

„Ja, eilen – eilen!“ knurrte der Papa; „ich kann Dich doch unmöglich tragen, Kind. Wenn Sie vielleicht mit mir tauschen wollen, Herr Rose …? Ich könnte ja die Pferde führten, und Sie gestatten gütigst meiner Tochter –“

„Auf keinen Fall, Papa!“ warf Juliette ein. „Ich will lieber hier auf der Landstraße den Morgen erwarten, als Herrn Rose bemühen …“

„Aber das und ja Thorheiten,“ ließ sich Herr Blanchard in seinem Aerger etwas ungalant vernehmen. „In der Noth, Kind – und Herr Rose verdient wirklich nicht, so unfreundlich –“

Er unterbrach sich selbst, als fürchtete er, doch zu viel zu sagen. Arnold hatte auch genug gehört. „Ich darf Ihnen meinen Arm nicht anbieten, mein Fräulein,“ sagte er ziemlich kühl. „Aber wie wär's, wenn Sie sich entschließen könnten, eine unserer beiden Rosinanten zu besteigen? Unbequem freilich wird der Ritt sein, aber Sie schonen wenigstens den Fuß.“

Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern räumte von dem einen Gaule das Gepäck fort, legte die wollenen Decken zusammen, die vorher auf den Strohbündeln gelegen hatten, und versuchte eine Art von Sattel herzustellen, der einigermaßen gegen den Druck des weit vorstehenden Rückgrates schützen konnte. Er hielt dann seine Hand hin, indem er sich bückte. „Benutzen Sie diesen lebendigen Steigbügel, mein Fräulein!“ bat er, „es wird Ihr Gewissen sicher nicht beschweren, einen Feind mit Füßen zu treten.“

Sie zögerte ein Weilchen und schaute wie nach einer anderen Hülfe um. Aber es gab sonst kein Mittel, auf das Pferd zu gelangen, da nicht einmal ein großer Stein in der Nähe war. „Ich bin gar nicht so boshaft,“ sagte sie dann, stützte sich auf seine Schulter und setzte die Fußspitze wirklich auf seine Hand. Mit einem raschen Schwunge saß sie quer auf dem Gaul und suchte sich's auf demselben möglichst bequem zu machen, ohne sogleich die Hand von Arnold's Schulter fortzuziehen. „Vortrefflich!“ rief sie, „ich danke Ihnen recht sehr für den klugen Einfall. Willst Du mir nun Deine Hand reichen, Papa? Ich werde mich allein auf dem losen Sattel nicht halten können.“ Herr Blanchard sprang zu und löste Rose ab. Der kleine Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Eine halbe Stunde ging's rasch vorwärts. Dann fing Herr Blanchard wieder sehr verdächtig zu seufzen und zu stöhnen an. Der Braune, auf dem Juliette saß, hatte einen harten und stoßenden Schritt. Die Decken lagen nicht fest; der Fuß fand keine Stütze; so wurde der Ritt sehr ermüdend, und Herr Blanchard fühlte bald seine hochausgestreckte Hand noch mehr belastet, als vorhin seinen Arm.

„Möchtest Du nicht einmal in die Mähne fassen?“ fragte er verzweifelt. Es ist nur, daß ich ein wenig ausruhe.“

„Ich sitze wie auf einer Stange,“ entgegnete sie, „und kann nicht balanciren, wenn ich mich bücke. Lass' nur – das Sitzen wird mir so wenigstens erträglich.“

„Ja – aber ich halt's nicht länger aus,“ versicherte er, und ließ die Hand sinken. Arnold gab seinen Platz vor den Pferden auf und eilte zum Beistand herbei. Ohne weiter zu fragen, reichte er Blanchard den Zügel und faßte kräftig des Fräuleins Hand.

Sie widerstrebte jetzt nicht weiter, weder mit Worten, noch durch die That, sondern ließ geschehen, was sie in ihrer Lage nicht glaubte ändern zu können. Zwar bemühte sie sich anfangs, seine Hülfe nur so weit in Anspruch zu nehmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; bald aber gab sie auch diese Reserve auf und stützte sich bei jeder Hebung des Pferdes auf seinen Arm wie auf einen festen Stab. Die Kraft, die er ihrem Druck entgegensetzte, gab ihr ein angenehmes Gefühl der Sicherheit, und so fing sie denn auch wieder mit ihrem Vater ganz lustig zu plaudern an. Rose betheiligte sich nicht bei dem Gespräch; es war ihm eine ganz eigene Empfindung, die kleine warme Hand des reizenden Mädchens in der seinigen zu fühlen, das sich so viel ausgesuchte Mühe gab, ihm feindlich zu begegnen, und an das er sich doch mit immer festeren Banden gefesselt wußte.

Jetzt wurde bei einer Biegung des Weges in der Ferne ein Licht bemerkbar. „Da!“ rief Juliette. „Wir sind am Ziel.“

„Es ist das alleinstehende Haus an der Landstraße,“ bemerkte Rose, „in dem sich allerdings eine Wirthschaft befindet. Bis zum Städtchen ist’s von da noch eine Viertelstunde, und ich möchte des bequemeren Nachtquartiers wegen rathen –“

„Nein, nein!“ unterbrach das Mädchen eifrig, „wir kehren hier ein. Das bequemste Nachtquartier ist jedenfalls das nächste.“

Gleich darauf durchschnitt die Straße ein niedriges Gehölz. Schon nach wenigen Schritten tönte ihnen aus demselben ein barsches „Qui vive?“ entgegen. Blanchard blieb sogleich stehen und hielt die Pferde zurück. Vom Graben her tauchte eine Gestalt auf und näherte sich den Reisenden. Es war ein Mann in blauer Blouse; ein breitkrämpiger Filzhut deckte das Gesicht und ein Gewehr in seiner Hand weckte wenig Vertrauen. Eine zweite Gestalt folgte und stellte sich mitten auf den Weg nicht weit vor den Pferden.

„Was soll das?“ fragte Rose unwillig, „sind wir hier unter Räubern …“

Er fühlte einen schnellen Druck der kleinen Hand und begriff sogleich, daß er ihm Schweigen gebieten sollte. Blanchard gab mit etwas stotternder Stimme Auskunft über das Woher und Wohin, und Juliette vervollständigte mit größerer Geläufigkeit seine Angaben.

„Und der Herr da?“

„Unser Begleiter, lieber Freund.“

„Ein Prüssien –!“

„Allerdings, aber kein Soldat.“

„Sondern –?“

„Ein Krankenpfleger. Die Binde mit dem rothen Kreuz –“

„Kann jeder Spion anlegen.“

„Mein Herr –“ fiel Rose aufgebracht ein.

„Schweigt!“ rief der Blousenmann und ein sanfter Händedruck belehrte ihn, daß er gehorchen solle.

(Fortsetzung folgt.)
[229]
Ein Liebling der Wiener.


Friederike Goßmann.
Nach einer Photographie.


Sie schuf ein Gott in schaffensfroher Stunde
Und sah sie an und freute sich der That;
So wohl war ihm seit Langem nicht gelungen
Ein Menschenbild – so ganz aus einem Guß.
Mild lächelnd küßte er sie auf die Stirn
Und schickt’ sein Meisterwerkchen in die Welt.
Dann aber nahm die Form er und zerschlug sie:
Für alle Tage schuf er Solches nicht.
Seht euch sie wohl an und seid gut mit ihr!
’s giebt keine And’re, denn die Form ist hin –
     Nur sie ist da, und keine zweite goß man.

Ich bitte um Entschuldigung für diese Jamben; meine Vergangenheit ist in poetischer Beziehung unbescholten, und es wird mir Niemand vorwerfen können, daß ich schon früher öfter Verse begangen hätte. Ich darf also auf mildernde Umstände plaidiren und schließlich – diesmal konnte ich wirklich nichts dafür. Denken Sie sich in meine Lage! Ich setze mich nieder, um über die Goßmann zu schreiben, über Friederike Goßmann, die ja selber ein wandelndes Gedicht ist, die in neuester Zeit selber Gedichte edirt, ist es da zu verwundern, wenn Einem fast unwillkürlich ein Gedicht aus der Feder fließt? Dumme Streiche haben in der Regel keine Berechtigung für sich, allein der Goßmann gegenüber – und wie leicht geschehen sie da! – erhalten sie eine gewisse poetische Verklärung; die begeisterten Studenten in Stuttgart spannen ihr die Pferde aus und sich selbst vor ihren Wagen, und mir passiren einige fünffüßige Jamben.

So wäre sie denn wieder vor die Oeffentlichkeit hinausgetreten, nachdem sie sich für einige Zeit von der Welt, das ist von dem Schauplatze ihrer Triumphe zurückgezogen hatte. Wir begegneten ihr zunächst auf einem Gebiete, welches sie, einen [230] ganz kleinen Ausnahmefall abgerechnet, früher noch nicht betreten hatte – auf dem der Literatur.

Die uns vorliegenden „Rosenlieder, gesammelt von Gräfin Prokesch-Osten (Friederike Goßmann)“ sind ein schönes Zeugniß dafür, wie die gefeierte Künstlerin auch in ihrer Zurückgezogenheit es versteht, ihr eigenes Dasein zu einem harmonischen Kunstwerke zu gestalten. Von der Sappho und Anakreon an bis herab auf die Sänger unserer Tage ist jeder Poet vertreten, der das Lob der Rose gesungen hat. Sie sind nicht gleichwerthig, die Dichter; Goethe kommt vor, und neben ihm begegnen wir Dichtern von gestern, fehlt doch der harmlose Wiener Poet nicht, der Besitzer vieler ihm „syntaxfrei verliehener Orden“. Eingeleitet wird die Sammlung durch ein artiges Sonett der Herausgeberin. Die Idee, eine solche Anthologie zu veranstalten, eine Blumenlese, die sich nur an die Blume der Blumen, an die Rose hält, ist eine glückliche. Spielt doch die Rose auch ihre Rolle in dem Gastmahle des göttlichen Platon, und nach der Liebe und nach der Rebe ist doch sicherlich von jeher die Rose das liebste Kleinod aller Poeten gewesen.

Doch bald zeigte sie sich auch zur Freude des Wiener Publicums in ihrem eigentlichen Wirkungskreise, sie erschien einige Male auf den Wiener Bühnen, und zwar einmal als Lorle in „Dorf und Stadt“ im Theater an der Wien und zweimal als „Grille“ im Stadttheater. Der Ertrag des „Lorle“ fiel der Franz-Josephstiftung, der der „Grille“ einmal der Concordia, das andere Mal dem „Frauen-Erwerbverein“ zu. Der Jubel, mit dem sie empfangen wurde, der ihren Leistungen folgte, sprach es einmüthiger und deutlicher aus, als es hundert Recensionen vermöchten: sie ist die Alte, will sagen: sie ist jung geblieben; sie ist heute noch, was sie zeitlebens war – ein wahres Kind. Schopenhauer macht in seiner genialen Abhandlung über das Genie die tiefsinnige Bemerkung, daß das Genie immer etwas, und meist sehr viel, vom Kinde an sich habe, und in der That läßt sich die Kindlichkeit des Charakters bei fast allen Genies nachweisen. Hier haben wir einmal den eigenthümlichen Fall, daß die Kindlichkeit an sich selbst als Genie in die Erscheinung tritt. Was ist das doch für ein merkwürdiges Menschenkind, die kleine Goßmann! Sie ist nicht mehr und nicht weniger, als ein Kind; das ist ihr Genie, und das ist das Entzücken der Welt. Wenn sie fröhlich in die Händchen klatscht, so lacht auch dem Zuschauer das Herz im Leibe. Wer hat sich nicht, wenn er als Kind ein großes Unglück auf der Bühne sich abspielen sah, in der Angst, die hervorbrechenden Thränen nicht mehr zurückhalten zu können, mit dem scharfsinnigen Sophismus zu trösten versucht: „es ist ja doch nicht wahr, was da oben vorgeht; es ist nur ein Schauspiel“? Die Geschichte kehrt sich um, wenn die Goßmann spielt. Hat ihr in einem Stücke irgend ein nichtswürdiger Bösewicht eine Kränkung zugefügt, so daß sie recht von Herzen unglücklich werden muß, dann möchte man zunächst allerdings vor allem Anderen erst den Schurken in der Luft zerreißen, der ihr etwas gethan hat. Da aber das doch nicht gleich durchzuführen ist, so muß man an sich halten, um ihr nicht zu sagen, was wir uns als Kinder selber gesagt haben: „Es ist ja doch nicht wahr; aber Kind, liebes, gutes Kind, so sei doch nicht gleich so erschrecklich traurig! In einer Stunde ist alles vorbei, und du wirst sehen, daß du dann doch wieder glücklich sein wirst. Sie glaubt es nicht. Aber ich schwöre, daß in einer Stunde Alles wieder gut ist; geh’, weine doch nicht so herzbrechend, sonst – meiner Seele, muß ich mitweinen. Ich greife nach dem Taschentuche. Da hast du’s; ich habe es gleich gesagt.“ –

Ich weiß nicht, ob mich eine der freundlichen Leserinnen auslachen wird; thut sie es, so hat sie sicher die Goßmann nicht gesehen. Die Goßmann ist naiv, und so wahr und so echt in ihrer Naivetät, daß sie diese auch ihrem Auditorium mittheilt, das ihr gegenüber wieder lernt, was es nur zu schnell vergißt – naiv zu genießen. Der naive Genuß ist der reinste, und darum sind wir Dem so dankbar, der uns einen solchen ermöglicht. Der so wünschenswerthe stille geistige Rapport zwischen der Bühne und dem Zuschauerraume ist sofort hergestellt, wenn Friederike Goßmann die Bühne betritt; sie erweckt sogleich auch Sympathien für ihre Person, und wer sie gesehen hat, ist ihr auch persönlich zugethan. Man muß ihr gut sein, wenn man sie kennt, und man kennt sie, wenn man sie spielen gesehen hat. Sie ist, wie sie spielt, und sie spielt, wie sie ist. Das ist keine große Kunst, aber kann sie etwas dafür, wenn der liebe Gott sie gleich als fertiges Kunstwerkchen in die Welt hinein gestellt hat? Und wenn es keine Kunst ist, so soll es ihr doch Eine nachmachen.

Bei Schauspielerinnen pflegt man oft die Frau und die Künstlerin zu trennen, und da sie sehr exponirte Stellungen im Leben einnehmen, so ist es bei ihnen leichter möglich, nach der einen oder andern Seite hin Blößen zu entdecken, als bei Frauen, deren Wirkungskreis nicht über ihre jeweilige Familie hinausreicht. Solche Entdeckungen werden dann ebensowenig geheim gehalten, wie das Lob, das ihnen gespendet wird. Friederike Goßmann, ein rechtes „Kind des Glückes“, hat von der Oeffentlichkeit, die, wie Helios, alles Irdische bescheint, niemals zu leiden gehabt. In vielen hundert Recensionen, die ich über sie gelesen habe, habe ich nicht ein mißgünstiges und absprechendes Wort über die Künstlerin gefunden, und nie hat sich die üble Nachrede, sonst so geschäftig allen vor der Oeffentlichkeit wirkenden Personen gegenüber, auch nur mit einer Silbe an die Frau herangewagt. Immer haben es Alle herausgefühlt, daß diese bezaubernde Seelenreinheit des Spiels nicht aus unlauterem Herzen sprießen könne, daß es hier nicht möglich sei, nur an eingelernte Schauspielerstücklein zu denken, sondern daß man es hier nur mit den Spiegelungen und dem schimmernden Farbenspiele einer diamantklaren Seele zu thun habe, einer Seele, die sich ihrer herzgewinnenden Naivetät so wenig bewußt sei, wie eben der Diamant seines blitzenden Feuerspiels.

Ihre gefeierte Lehrerin, die königlich baierische Hofschauspielerin Frau Constanze Dahn, hatte unter so bewandten Umständen eine wenig mühevolle und, wie die Folge gelehrt hat, sehr dankbare Aufgabe gestellt bekommen, als sich die kleine Friederike mit ihrem munteren Naturell an sie mit der Bitte wandte, sie doch für die Bühne auszubilden. Friederikens Vater, der Gymnasialprofessor Johann Baptist Goßmann, war nach seiner Uebersiedelung von Würzburg, der Geburtsstadt Friederikens, nach München in letzterer Stadt noch nicht einmal recht warm geworden, als sein Töchterlein schon an der Seite der berühmten Lehrmeisterin ihr erstes Debüt als Leonie im „Damenkrieg“ feierte. Kaum flügge geworden, wagte sie auch schon einen selbstständigen Flug und nahm ein einjähriges Engagement in Königsberg an.

Nach mehreren Engagements an kleinen Bühnen und zahlreichen Triumphen ging sie nach Berlin, wo sie, in stiller Zurückgezogenheit lebend, in nähere persönliche Beziehungen zur Birch-Pfeiffer trat. Diese erkannte die große Begabung der jungen Kunstnovize, und daß sie ihr die Anregung zu mancher literarischer Production geboten hat, ist weltbekannt. Die „Grille“ war es vornehmlich, durch welche die oft hart und mit Unrecht angegriffene Nachdichterin wenigstens das Eine unumstößlich darthat, daß sie im Stande sei, Jemandem eine ganz vorzügliche Rolle auf den Leib zu schreiben. Nach einem einjährigen, ruhmvollen Engagement in Hamburg erhielt Friederike Goßmann einen Ruf an das Wiener Hofburgtheater. Wie glücklich dieser Antrag sie machte, mag aus folgenden Worten erhellen, die sie bei jenem Anlaß einem Briefe beifügte: „Theilen Sie mit mir meine unaussprechliche Wonne, die mich förmlich berauscht, und jubeln Sie mit mir! Ich erhielt heute einen Antrag an’s Hofburgtheater. So hätte ich denn mit siebenzehn Jahren ein Ziel erreicht, das Andern oft in ihrem ganzen Leben nicht geboten wird.“

Es erhellt aus dem Jubel der citirten Worte, daß Friederike mit einer wahren Divinationsgabe von vornherein herausgefühlt hat, daß in Wien das Klima wehe, welches erst die Victoria-Regia-Blüthe ihres Ruhmes zum Platzen bringen werde. Sie hatte recht geahnt. Sie trat auf. Das Publikum kam, sah und ward besiegt. Das treue, fröhliche Herz des deutschen Kindes hatte sich im Fluge alle Herzen gewonnen; Friederike wurde der vergötterte Liebling von Jung und Alt. Kamen Fremde nach Wien, so erkundigten sie sich, wann die Goßmann auftreten werde, um erst nach erhaltener Auskunft die Dauer ihres Aufenthaltes zu bestimmen; ihr zu Ehren wurden Vereine gebildet, und selbst die höchsten Beweise unbestrittener Popularität wurden ihr nicht vorenthalten: Es wurden Seifen, Pomaden, Sonnenschirme, Hüte, Frisuren und Kleider auf ihren Namen getauft. Einmal hat sie ihre Popularität benutzt, um Capital aus derselben zu schlagen, doch nicht für sich. Jedes Kind in Wien kennt die Mehlmessergeschichte. [231] Eine arme Mehlverkäuferin aus der Vorstadt Mariahilf war in harte Bedrängniß gerathen und wandte sich in ihrer Noth an die Goßmann. Was ihr diese aus eigenen Mitteln hätte geben können, wäre nicht genug gewesen. Da mußte gründlich geholfen werden, und es wurde geholfen. Friederike machte sich auf und verkaufte selbst das Mehl in dem Laden der Frau vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht. Man kann sich denken, wie groß das Gedränge im Laden war, und wie die Dukaten der armen Frau nur so zuflogen. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht durch die Stadt verbreitet, daß die Goßmann Mehl verkaufe, und der Andrang wurde schließlich so stark, daß die löbliche Polizei sich in’s Mittel legen zu müssen glaubte und den Gewerbeschein der merkwürdigen Mehlmesserin sehen wollte, wodurch sich übrigens die eifrige Verkäuferin durchaus nicht beirren ließ, vielmehr ließ sie es darauf ankommen, daß man ihr später, wenn sie ihr Werk vollendet haben würde, den Proceß mache.

Bei all ihren Erfolgen blieb Friederike Goßmann doch immer bescheiden in ihrem Wirkungskreise und sie war, wie beim Publicum, so auch bei ihren Berufsgenossen und -genossinnen, der Liebling. Mit besonderer Verehrung sah sie zu der großen Tragödin Julie Rettich empor, und neben dieser nannte sie sich selbst immer nur das Radieschen des Burgtheaters. Halm soll – nebenbei bemerkt – eigens, für dieses Radieschen sein „Wildfeuer“ geschrieben haben.

Sie war noch keine zwei Jahre am Burgtheater engagirt, als sie ihren jetzigen Gemahl, den Grafen Anton Prokesch-Osten, damals Officier, auf einem Balle kennen lernte. Ihre Herzen fanden sich gleich, und es war zwischen ihnen bald ausgemachte Sache, daß sie sich angehören sollten für’s ganze Leben. Mit Bezug auf dieses Bündniß erzählt man sich in Wien ein Geschichtchen, das ich hier reproduciren will, weil es mir, mag es sich nun buchstäblich zugetragen haben oder nicht, charakteristisch zu sein scheint für die betheiligten Personen.

Eines Tages überbringt ein „guter“ Freund der Künstlerin die Nachricht, daß der Vater ihres Auserkorenen seinem Sohne diese Heirath verboten habe. Kaum hatte sich aber der Freund empfohlen, als ihr der alte Graf selbst in den Wurf kam, und aufgeregt von dem Gehörten, richtet sie die directe Frage an ihn, ob es wahr sei, was man ihr hinterbracht habe. Der Graf, der als Diplomat – er war Botschafter in der Türkei – sich schon in mancher schwierigen Lage befunden hatte, der in der Schlacht von Waterloo wacker Stand gehalten hatte, er fühlte sich in so schiefer Situation, wie vielleicht noch nie. Allein ein Blick in die Augen des geängsteten Kindes, dem um sein Lebensglück bange war, gab ihm seine Haltung wieder, und er antwortete, selbst bezaubert von der kleinen Fragestellerin, die solcherweis ihr Schicksal selbst in die Hand genommen hatte: „Allerdings habe ich es meinem Sohne verboten, allein wenn ich mein Sohn bin, so habe ich Verstand genug, meinem Vater unter gar keiner Bedingung zu gehorchen.“ – Ich bin selbst zu wenig Graf und zu wenig bejahrter Vater eines heirathslustigen Husarenofficiers, um ein competentes Urtheil über diese Geschichte zu fällen, allein ich denke, daß sie Jeden, der das Herz auf dem rechten Flecke hat, wohlthuend berühren muß. Derartige kecke Gefühlsäußerungen, wie sie sonst wohl auffällig erscheinen würden, finden ihre Begründung in der durchaus naiven und kindlichen Charakteranlage der Goßmann; hat sie doch einmal in Königsberg auf offener Bühne bitterlich geweint, weil das Theater leer war, und sie konnte damals erst weiter spielen, nachdem sie sich rechtschaffen ausgeweint hatte. Dann aber spielte sie wieder mit sprühendem Humor, mit ungezügelter Schelmerei und rührender Gefühlswärme.

Wir sind bald am Ende unserer Skizze, und so dürfte es sich geziemen, hier einige Rollen aus dem reichen Repertoire der Künstlerin namhaft zu machen, durch welche sie ihre vornehmsten Triumphe feierte. Viele von den Stücken, die sie getragen hat, haben nur wenig künstlerische Bedeutung, und wenn doch Leben und Farbe in sie kam, so war es oft nur dem glücklichen Naturell und dem Spiele der Goßmann zu danken. Wir nennen an erster Stelle natürlich „Die Grille“, dann die Julien in „Sie schreibt an sich selbst“ und in „Ein Autograph“, die Lorle in „Dorf und Stadt“, Hermance in „Kind des Glücks“, endlich den Taugenichts von Paris, das Gänschen von Buchenau etc.

Nach ihrer Verheirathung bezog sie eine reizende Villa in Gmunden; in dieser befindet sich ein merkwürdiges Sanctuarium der Künstlerin. Die Wände sind bedeckt mit Cartons, welche ihre Rollen zum künstlerischen Vorwurfe haben; die Möbel sind überzogen mit den Bändern, welche dereinst an den ihr geworfenen Kränzen flatterten; in zahlreichen Urnen ruht die Asche verbrannter Blumen; ein dickes Album enthält die Gedichte, die der Gefeierten gewidmet wurden – so ruht sie auf ihren Lorbeeren, in einem Alter, in welchem für gewöhnlich anderen Menschenkindern die Ruhmessonne, wenn sie ihnen überhaupt leuchtet, erst aufzugehen beginnt. Einmal vermählt, konnte sie nicht mehr so ausschließlich ihrer Kunst leben, wie früher, aber die mächtige Liebe zu derselben wollte nicht schwächer werden, und so nahm sie denn Narkosen in Form von Orientreisen und Krokodiljagden ein. Auf eine ihrer Orientreisen gab ihr David Fr. Strauß folgendes Gedichtchen mit auf den Weg:

Wenn Dein Fuß die heil’gen Stätten,
Holde Pilgerin, betreten,
Bitt’ ich, wenn sie nach mir fragen.
Ihnen meinen Gruß zu sagen.

Zwar vom Ketzer, dem sie grollen,
Werden sie den Gruß nicht wollen:
Doch ihr Zorn wird schnell vergehen,
Wenn sie auf die Botin sehen.

Den im Eingange dieses Aufsatzes erwähnten kleinen literarischen Ausnahmefall bildet die im „Sport“ veröffentlichte Schilderung einer Krokodiljagd am Nil. Es heißt unter Anderem darin: „Ein Krokodil nur zu sehen, ist der anfänglich noch bescheidene Wunsch, – darauf schießen zu können, wäre doch schön, meint man später, und endlich regt sich die wilde Lust, eines zu besitzen.“ Ist das nicht allerliebst, die Grille mit ihrer wilden Lust ein Krokodil zu besitzen? Bei der geschilderten Jagd hat natürlich ihr Gemahl dem Krokodil die tödtliche Kugel mitten durch das Herz gejagt, wenn auch noch ein anderer Jäger dem Unthier durch einen Schuß in’s Auge den vollständigen Garaus machte.

Balduin Groller.




Dereinst.


Das ist im Feld derselbe Rain,
Wo wir gegangen Hand in Hand,
Als in der Sommersonne Schein
Der Halme Goldfluth wogend stand;
Kornblumen wandst in’s Haar Du ein,
     Die Lerchen lustig sangen: – –
Das ist im Feld derselbe Rain,
     Wo wir dereinst gegangen.

Das ist im Wald derselbe Ort,
Wo wir gesessen manches Mal;
Durch’s grüne Laubdach fort und fort
Glitt glänzendweiß des Mondes Strahl.
Hier Haidekraut, Wildfarren dort –
     Ich werd’ es nie vergessen: – –
Das ist im Wald derselbe Ort,
     Wo wir dereinst gesessen.

Das ist vor’m Dorf die stille Statt,
Wo oft die Schrift gelesen wir,
Die Liebe eingegraben hat
Auf Kreuz und Steinen weinend hier;
Bin wandernsmüd und todesmatt
     Alleine dort gewesen. – –
Am frischen Grab an stiller Statt
     Die Schrift konnt’ ich nicht lesen.

G. v. D.

[232]

Aus den Arbeitssälen des Kunsthandwerks.
1. Stil und Mode.
Von Julius Lessing.[1]


Es hat seit einigen Jahren im Gebiet der Mode und des Geschmacks eine Bewegung begonnen, die etwas entschieden Ungemüthliches hat. Kenner und Nichtkenner, kunstgerecht und kunstlos, das waren Unterschiede, die man sich auf dem Gebiete der reinen Kunst wohl gefallen ließ. Wenn ein Gemälde gekauft werden sollte, von wohlthätigen Vereinen Denkmäler bestellt wurden, da mußte der „Kenner“ zugezogen werden und es gereichte weiter nicht zur Schande, sich als Laie zu bekennen, der die Sache nicht hinreichend verstünde; aber auf dem ganzen Gebiete dessen, was den Schmuck des Hauses und des Leibes angeht, da durfte sich doch Jeder nach Herzenslust bewegen; wenn es galt, ein Kleid zu kaufen oder einen Schmuck in's Ohr, eine neue Tapete oder einen neuen Teppich, eine Tischdecke oder einen Kissenüberzug, da hielt man es für vollständig ausreichend zu erklären: Das ist mein Geschmack, und damit war es gut.

Jetzt auf einmal soll Alles anders werden. Die Frauen sollen keine Blumen und keine Portraits auf ihre Kissen sticken; man verweigert es den Männern, Hufeisen als Hemdenknöpfe zu tragen, ja man sträubt sich sogar, auf Landschaften und Thieren als Teppichen herumzutreten; denn es beginnt eine Revolution im Allerheiligsten des Hauses, vor deren vernichtenden Grundsätzen selbst die harmloseste Handarbeit auf dem Weihnachtstische nicht sicher ist. Das beruhigende Wort, daß der Geschmack verschieden sei, soll nicht mehr gelten, Regeln und Gesetze, ästhetische Formen und Begriffe werden aufgestellt, wo sonst die liebe Willkür behaglich umherschwärmte, kurz mit dem bloßen Gefallen kann man es den Kunstkennern nicht mehr recht machen und verpönt wird, was noch bis vor Kurzem als neueste Mode von Paris in unerschütterlicher Hochachtung felsenfest dastand.

Wir sind unzweifelhaft in einer Periode der Umwälzung. Es herrscht eine große Bewegung, welche statt der willkürlich herrschenden Modeformen strenge und wohlbegründete Formen in Kunst und Kunstgewerbe einführen will. Ist dies nun aber am Ende auch nur eine Modelaune? Wir haben Perioden des Reinigungstriebes innerhalb des Kunstgewerbes öfters erlebt. Die französische Revolution warf mit den alten Institutionen der Feudalmonarchie auch deren sämmtliche Erscheinungsformen auf das Schaffot. Die lustig bewegten Schnörkel des Rococo, die gepuderten Grazien und Amoretten wurden als frivoles Beiwerk unberechtigter Genußsucht feierlichst verdammt, und der strenge Formenkanon der antikrömischen Kunst wurde eingeführt; à la grecque war Mode, wie vorher à la Dubarry oder à la Pompadour, und die größten Modethörinnen der Zeit waren die ersten, welche sich in die neu aufgebrachten Kleiderformen stürzten und ihre Zuthaten, noch mehr aber ihre Fortlassungen zu benutzen verstanden.

Diese Modeumwälzung war wesentlich politisch-socialer Natur. Man kleidete sich antik, oder glaubte es wenigstens zu thun, ebenso wie man Senat und Consuln, Tribunen, Legionen etc. einführte. In folgerichtiger Weise hat denn auch die Restaurationsperiode offen mit diesen classischen Formen gebrochen und mit Willen und Bewußtsein wieder an die Rococoform des ancien régime angeknüpft. Auch heute weisen wir wieder auf die Formen der antiken Kunst als die berechtigten hin und bestreben uns, an ihnen unsere Schüler, unsere Kunstgewerbetreibenden heranzubilden.

Ist dieses nun wiederum nichts als eine solche Modeumwälzung, nur eine Laune, welche jene Formen an Stelle anderer setzen will, um gelegentlich wieder vom Schauplatz fortgespült zu werden? – Selbst wenn es nur ein Modeversuch wäre, so hätten doch wohl unsere Männer und vornehmlich unsere Frauen, welchen die Auswahl der kunstgewerblichen Gegenstände zum Schmuck des Körpers, des Hauses vor Allem obliegt, einigermaßen Grund, auf die Stimmen der Männer zu hören, welche sich mit diesen Fragen beschäftigen.

Es ist so wunderlich, auf den Einwand, daß dieses oder jenes Muster nicht schön sei, von einer Dame zu hören. „Es ist aber einmal mein Geschmack, der für mich ebenso berechtigt ist, wie der Ihre für Sie.“ Ihr Geschmack!?

Wenn man nicht besser wüßte, wie es hergeht mit der Auswahl der Muster! Unsere Frauen gehen in ein Modegeschäft; ihnen werden Stoffe vorgelegt, von denen man ihnen ebenso gut einreden könnte, daß sie für eine Hanswurstkomödie bestimmt wären, aber es wird gesagt, es sei „haute nouveauté de Paris“, und der Geschmack fängt bereits an, sich zu regeln. Wenn der Jüngling mit der Elle nun noch gar hinzufügt, daß von demselben Stoff die Frau Commerzienrath oder, höher hinauf, Ihre Excellenz gekauft habe, so ist jedes Bedenken geschwunden. „Unser Geschmack“ ist gebildet und verwahrt sich hochmütigst gegen jede Einsprache. – Ganz harmlos und unbewußt wird das Evangelium, welches soeben der Modejüngling aus Gott weiß welchen Geschäftsrücksichten gepredigt hat, gegen jede noch so begründete Einsprache unweigerlich als richtig und unumstößlich wiederholt.

Dieser Unfug, diese blinde Herrschaft der Mode ist es, gegen welche angekämpft werden muß, wenn unser Geschmack einigermaßen wieder in eine richtige Strömung gerathen soll. Alle Umwälzungen der Mode beseitigen zu wollen, wäre ein thörichtes Unternehmen; die hat es zu allen Zeiten gegeben und wird es geben, so lange Menschen bestehen. Aus diesen kleinen Schwingungen, deren Einzelbewegung sich für spätere Zeiten dem Blicke des Beobachters entzieht, setzt sich die Strömung zusammen, welche wir, wenn sie abgeschlossen vor uns liegt, als eine Stilperiode bezeichnen, aber diese Schwingungen müssen wenigstens nach einer Richtung hin gehen; wenn sie alle durch einander wirbeln, so entsteht eben keine Strömung, sondern ein Strudel, der nichts Lebendiges und Gesundes aufkommen läßt. Wir sind unzweifelhaft schlimmer daran, als je eine Periode vorher gewesen. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts hatte man es immer mit einer bestimmten Richtung zu thun. Wenn ein Stuhl, ein Tisch gebaut werden sollte, so konnte man über das Material und über den Reichthum der Ausführung verschiedener Meinung sein, über die Gesammtform aber, die dem Stück gegeben werden sollte, war Niemand im Zweifel. Wenn wir jetzt in ein Möbelmagazin treten, wird uns die Auswahl gestellt, ob wir unsere Stube gothisch, oder im Geschmack Louis XV, oder Louis XVI zu haben wünschen, oder lieber Néo-grec oder auch Renaissance, kurz wir haben alle Stile und keinen.

Zu dieser Unsicherheit über die Grenzen des Gebietes kommt noch die Unsicherheit über die Führerschaft auf dem ganzen Gebiete. Bis gegen das Ende des vorigen Jahrhundert hatte viele Generationen hindurch Frankreich die unbestrittene Herrschaft ausgeübt. Es beruhte dies wesentlich auf seiner politischen Machtstellung; weder die künstlerische Ausbildung noch der Geschmack waren im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert in Frankreich höher gewesen als in Deutschland, nur Italien durfte als Meisterin voran den anderen Nationen genannt werden; allen übrigen Ländern war Deutschland weit überlegen. Das siebenzehnte Jahrhundert brachte den Deutschen politische Zerrissenheit, Armuth, unsägliches Elend, von dessen Folgen wir uns bis heute noch nicht völlig erholt haben; für Frankreich brachte es Reichthum, äußeren Glanz und die Concentration aller geistigen Kräfte um den glänzenden Mittelpunkt des Hofes. Von dort aus wurden der Welt Gesetze, den Kleidern ihr Schnitt und den Köpfen ihre Haare zudictirt.

Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts trat eine leichte Erschütterung ein. Der englische Geschmack eroberte sich eine gewisse Geltung. Zur Zeit der deutschen Erhebung in den Freiheitskriegen wurde eine Befreiung versucht; es wurde eine Art von deutschem Rock für die Männer erfunden, auf dem Wartburgfest die französische Schnürbrust feierlichst verbrannt, aber jene Periode, welche mit Heine für die Erinnerungen des Kaiserreichs zu schwärmen begann, kehrte ohne Widerstand zur

[233] alten Tradition zurück und bezog nach wie vor Alles, was guten Geschmack vorstellen sollte, aus Frankreich.

Wir befinden uns, im Großen und Ganzen genommen, noch völlig in derselben Lage. Es wäre eine große Thorheit, einen Feldzug hiergegen in der Art eröffnen zu wollen, daß man jene Waaren, die uns von jenseits der Vogesen kommen, als undeutsch etc. verwerfen wollte. Die Franzosen sind uns zur Zeit noch unzweifelhaft weit überlegen auf so ziemlich allen Gebieten des Kunstgewerbes. Es ist ja auch ganz natürlich, daß ein Volk, welches Jahrhunderte lang seine Kräfte hierfür ausgebildet hat, seine Handelsbeziehungen, seine Gesetzgebung, seine Arbeitstheilung hierauf angelegt hat, welches den inneren Reichthum und den Weltmarkt zum reichlichen Absatz der Producte besitzt, daß ein solches noch dazu von der Natur hochbegabtes Volk Besseres leisten muß als das Nachbarvolk, welchem alle diese Voraussetzungen fehlen und welches sich erst allmählich aus dem Kampfe um das Dasein herausgearbeitet.

Was wir können und wollen müssen, ist nur Folgendes. Wir müssen jenen Artikeln, welche uns als Modewaaren jedes Jahr zwei Mal von Paris herübergeschickt werden, keine größere Wichtigkeit beilegen als anderen Versuchen, etwas Schönes und Neues herzustellen. Jene französischen Musterzeichner schaffen ja schließlich auch niemals etwas absolut Neues, sondern schöpfen aus dem unendlichen Vorrathe bereits vorhandener Formen, welche sie dem modernen Bedürfnisse anpassen. Diesen Schatz der Menschheit müssen wir auch unserem Volke wieder erschließen, damit es selbstständig, seinen Bedürfnissen und Neigungen gemäß, aus demselben seine Kunstformen herausarbeite. Die politische Unabhängigkeit, die wir mühsam erkämpft, muß die geistige zur Folge haben; was wir auf dem Gebiete der Wissenschaft erringen, ist auch auf dem Gebiete der Kunst nicht unerreichbar. Die erste Voraussetzung aber dazu ist guter Wille und festes Zusammenhalten aller Kräfte, welche an diesem Werke mitarbeiten können.

Was wir an den französischen Modewaaren, welche uns ja seit Jahrzehnten den Markt überschwemmen, vor Allem auszusetzen haben, ist der Unverstand und die Willkür, welche in der Formgebung herrscht. Ein gefälliges Aeußere, eine kokette, oft überraschende Verbindung verschiedenartiger Formen darf diesen Waaren nicht abgesprochen werden; wir würden uns selbst ein arges Armuthszeugniß ausstellen, wenn wir dieselben, die wir seit Jahrzehnten bewundert, jetzt einfach als thöricht ansehen wollten. Es ist viel Gutes darin, aber in allen herrscht die Willkür, und durch diese Willkür allein läßt es sich erklären, daß alle zwei, drei Jahre ein Waarenlager unmodern wird. Es liegt im Interesse der Luxusfabrikanten, der Welt im raschesten Wechsel immer vollständig neue Formen aufzunöthigen, um sie zu fortwährend neuen Ankäufen zu veranlassen.

Diese unwürdige Abhängigkeit müssen wir brechen, nicht etwa nur aus commerciellen, sondern vorwiegend aus geistigen Rücksichten; wir müssen schließlich selber reif genug sein, um zu beurtheilen, welche Formen für den Schmuck unseres Hauses die tauglichen sind, und diese dann so tüchtig und ordentlich herzustellen, daß sie nicht nur für denjenigen, der sich dieselben beschafft, sondern für Geschlechter hinaus ein Stolz und eine Freude sind. Das Kleid, der Kopfputz mag leichteren Schwankungen unterworfen sein, aber das eigentliche feste Hausgeräth und von dem menschlichen Schmuck Alles, was aus edlerem Metall mit sorgfältiger Arbeit hergestellt ist, das soll in mustergültigen Formen ausgeführt werden, welche den Sturm der Zeiten zu überdauern im Stande sind und jedem Geschlechte zur Freude und zum Genusse gereiche.

Die Bewegung zur Einführung derartiger gesunder Formen in unser Kunstgewerbe ist jetzt im regsten Flusse. In England hat unter Anregung eines deutschen Fürsten und unter thätigster Mitwirkung eines unserer ersten jetzt lebenden deutschen Baumeister, Gottfried Semper's, der als politischer Flüchtling damals in London lebte, die Gründung des Kensington-Museums stattgefunden, welches den ausgesprochenen Zweck hat, dem englischen Kunstgewerbe neue Lebenselemente zuzuführen, dessen glänzende Resultate wir auf den letzten Weltausstellungen bewundern konnten. In Wien ist das österreichische Museum zu demselben Behufe entstanden. Von dem deutschen Gewerbemuseum in Berlin ist bereits in früheren Jahren in der „Gartenlaube“ ausführlich berichtet worden. In Stuttgart, in Karlsruhe, in Nürnberg, in Hamburg bestehen seit längerer Zeit verwandte Institute; in Leipzig, Dresden, Graz, Prag, Bremen und vielen anderen Orten sind dieselben in der Bildung begriffen.

Für die Wirksamkeit dieser Museen hat das Kensington-Museum das Vorbild gegeben, welches später allgemein befolgt wurde. Anschauung und Unterricht müssen sich nothwendig ergänzen. Wer erzogen werden muß, daß sind nicht nur die Handwerker, sondern auch das Publicum selbst, welches durch lange Gedankenlosigkeit und Abhängigkeit von Journalen der oberflächlichsten Art bereits vollständig vergessen hatte, was es Gutes zu fordern berechtigt wäre. Es galt also vornehmlich, gute alte Vorbilder zu sammeln. Fast ebenso schwer, wie es sein würde, ganz neu gebildete, auf beliebigen Consonantenzusammensetzungen beruhenden Worte in eine Sprache einzuführen, ebenso schwer und unmöglich ist es, Kunstformen zu erfinden, die nicht bereits in ihren Bestandtheilen vorher bekannt gewesen wären. Diejenigen, die immer nach etwas Neuem schreien und von alten abgebrauchten Formen sprechen, wissen nicht, was sie reden; mit demselben Rechte könnten sie den Dichtern einen Vorwurf machen, daß sie immer in derselben Sprache ihre Gefühle ausdrücken. Alle Kunstformen sind nur Worte, die allmählich und unmerkbar ihre Umbildung erfahren, nur die Zusammensetzung derselben, die Benutzung für den einzelnen Fall macht das Kunstwerk aus. Gilt dies schon für die große Kunst, um wie viel mehr für das Kunstgewerbe, dessen Erzeugnisse so innig mit den Bedürfnissen des Menschen verbunden sind, und diese Bedürfnisse sind bei aller Verschiedenheit der Formen doch schließlich im Wesentlichen immer wieder dieselben. Der Schriftsteller, der seine Sprache vollständig beherrschen und zur höchsten Kunstvollendung ausbilden will, wird tief eindringen in das Studium der Meisterwerke früherer Jahrhunderte und aus der Kenntniß fremder Sprachen, der lebendigen und todten, heraus wird sich sein Gefühl für die Feinheit im Organismus der eigenen Sprache kräftigen und bilden.

Ganz dasselbe in noch erhöhtem Maße tritt in der Kunst ein. Die Formen, welche die Anschauung uns bringt, sind leicht und sofort verständlich. Die Schönheit eines griechischen Armbandes, eines Ohrgehänges, den stolzen Schmuck einer mittelalterliche Kathedrale vermag auch der zu bewundern, dem die Verse Homer's eindruckslos am Ohre vorbeirauschen und der einem altdeutschen Gedichte wie einem Räthsel gegenüber steht. Wir müssen also sammeln, was an guten Vorbildern vorhanden ist, und wieder nutzbar machen für unser Volk und für unsere Bedürfnisse.

Hier liegt aber für die praktische Verwendung die Klippe, daß man nicht das Handwerk zur blinden Alterthümelei verleite. Die Frage muß scharf gefaßt werden: Zu welchem Zwecke sammeln wir die alten Vorbilder? – Ist es genug, wenn wir dieselben direkt nachahmen? – Entschieden nein! Nehmen wir ein Beispiel.

Wir wollen eine Lampe kaufen. Von allen, die uns der Fabrikant zeigt, gefällt uns keine. Wir fordern den Werkführer der Fabrik auf, die alte Werke zu studiren. Er geht in ein Gewerbe-Museum, in dem alte Schätze der Vorzeit ausgespeichert sind, und fragt nach Lampen in der guten Absicht, ein altes Vorbild zu benutzen. Man führt ihn zu den griechischen. Ja, was ist mit denen anzufangen? Das sind kleine flache Näpfe mit einer Tülle, aus welcher der Docht hervorkommt, geschlossen mit einem Deckel, in welchen das Oel eingegossen wird. Sie sind, wundervoll modellirt, wahre Kunstwerke der Ornamentik. Wie zierlich erstreckt sich die Schnauze nach vorn! Die Eingußöffnung ist eine Maske, welche das Oel zu trinken scheint. In den Ranken, aus welchen der Griff gebildet ist, findet sich mit geistvoller Andeutung auf die Nacht, zu deren Erhellung die Lampe bestimmt ist, die Fledermaus mit ausgespannten Flügeln. Auf dem Knaufe des Deckels ist das zierlichste Figürchen dargestellt. Aber trotzdem – zu brauchen ist nichts davon für unsere moderne Lampe.

Er geht zu den Candelabern, den Lampenträgern, die, aus Pompeji ausgegraben, den schönsten und kostbarsten Schmuck unserer Sammlungen bilden. Hier sollte sich doch ein Modell finden. Durchaus nicht. Das sind schlanke hohe Stäbe, die oben in einen weit ausladenden Kelch enden, auf dessen obere Platte [234] entweder die kleine Lampe aufgestellt wird, oder welcher mit Aesten und Ranken versehen ist, an welchen die kleinen Lampen an Ketten aufgehängt werden. Wie will man das schwere Becken einer Petroleumlampe auf einen so zarten Schaft stellen?

Nun geht es weiter, Abtheilung nach Abtheilung. Ist es keine Lampe, so sei es ein Leuchter. Hier ist ein Hauptwerk des Mittelalters, von dem berühmten Bernward von Hildesheim. Ja, was hilft es ihm? Unten kühne Drachenverschlingungen, aus denen Löwen- und Menschenfiguren hervorragen, nach oben hin ein schlanker Schaft mit einer dünnen Platte und einem Dorn, der zum Aufstecken des Lichtes bestimmt ist. Hier diese Leuchter des sechszehnten Jahrhunderts wären schon eher zu brauchen: breiter Fuß, fester gedrungener Schaft, aber bald sind sie zu kurz, bald zu lang. Alle sind sie darauf eingerichtet, eine schlanke Kerze aufzunehmen.

So war es denn also nichts mit der Vorbildersammlung, und der Herr Werkführer erzählt Abends triumphirend in seiner Stammkneipe, daß er es längst gesagt habe, daß bei diesen Museen nichts zu machen wäre, die Herren sammelten alte Scharteken, sie wären aber nicht praktisch und wüßten nicht, was der Arbeiter brauche. Schließlich findet sich eine ganze Gruppe derartiger Handwerker und Fabrikanten, welche von den Museen, ihren Zeichenanstalten, ihren Schulen etc. fordern, diese Anstalten sollten ihnen direct brauchbare Modelle schaffen; in Frankreich und England gäbe es ja so manches Schöne, das könnte man kaufen, daran habe man Vorbilder. Einem derartigen Verlangen ist nun wirklich gelegentlich nachgegeben worden, und was ist das Resultat? Ein organisirter, mit Staatsmitteln unterstützter Diebstahl fremder Muster, eine systematische Beförderung der Gedankenlosigkeit und des Schlendrians.

Wie soll denn nun aber unser Werkführer im Museum zu seinem Lampenmodell kommen? auf welche Weise können denn diese Alterthümer für den Handwerker lehrreich sein? Der Weg, der einzuschlagen ist, ist sicherlich ein anderer. Hier stehen also die griechischen Bronzen, Vasen, Candelaber etc. als mustergültige Vorbilder. Inwiefern sind sie denn mustergültig? Dieses Stück, das wir als vortrefflich anerkennen, erfüllte vor dreitausend Jahren in Griechenland seinen Zweck in vollkommener Weise und brachte auch äußerlich seine Eigenschaften zur vollsten künstlerischen Geltung. Die griechische Lampe war technisch anders eingerichtet als die unseren, folglich mußte sie auch künstlerisch eine durchaus andere Gestalt annehmen. Aber prüfen wir nun einmal, welche Klarheit und Gesetzmäßigkeit in den Formen ist. Jeder einzelne Theil ist seiner Bestimmung gemäß fein und durchsichtig herausgearbeitet. Wovon ging der Grieche bei seiner Bildung aus? Es liegt eine Gesetzmäßigkeit in dem ganzen Aufbaue und der Durchbildung derselben. Diese Gesetzmäßigkeit ist es, die wir kennen und uns zu eigen machen müssen, um nach denselben Gesetzen selbständig etwas Neues zu bilden. Zu Grunde legen müssen wir das Bedürfniß der Jetztzeit und es in derselben Folgerichtigkeit formell darstellen, wie die griechische oder sonst eine gute gesunde Zeit es mit ihren Bedürfnissen gemacht hat. Leicht ist dies allerdings nicht. Wir wollen in einer Reihe von folgenden Artikeln nachzuweisen suchen, was in den einzelnen Gebieten des Kunsthandwerks zu fordern ist.





Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
5. „Subscription“ und „Einführung“.


Wie viel Stadien hat nicht erst ein Friedens- oder Allianzvertrag zu durchlaufen; wie viel Conferenzen und Verhandlungen sind vorher nöthig! Welche Mühe kostet nicht das Einstudiren eines Schauspiels; wie viel Vorbereitungen und Zurüstungen sind nothwendig, bevor es wirklich zur Aufführung kommt! Welche Kämpfe finden selbst zwischen Mitarbeiter und Redacteur, oft wegen eines einzigen Journal-Artikels statt! Von alledem erfährt das Publicum so gut wie nichts; was ihm geboten wird, sind vollendete Thatsachen, fertige Producte. – Mit den Gründungen verhielt es sich noch ganz anders. Hier geschah alles Wesentliche und Wirkliche hinter den Coulissen. Alles war bereits abgekartet und eingefädelt, und was an die Oeffentlichkeit trat, war bloßer Hokuspokus, allein darauf berechnet, die Menge zu verblenden und einzufangen.

Mit dem „Prospect“, welcher von der glücklich erfolgten Gründung Kunde gab, die neue Actiengesellschaft in den rosigsten Farben malte und den Actionären Gewinn über Gewinn verhieß – war die Einladung zur Subscription verbunden. An dem und dem Tage und an den und den Orten wurde das Actiencapital, ganz oder theilweise, zur Zeichnung aufgelegt, dem Publicum zum Pari-Course (100) oder darüber angeboten. Und nun herbei, Ihr guten Leute, die Ihr Geld im Beutel habt und Willens seid, es sicher und mit Vortheil anzulegen! Versäumt ja die Stunde nicht. Sie bedeutet Euer Glück und sie kehrt nicht wieder. Und sie kamen in hellen Haufen; sie versperrten die Straße; sie belagerten das Haus, und als die Thüren sich endlich öffneten, quoll der Strom herein, und in einem Augenblick waren die ausliegenden Bogen mit Unterschriften bedeckt. Der Eine zeichnete 100 Thaler, der Andere 500, der Dritte 1000, der Vierte 3000, der Fünfte 10,000 Thaler. „Drei-, fünfmal überzeichnet!“ „Kolossal überzeichnet!!“ meldeten noch an demselben Abend die Zeitungen im Chor. „Die Zeichnungen müssen erheblich reducirt werden!!“

Das war aber in der Regel Alles bloßer Hokuspokus. Nichts weiter als ein von den Gründern in Scene gesetztes Spectakelstück. Jene Leute, welche sich an der Zeichnungsstelle drängen und stoßen, sind Commis und Ausläufer von verbündeten oder befreundeten Geschäftshäusern oder gemiethete Dienstmänner, welche man heute in Paletot und Cylinder gesteckt hat, und zu ihnen gesellen sich Müßiggänger und Neugierige. Hin und wieder verirrt sich auch wohl ein Privatmann; getäuscht von dem Treiben, zeichnet er eine Summe und erhält sie, trotz aller „Reductionen“, unvermeidlich und – voll.

Die „Neue Börsen-Zeitung“, die sich überhaupt des Publicums gegen die Börsianer ritterlich annahm, beleuchtete den „Subscriptions-Humbug“, wie sie ihn nannte, wiederholt und kritisirte ihn scharf. Sie tadelte namentlich die „Discontogesellschaft“, welche in zwei Fällen, bei Gelegenheit der Ungarischen Eisenbahn-Anleihe und der Aachener Discontogesellschaft, den Subscribenten „die Thüren blos der Formalität wegen geöffnet hatte, um sie dann gleich wieder zu schließen“. Aber etliche herzhafte Leute, fügte das Blatt hinzu, hätten sich nicht wie Narren heimschicken lassen, wären so energisch aufgetreten, daß man ihnen noch ein „Pöstchen aus dem Privatschatz“ abgelassen.

Das war aber auch wieder Hokuspokus. Bloße Reclame für die beiden Papiere, um den Cours zu treiben und das Publicum lecker zu machen. – Der Privatmann betheiligte sich nicht wohl schon an den Subscriptionen, und wenn er’s dennoch that, zeichnete er nicht selber, sondern ließ durch seinen Banquier zeichnen. Die Banquiers aber hatten es nicht nöthig, sich an der Zeichnungsstelle zu drängen: sie gaben ihre Ordres einfach schriftlich und vorher mittelst der Post auf.

Wirkliche Ueberzeichnungen kamen nur ausnahmsweise vor, und dann geschahen sie von Börsenspeculanten, welche ohne Rücksicht auf die Gründung selber, deren eigentlichen Werth sie ebensowenig wie das große Publicum kannten und zu beurtheilen vermochten, ein besonderes Vertrauen hatten zu der „starken“ und „glücklichen“ Hand der Gründer. Aber von jeder netten Gesellschaft mußten die Zeitungen eine „sehr erhebliche“ oder gar eine „kolossale“ Ueberzeichnung vermelden, und laut besonderer Bekanntmachung wurde dann stets eine „Repartition“ vorgenommen. Immer waren die Gründer so edeldenkend, in erster Reihe die kleinen Zeichnungen zu berücksichtigen, den sonnenklaren Prosit zunächst den minder wohlhabenden Leuten zu gönnen.

Inmitten dieser regelmäßigen „Ueberzeichnungen“ und obligaten „Reductionen“ mußte es umsomehr auffallen, als [235] plötzlich Herr Richard Schweder von der Preußischen Boden-Creditactien-Bank dem Publicum einen nicht „subscribirten Rest“ F. Wöhlert’scher Maschinenbau-Actien von 750,000 Thalern nachträglich offerirte und freundlichst zu „Nachanmeldungen“ einlud. Obgleich man sich mitten in der Schwindelperiode befand, machte diese Gründung, dargeboten von den Herren Karl Braun-Wiesbaden, Stadtrath Pohle, Geheimen Commerzienrath F. W. Krause, bald hernach geadelt, und Gustav Markwald, Schwiegervater des genialen Directors Schweder, doch ein rauschendes Fiasco. Das Actiencapital betrug die Kleinigkeit von drei und ein Viertel Millionen Thaler, und gewisse Vorgänge hinter den Coulissen waren ruchbar geworden. Als das „erste Geschäftsjahr“ zu Ende ging, erschien in „Saling’s Börsenblatt“ ein „Eingesandt“, welches constatirte, daß die Gesellschaft, die im „Prospect“ 120 Locomotiven alljährlich versprochen, wirklich geliefert habe 40, und überhaupt fertig stellen könne höchstens 50. Auch wurde bemerkt, „daß die Verwaltung einen recht starken Frost und Schneefall herbeisehne“, weil dann die Aufnahme der Inventur[2] über das im Freien herumliegende Material unmöglich sei. Diesem „Eingesandt“ ist nirgends widersprochen, wohl aber erzählte man sich laut, daß der Vorbesitzer, Commerzienrath F. Wöhlert, an der neuen Actiengesellschaftswirthschaft seine offene Schadenfreude habe und sie mit beißenden Witzen begleite.

Keine Gründung machte größeres Furore als „Vereinigte Königs- und Laura-Hütte“. Laut Bekanntmachung erhielten die Zeichner von 200 bis 2000 Thalern eine Actie à 200 Thaler, von 2200 bis 8000 Thaler zwei Actien, die höheren Summen nur fünf Procent. Hier mag thatsächlich eine Ueberzeichnung stattgefunden haben. Die Gesellschaft vertheilte 1871 bis 1873 – 12¼, 29 und 20 Procent Dividende. Die Actien wurden an der Börse ein wildes Spielpapier, und der Cours stieg unaufhörlich bis zum Wiener Krach, wo er etwa 270 stand. Aber was für „Hände“ waren auch hier thätig, und was für „Hände“ halten die Gesellschaft noch heute, nachdem sie für 1874 wahrscheinlich keine Dividende mehr geben wird, und der Cours bis auf 100 gesunken ist, über Wasser! Wir nennen nur: Gerson-Bleichröder, inzwischen geadelt, Wilhelm Behrens und Baron von Westenholz in Hamburg, Jakob Landau und Heinrich Heimann in Breslau, Geheimräthe Krienes und von Carnall, Graf von Hatzfeld-Wildenburg und Altenburgischer Minister von Gerstenberg, Fabrikbesitzer a. D. Karl Egells und Herr W. von Kardorff-Wabnitz, Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und des deutschen Reichstags, einen Hauptredner der freiconservativen Partei, eine Autorität in allen Finanz- und volkswirthschaftlichen Fragen, sowie auf dem Gebiete der Gründungen. Hut ab vor diese „Händen“!

Auf die „Subscription“ folgte die Einführung an der Börse. In vielen Fällen, namentlich als der Schwindel in üppigster Blüthe stand, und die Börse jedes Papier, ohne es weiter zu prüfen, willig aufnahm, sah man von „Prospect“ und „Subscription“ ganz ab und brachte die neuen Actien gleich zu Markte. Ein paar Tage vorher erschien im redactionellen Theile der Zeitungen eine ziemlich gleichlautende Notiz, welche die Gründung kurz, aber natürlich in günstiger Weise skizzirte und der Welt verkündete, daß am nächsten Dienstag das große Haus Itzig Meyer u. Comp. mit den Actien der „Ersten Deutschen General-Leimsiederei“ debutiren werde.

Unterm 10. Februar also wie der Schwindel bereits stark zu Ende ging, brachte der „Berliner Börsencourier“ einen Artikel, worin er die beiden Verfahren „Subscription“ und „Einführung“ gegen einander abwog, und die bloße „Einführung“ als „nicht reell“ bezeichnete. Wenn schon, so ungefähr führte er aus, der „Prospect“ gemeinhin keinen Glauben verdiene, und auch die „Subscription“ eine etwas undurchsichtige Operation bleibe, so böten beide doch dem Publicum immer einen gewissen Anhalt, während die „Einführung“ den Gründern Gelegenheit gebe, selbst „ein gänzliches Fiasco zu cachiren“. Der „Börsencourier“ forderte daher namentlich die „ersten Häuser“ auf, sich dieses unberechtigten Modus der „Einführung“ möglichst bald zu entschlagen, oder doch wenigstens vorher, „durch Publication eines detaillirten Prospects, ihrer Pflicht gegen das Privatcapital“ zu genügen.

Wieder der reine blanke Hokuspokus. Für das Publicum hatten „Subscription“ wie „Einführung“ genau dieselbe Bedeutung; beides waren Schauspiele, die die Gründer mit ihren Helfershelfern aufführten, um dadurch die Menge erst aufmerksam zu machen und zum Kaufen der neuen Actien zu verlocken. Alle solche Enthüllungen und Ausplaudereien der Börsenblätter, solche Schutzreden für das arme liebe Publicum und solcher Appell an die Respectabilität der „ersten Häuser“ sind weiter nichts als: „Sand in die Augen!“ Ja, meistens ist damit noch eine geschickte Reclame für irgend ein „erstes Haus“ und dessen neueste Operation“ verbunden, und es werden unter der Maske sittlicher Entrüstung blos wieder neue Sprenkel gelegt.

Wir kommen jetzt zur „Einführung“.

Itzig Meyer u. Comp., welche die Actien der „Ersten Deutschen General-Leimsiederei“ vertreiben sollen, haben sich zunächst mit einem „Consortium“ umgeben. Die Mitglieder desselben sind nicht zu verwechseln mit den „ersten Zeichnern“, welche, wie man weiß, in der Regel blos zum Scheine gezeichnet haben. Nein, dieses Consortium ist ganz ernsthaft gemeint; es ist für Itzig Meyer u. Comp. eine Art von Rückversicherung, wie sie Lebens- und Feuerversicherungsgesellschaften eingehen, um sich ihrerseits wieder den Rücken zu decken und das große Risico zu vertheilen. Solch Consortium besteht aus zehn, zwanzig, dreißig oder mehr Personen, die sich aus Banquiers, Maklern, Speculanten und anderen Börsianern zusammensetzen. Sie übernehmen die Actien der „Ersten Deutschen General-Leimsiederei“, in Posten von 5000, 10,000, 20,000 oder gar 100,000 Thaler, zu einem bestimmten Course, welcher der Consortialcours heißt, und im vorliegenden Falle etwa 70 betragen mag. Zu diesem Preise dürfen Itzig Meyer u. Comp. von ihren Consortial-Verschworenen nöthigenfalls die Abnahme der Actien verlangen, brauchen aber, wenn sie nicht wollen, dafür kein Stück zu liefern und geben vorläufig auch kein Stück aus den Händen.

Der Erfolg der „Einführung“ hängt zunächst davon ab, ob auch der richtige Zeitpunkt gewählt ist. Die überaus nervöse und sensitive Börse muß sich bei guter Laune befinden; sie darf nicht etwa „verstimmt“ oder „matt“ oder gar „flau“ sein, sonst wird die Einführung besser aufgeschoben, oder sie fällt in’s Wasser. Der bewußte Dienstag kommt, und die Börse hat ein vortreffliches Aussehen. „Ganz Israel strahlet und glänzet vor Lust.“ Der große Augenblick ist da, und der Chef oder der Bevollmächtigte des hochrenommirten Hauses Itzig Meyer u. Comp. tritt auf, umgeben von den Consortial-Verschworenen, die sein Gefolge bilden – wie jener Schwarm von Clienten, mit welchen Pompejus oder Julius Cäsar auf dem Forum erschien. Auch für „Volk“ ist gesorgt. Das Volk oder den „Mob“ bilden die Jobber der untersten Classe, welche von der Hand in den Mund leben und sich mitunter durch fettglänzende Röcke und zerrissene Hosen bemerklich machen. Sie sind die öffentlichen Ausrufer, und sie heißen, in Erinnerung an die ausgestorbenen Berliner Eckensteher, die Nante’s der Börse.

Die allgemeine Aufmerksamkeit richtet sich jetzt auf Itzig Meyer u. Comp.; das ganze Geschäft pausirt eine Weile, und mit großem Geräusch gehen die Actien der „Ersten Deutschen General-Leimsiederei“ in Scene. Der Einführungscours ist mit Rücksicht auf das „große Haus“ Itzig Meyer u. Comp. 102½; blos Pari (100) würde seinem Ansehen nicht recht entsprechen. „Leimsiederei“ wird heftig begehrt und fast ebenso heftig gekauft. Aber von wem? Einstweilen nur von den Consortial-Verschworenen, ihren Freunden, Anhängern und Agenten. Ein dicker Nante mit außerordentlich entwickelter Nase schreit: „Ich nehme Leim mit 103;“ – „Leim mit 103!“ brüllt der Janhagel ihm nach. Jedermann im Saale weiß, daß die Nante’s weder „Leim“ wollen, noch „Leim“ bekommen, daß sie nur von Itzig Meyer u. Comp. mit ein paar Stücken „betheiligt“ sind, und dafür ihre Ausruferdienste thun. Niemand im Saale läßt sich durch die armen Kerle täuschen, aber ihr Geschrei macht doch Effect, hallt in den Börsenberichten der Zeitungen wieder; sie nützen zwar nicht viel, aber sie könnten gegen das Papier schreien und doch Schaden anrichten: darum sind sie angeworben, und sie dünken den Gründern ebenso nöthig und unentbehrlich, wie einem großen Schauspieler oder einer berühmten Sängerin die – Claqueurs. Der Cours von „Leim“ geht heute bis auf 105; morgen ist er vielleicht schon 107 und übermorgen 110. Die Consortial-Verschworenen kaufen und lassen kaufen zu diesen Coursen, daher sie der Makler notiren

[236]

Ein Schützenkönig im Hannöverschen.
Nach seinem Oelbilde auf Holz gezeichnet von Conrad Beckmann.

[237] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [238] muß, und wenn es auch nur Scheinkäufe sind: der Makler erhält trotzdem seine Courtage oder Gebühr. Allmählich finden sich wirkliche Käufer, nach und nach wird, durch Zeitungsberichte und durch Empfehlungen der Banquiers, das Publicum herangezogen; und nun schwankt der Cours von „Leim“ zwischen 112 und 98, bis die Actien glücklich untergebracht sind, wo er dann sofort oder doch sehr bald einen jähen Sturz, bis etwa 70 oder 60, zu erfahren pflegt. Außer den unglücklichen Actionären kümmert sich fortan kein Mensch mehr um „Leim“. Itzig Meyer u. Comp. aber verrechnen sich mit den Consortial-Verschworenen. Der Mittelcours, zu welchem die Actien durchschnittlich „begeben“ sind, stellt sich auf

  105 Procent.
                 Davon ab:  
 Courtage an die Makler, Bonificationen an die
     Banquiers, Douceurs, Gratificationen und
     andere Spesen, zusammen
15
Bleiben 90 Procent.
 Der Cours, zu welchem die Consortial-
     Verschworenen „Leim“ übernahmen, war
70
 Mithin haben sie verdient 20 Procent,

was bei einem Pöstchen von 5000 oder 10,000 Thalern schon ein hübsches Sümmchen ausmacht, und bei einem Posten von 50,000 oder gar 100,000 Thalern eine sehr anständige Summe. Auch die „Nante’s“ halten ihren Schmaus. Der dicke Chorführer ist mit 10 Stück Actien à 200 Thaler „betheiligt“, so daß er 400 Thaler einstreicht, während den Andern nur je 5 Stück zugeschrieben sind, auf jeden von ihnen also ein Consortialgewinn von 200 Thalern entfällt. Davon fristen die armen Schlucker nun wieder eine Zeit lang ihr Leben, aber es giebt unter ihnen auch feine anschlägige Köpfe, und Einer oder der Andere arbeitet sich wohl rasch empor und spielt bald an der Börse eine wichtige Rolle.

Wie schon gesagt, werden den Consortial-Verschworenen selber keine Stücke ausgehändigt. Itzig Meyer u. Comp., die den Cours halten und daher alles Material, was etwa angeboten wird, wieder aufnehmen, könnten sonst leicht in die Lage kommen, „Leim“ von ihren eigenen Helfershelfern zu hohem Course zurückkaufen zu müssen. Werden die Actien aber nicht abgesetzt, dann sind die Verschworenen verpflichtet, die gezeichneten Posten zu dem verabredeten Consortialcours zu beziehen, was sie natürlich nicht gern und in der Regel nicht gutwillig thun. Ein solcher Fall ereignete sich unter Anderm bei Gründung der Dannenberger’schen oder eigentlich Liebermann’schen Kattunfabrik. Herr Richard Schweder, der den „Krach“ wohl schon in den Gliedern verspürte, hatte die „Einführung“ der Actien verzögert und verzögert, bis er endlich ganz plötzlich damit herausrückte. Er machte ein gründliches Fiasco, und sein Adjutant, Herr Paradies, mußte es ausbaden. Die Consortial-Verschworenen, die bei so vielen Gründungen mit Herrn Schweder Hand in Hand gegangen waren und jedes Mal so hübsch verdient hatten, wiesen jetzt „Kattun“ mit Entrüstung und Abscheu zurück, und als es zum Processe kam, gab der Richter, in Erwägung der eigentümlichen Umstände, ihnen Recht, und die „Preußische Boden-Credit-Actien-Bank“ mußte den ganzen „Kattun“ für sich behalten.

Allerdings war die „Einführung“, ohne „Subscription“ und ohne „Prospect“, ein bequemeres und kürzeres Verfahren, aber es gehörten dazu auch starke und kraftvolle „Hände“, zumal der Einführungscours fast regelmäßig nicht unbedeutend über Pari (100) gesetzt wurde, was dann sofort die Schweißhunde der Börse, die Fixer herbeilockte – jene ehrlichen Leute, welche ein Geschäft daraus machen, auf das Fallen der Course zu speculiren und die Course unter Aufbietung jedes Mittels herunterzureißen, wofür sie freilich zuweilen arg bluten müssen. Des bessern Verständnisses wegen folge hier ein Beispiel. Die Actien der „Producten- und Handelsbank“ – eine Schöpfung, zu der auch Wiener Gründer extra nach Berlin gekommen waren – wurden mit 116 eingeführt. Weil aber diese Actien nicht voll, sondern nur mit 40 Procent eingezahlt waren, betrug der Einführungscours thatsächlich 140. Gewiß eine colossale Unverschämtheit, da die Bank noch gar nichts gethan hatte, noch nicht einmal eingerichtet war!

So dachten auch die Fixer, und sie begannen die Actien zu werfen, ein Pöstchen nach dem andern in blanco zu verkaufen; das heißt, ohne es zu haben. Aber sie hatten die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Die Gründer hielten fest, nahmen die Blanco-Abgaben bereitwilligst auf und drückten den Fixern Zoll um Zoll die Gurgel zu. Als der Ultimo, der letzte Tag im Monat und damit der Zeitpunkt der Lieferung kam, mußten die Fixer sich mit einem Verlust von 7 Procent „decken“, und die Gründer, als die alleinigen Besitzer des Materials, hätten ihnen eine noch weit höhere Buße dictiren können. Solche Strangulirung aber nennt man an der Börse eine Schwänze.

Der Einführungsmodus war das beste Mittelchen für die Agiotage oder den Courswucher, welcher sich nicht wesentlich von der sogenannten Halsabschneiderei unterscheidet. Herr Richard Schweder führte noch im Januar 1873 die Actien der Kohlenzeche „Louise Tiefbau“ mit 115 ein, während heute der Cours 50 steht und höchst wahrscheinlich noch viel tiefer sinken wird. Die famose „Dortmunder Union“, gegründet von den Herren Miquel und von Hansemann in Berlin, Wilhelm von Born in Dortmund, Abraham von Oppenheim in Köln, Rothschild in Frankfurt etc., – erschien an der Börse mit 110, wurde dann bis 228 hinaufgetrieben und steht jetzt circa – 20!!!

Wie die „großen Häuser“ die wuchtigsten Gründungen vollführten, so waren sie auch die eigentlichen Meister des Agiotagespiels, bei dem sie Millionen einstrichen. Rothschild, Bleichröder, Hansemann, Jakob Landau und Wilhelm Behrens in Hamburg, denen sich wieder Herr von Kardorff und Graf Hatzfeld zugesellten, componirten die „Deutsche Reichs- und Continental-Eisenbahnbau-Gesellschaft“, mit einem Grundcapital von zehn Millionen Thaler. Die 40procentigen Interimsscheine wurden mit 55 bis 65 Thalern untergebracht, während sie heute etwa mit 22 Thalern bezahlt werden!! Das Stärkste aber leistete doch die „Discontogesellschaft“ mit den Herren von Hansemann und Miquel an der Spitze. Wenn der Schlichte Menschenverstand darauf schwört, daß 2 × 2 = 4 ist, so bewies die „Discontogesellschaft“, daß an der Börse eine höhere Rechenkunst gilt. daß hier 2 × 2 sowohl 5 wie 3 sein kann, je nach den Umständen und Zeitverhältnissen.

Wie die „Preußische Boden-Credit-Actien-Bank“ sich eine Filiale in der berüchtigten „Preußischen Credit-Anstalt“ zulegte, so schuf auch die „Discontogesellschaft“ ein Tochter-Institut, die seitdem ebenso anrüchige „Provinzial-Discontogesellschaft“, mit einem Grundcapital von zehn Millionen Thaler. Die Actien, worauf 40 Procent eingezahlt, kamen an die Börse mit circa 125 und gingen bei solcher Einzahlung bis etwa 150. Von diesem Cours wurden die fehlenden 60 Procent abgezogen, und somit 40 Thaler mit 65 bis 90 Thaler bezahlt!! Damals waren nach der Rechnung der Discontogesellschaft 2 × 2 = 5. Inzwischen sind auf die Actien noch 20 Procent nachgezahlt, aber trotzdem werden sie gegenwärtig nur mit circa 75 notirt. Von diesem Cours gehen ab die fehlenden 40 Procent, und es werden demnach 60 Thaler mit etwa 35 Thalern bezahlt!! Das aber bedeutet, daß bei der Discontogesellschaft 2 × 2 heute nur 3 ist.




Amerika hinter dem Schleier.
Von Moritz Busch.

Wie die Vereinigten Staaten das Land der Secten sind, so sind sie auch das Land der geheimen Gesellschaften, und zwar erstrecken dieselben ihre Werbungen und Wurzelverzweigungen bis in die untersten Regionen der Bevölkerung hinab, und selbst in den höheren Unterrichtsanstalten bestehen deren unter den Schülern, wie uns unter Andern Aldrich[3] von einem Club der „Tausendfüße“ (centipedes) auf der Schule zu Rivermouth erzählt. Das alte Europa begnügte sich, von den Carbonari [239] und einigen andern politischen Geheimbünden der romanischen Welt abgesehen, die bald wieder von der Bühne verschwanden, bis auf die letzten Jahre mit den Freimaurern, die, in Deutschland wenigstens, durchaus harmloser Natur sind. Das junge Amerika hatte seit dem Unabhängigkeitskriege neben diesen Jüngern der „königlichen Kunst“ wenigstens noch ein Dutzend hinter dem Schleier arbeitender anderer Logenverbände, die zum Theil keineswegs harmlose Zwecke verfolgten. Seine bürgerliche Gesellschaft ist noch jetzt wie eine Maulwurfswiese, auf der sich unter der Erde beinahe ebenso viel Leben regt, wie im Licht der Sonne, und von diesem Leben will ich hier erzählen, was ich weiß.

Zunächst sei kurz erwähnt, daß Cincinnati, die größte Stadt Ohios, seinen Namen von der geheimen Gesellschaft der „Cincinnati“ hat, die sich zu Ende des erwähnten Krieges aus Officieren des Heeres der Republik bildete, unter Andern auch George Washington zu den Ihrigen zählte und später wegen ihrer aristokratischen Meinungen und Bestrebungen vielfache Anfeindungen erfuhr. Um dieselbe Zeit entstand in Massachusetts der Orden oder Bund der „Sons of Liberty“, der Söhne der Freiheit, der in den Yankeestaaten noch fortdauern soll, und etwas später der „Alte Wigwam“ in der „Tammanyhall“ zu New-York. Diese bis auf die neueste Zeit für das Parteileben in der Union hochwichtige Verbindung trat zuerst in Philadelphia zusammen. Sie nannte sich nach einem Delawarenhäuptling Tammany, mit dem William Penn bei seiner Ankunft in Amerika ein Bündniß schloß, und von dem die Sage berichtet, er habe sich, ein indianischer Sanct Georg, durch Bekämpfung von Ungeheuern und bösen Geistern verdient gemacht. Ihr Ursprung fällt in das Jahr 1789, und ihr anfänglicher Zweck war die Verbesserung des socialen und moralischen Zustandes der Urbewohner des Landes. Sie hatte somit zunächst keine politische Tendenz.

Dies wurde aber anders, als die Gesellschaft nach New-York übersiedelte, indem sie dort 1798 mit dem „Columbian Order“, einem geheimen Club, verschmolz, der einige Jahre vorher von dem Tapezierer Mooney zur Pflege und Geltendmachung demokratischer Grundsätze und als Gegengewicht gegen Bestrebungen, wie sie namentlich die Cincinnati auf ihre Fahne schrieben, gestiftet worden war. Mit jenem Orden vereint, wählten die Söhne des heiligen Tammany das Wirthshaus „Onkel Ben Martling’s“ zum Orte ihrer Zusammenkünfte, wo eine dritte Gesellschaft, die durch gute Disciplin sehr einflußreichen „Martlingmen“, sich ihnen anschloß. Hierdurch wurde der Verein so zahlreich, daß sein Stiftungstag, der 12. Mai, in New-York fast wie ein öffentliches und allgemeines Fest begangen und Sanct Tammany in dem bombastischen Stile der Zeitungen als der Schutzheilige Amerikas bezeichnet wurde. Unter der Präsidentschaft Jefferson’s und seiner nächsten Nachfolger steigerte sich das Ansehen der Verbindung von Jahr zu Jahr. Sie baute sich in der Tammany-Hall ein eigenes Local, schuf sich in dem „National Advocate“ ein Organ, dessen erster Redacteur der berühmte staatswissenschaftliche Schriftsteller Wheaton war, gewann überall in der Union Verbündete und wurde allmählich der Angelpunkt der demokratischen Partei und einer der Hauptfactoren bei der Entscheidung der Fragen, die das Leben des Staates New-York und des gesammten Complexes der mit ihm verbündeten Republiken bewegten.

Wie sie mit der Partei, deren Centrum sie war, im Laufe der Zeit herunterkam, und wie sie zuletzt vorwiegend persönlichen Interessen, darunter sehr unsauberen, diente, kann hier nicht geschildert werden. Von der Verfassung und innern Einrichtung dieser mächtigen Gesellschaft weiß der Uneingeweihte nur, daß sie von unbekannten Oberen die Parole empfängt, und daß sie die Gebräuche und Titel, die sie vor ihrer Umwandelung aus einem mildthätigen in einen politischen Verein hatte, beibehalten hat. Ihre Organisation ist die Nachahmung eines indianischen Nationenbundes. Sie zerfällt nach derselben in eine Anzahl „Stämme“, die unter „Sachems“ stehen, denen dann wieder ein „Großsachem“ präsidirt. Sie hat ferner ein „Berathungsfeuer“, dessen Vorsitzender den Namen „Vater“ führt, und bei dem man sich eines indianischen Rituals und der Symbole des Tomahawk und des Calumet oder der Friedenspfeife bedient. Ihre Logen werden „Wigwams“ genannt; ihre Zeitrechnung ist die der Rothhäute, ja bei feierlichen Gelegenheiten, öffentlichen Aufzügen u. dgl. kleideten die Tammanisten sich früher sogar wie die Wilden der amerikanischen Wälder und Prairien.

Ich wende mich nun zu einigen Geheimbünden unschuldigerer Natur, die aber immerhin auf das sociale und das niedere politische Leben in der Union einigen Einfluß haben, indem sie namentlich bei den Wahlen von Localbeamten und Pfarrern für Mitglieder oder Gönner ihrer Vereine agitiren und stimmen.

Zu Dayton in Ohio wohnte ich im Jahre 1851 einige Wochen bei einem kleinen Schuster aus Sachsen, der in der Vorstadt Macphersontown am Miamifluß ein allerliebstes weißes Häuschen inne hatte, das bis an das Dach in Pfirsichzweigen und Hagebuttenbüschen steckte. Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß der freundliche, gutherzige Bewohner dieses Idylls zu den Geweihten eines mysteriösen Priesterordens gehöre, der unter anderen finsteren und blutigen Gewohnheiten auch die hatte, seinen Göttern gelegentlich Menschen zu schlachten. Und doch schien es so.

Eines Tages sah ich mir die Bilder in Meister Sperling’s „guter Stube“ genauer an. Eins davon, das einen ehrwürdigen Greis mit lang herabwallendem Barte vorstellte, welcher unter einer Eiche ein Opfer darbrachte, erregte meine Neugier. Ich erkundigte mich nach der Bedeutung desselben und erfuhr, es sei ein Patent des Ordens der „Druiden“, der hier, wie an vielen anderen Orten Ohios, einen „Hain“ hatte, und dem mein Wirth vor einigen Monaten beigetreten war. Von Letzterem war über Brauch und Zweck des Bundes nichts weiter herauszubekommen, als daß derselbe seine Mitglieder verpflichte, sich gegenseitig zu helfen und vorzüglich bei erkrankten Brüdern Nachtwachen zu thun. Später hörte ich noch, daß zu den Hauptpflichten dieses ehrwürdigen Ordens die zählt, sich gemeinsam zu vergnügen, und daß die Menschenopfer seit einiger Zeit durch harmlosere Ceremonien, z. B. durch eine Art feierliches Salamanderreiben ersetzt worden sind, was meinem Herzen wohl that.

Dann erfuhr ich aus einem Journal der Druiden, daß über das Jahr der Gründung ihres Bundes Zweifel herrschen, indem man nur soviel mit Bestimmtheit weiß, daß es „zwischen 4004 und 2242 vor Christi Geburt liegen muß“ – was mir selbst dann, wenn das letztere Jahr unmittelbar auf die Stiftung des Ordens gefolgt sein sollte, ein sehr respectables Alter einzuschließen scheinen würde. Ferner sollen die Druiden in verschiedene Grade zerfallen und ihre „Haine“ in einem „Großhain“ ihren Mittelpunkt und ihre Direction haben. Endlich mag erwähnt werden, daß sich seit einigen Jahren auch Deutschland des Besitzes solcher Druidengesellschaften erfreut, und zwar hat Berlin deren gegenwärtig schon drei und unser gutes Leipzig, verhältnißmäßig noch glücklicher, zwei, während Stuttgart, Hamburg, Nordhausen und Bremerhaven sich bis auf bessere Tage mit einem behelfen müssen.

Während meines Aufenthaltes in Dayton ging ferner eines Tages ein bunter, abenteuerlicher Zug mit rauschender Blechmusik über die Mainstreet. Weiße und rosenfarbene Bandeliere, gelbe, grüne, violette und blaue Schürzen mit silbernen und goldenen Borten und Troddeln, mit Stickereien, die Sterne, Blumen und Todtenköpfe darstellten, Talare, Ritterharnische, Federhelme und dergleichen prächtige Dinge mehr wimmelten wie ein großer Mummenschanz an uns vorüber. Ich zählte vier Musikcorps, und der Theilnehmer an der Procession waren an zwölfhundert. Ich erkundigte mich und erfuhr, daß es einem Feste der „Odd Fellows“ von Ohio galt, die hier durch Deputirte aus allen größeren Orten des Staates, namentlich aber aus Columbus und Cincinnati, vertreten waren. Die „Odd Fellows“ – ein Name, den man, je nach Stimmung und Belieben, mit „sonderbare Bursche“ oder „närrische Kerle“ übersetzen kann – scheinen eine ähnliche Organisation wie die Druiden zu haben und im Wesentlichen dieselben Zwecke zu verfolgen. Nur die Haut, in der sie das besorgen, ist eine andere. Auch sie verlegen den Ursprung ihres Ordens in das graue Alterthum, sind aber dabei bescheidener als jene, deren Zunft nach dem Obigen vielleicht älter als die älteste Pyramide wäre und jedenfalls schon in der dunkeln und schweigsamen Zeit der Pfahlbauten ihr Gewerbe betrieben haben müßte. Die „närrischen Kerle“ – ich ziehe diese Verdeutschung vor – nennen ihre Logen „Lager“, indem die erste im Jahre 65 nach Christi Geburt unter den Soldaten

[240] eines römischen Feldlagers entstanden sein soll. Kaiser Titus soll sie dann im Jahre 79 durch Ueberreichung der goldenen Tafel mit allerlei Symbolen (unter denen ich, wenn die Sache ihre Richtigkeit hätte, das ehrwürdige Urbild einer der Kappen vermuthen würde, mit denen Köln und Leipzig sich in der Fastnachtszeit schmücken) feierlich anerkannt haben.

In Wahrheit ist der Orden erst 1800, und zwar nicht unter Römern, sondern zu Manchester in England, desgleichen nicht von Soldaten, sondern von friedsamen Kaufleuten gegründet worden, die wahrscheinlich Langeweile hatten. Von dort wurde er 1812 nach Baltimore verpflanzt, und seitdem ist er in Amerika dermaßen gewachsen, daß er – wenn das New-Yorker Blatt, aus dem ich diese Notiz schöpfe, nicht den Mund zu voll nimmt, was es leider zu oft thut – 1852 innerhalb der Vereinigten Staaten einunddreißig „Großlager“ und circa zweitausendfünfhundert „Lager“ mit nahe an zweihunderttausend Mitgliedern zählte. Die jährlichen Einnahmen wurden – immer, wenn es wahr ist – auf fünf Viertel Millionen Dollars veranschlagt und sollten vorzugsweise in die Begräbniß- und Wittwencassen des Ordens fließen. Schließlich sage ich vielleicht nichts Neues, wenn ich hinzufüge, daß seit drei oder vier Jahren, wie die Weisheit der Druiden, so auch die der „närrischen Kerle“ im deutschen Reiche Pflegstätten gefunden hat. In Berlin blühen deren bereits ein halbes Dutzend, in Hannover zwei. Wo sonst noch? Und sollte Leipzig, sollte Klein-Paris, das „seine Leute bildet“, hier zurückgeblieben sein?

Viel weniger harmlos als die zuletzt geschilderten Geheimbünde war ein anderer, der zu Ende der vierziger oder zu Anfang der fünfziger Jahre in New-Orleans entstand, sich von da rasch über alle größeren Städte des Südens verbreitete und bald auch in New-York sowie in den Yankeestaaten Logen oder wenigstens Mitglieder hatte. Ich meine den Orden vom „Einsamen Stern“Lone Star – der den Zweck verfolgte, Mittel und Mannschaften zur Gewinnung weiterer Gebiete für die Union zu schaffen, in denen sich die Sclavenwirthschaft mit Nutzen betreiben ließ, und damit die Macht und den Einfluß der Südstaaten im Congresse und der Centralregierung zu erhalten und zu mehren.

Nach den Gebräuchen, die der Orden bei den Aufnahmen und Beförderungen seiner Mitglieder beobachtete, hätte man so ernste Zwecke nicht annehmen sollen. Die Gebräuche, Travestien gewisser Ceremonien der Maurerei, waren läppische, mit allerlei Aengstigung und Mißhandlung der sich zum Eintritte in den Bund oder zu einem höheren Grade Meldenden verbundene Possen, die stark an die Unsitte des Hänselns in den früheren deutschen Zünften und an die Fuchstaufen der alten Studentenwelt erinnerten. Man führte den Betreffenden mit verbundenen Augen und auf den Rücken geschnürten Händen in die Loge, geleitete ihn ein schrägliegendes Bret hinauf, wobei man ihm sagte, ein Fehltritt würde ihn in einen tausend Fuß tiefen Abgrund stürzen, erschreckte ihn durch Zischen und Heulen, ließ ihn durch einen schief gespannten unten offenen Sack in eine Wanne voll kaltes Wasser hinabgleiten, führte ihn wieder bergauf, wobei er mit einer Art Gabel gestachelt, durch sausende Schwärmer und platzende Feuerfrösche geängstigt und schließlich, nachdem ihm Halt geboten worden, von einer heiseren Stimme gefragt wurde, ob er sich der letzten Probe unterziehen und dadurch Mitglied des Ordens werden wolle. Nachdem er dies bejaht, gebot ihm die Stimme, die Zunge auszustrecken, und nachdem dies geschehen, flüsterte sie: „Holt das glühende Stempeleisen her,“ so daß der Candidat glauben mußte, die Zunge sollte ihm gebrandmarkt werden. Dann krachte plötzlich ein Schuß, der Geplagte fuhr, indem das Bret unter seinen Füßen weggezogen wurde, in eine Tiefe hinab und sah sich, nachdem ihm nun die Binde weggezogen worden, in einem Fasse, umtanzt von allerlei Ungethümen, Teufeln und Kobolden, die ihn tobend, mit Schwerterklirren und Pistolenschüssen willkommen hießen.

Hinter diesen und ähnlichen Possen verbarg sich aber in der That ein sehr ernster Zweck. Man war im Begriffe, das Unternehmen Aaron Burr’s nachzuahmen, der im Jahre 1806 den Plan verfolgt hatte, auf den westlichen Gewässern einen Freischaarenzug zur Eroberung der spanischen Provinzen am Golfe von Mexico zu organisiren und aus ihnen ein Reich zu gründen, dessen Hauptstadt New-Orleans und dessen Herrscher Burr sein sollte. Mit dem „Einsamen Stern“, der roth auf der blau und weißen Fahne des Ordens stand, war die Insel Cuba gemeint, die man zunächst im Auge hatte. Als Stern wurde sie bezeichnet, weil die Staaten der Union auf dem Banner derselben als Sterne figuriren, als einsamer Stern, weil sie eben eine Insel und noch nicht dem nordamerikanischen Bundesstaate einverleibt war. Die verunglückte Expedition des Obersten Lopez war einer der Versuche des Ordens, in dieser Richtung thätig zu sein. Die Entrüstungsmeetings, die im Herbste 1851 in verschiedenen Städten in Scene gesetzt wurden, gingen ebenfalls von ihm aus, spätere Freischaarenzüge desgleichen. Endlich war auch der Flibustierkrieg Walker’s, der die centralamerikanischen Staaten Granada und Nicaragua mehrere Jahre mit Blut überschwemmte, ein Unternehmen der Brüder vom „Einsamen Stern“, ja Walker soll der Großmeister des Ordens gewesen sein.

Die neueste Erscheinung auf diesem Gebiete gehört ebenfalls dem Süden der Union an. Es ist der Bund der Kuklux-Clane oder die „Weiße Bruderschaft“, ein Nachklang des Abfalls der Sclavenstaaten und eine der Formen, in denen sich die Reaction gegen die rücksichtslose Niederwerfung und Niederhaltung der Besiegten durch General Grant und die republikanische Partei seither äußerte. Die Beamten, welchen letztere die Gewalt in den wiedereroberten Staaten übergaben, erlaubten sich vielfach Uebergriffe. Die frei und den Weißen politisch gleich gewordenen Neger waren auf ihre neue Stellung unvorbereitet und traten da, wo sie sich in der Mehrzahl sahen, anmaßend auf. Die dadurch Beeinträchtigten und Verletzten fanden bei den Behörden keine Hülfe, und so nahmen sie ihre Zuflucht zu einer nächtlichen Vehme, die nach der Methode des Richters Lynch Gerechtigkeit übte. Der Widerstand des Südens, vom Norden in einem gewaltigen Ringen gebrochen und aus der Oeffentlichkeit vertrieben, flüchtete sich in das landesübliche System der Geheimbünde und bemühte sich, ebenfalls auf landesübliche Weise, im Kleinen und Einzelnen zu beseitigen, was er im Großen und Ganzen zu dulden gezwungen war.

In neun Counties des Staates Südcarolina, vorzüglich in York- und Spartanburg-County, hatten sich im Jahre 1872, vielleicht auch schon früher, eine Anzahl geheimer Logen gebildet, die sich „Clane“ nannten, ihre Losungen, Symbole und Beamten hatten und in abenteuerlicher Verkleidung, bei der ein weißer Mantel mit rothen Ohren oder Hörnern an der Capuze eine Hauptrolle spielte, in nächtlichen Razzias namentlich die verhaßten Schwarzen heimsuchten, die sie dann grausam mißhandelten, auspeitschten, mit Theer bestrichen und in Federn wälzten, an Baumäste henkten oder niederschossen. Die örtlichen Behörden waren nicht im Stande, diesem Unfug zu steuern; denn „zog man in jenen Gegenden einem Weißen die Haut ab, so kam ein Kuklux zum Vorschein“. Sie wendeten sich an den Gouverneur von Südcarolina, und da auch dieser rathlos war, so mußte der Präsident in Washington zum Einschreiten aufgefordert werden. Dasselbe erfolgte zunächst in Gestalt einer Proclamation, welche den Ruhestörern Frieden zu halten und das Gesetz zu achten gebot, widrigenfalls man mit Anwendung außerordentlicher militärischer Mittel gegen sie vorgehen werde. Dann ging unter lebhaftem Widerspruch der particularistischen Demokraten im Congreß ein Gesetz durch, dessen wesentliche Bestimmungen folgende waren: die Verbrechen, welche in den beunruhigten Counties bisher straflos begangen worden sind, fallen fortan unter die Jurisdiction der Unionsgerichtshöfe, nicht mehr unter die der Gerichte Südcarolinas; der Präsident erhält die Befugniß, ohne vorheriges Ansuchen seitens der gesetzgebenden oder vollziehenden Gewalt eines Staates Militärmacht anzuwenden, wenn es in demselben Aufruhr, Gewaltthätigkeiten oder Verschwörungen zu unterdrücken gilt; dem Präsidenten wird bis zum Schlusse der nächsten Sitzungsperiode des Congresses die Berechtigung ertheilt, unter gewissen Umständen das Privilegium des Habeascorpus als nicht bestehend zu behandeln.

Auf Grund dieses wichtigen Gesetzes, welches am 20. April 1872 zu Stande kam, erließ General Grant, nachdem eine Untersuchung herausgestellt, daß die Kukluxverschwörung in der That sehr mächtig und Gefahr im Verzuge, am 12. October eine Aufforderung an die Clane derselben, sich binnen fünf Tagen aufzulösen und ihre Waffen, Verhüllungen und Erkennungszeichen an den Bundesmarschall oder die Militärbehörde abzuliefern. Da [241] diese Proclamation unbeachtet blieb, so erging am 18. October eine zweite, die für die erwähnten Counties das Privileg der Habeascorpusakte aufhob, und dem inzwischen dort eingerückten Militär die Weisung ertheilte, alle Personen, welche auf glaubwürdige Weise beschuldigt würden, Teilnehmer an jener gesetzwidrigen Verbindung zu sein, in Haft zu nehmen und dem Marschall der Vereinigten Staaten zur Untersuchung und Aburtheilung zu übergeben. Diese Maßregeln wurden sofort in Vollzug gesetzt. Die Mitglieder der Kukluxvehme wurden, wo sie nicht flüchteten, eingezogen; die Gerichte sprachen ihr Urtheil, und das Schreckenssystem, welches fast ein Jahr auf den Negern und den wenigen republikanisch gesinnten Weißen jener Landstriche gelastet, hatte ein Ende. Schon am 2. November waren allein in York-County hundertzwei Kuklux-Men eingesperrt, über zweihundert, die eingestandnermaßen Mitglieder der Verbindung gewesen, auf Handgelöbniß in Freiheit und hundertzwanzig bis hundertfünfzig andere auf der Flucht vor dem Arme der Gerechtigkeit und in den Wäldern verborgen.

Wie groß die Zahl der geheimen Gesellschaften in Amerika ist, mag die aus glaubwürdiger Quelle geschöpfte Mittheilung zeigen, daß im Jahre 1860 allein in der Stadt New-York zweihundertneunzig Logen, Oddfellowlager, Druidenhaine und ähnliche Clubs bestanden. Der verbreitetste Geheimbund ist derjenige der Freimaurer. Auch dieser war hier nicht immer so harmlos wie in Deutschland und spielte wenigstens einmal, wenn auch nur gezwungen, eine Rolle in der Politik. Im Jahre 1826 verschwand zu Batavia im Staate New-York der Freimaurer William Morgan, der wegen eines Zerwürfnisses mit seiner Loge seine Verpflichtung zur Geheimhaltung der Ordensmysterien durch Veröffentlichung derselben zu brechen im Begriffe stand, auf räthselhafte Weise. In der Dunkelheit der Nacht war – so erzählte man – ein Wagen mit Vermummten vor seiner Thür erschienen, und nach einiger Zeit wieder weggefahren, wie man glauben mußte, mit ihm. Denn am anderen Morgen war Morgan fort. Die fertigen Druckbogen seines Werkes waren ebenfalls weggeschafft, das noch nicht gesetzte Manuscript desgleichen, der Satz, der in der benachbarten Druckerei der Correctur harrte, durcheinander geworfen. Morgan blieb verschwunden. Jemand wollte ihn in Begleitung einiger Männer, die ihn als Gefangenen bewacht hätten, in einem Orte an der canadischen Grenze gesehen haben. Damit hörte jede Spur von ihm auf. Selbstverständlich machte der Vorfall das größte Aufsehen, und allenthalben nahm man an, jene Vermummten seien Freimaurer gewesen, und der Unglückliche sei nach der Drohung des alten Masoneneides, welche auf den Bruch desselben, soweit er Schweigen über die Geheimnisse des Ordens fordert, allen Ernstes Hinrichtung durch Abschneiden des Halses und Ausreißen der Zunge setzte, bestraft worden. Der Umstand, daß das Verlangen nach einer Untersuchung der Sache bei den Behörden auf Schwierigkeiten stieß, bewirkte große Entrüstung, und aus dieser ging allmählich die Partei der „Antimasons“ oder Freimaurerfeinde hervor, die sich die Ausschließung aller Ordensangehörigen von städtischen und Staatsämtern sowie von der Vertretung im Congreß und den Staatenlegislaturen zum Zweck setzte und, nachdem sie die erste Zeit auf den westlichen Theil des Staates New-York beschränkt gewesen, sich auch über die Neu-Englandstaaten sowie über Pennsylvanien und Ohio ausbreitete, so daß sie, als die Union sich zum Wahlkampfe von 1831 rüstete, ein beachtenswerthes Gewicht in die Wagschale der Entscheidung zu werfen im Stande war.

Ob Morgan wirklich hingerichtet worden ist, ist nie bewiesen worden und wird jetzt auch wohl nie bewiesen werden. Charakteristisch aber war die Antwort, die mir einst ein angesehener Kaufmann in Cincinnati gab, als ich ihn an den Morgan’schen Fall erinnerte und die vielfach verbreitete Muthmaßung, er sei ein Opfer des Masoneneides gewesen, bezweifeln wollte. „Was wollen Sie?“ entgegnete er, „jeden Augenblick bin ich bereit, einen solchen Verräther in solcher Weise strafen zu helfen.“

Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß ich mich freue, zu wissen, daß wir Deutsche in dieser Hinsicht mit den Amerikanern nichts gemein haben. Die „Germania“ möge also hieraus kein Capital schlagen – es wäre Falschmünzerei.




Die Wahrzeichen der deutschen Kaiserstadt.
Von Ferdinand Meyer.
1. Der „Neidkopf.“ – Die „Rippe.“


„Berlin hat keine Geschichte!“ So lautete noch vor wenigen Jahren das geflügelte Wort, wenn man von einer historischen Vergangenheit der heutigen Kaiserstadt im Hinblick auf jene Städte des deutschen Vaterlandes sprach, die im grauen Alterthum als mächtigere Zeitgenossinnen auf die kleine, unbedeutende Schwesterstadt an der Spree vornehm herabblickten.

Freilich reden die Steine hier nicht von Karl dem Großen, wie in Aachen; eben so wenig zeugen gothische Dome von geistlichen Herren und mächtigen Bischöfen, wie in Straßburg, Köln und Magdeburg, ja selbst in Brandenburg. Aber wenn seine Geschichte auch nicht aus solchen Denkmälern spricht, so bleibt Berlins Vergangenheit doch eine mächtige, deren richtigeres Verständniß und größere Würdigung erst seit einem Decennium durch den „Verein für seine Geschichte“ herbeigeführt worden ist.

Zu den Dingen nun, die dem Aeußeren einer Stadt ein historisches Gepräge verleihen, gehören auch jene Wahrzeichen, deren die älteren Städte noch viele besitzen, und die mit den sich daran knüpfenden Sagen und Ueberlieferungen gleichsam als dämmernde Sterne aus dem Dunkel der Vergangenheit herüberleuchten. Auch Berlin hat solche Wahrzeichen noch aufzuweisen, obgleich Unverstand und Pietätlosigkeit mit einem Theil derselben, als vermeintlichem „altem Gerümpel“ aufgeräumt – zuletzt mit der Gerichtslaube und ihrem ältesten Stadtzeichen, dem Kolk. Wir lassen denselben außer Betracht, weil er, der Stadt entfremdet, von dem durch Kaiser Wilhelm auf dem „Babelsberge“ wieder errichteten Lobium herabschaut.

Ein anderes Wahrzeichen ist der sogenannte „Neidkopf“ an dem Hause Nr. 38 der Heiligegeiststraße. Zwei Ueberlieferungen knüpfen sich an das einem Medusenhaupt ähnliche, von Schlangen statt der Haare umwundene Zerrbild, dessen neidischer Blick und ausgereckte Zunge nach dem gegenüberliegenden Hause Nr. 11 gerichtet sind.

König Friedrich Wilhelm der Erste, dieser wunderbare Natursohn, dessen Bestreben darauf gerichtet war, aus seinen Unterthanen gute Hauswirte und Soldaten zu machen, liebte es, die Stadt zu durchstreifen, um das Leben und Treiben seiner Berliner zu beobachten, nicht unerkannt in schlichter Kleidung, sondern in voller Uniform, zu der auch jener verhängnißvolle Rohrstock gehörte – ein Schrecken aller Faullenzer und Müßiggänger in den Straßen der Residenz. Auf diesen seinen Streifzügen war dem Monarchen in der Heiligegeiststraße ein Goldschmied aufgefallen, dessen Werkstatt in dem Parterre eines elenden, baufälligen Hauses sich befand. Hier saß der fleißige Mann oft bis spät in die Nacht hinein, mit seiner Kunst sich beschäftigend.

Eines Abends, als der geschäftige Hammerschlag des Meisters noch weithin durch die lautlose Stille der Straße ertönte, trat plötzlich der König in die Werkstatt. Anfänglich eingeschüchtert durch den unerwartet hohen Besuch, schwand die Befangenheit des schlichten Meisters bei des Königs herablassenden Fragen nach seinen Verhältnissen. In offener Weise schilderte er seine bedrängte Lage, die ihn oftmals zwinge, größere Arbeiten wegen mangelnder Auslagen für edles Metall zurückweisen zu müssen. Diese Offenheit gefiel dem Monarchen; er bestellte bei dem Meister ein goldenes Tafelservice, zu dessen Anfertigung das erforderliche Metall aus der Schatzkammer geliefert wurde. Der glückliche Goldschmied begab sich sofort an die Arbeit, und öfter besuchte ihn der König, um sich von dem Fortgang des unter den Händen des Künstlers sich gestaltenden Werkes zu überzeugen. Als das Service vollendet war, bemerkte [242] der hohe Auftraggeber unter anderen Verzierungen auf einer der Schüsseln einen zur abscheulichen Fratze gestalteten weiblichen Kopf. Auf Befragen erzählte der Meister, wie in dem gegenüber gelegenen Hause ein anderer, reicher Goldschmied wohne, dessen Frau und Töchter, aus Aerger über das unverhoffte Glück ihres Nachbarn, ihm die sonderbarsten Grimassen und Fratzen von den Fenstern ihrer Wohnung aus geschnitten. Da habe er es denn nicht unterlassen können, neben den Arabesken eine dieser Fratzen nachzubilden.

Um den strebsamen Fleiß zu belohnen, dem hämischen Neid aber die ihm gebührende Strafe zu ertheilen, ließ der Monarch das armselige Haus niederreißen und ein stattlicheres für seinen nunmehrigen Hofgoldschmied errichten. Inmitten der Front aber, zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk, befahl der königliche Baumeister die Anbringung jenes Zerrbildes, dem die Berliner alsbald den Namen „der Neidkopf“ beilegten. Diese Benennung hat das Haus im Volksmunde bis auf den heutigen Tag behalten.

Der „Neidkopf“.

Die zweite Erzählung, neueren Ursprungs, führt uns in die Zeit des letzten brandenburgischen Kurfürsten und ersten Preußenkönigs zurück.

Es war am 18. August des Jahres 1695. Die Glocken der Domkirche auf dem Schloßplatze verkündeten den Beginn der feierlichen Grundsteinlegung zur Parochialkirche in der Klosterstraße. Kurfürst Friedrich der Dritte war mit seinem ganzen Hofstaat anwesend und wohnte zunächst dem unter einem Zelte durch den berühmten Kanzelredner Ursinus (später als Ursinus von Bär in den Adelsstand erhoben) abgehaltenen Gottesdienste bei. Nach Beendigung desselben legte der Kurfürst eine Bibel mit schwer vergoldeten Beschlägen und den Heidelbergischen Katechismus nebst einer Büchse mit Münzen und Medaillen in den Grundstein, der dann in üblicher Weise auch von den Mitgliedern der fürstlichen Familie mit Kalk bedeckt wurde. Darauf sprach Ursinus abermals ein Gebet, und die Schüler des grauen Klosters stimmten den 101. Psalm, David's Regentenspiegel, an. Während der Worte: „Meine Augen sehen nach den Treuen im Lande, daß sie bei mir wohnen,“ drängte ein Jüngling sich durch die Versammlung und überreichte knieend dem Kurfürsten ein Schriftstück. Dieser winkte ihm, er solle ihm unter das Zelt folgen, und hier erzählte der Fremdling, ein Goldschmied Namens Beyrich, wie ihm im Traume der Auftrag geworden, eine silberne Königskrone zu fertigen und sie am Tage der kirchlichen Grundsteinlegung dem Kurfürsten an dem Orte zu überreichen, wo einst dessen Ahn (Friedrich der Erste von Hohenzollern) die Huldigung der Mark im „Hohen Hause“ empfangen. Obwohl nur arm, habe er doch gethan, wie der Traum ihm geboten. Und mit dem Hinzufügen, daß dieses sein geringes Werk, wie die Traumesverheißung ebenfalls lautete, mit in den Grund gesenkt werden möge, überreichte er dem Kurfürsten eine kleine silberne Krone. Friedrich der Dritte, eingedenk wohl der Prophezeiung am Tage seiner Taufe, daß er dereinst die Königskrone tragen werde, blickte nachdenklich auf die ihm dargereichte hin, und brach dann in die Worte aus: „Es ist Gottes Wille und ein Geheimniß vor der Welt.“

Beyrich empfing darauf von dem Kurfürsten die erforderlichen Geldmittel, um sich eine eigene Werkstatt einzurichten. Als dann sechs Jahre später Friedrich der Dritte als König Friedrich der Erste in Berlin einzog, erinnerte er sich jener Begebenheit bei der Grundsteinlegung und sandte dem Meister Beyrich ein Gastmahl in sein Haus, damit auch er sich erfreue an der Königskrone. Wieder sechszehn Jahre später – Friedrich der Erste war inzwischen

Die „Rippe“.

zu seinen Ahnen versammelt – besuchte Friedrich Wilhelm der Erste den strebsamen Meister und bestellte sich bei ihm ein goldenes Service. – Hier nun beginnt der Fortgang der Erzählung mit der ersten in Uebereinstimmung zu treten, nur daß der König bei seiner öfteren Anwesenheit in des Künstlers Werkstatt die darüber neidischen Fratzen am Fenster des reichen Goldschmieds selbst erblickte.

Soweit die Sage. Auf dem Gebiete der Forschung nun ist durch den Geheimen Hofrath L. Schneider festgestellt, daß das Haus Nr. 38 in der Heiligegeiststraße in den Jahren 1711 bis 1746 einem Goldschmied, Namens Lieberkühn, eigenthümlich war. Dagegen hat ein goldenes Tafelservice am Hofe des haushälterischen, jedem Luxus abholden Königs niemals existirt. Christian Lieberkühn wurde an Jahre 1738 mit der Herstellung des silbernen Chores[4] im Rittersaale des Schlosses betraut und mußte, was von seiner Wohlhabenheit zeugt, zweiundvierzigtausend Thaler, sowie sein Haus, als Caution für das ihm zur Anfertigung des Chores gelieferte Silber stellen.

Hierdurch wird die Sage in Betreff des Services und der Armuth unseres Goldschmiedes hinfällig, wie denn auch ein anderer Goldschmied eines der gegenüberliegenden Häuser zur damaligen Zeit nicht besessen hat. Bezüglich der Grundsteinlegung [243] der Parochialkirche hat Küster eine ausführliche Beschreibung derselben, doch ohne Erwähnung jenes Vorfalls, so daß auch in diesem Punkte das Poetische der Sage den Kern der Wahrheit vermissen läßt. Immerhin aber kann an den Vorgängen und an dem Scherze des Königs etwas Wahres sein, was die Sage ausgeschmückt und, wie bei der „historischen Windmühle“ bei Sanssouci, gerade das Gegentheil von dem ursprünglichen Sachverhalt herausgekehrt hat.

Was ferner das eigenthümliche Bildwerk betrifft, so scheint dasselbe bei seiner vorzüglichen Technik aus dem Ende der Regierungszeit Friedrich’s des Ersten, oder auch von Lieberkühn selbst herzustammen, welcher „tüchtige Zeichner und Bildner an der Hand“ hatte. Ursprünglich soll das aus Sandstein gearbeitete Wahrzeichen vergoldet gewesen, bei einem Abputz des Hauses aber mit Kalk überstrichen worden sein.

Bis zum Jahre 1841 stand der Neidkopf ungestört an seiner Stelle, bis er am 4. Juli jenes Jahres von der Besitzerin des Hauses abgenommen, und die Nische, in welcher er stand, zugemauert wurde. Sechszehn Jahre hindurch blieb das den Berlinern lieb gewordene Bildwerk verschwunden, bis der Geheime Hofrath Schneider am 27. December 1857 in Erfahrung brachte, daß dasselbe bei dem Antiquitätensammler May für sechs Friedrichsd’or zum Verkaufe ausgestellt sei.

An demselben Abend noch vom König zur Vorlesung nach dem Charlottenburger Schlosse befohlen, nahm der Hofrath Cosmar’s „Sagen und Miscellen“ (denen wir die erste Erzählung entlehnt haben) mit sich und lenkte das Gespräch auf die alten Wahrzeichen Berlins, von deren Geschichte und Sagen Friedrich Wilhelm der Vierte vollständig unterrichtet war. Bei der besonderen Vorliebe desselben für Berlinische Alterthümer konnte es nicht fehlen, daß der König den sofortigen Ankauf des Neidkopfes, und die Wiederaufstellung desselben an der alten Stelle zu veranlassen befahl. Auf die hingeworfene Bemerkung, daß der Eigenthümer des Hauses sich dessen weigern könnte, entgegnete der Monarch nach kurzem Besinnen:

„Nun, so werde ich den Neidkopf über der Thür des Hinterhauses der Kriegsschule anbringen lassen. Ich weiß, daß sich dort ein Architrav an der Supraporta befindet, aber schräg, halb gegen Nr. 11, und halb gegen Nr. 38 gerichtet, damit die moderne Mißgunst ihr Sinnbild vor Augen hat; so schräg, daß es jedem Vorübergehenden auffallen muß. Die bloße Erkundigung nach der Veranlassung zu einer solchen Aufstellung wird schon die rechte Antwort hervorrufen – da kann ich mich auf meine Berliner verlassen.“

Dazu kam es indessen nicht. Der Eigenthümer des Hauses, Goldrahmenfabrikant Schultze, erklärte sich nicht nur bereit, dem Wunsche des Königs nachzukommen, sondern ließ auch in das Hypothekenbuch eintragen, daß der jedesmalige Besitzer das Bildwerk ohne Zustimmung des königlichen Fiscus nicht von seiner Stelle entfernen dürfe.

So wird denn der „Neidkopf“, als ein charakteristisches Bild vergangener Zeiten, in der Volkssage noch zu den Nachkommen sprechen von dem belohnten Fleiße und von der Bestrafung des Uebermuthes durch den König.

Ein nicht minder volksthümlich gewordenes Wahrzeichen ist die sogenannte „Rippe“ an dem Eckhause Nr. 13 des Molkenmarktes, wenngleich, oder vielmehr weil die daran haftende Romantik dem Schooße der Fabel entstiegen ist.

Als Berlin in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts aus einem unbedeutenden Fischerdorfe, dessen Hütten unfern der Nicolaikirche, also bis zu dem vorerwähnten Hause standen, zu einer Stadt erhoben wurde, bildete der heutige Molkenmarkt den alleinigen Marktplatz, nach welchem auch die wendischen Bewohner des benachbarten Stralow ihre Fische zum Verkaufe brachten. In der Gegend der „Rippe“, und wahrscheinlich auch vor dem ältesten Rathhause der Stadt, erhob sich der Roland als Symbol der selbstständigen Gerichtsbarkeit und als Hüter des Marktfriedens, bis Friedrich „der Eiserne“, nach dem Aufstande der Berliner im Jahre 1448, das Rolandsbild umstürzen ließ und dadurch der Stadt auch das äußere Wahrzeichen ihrer einstigen Selbstständigkeit entzog.

In jenen frühesten Zeiten nun – so lautet das Märchen – soll Berlin von einem Riesen erobert worden sein, welcher in dem Hause am Molkenmarkte residirte. Ueber Nacht aber hätten einige beherzte Männer den gefürchteten Recken erschlagen und so die Stadt von ihrem Widersacher befreit. Zum Gedächtnisse dieser Heldenthat sei das Haus mit dem Schulterblatte und einer Rippe des Riesen geschmückt worden.

So liegt denn der Sage ein schmeichelhaftes Zugeständniß der mit einer gewissen List verbundenen Geistesgegenwart und des persönlichen Muthes der Berliner zu Grunde.

Realistischer tritt die Annahme auf: Rippe und Schulterblatt rühren von einem urweltlichen Thiere her und seien im Baugrunde des Hauses gefunden worden, wie man ja auch neuerdings im Sande des Kreuzbergs den Riesenzahn eines solchen Thieres, oder mindestens eines Elephanten zu Tage gefördert.

Cosmar dagegen verwandelt das Wahrzeichen in ein hölzernes Aushängeschild, das in früherer Zeit zur Kennzeichnung eines Wirthshauses gedient habe. Dieser Annahme müssen wir entgegentreten. Denn zunächst sind uns die heraldischen Abzeichen und Namen jener ältesten Gasthöfe oder Wirthshäuser mit ihren oft historischen Reminiscenzen bekannt geblieben. So der „Güldene Arm“ und die „Weiße Taube“ in der Heiligegeiststraße, die „Alte Ruppiner Herberge“ und der „Gasthof zum Hirsch“ in der Spandauerstraße Nr. 79 und 30. Ein Gasthof „Zur Rippe“ aber ist nicht bekannt geworden.

Nach den von uns angestellten Ermittelungen soll vielmehr ein tief verschuldeter Kaufmann der Stadt den Rücken gekehrt haben, um sein Heil jenseits des Oceans zu versuchen. Er legte sich auf den Walfischfang, und das Glück begünstigte ihn. Hierher zurückgekehrt, ließ er zum Gedächtnisse an die Quelle seines Wohlstandes jene Theile eines Walfisches an der Façade des von ihm erworbenen Hauses aufhängen.

Bei der in jüngster Zeit vorgenommenen Erneuerung desselben ist das alte Wahrzeichen nicht nur an der ursprünglichen Stelle verblieben, sondern leuchtet auch in frischem Silberglanze dem Beschauer entgegen.




Blätter und Blüthen.


Der hannoverische Schützenkönig. (Mit Abbildung, Seite 236 und 237.) Im hannoverschen Dorfe J. war Schützenfest, begünstigt vom herrlichsten Wetter. Wenn man die lange, staubige, mit Obstbäumen bepflanzte Landstraße entlang auf das im ernsten, dunkeln Eichengrün liegende Dorf zuschritt, konnte man bald den festlichen Donner der Pauke, das Jubeln des Tenorhornes vernehmen. Im Dorfe selbst, vor, oder eigentlich besser hinter dem Wirthshause im sogenannten Obstgarten, ging es äußerst lebhaft und heiter zu; dort waren die Tische sauberer gedeckt, als draußen auf der Festwiese, und was im Dorfe sich als zur Honoration gehörig fühlte, hatte hier im Schatten Platz genommen und that sich gütlich. Das hohe, alterthümliche Haus war ganz mit Eichen umstanden, welche ihre Kronen stolz über die Dachfirste desselben hinaus dem Himmel entgegenstreckten, Lieblinge des niedersächsischen Bauern, der sie pflegt und hegt, sodaß man selten einen Hof findet, der nicht durch einen kleinen Eichenbestand geziert wäre. Die niedersächsische Art, wo Jeder, ein kleiner Herrscher auf eigenem Gebiete, seinen Hof in gewisser Entfernung vom Nachbar baut, umzäunt und bewallt, läßt so recht das germanische Blut erkennen. Das Wirthshaus, ein alterthümliches düsteres Gebäude aus dem Jahre 1610, wie die über dem Thore in’s Holz geschnitzte Inschrift besagt, wo auch die Namen der Erbauer der dörflichen Nachwelt aufbewahrt sind, gehörte dem biderben Hinnerk Stechmann, ein unvergängliches Nest, ganz aus Eichenbäumen gezimmert und geschnitzt und noch immer schmuck, wenn auch etwas verwittert, doch nirgend zeigt es eine Spur von Baufälligkeit, trotz der Jahrhunderte, deren Stürmen es getrotzt.

Die hannoversche Chronik erzählt, daß dieser mächtige, düstere Bau einst ganz im Wald gestanden habe, der sich ja einstmals in großer Ausdehnung um die getreue Stadt Hannover zog und der Lieblingsaufenthalt des Räubers Hanebusch gewesen sei, der dort von seinen unzähligen Blutthaten ausruhte, um sein Gewissen durch tüchtige Räusche einzuschläfern; anderen Nachrichten zufolge hat es ein schwedischer Trompeter bewohnt, der, „des langen Haders müde“, in den blauen Augen einer niedersächsischen Dirne den westphälischen Frieden eher, als alle seine Vorgesetzten gefunden hat. Wie dem auch sei, die heutigen Gäste fühlten sich unter der düsteren Firste äußerst gemüthlich. Es wurde lebhaft debattirt, denn die Helden des Tages waren draußen auf der Festwiese, bei den Scheibenständen und rangen um den Preis, wie das ununterbrochene Knattern ihrer Büchsen errathen ließ. Die meiste Anwartschaft auf die Königswürde schien der Forstwart zu haben, welcher auch als tüchtiger Schütze weit und breit bekannt war, was sein Beruf schon forderte, und obendrein hatte er seinem Könige und Kaiser als Scharfschütze unter den Goslar’schen Jägern gedient.

Keine Stimme erhob sich für den neunzehnjährigen Kunrad Wendt, worüber das schmucke Bauerntöchterchen, die in der Nähe der Debattirenden saß, äußerst betrübt war, da sie dem braven Jungen herzlich gut war; selbst der leibliche Vater Kunrad’s sagte zu ihr: „Meßföhren un

[244] flietig arbeiten, dortau hett he Kunnevieten. äwer de Scheetprögel is keene Meßfork (Mistfahren und fleißig arbeiten, dazu hat er Geschick, aber der Schießprügel ist keine Mistgabel).“

Doch alle diese Debatten, Wetten und Vermuthungen wurden plötzlich durch ein lärmendes, fröhliches Geschnatter und Gejauchze unterbrochen, begleitet von herausforderndem Trommelwirbel; das Schießen hatte aufgehört, und in stolzem Zuge, voran der bekränzte Schützenkönig, dem die errungene Scheibe als Preis nachgetragen wurde und dem der alte Veteran und Nachtwächter, die Trommel schlagend, voranschritt, bewegte sich der Menschenschwarm zum Wirthshause, woselbst der Held des Tages den Honoratioren und den Seinigen vorgestellt werden sollte. – Doch wer sitzt denn da plötzlich, Gewitterwolken auf der Stirn, und stiert in seinen Bierkrug? Das ist ja der vielbelobte Held des Tages, der Forstwart, und neben ihm der reichste Bauernsohn des Dorfes, verschnupft und mit geballter Faust. Der fleißige Arbeiter und schlechte Schütze Kunrad hatte den Preis errungen, und noch dazu mit einer Flinte ältester Construction, dem Feuersteinschloß, doch was eigentlich die Hauptsache dabei ist, beglückt vom hartnäckigsten „Schlump“ – denn um des greisen Vaters Worte zu gebrauchen „der Scheetprögel is keene Meßfork“. – Der ingrimmige Forstwart murmelte denn auch vernehmlich genug in den Bart: „De dümsten Buern hebben de dicksten Kartuffeln“ und andere tröstliche Sprüchwörter mehr, während der reiche Bauernsohn zu thätlicher Rache aufzustacheln suchte. Das Glück Kunrad’s wurde jedoch hierdurch nur gehoben, der von den Seinigen mit Jubel und frohem Staunen begrüßt wurde, von der Geliebten mit selig blitzenden Augen, vom ungläubigen Vater mit ausgebreiteten Armen und entkorkter Flasche, von den Uebrigen mit Staunen, Wohlwollen und herzlichen Glückwünschen.

Daß die eitlen Verspieler weidlich geneckt wurden, kann ihnen nicht schaden, denn – unfehlbar ist Keiner unter der Sonne.
B.
Das ist der Gegenstand des Bildes. Wir haben den obigen Zeilen nur noch hinzuzufügen, daß das von Conrad Beckmann, einem geborenen Hannoveraner, mit brillanter Technik gemalte Bild in den deutschen Ausstellungssalons ungetheilten und ungewöhnlichen Beifall gefunden hat. Besonders ist es die frappante Natürlichkeit des psychologischen Ausdruckes, welche demselben so viele Bewunderer erworben hat. – Sicherlich wird es auch unter unseren Lesern zahlreiche Freunde finden.
D. Red.


Ein Stück deutscher Eisenbahn-Einheit. Unterm 4. Januar dieses Jahres hat der deutsche Reichskanzler die vom Bundesrathe beschlossene Signalordnung für die Eisenbahnen Deutschlands als am 1. April dieses Jahres in Kraft tretend vollzogen. Dieselbe hilft einem schon lange empfundenen Bedürfnisse ab, indem sie nothwendige Uebereinstimmung dort schafft, wo die Ungleichheit nicht blos Verluste an Zeit und Geld, sondern auch an Menschenwohl und sogar an Menschenleben herbeigeführt hat. Ist es doch nicht selten vorgekommen, daß von den bei directen Zügen zwischen weit von einander entfernten Orten oder in Kriegszeiten auf fremde Bahnen übergehenden Zugbeamten Signale verwechselt ober übersehen worden sind. Was für Unheil kann aber z. B. allein das Unterlassen rechtzeitiger Befolgung eines Bremssignals anrichten! Diese einheitliche Gestaltung der Eisenbahn-Signale wird nun, was nicht gering anzuschlagen ist, dahin führen, daß größere Kreise des Publicums mit denselben vertraut werden und dies sowohl dem Eisenbahnbetriebe überhaupt wie den Betheiligten insbesondere zum Nutzen gereichen.

Die nach den Bestimmungen der neuen Verordnung zulässigen Signale sind entweder akustische (elektrische Läutewerke, Dampfpfeife, Mundpfeife. Horn, Stationsglocke) oder optische (Stellung und Bewegung der Wärter etc., Telegraphenmastarme, weiße, rothe, grüne Laternen und runde Scheiben). Um dieselben, so weit sie den Reisenden interessiren können, näher kennen zu lernen, begeben wir uns zu einer Eisenbahnfahrt auf den nächsten Bahnhof. Wir sitzen im Wartezimmer; es ertönt ein kurzes Läuten der Stationsglocke mit einem deutlich markirten Schlußschlage: die Abfahrt des Zuges naht. Wir schicken uns zum Einsteigen an, – zwei markirte Schläge der Glocke: wir steigen ein, – drei Schläge: – der Zug ist zur Abfahrt bereit. Ein Pfiff des Zugführers auf der Mundpleife beordert das Zugpersonal auf seine Plätze, zwei solcher Pfiffe geben dem Locomotivführer das Zeichen zur Abfahrt. Die Dampfpfeife ertönt, in einem mäßig langen Pfiffe das „Achtungssignal“ gebend. Wir hören noch das „Abmeldesignal“, ein elektrisches Läutesignal,[5] auf die vor uns liegende Strecke vorauseilen, die wir nun selbst befahren.

Als oberster Grundsatz gilt, daß die Strecke nur dann als befahrbar betrachtet werden darf, wenn dies durch ein Signal ausdrücklich angezeigt ist; so lange solches Signal fehlt, soll gehalten werden. Da unser Zug sich aber in Bewegung befindet, so muß der Locomotivführer das „Fahrsignal“ erhalten haben. Indessen wir können selbst controliren: der nächste Bahnwärter macht Front gegen den Zug, das heißt: „der Zug darf ungehindert passiren“. Bei Dunkelheit würde der Wärter noch seine Handlaterne mit weißem Lichte dem Zuge entgegenzuhalten haben. Sind Telegraphenmasten im Gebrauche, so giebt der rechtsseitige Telegraphenarm schräg nach oben gerichtet () das Signal „freie Fahrt, bei Dunkelheit tritt weißes Licht der Signallaterne des Mastes hinzu.

Soll der Zug langsam fahren, so muß der Bahnwärter eine Stange in der Richtung gegen das Geleise, bei Dunkelheit aber die Handlaterne mit grünem Lichte dem Zuge entgegenhalten. Am Telegraphenmaste sehen wir in diesem Falle bei Tage einen Stab mit runder Scheibe befestigt, bei Dunkelheit grünes Licht der Signallaterne. Wenn, was nicht selten vorkommt, bei Reparaturen oder beim Auswechseln von Schwellen eine gewisse Strecke des Geleises nur langsam befahren werden darf, so wird dies bei Tage durch Scheiben (Nachts durch Stocklaternen), welche am Anfange und Ende der betreffenden Strecke aufgestellt sind, angezeigt, und zwar muß, dem kommenden Zuge zugekehrt, die erste Scheibe mit A[6] (bei Dunkelheit grünes Licht) und die zweite mit E[7] (bei Dunkelheit weißes Licht) bezeichnet sein.

Nachdem wir eben eine solche Strecke passirt, sehen wir plötzlich den nächsten Bahnwärter einen Stab (bei Dunkelheit die Handlaterne, womöglich mit rothem Lichte) lebhaft hin und her schwenken und den rechtsseitigen Telegraphenarm wagerecht stellen () (bei Dunkelheit auch rothes Licht am Telegraphenmaste). Sofort ertönen drei kurze Pfiffe der Dampfpfeife unseres Zuges schnell hintereinander, das heißt „die Bremsen anziehen“, um den Zug zum Stehen zu bringen. Ein Blick weiter längs der Bahn belehrt uns über den Anlaß zum „Haltsignal“: am Eingange des in geringer Entfernung belegenen Bahnhofes steht am Bahnhofsabschluß-Telegraphen das Signal „Einfahrt gesperrt“; es ist nämlich der Telegraphenarm nach rechts wagerecht gestellt (bei Dunkelheit rothes Licht nach dem kommenden Zuge, grünes Licht nach dem Bahnhofe zu).

Bald aber hebt sich am Bahnhofsabschluß-Telegraphen der Arm schräg rechts nach oben (bei Dunkelheit grünes Licht nach dem ankommenden Zuge, weißes Licht nach dem Bahnhofe zu), das heißt „die Einfahrt ist frei“. Zwei mäßig lange Pfiffe der Dampfpfeife schnell hintereinander geben die Ordre: „Bremsen loslassen“. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, und wir rollen an den Perron heran, dessen Telegraphenmast für unseren Zug sich der eben beim Bahnhofs-Abschlußtelegraphen geschilderten Zeichen bedient.

Es giebt auf jedem Bahnhofe nur einen Perrontelegraphen, aber nach jeder Richtung des Geleises hin einen Bahnhofsabschluß-Telegraphen, etwa an der Grenze des Bahnhofsterrains. Ihre Signale stimmen, wie wir gesehen haben, darin mit denen der Telegraphenmaste der Fahrstrecken überein, daß die Stellung des Armes rechts wagerecht () zu dem befahrenen Geleise, und bei Dunkelheit rothes Licht stets „Halt“ bedeutet, während die Stellung des Telegraphenarmes schräg rechts nach oben () und bei Dunkelheit weißes Licht (soll langsam gefahren werden, grünes Licht) „freie Fahrt“ bedeutet.

Bis jetzt haben wir nur Signale kennen gelernt, welche von den Zugleitenden für das Zugpersonal oder von dem Strecken- und Bahnhofspersonale für den Zug gegeben werden. Auf der Rückfahrt wollen wir nun auch diejenigen Signale uns einprägen, welche dazu dienen, von dem Zuge aus Zeichen an das Strecken- und Bahnhofspersonal zu geben. Darunter befinden sich auch die Kennzeichen für die Spitze und den Schluß des Zuges, welche nöthig sind, um die Vollständigkeit eines Zuges prüfen zu können. Nicht selten sind nämlich Unglücksfälle dadurch entstanden, daß die Kuppelung einzelner Bestandtheile eines Zuges sich gelöst hatte und somit gewissermaßen ein verlorener Theil des Zuges auf dem Geleise umherirrte.

Die Spitze des Zuges trägt bei Tage kein besonderes Zeichen, bei Dunkelheit aber zwei nach vorn weiß leuchtende Laternen; rothes Licht zeigen dieselben, wenn der Zug ausnahmsweise auf dem nicht für die Fahrrichtung bestimmten Geleise einer zweigeleisigen Bahnstrecke fährt. Das Schlußsignal des Zuges befindet sich an der Hinterwand des letzten Wagens; es besteht bei Tage in einer rothen und weißen runden Scheibe zwischen den Puffern, bei Dunkelheit in zwei Laternen auf der Hinterwand des letzten Wagens, welche nach hinten rothes Licht nach vorn grünes Licht zeigen. Hat eine dieser Laternen auch nach hinten grünes Licht, so folgt ein Extrazug (bei Tage außer dem Schlußsignale oben auf der Hinterwand des letzten Wagens eine grüne Scheibe).

Das Kommen eines Extrazuges in entgegengesetzter Richtung bezeichnet eine grüne Scheibe (respective Laterne) vorn an der Locomotive. Eine weiße runde Scheibe vorn an der Locomotive oder an jeder Seite verlangt: „die Telegraphenleitung zu revidiren.“ Schwingt ein Schaffner seine Mütze, respective seine Laterne, so liegt darin für den Bahnwärter die Anweisung, sofort seine Strecke zu revidiren.

Auch die beim Rangirdienste erforderlichen Signale sind einheitlich dahin zusammengefaßt, daß „Vorziehen“ durch einen langen Pfiff (Mundpfeife) oder Ton (des Hornes) oder durch senkrechte Bewegung des Armes, respective der Handlaterne angezeigt, „Zurückdrücken“ durch zwei mäßig lange Pfiffe (Töne) oder wagerechte Arm-, respective Handlaternenbewegungen signalisirt, endlich „Halt“ durch drei schnell hintereinander folgende Pfiffe (Töne) oder durch kreisförmige Arm-, respective Handlaternenbewegungen ausgedrückt wird.

Wir schließen in der Zuversicht, daß diese Eisenbahn-Signalordnung als eine nutzenbringende Frucht deutscher Einheit von den vaterlandsliebenden Betheiligten gewürdigt werden wird.



  1. Director des Gewerbemuseums in Berlin.
    D. Red.
  2. WS: korrigiert, Vorlage: Inventnr
  3. Im dritten Band der „Amerikanischen Humoristen“. (Leipzig. Grunow.)
  4. Friedrich der Große ließ denselben einschmelzen, um Gelder zur Kriegsführung zu erlangen, und an Stelle seiner einen hölzernen, stark versilberten errichten.
  5. Es bedeuten:
    a. Einmal eine bestimmte Anzahl von Glockenschlägen: Der Zug geht in der Richtung von X nach Y;
    b. zweimal dieselbe Anzahl: Der Zug geht in entgegengesetzter Richtung;
    c. dreimal dieselbe Anzahl: Die Bahn wird bis zum nächsten fahrplanmäßigen Zuge nicht mehr befahren („Ruhesignal“);
    d. sechsmal dieselbe Anzahl: Es ist etwas Außergewöhnliches zu erwarten („Alarmsignal“).
    Es ist gestattet, daneben noch Hornsignale zu geben, nämlich
    zu a.: langer kurzer, kurzer langer Ton, einmal;
    zu b.: dasselbe Signal zweimal;
    zu c.: vier lange Töne;
    zu d.: acht kurze Töne.
  6. Anfang
  7. Ende

manicula Neuhinzugetretene Abonnenten des 2. Quartals beziehen die beiden Anfangsnummern (12 und 13) der Wichert’schen Erzählung gegen Nachzahlung von 40 Pfennigen.Die Verlagshandlung.     


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.