Die Gartenlaube (1875)/Heft 5

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 5.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.


Das Capital.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Ach,“ sagte heftig Rudolph, „das Capital – das ist Euch allen zu einem Spukgespenst geworden, das Euch die Nachtruhe stört. Die Welt glaubt nicht mehr an den Vampyr und Nachtmähren, aber sie glaubt an das Capital, eine Art Ding mit ungeheuren Fledermausflügeln und einem Rüssel, das armen Leuten das Blut aussaugt. Der Onkel Gottfried ist eben mit drei Augen auf die Welt gekommen; das dritte ist seine Umsicht – und mit einem Fingerpaare mehr; das ist seine Arbeitskraft – und mit einem sechsten Sinne; das ist seine Gabe, das Richtige zur rechten Zeit zu thun. Und was Du von Malwinens Capital sagst …“

„So weiß ich, was ich sage,“ fuhr barsch und erzürnt über den Widerspruch der Alte dazwischen. „Als sie sich mit dem Baron Haldenwang verheirathete, war Gottfried krank. So kam es, daß ich in die Stadt mußte, um ihr als Zeuge zu dienen und damit doch einer von unserer Familie dabei sei. Malwine hatte es verlangt, um nicht so wie die reine wie vom Himmel gefallene Bühnenprinzessin dazustehen; sie wollte, daß Einer von den Ihren dabei sei. So mußte ich mich, da Gottfried nicht gehen konnte, wohl entschließen und ging. Am Tage vor der Trauung sprach ich über ihre Verhältnisse und die unseren mit Haldenwang. Haldenwang hob es rühmend hervor, daß Malwine solche große Ordnung in ihren Geldangelegenheiten gehalten; daß sie so gut wie gar keine Schulden und noch einen hübschen Gehaltrest von der Theatercasse zu fordern habe. Ich bemerkte, daß ihr das ja auch leicht geworden, da sie das hübsche Capital von ihrem Vater geerbt habe. ‚Davon‘, fiel mir der Baron Haldenwang lächelnd und achselzuckend in’s Wort, ‚hat sie nie einen Pfennig gehabt – das hat Ihr Bruder Gottfried, der ihr Vormund war, für sich behalten und es in seine Fabrik gesteckt – so viel‘, fuhr Haldenwang fort, ‚hat sie mir, als ich die Sache einmal berührte, davon gesagt, aber auch nicht mehr; ich sah, daß es ihr peinlich war, davon zu reden, und so will ich auch die Sache auf sich beruhen lassen.‘“ –

„Du kannst Dir denken, Rudolph,“ redete Gotthard Escher weiter, „wie mich das traf. Ich war gekommen, um bei Malwinens Trauung mit dem stolzen Baron die Ehrenhaftigkeit einer achtungswerthen Bürgerfamilie zu vertreten; ich hatte dabei auch den festen Grund unter mir gehabt, daß sie nicht ohne eine respectable Mitgift zu ihrem Manne komme, sondern just so viel bringe, als wenn Haldenwang eine adlige Dame seines Standes geheirathet hätte, die ja hier zu Lande auch aus den Familiengütern nichts weiter erhalten, als so viel wie etwa Malwine haben mußte. Und nun mußte ich das hören! Sie hatte nichts, und ihr Vormund, ihres Vaters leiblicher Bruder, er hatte so an ihr gehandelt. Wie mußten wir in den Augen dieses hochmüthigen Edelmannes erscheinen! Es war ein Schlag für mich, den ich nicht wieder verwunden habe.“

„Also das hat Dir Haldenwang gesagt?“ flüsterte mit schwer gepreßter Stimme Rudolph, der während der Worte seines Vaters, die Hände zusammenkrampfend, dagesessen und ihm in's Gesicht gestarrt hatte – das hat er Dir gesagt?“

Rudolph blickte dabei in seines Vaters Züge, als ob er ihn mit seinen Blicken zwingen könne, das Alles ungesagt, ungeschehen zu machen. Aber sein Vater antwortete ruhig:

„Das hat er mir gesagt, wie es ihm Malwine gesagt hat, die es wissen muß und ihren Bräutigam nicht belogen hat. Oder glaubst Du, daß Malwine ihr Capital für ihre Pariser Schneiderinnen, für ihre Hüte und seidenen Kleider vergeudet und dann ihrem Bräutigam vorgelogen hat, ihr Vormund habe es in seine Tasche gesteckt?“

„Nein, nein, nein!“ rief Rudolph aus, „und doch, und doch …“

„Du zweifelst immer noch? Nun wohl, dann will ich Dir mehr sagen. Als ich damals heimkam und Gottfried wiedersah, hielt ich natürlich nicht mit meinen Vorwürfen zurück. Und er, er sprach keine Silbe zu seiner Rechtfertigung; er leugnete mit keinem Worte. Sein böses Gewissen gab ihm nichts Besseres ein, als mit forcirtem Zorne und Aufbrausen jede Aufklärung zu verweigern.“

Rudolph sprang auf wie in heller Verzweiflung.

„Gieb Dich d’rein, Rudolph!“ fuhr der Alte fort. „Ich habe davon Dir gegenüber geschwiegen bis heute; denn was ging’s Dich an? Aber heute hab’ ich Dir’s gesagt, damit es Dir ein Trost darüber sei, daß dieser Mann nicht Dein Schwiegervater werden will; sein Hochmuth kann Dich jetzt nicht mehr kränken. Ich habe es Dir auch gesagt, damit Du nicht denkst, Dein Vater handle unbrüderlich an ihm, wenn er jetzt die Hände in den Schooß legt und unthätig zuschaut, wie der Sturm ihn erfaßt und die Wogen des Schicksals über ihn dahingehen. Denn ich rühre jetzt nicht den kleinen Finger mehr für ihn – lieber spreche ich mit den Frommen: es ist Gottes Strafgericht.“

Gotthard Escher erhob sich mit Mühe von der Bank; er schien sich an diesem Tage sehr ermüdet zu haben und es jetzt [74] erst, wo er eine Weile gesessen, zu verspüren. Dann, die Hand auf die Lehne der Bank gelegt, stand er eine Weile und sah nach dem östlichen Himmel, an dem sich die blasse Mondscheibe jetzt bei der niedergesunkenen Nacht in helles Silber verwandelt hatte. Endlich ließ er, ein paar unverständliche Worte murmelnd, das Haupt sinken und ging in’s Haus.

Rudolph stampfte, als er verschwunden, mit dem Fuße auf den Boden. Er murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen, und seine Hände ballten sich krampfhaft, dann lief er wie in einer dem Wahnsinn nahen Aufregung im Gartenpfade auf und ab.




8.

Landeck ging am andern Tage zu einer ungewöhnlich frühen Stunde nach Haus Haldenwang. Er wollte womöglich Malwinen allein sprechen, um ihr mitzutheilen, was er aus dem Landrecht herausstudirt hatte, und sie zu fragen, ob es ihr genüge, oder ob er noch bei einem Juristen sich Raths erholen solle; er wollte dann in die eine Stunde weit entlegene Stadt wandern.

Auf dem Wege begegnete er dem Doctor Iselt, der seiner Landpraxis nachging.

„Ach,“ sagte der Doctor lachend, „finde ich Sie wieder ‚das Land der Griechen mit der Seele suchend‘? Heute aber finden Sie Ihre Aspasia nicht daheim. Als ich die Stadt verließ, sah ich sie an mir vorüberfahren. Sie fuhr bei unserm Justizrath und Notar vor, und zwar allein, ohne ihren getreuen Herrn von Maiwand, ohne den sie sonst Geschäfte nicht zu machen pflegt. Wenn sie den Menschen ganz abschüttelte, thäte sie am besten. Aber was wollen Sie? Man erzieht unsere Frauen nicht so, daß sie in Geschäftssachen auf ihren eigenen Füßen stehen können. Und Frau von Haldenwang nun gar – sie und Geschäfte!“

Die Nachricht machte Landeck ein wenig betroffen; er hatte gehofft, Malwinen einen Dienst erweisen zu können, und sah nun, daß sie sich selbst zu helfen gegangen. Daß es Frauen gar oft einem armen Verehrer gegenüber so machen, darin hatte er bis jetzt noch keine Erfahrung.

„Man würde sicherlich die ideale und vertrauensvolle Natur dieser Frau,“ sagte er nach einer Pause, „leicht mißbrauchen können, wenn man ihre Geschäfte zu besorgen hätte, und es beunruhigt mich sehr, daß Sie so ohne Umschweife diesen Herrn von Maiwand für dazu fähig erklären.“

„Ich habe meine Gründe dazu, meine guten Gründe,“ versetzte Iselt. „Ein Arzt, müssen Sie wissen, bekommt Einblicke in mancherlei Verhältnisse, die Anderen verhüllt bleiben; er ist eine Art Beichtvater seiner Patienten und hat dann freilich auch das ‚sigillum confessionis‘ zu bewahren.“

„Weshalb man denn auch keine indiscreten Fragen an ihn richten darf. Aber man darf ihm desto mehr vertrauen. Darf man?“

„Gewiß. Lastet etwas auf Ihrem Herzen? Dann nur heraus damit!“

„Nicht gerade auf meinem Herzen, Doctor. Aber mit Ihren Beschuldigungen gegen jenen Mann machen Sie mir es doppelt bedeutungsvoll, daß Frau von Haldenwang mir gestern in einem Tone, durch den ich glaubte, eine gewisse Sorge klingen zu hören, den Auftrag gab, im Stillen zu ergründen, was es eigentlich mit einem Scheinkaufe für eine Bewandtniß habe, inwiefern man dabei sicher sei, nicht am Ende wider seinen Willen um sein Eigenthum zu kommen. Was in aller Welt kann diese Frage für ein Interesse für sie haben? Und falls sie es hat, weshalb hat ihr Factotum Maiwand sie nicht längst darüber aufgeklärt, weshalb fragt sie mich?“

Der Doctor schwieg eine Weile.

„Man muß auf den Verdacht kommen,“ fuhr Landeck fort, „daß am Ende gar dieser Mann selbst es ist, von dem sie zu solch einer Sache, von welcher sie jetzt Nachtheile befürchtet, überredet worden ist.“

Doctor Iselt nickte. „Auf den Gedanken muß man freilich kommen. Scheinkauf? Wahrhaftig, da liegt ja der Verdacht nahe. Die Baronin ist nach dem Testament ihres Mannes Eigenthümerin von Haldenwang; sie kann damit machen, was sie will, es also auch verkaufen. Nur wenn sie wieder heirathet, fällt das Gut an eine fromme Stiftung. Sehen Sie also? Dieser Maiwand hat ihr gerathen: „Verkaufen Sie jetzt das Gut durch einen Scheinkauf! Dann können Sie heirathen, sobald Sie Lust haben. Verkaufen Sie es an den ersten Besten, an wen Sie wollen, an mich zum Beispiel! Dann sind Sie frei. Haben Sie sich wieder vermählt, so kann die fromme Stiftung nichts erhalten. Sie sagen ihr: das Gut ist nicht mehr da; ich habe es verkauft. Und später giebt durch Schenkung, durch neuen Scheinkauf der Ankäufer Ihnen Ihr Gut zurück.“

„Das wäre freilich eine einfache Operation,“ sagte Landeck, „und wenn Maiwand im Stande wäre, ihr eine im Grunde doch so unehrliche Handlungsweise anzurathen …“

„So wollen wir nur hoffen, daß sie nicht schon darauf eingegangen ist, aber es ist jedenfalls verdächtig, daß sie mit einem Tone der Sorge Sie gefragt hat und nicht ihn. Sie muß also beginnen, ihm zu mißtrauen. Und so gehen Sie denn und unterlassen Sie nichts, um ihr deutlich zu machen, in welche Gefahr sie durch eine solche Operation gerathen würde!“

„Freilich in die, daß der Ankäufer ganz einfach das Versprechen jener Rückgabe später vergäße.“

„Oder,“ fiel Doctor Iselt ein, „gewisse Bedingungen daran knüpfte, z. B. die: ‚Heirathe mich! Dann bist Du von selber wieder die Herrin in dem Besitzthume, das Du mir verkauftest.‘“

Landeck blieb stehen. Er athmete tief auf.

„Ach,“ sagte er, „welch diabolischen Gedanken rufen Sie da in mir herauf, Doctor!“

„Daß er am Ende die arme Frau zu der ganzen Sache nur deshalb beredet, um ihr später diese Bedingung stellen zu können? Nun, wahrhaftig, unmöglich wäre es nicht. – Aber unsere Wege trennen sich hier. Gehen Sie hinauf und warten Sie dort oben ihre Rückkehr ab! Sie können dann ja über die Angelegenheit mit ihr sprechen und werden klug genug sein, ihr so viel zu entlocken, daß wir erfahren, ob wir Recht haben oder ein Paar mißtrauische Bösewichter sind. Auf Wiedersehn, Herr Landeck!“

„Auf Wiedersehn, Doctor!“

„Und hören Sie, Herr Landeck!“ fuhr der Doctor sich wieder zu ihm wendend fort, „theilen Sie mir mit, was Sie weiter erfahren! Ich werde unterdeß unsern Justizrath und Notar ein wenig zu sondiren suchen. Vielleicht vermag ich auch etwas zu thun, um der Frau von Haldenwang, wenn sie wirklich in die Schlinge gegangen sein sollte, wirksam beistehen, aus derselben wieder frei zu werden. Es würde ihr dann wahrscheinlich sehr willkommen sein, beweisen zu können daß Herr von Maiwand nicht im Stande ist, auch nur einen Morgen von Haldenwang ernsthaft anzukaufen und zu bezahlen, auch nur einen ‚Are‘, um mich zeitgemäß auszudrücken. Und dazu, um den Beweis zu führen, kann ich vielleicht einen Beitrag liefern. Wir werden sehen, wir werden ja sehen.“

Der Doctor ging, zum Abschied mit der Hand winkend, und Landeck setzte langsam seinen Weg fort. Was der Doctor ihm gesagt, hatte ihn in eine furchtbar beklemmende Sorge gestürzt. Es schien das ja Alles so wahrscheinlich, so natürlich. Maiwand konnte nicht so lange um Malwinen gewesen sein, ohne nach ihrem Besitze zu begehren, – das war unmöglich – ohne Hoffnungen zu hegen, die sie sicherlich selber in ihrer arglosen Weise sich zu geben und durch ihr unbegrenztes Vertrauen zu seiner Verwaltung ihrer Angelegenheiten genährt hatte. Und wie nahe lag es dann, zu glauben, daß er ein Mittel ausgesonnen hatte, sie durch äußere Rücksichten an sich zu fesseln, sie durch Verhältnisse an sich zu ketten, in denen sie sich ganz hülflos in seiner Macht fühlen mußte!

Landeck fühlte sich dadurch zugleich grenzenlos empört. Freilich, es war ja Alles nur eine bloße in die Luft gebaute Voraussetzung, Alles nur Combination dieses mißtrauischen Doctors Iselt; aber er konnte nicht wieder davon loskommen. Der beängstigende Gedanke ließ ihn nicht mehr frei, und eine eifersüchtige Wuth mischte sich hinein, in welcher er am liebsten diesen Herrn von Maiwand vernichtet hätte. –

Aber auch das, auch das war ja grenzenlose Thorheit. Hatte sie denn je diesen Mann lieben können? Hatte sie ihm je wirklich Grund zu der Hoffnung, sie werde ihm einmal gehören, geben können? Nein – das war unmöglich, völlig unmöglich. –

Als er sich langsam durch die kleine Parkanlage, welche [75] Haldenwang umgab, dem Edelhof näherte und der Treppe zuschritt, die aus diesen Anlagen auf die Veranda führte, sah er dort oben zwei Männer in, wie es schien, sehr eifrigem Gespräche mit einander. Der eine saß hinter dem runden Tische aus Gußeisen; der andere stand mit über der Brust verschlungenen Armen in einer wie drohenden Haltung vor ihm. Sie sprachen laut und heftig; laut und heftig zu reden war sonst Herrn von Maiwand’s Art und Weise nicht – denn diesen erkannte Landeck bald in dem Sitzenden. Der Andere war ihm fremd, bis er näher kommend dessen Stimme erkannte – es war die des Mannes, dessen Zwiegespräch mit Fräulein Elisabeth er angehört hatte, Rudolph, der Neffe des Herrn Escher also, der „Vetter Rudolph“, von dem ihm sein Zögling Karl erzählt hatte. Mit einer gewissen Spannung faßte er das Aeußere dieses jungen Mannes in’s Auge. Er machte ihm den vortheilhaftesten Eindruck durch seine Erscheinung, die viel mehr männlich Gereiftes zeigte, als Landeck erwartet hatte, wenn ihm auch Karl von dem großen Vollbart erzählte, den er verabscheute. Rudolph hatte eine feste Gestalt, offene, sehr gebräunte Züge und lockiges, dunkles Haar; er war jedoch ziemlich nachlässig gekleidet, durchaus nicht salonfähig, und schien einen Besuch bei Frau von Haldenwang, bei der ihn Landeck ja auch nie getroffen hatte, nicht beabsichtigt zu haben. Vielleicht halte er mit Maiwand nur in einer Geschäftsangelegenheit zu reden, als Werkmeister seiner Fabrik; es war ja Landeck überhaupt aufgefallen, wie die Mitglieder dieser Familie Escher sich so fern von einander hielten; oder hatte Fräulein Elisabeth mit ihrer Eifersucht Recht gehabt, und durfte sich Rudolph erlauben, in solch bequemer grauer Joppe, mit einem so nachlässig umgeschlungenen Halstuche zu seiner schönen und vornehmen Cousine zu kommen?

Landeck wandte sich, als er in den Gehörkreis der beiden Sprechenden gekommen war, ohne von ihnen bemerkt zu werden, wieder zurück und schritt auf einem der sich schlängelnden Kieswege der andern Seite des Gebäudes zu. Er wollte die Verhandlung der Männer nicht unterbrechen; es schien auch nach der Lebhaftigkeit, womit sie dieselbe führten, daß sie einen Dritten wohl sehr störend gefunden hätten.

Und dem war freilich so. Die Unterhaltung zwischen dem Werkmeister Rudolph Escher und dem Herrn von Maiwand bewegte sich um einen Gegenstand, bei dem sie einen Dritten höchstens hätten brauchen können, um den Ausbruch eines Kampfes zwischen den zornig erhitzten Gemüthern zu verhindern.

„Wenn Sie einen Funken von Ehrlichkeit in sich haben, Herr von Maiwand,“ hatte Rudolph eben ausgerufen, „so müssen Sie sofort mit mir zu meinem Vater gehen und ihm erklären, wohin das Vermögen Malwinens gekommen, in wessen Hände es gefallen ist, und wenn Sie einen Funken menschlicher Theilnahme in sich fühlen, so müssen Sie mit mir zu meinem Onkel Gottfried Escher gehen und ihm erklären, daß nicht ich, wahrhaftig nicht ich der Schuldige war, daß er, wenn er die Hand seiner Tochter in die meinige legt, sie wahrhaftig nicht in die eines – Cassendiebes legt.“

„Lächerliche Zumuthung das!“ hatte Maiwand darauf geantwortet, seine Cigarre am Tischrande abstoßend und wie in großer Gemüthsruhe das linke Bein auf das rechte hinaufziehend, „höchst lächerlich! Ich begreife gar nicht, wie Sie auf diese alten längst abgethanen Geschichten zurückkommen können. Was geht mich diese Sache jetzt noch an – bin ich etwa der Cassendieb gewesen? Das waren am Ende …“

Er stockte, wie noch zögernd, den Satz auszusprechen, aber Rudolph ergänzte ihn.

„Das war ich – ich war es, nicht wahr, das wollten Sie sagen? Nein, nicht ich bin es gewesen, mein Herr von Maiwand, sondern Sie, Sie waren es, der mich überrumpelte und täuschte und verführte, meine Stellung so zu mißbrauchen, das Vertrauen, welches mir mein Chef gezeigt hatte, so erbärmlich zu hintergehen. Und nun fordere ich Sie auf, wie ein ehrlicher Mann zu handeln und Ihre Schuld zu gestehen – oder bei Gott! ich breche meinen Schwur, Sie nicht zu verrathen und sage Malwinen Alles, Alles. Ich weiß, daß ich Sie damit vernichten kann. Denn glauben Sie nicht, daß es mir entgangen ist, wie Sie im Stillen – nicht offen; das würde Malwinen scheu machen – nein, im Stillen, allmählich, durch die Macht der Gewohnheit, durch das Gefühl der Unentbehrlichkeit Ihrer Dienste meine Cousine zu umgarnen und endlich zur Ihrigen zu machen suchen. Und das Alles, dieser ganze fein eingefädelte Plan, alle Ihre bisherigen Anstrengungen sind zu Nichte gemacht, sobald ich rede, sobald ich Malwinen sage, welch ein Mensch Sie sind. Sie wird Sie verachten.“

Maiwand erblaßte ein wenig; er führte seine Cigarre, ohne zu bemerken, daß er das Feuer derselben längst ausgestoßen hatte, immer wieder zum Munde, und dann sagte er gezwungen lächelnd:

„Wenn Sie meineidig werden wollen, kann ich Sie nicht hindern. Aber einen Vortheil davon werden Sie nicht haben. Ich würde einfach erklären, daß Sie lügen. Und glaubt Malwine Ihnen dennoch – nun wohl, was verschlägt mir’s? Ich bin, Gottlob! nicht in der Lage, mich vor der ‚Verachtung‘ Malwinens sehr fürchten zu müssen. Was thut’s? In der Ehe kommt es öfter vor, daß die Weiber ihre Männer ein wenig verachten.“

„Ah – Sie wollen nicht sagen …“

„Daß Malwine mein Weib sei? Nein, das nicht. Nur, daß sehr gewichtige Gründe für sie da sind, es zu werden.“

Rudolph sah ihn höchst überrascht an.

„Und wenn Sie überhaupt,“ fuhr Maiwand fort, „der Ansicht sind, daß man Dem, was Sie sagen und erzählen, auch dann, wenn ich Ihnen widersprechen sollte, Glauben beimessen wird, wohlan, so erzählen Sie doch selber Alles Ihrem Vater und Ihrem trefflichen Oheim Escher, von dem Sie behaupten, daß er eines ungerechten Verdachtes wegen sich weigert, Ihnen seine Tochter zu geben. Weshalb reden Sie dann nicht selber?“

„Deshalb, weil Beide mißtrauische, durch das Leben, in dessen Mitte sie stehen, argwöhnisch gemachte Menschen sind, weil sie mir vorhalten würden: ‚Weshalb sprichst Du erst jetzt …‘“

„Worin sie dann auch Recht hätten.“

„Recht? Ich habe Ihnen ja gesagt, wie ich erst am gestrigen Abend von meinem Vater vernommen habe, welch einen unseligen bösen Verdacht er wider seinen Bruder hegt; wie dieser Bruder aber den Verdacht lieber auf sich duldet als meinen Vater aufzuklären, und wie er nur so handeln kann, weil er meinen Vater zu schonen sucht, indem er ihm etwas vorenthält, was, wie er offenbar glaubt, eine schlechte Handlung von mir ist. Ich habe Ihnen gesagt, wie dies Alles mir erst gestern klar geworden, wie mir jetzt erst klar geworden, weshalb der Onkel mir Elisabeth’s Hand verweigert, und wie dies mich zwingt, zu Ihnen zu kommen und Sie aufzufordern, als Mann Ihre Pflicht zu thun … das fordere ich von Ihnen, das fordere ich augenblicklich, und wenn Sie sich weigern, so werde ich Erde und Hölle in Bewegung setzen, um Sie zu zwingen …“

„Was ich für Pflicht halte, darüber habe ich selber ganz allein zu entscheiden, mein bester Herr Escher, und wenn Sie sich einbilden, mich zwingen zu können, so muß ich Ihnen gestehen, daß ich das einfach für kindisch halte. Damit, mein’ ich, könnten wir diese Unterredung enden.“

„Enden? Sie glauben wirklich, wir wären damit zu Ende, ich ließe mich beschwichtigen, ehe ich Ihnen gesagt habe, daß ich Sie für einen ehrlosen Buben halte, daß ich, wenn Sie mein Verlangen nicht erfüllen, Sie laut und überall dafür erklären werde?“

„Mensch!“ rief Maiwand aufspringend, und ihm ein Paar Schritte entgegentretend.

Rudolph erwartete ihn hochaufgerichtet und trotzig.

„Was wollen Sie? Glauben Sie, ich nähme das Wort zurück? Niemals! Und nun fordern Sie mich! Ich stehe zu Dienst.“

„Ich Sie fordern?“ rief in grenzenloser Wuth, aber sich zum Lachen zwingend, Maiwand aus, „ich Sie? Sie vergessen denn doch gar zu sehr, was Sie sind, und was ich bin. Als ob ein Edelmann und Officier sich mit – einem Arbeiter schlüge!“

Rudolph schien dieses Wort so zu empören daß er, dicht an Maiwand herantretend, den Arm mit der sich ballenden Faust erhob. Maiwand griff, wie nach einer Waffe, nach dem auf dem Tische liegenden Papiermesser, aber Rudolph’s Arm wurde, bevor er einen Schlag führen konnte, von einem festen Griff um den Knöchel gefaßt und eisern niedergedrückt: Landeck stand neben ihm und zwischen den beiden zornigen Männern.

Landeck hatte, um die Zeit hinzubringen, langsam wandelnd [76] durch die den Edelhof umgebenden Anlagen, einen Kreis um das ganze Gebäude gemacht; so war er, um die letzte Ecke desselben biegend, an die andere Seite der Veranda, als die, von der er ausgegangen, gekommen und hatte zu seiner größten Ueberraschung dicht vor sich die beiden hadernden Männer gesehen, ihre letzten Wechselreden gehört, hatte einen unaussprechlich widrigen Eindruck von der zu giftigster Wuth entstellten Physiognomie des Mannes, den er zu hassen begann, erhalten, und in heftigster Empörung über die dünkelhafte Ueberhebung dieses Menschen dem ehrlichen und gebildeten Arbeiter gegenüber, war er zwischen sie gesprungen, und während er Rudolph’s Arm niederdrückte, rief er jetzt hochathmend aus:

„Halten Sie ein, Herr Escher! Wenn dieser Mann zu hochmüthig ist, sich mit Ihnen zu schlagen, vielleicht gewährt er mir die Ehre; ich nehme Ihre Sache auf mich. Senden Sie mir Ihre Zeugen, Herr von Maiwand! Ich werde Ihnen, wenn Sie es verlangen sollten, mein Doctordiplom vorlegen. Der Edelmann läßt sich dann vielleicht herab, mich als satisfactionsfähig zu betrachten.“

Maiwand sah ihn mit düstern, haßerfüllten Blicken an. Verächtlich sich wendend, sagte er dann:

„Sie? Wer zum Teufel führt Sie just in diesem Augenblicke her? Ist diese Scene etwa abgekartet? Mir ist’s ganz recht, ein Paar Kugeln mit Ihnen zu wechseln. Ich werde Ihnen meine Zeugen senden. Zweifeln Sie nicht daran! Unterdeß begreifen Sie, daß Sie hier auf Haldenwang bis dahin nichts mehr zu suchen haben. Ich denke, Sie begreifen das.“

Er wandte sich und ging raschen Schrittes durch die offenstehende Fensterthür in den Salon im Innern des Gebäudes.

Rudolph betrachtete unterdessen ein wenig überrascht den ihm so plötzlich gekommenen Bundesgenossen.

„Sie nehmen meinen Streit mit diesem Menschen auf?“ rief er aus. „Sie, Herr Landeck? So hörte ich Sie nennen – ich sah Sie auch früher schon, obwohl ich bis jetzt nicht Gelegenheit hatte, Ihnen näher bekannt zu werden. Ich selbst bin Ihnen aber ja völlig fremd. Sie werden meinen Namen nicht einmal kennen: Rudolph Escher …“

„Ich weiß. Ich sehe Sie freilich zum ersten Male, aber ich habe, indem ich Sie sehe, die Ueberzeugung, daß in diesem Streit mit dem Herrn Maiwand nicht das Unrecht auf Ihrer Seite ist, und der höhnische Dünkel dieses Junkers empörte mich; es war vielleicht thöricht, daß ich mich so hinreißen ließ, ehe ich auch nur die leiseste Ahnung hatte, was eigentlich der Gegenstand Ihres Streites war, aber – was wollen Sie? – das Blut stieg mir eben zu Kopfe, und ich finde eine Genugthuung darin, einen solchen Hochmuth zu züchtigen.“

Rudolph starrte ihn noch immer an, ohne sich recht in die Sache finden zu können, bis Landeck lächelnd fortfuhr:

„Ich habe eben noch nicht lange genug das Studentenblut verschwitzt; auf der Hochschule, wissen Sie, macht man nicht viel Federlesens und ist ‚schnell fertig mit dem Worte‘. Und nun kommen Sie! Sie werden sich heimbegeben wollen, und ich werde mir erlauben, Sie zu begleiten, um mir von Ihnen einige Aufklärungen geben zu lassen, was eigentlich diesen Streit zwischen Ihnen heraufbeschwor.“

„Ich werde allerdings heimgehen, und bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich begleiten wollen,“ versetzte Rudolph, von einem der Stühle zur Seite seinen grauen Sommerhut aufnehmend und sich der Treppe zuwendend, die aus der Veranda in die Anlagen hinabführte.

Landeck folgte ihm. Als sie neben einander zwischen den Rasenplätzen der Eichenallee zuschritten, sagte Rudolph, ein paar Mal tief aufathmend:

„Vor Allem verzeihen Sie mir zuerst die Frage – ich bin nicht in der Stimmung, viel Umschweife zu machen –: wie kommen Sie eigentlich hierher, Herr Landeck?“

„Ich bin ein alter Bekannter der Frau von Haldenwang –“

„Von Athen her – ich weiß,“ fiel Rudolph ein, „sie hat es mir, als ich sie das letzte Mal sah, gesagt. Ich meine, wie kommen Sie hierher, just jetzt, grad’ in diesem Augenblick?“

„Frau von Haldenwang hat die Güte gehabt, mir ihr Vertrauen in einer Angelegenheit zu schenken, worin sie einer Ermittelung bedurfte; ich kam, sie ihr zu bringen, fand sie aber nicht.“

„Ah, sie hat Ihnen ihr Vertrauen geschenkt; nun, das überrascht mich nicht, nach der Wärme, womit sie sich über Sie ausdrückte, und so darf ich es am Ende auch. Sie verlangten eben von mir, daß ich Ihnen den eigentlichen Grund meines Streites mit Herrn von Maiwand mittheile; wahrhaftig, es ist das eigentlich ein sehr naives Verlangen – es heißt so viel, als Ihnen den ganzen Inhalt meiner Seele ausschütten zu sollen …“

„Was ich nicht ahnen konnte,“ unterbrach ihn Landeck, „ich bitte also um Verzeihung wegen meiner Indiscretion.“

„Nein, nein, das sollen Sie nicht. Ich habe oft genug im Stillen darüber gegrübelt, wie ich doch nur einen theilnehmenden Freund, einen Beistand in meiner schweren Aufgabe fände, mit meiner einfach ehrlichen und grade durchgehenden Natur einen durchtriebenen Intriganten zu fassen und zu überwinden; ich fühlte mich so hülflos, so waffenlos ihm gegenüber; nun stehen Sie mitten im vollen Ausbruch meines Krieges wider ihn so plötzlich als mein Beistand an meiner Seite – wie sollte ich Ihnen nicht vertrauen? Ich kenne Sie durch meine Cousine Malwine, die so große Dinge auf Sie hält, also will ich Ihnen erzählen, was mich zwang, diesem Maiwand so gegenüber zu treten. Sie sollen Alles hören. Alles.“

„Sie können überzeugt sein, daß ich Ihr Vertrauen zu ehren wissen werde.“

„Wenn ich das nicht glaubte, würde ich Ihnen nicht Dinge sagen, die ich noch Niemandem auf Erden gesagt habe. Also hören Sie! Aber wahrhaftig, ich bin zu erregt, um so im raschen Gehen zusammenhängend erzählen zu können. Dort links unter der Eichengruppe steht eine Bank. Setzen wir uns dort!“

(Fortsetzung folgt.)




Ein deutsches Polizeiblatt und dessen Ausbeute.
Von Fr. Helbig.
(Schluß.)


Es giebt fast keine Leidenschaft, keine Neigung und Schwäche der menschlichen Natur, mit welcher die Gauner nicht geschickt operiren. Sie sind ausstudirte Psychologen und spielen mit der Seele des Menschen Fangball. Es ist bei Weitem nicht blos die Dummheit, auf welche sie speculiren. Ihre Speculation richtet sich weit mehr auf die Gutmüthigkeit, das Mitleid, den Optimismus der Menschheit.

In Wien hatte sich vor einigen Jahren ein förmliches Consortium von Bettelbrieffabrikanten gebildet, durchgehend aus conditionslosen Handlungscommis bestehend. Sie sandten ihre geschriebenen Appellationen an das Mitleid an fast alle europäischen Höfe, an Prinzen, Prinzessinnen, höchste Rangpersonen. In geschickter Arbeitstheilung übernahmen die Einen die Schilderung der verschiedenen Nothstände; die Anderen fertigten falsche obrigkeitliche Zeugnisse dazu an; Dritte fälschten die Siegel. In Folge der Anfragen mehrerer Hofkanzleien machte die Wiener Polizei Jagd auf die saubere Gesellschaft, entdeckte sie und ließ ihr den Proceß machen.

Hierher gehören auch die „Nachrichtsbringer“, die sich erst über Familienverbindungen unterrichten, um dann von Verwandten Grüße und Mittheilungen zu bringen, und dadurch sich Credit schaffen, sowie die falschen Invaliden und Schlachtengauner, die während und unmittelbar nach den Kriegen auftauchen und auf den Barmherzigkeitstrieb speculiren.

In ähnlicher Weise haben Gauner mit dem politischen Märthyrerthume vielfachen Mißbrauch mit großen pecuniären Erfolgen getrieben. Die polnischen Flüchtlinge, die ungarischen Emigranten, die Achtundvierziger Verfolgten haben ihnen oft

[77]

Der Märchenerzähler in einem tunesischen Kaffeehaus.
Nach der Natur aufgenommen von Robert Leinweber.

[78] genug ihre Maske leihen müssen. Ja selbst in den Dienst der Reaction sind sie getreten und haben die Polizei mehr als einmal mit ihren revolutionären Enthüllungen mystificirt. Im Jahre 1851 hatte sich in London eine aus geflüchteten deutschen Dieben bestehende Gesellschaft eigens zu diesem Zwecke gebildet. Manche nach ihren Mittheilungen lüsterne deutsche Regierung hat ihnen schwere Summen geopfert und den Aerger noch obendrein gehabt. –

Aber auch Wissenschaft und Kunst haben sich nicht freihalten können von der Travestie des Gaunerthums. Hier ist es namentlich die ganze Classe der „verkommenen Genies“, die uns entgegentritt; Leute von oft großer Capacität, künstlerischem Talente, vielseitiger Bildung, die aber mit sich und dem Leben nicht haben fertig werden können, die bei zu nachhaltiger Versenkung nach innen den Halt nach außen hin verloren, träumerische Hamlet’s, die immer an der rettenden That vorbeiliefen, überstudirte Fauste, die statt des eigenen Ich lieber den Teufel zur Hülfe riefen. Wer zählte nicht unter seinen früheren Studiengenossen wenigstens einen, den er dieser Kategorie zurechnen muß? Noch heute ergreift mich ein tiefwehmüthiges Gefühl, wenn ich die Worte lese, die mir ein also Gekennzeichneter auf ein Stammbuchsblatt schrieb; sie lauten:

„Wohl, Freund, Dir, wenn Du so des Lebens Rolle spielst,
Daß, wenn der Vorhang fällt, Du keine Reue fühlst.“

Unsere Polizeiorgane wimmeln von solchen falschen Doktoren und Professoren, die bettelnd und prellend von Orte zu Orte ziehen. Sie haben an den fahrenden Schülern des Mittelalters schon eine Art Vorbild.

Erscheint er, heißt es von einem solchen literarischen Gauner, der typisch ist für die ganze Species, in einer Universitätsstadt, so drängt er sich zunächst den Professoren auf, die ihn selten abweisen, weil er schöne Kenntnisse und ein einnehmendes Wesen besitzt. Glücken ihm seine Bewerbungen um eine Stelle an der Universität nicht, so weiß er von den Professoren sehr namhafte Geschenke zu erbitten, und er ist zudringlich genug, wiederholt zu kommen. Kommt er in Städte ohne Universität, so wendet er sich an Gelehrte, Geistliche, Rangpersonen. Ist er bei Geld, so lebt er gut. Macht er Schulden, so vertröstet er seine Gläubiger auf ein demnächst erscheinendes Werk. Er verschmäht auch nicht auf das Land zu gehen und führt sich, unter dem Vorgeben, nach kirchlichen Alterthümern forschen zu wollen, bei Geistlichen ein, und wenn er diese auch nicht geradezu anbettelt, so verschmäht er doch in keinem Falle die regelmäßigen Angebote der Gastfreundschaft. Bei katholischen Geistlichen führt er sich mit dem Vorgeben ein, daß er zur katholischen Religion übertreten wolle.

Auch die vagirenden Professoren der Magie rangiren zum Theil in diese Classe, soweit sie namentlich den im Volke noch immer grassirenden Aberglauben für ihre Zwecke ausbeuten, wie jener Professor der Magie und Phrenologie – wo in aller Welt mag die Universität liegen, welche solche Fakultäten aufweist? – und „Zauberer erster Größe“, der erst in Freiburg, dann in Gießen und Umgegend seine Charlatanerie trieb. Seine Glückszettel, die, auf dem Leibe getragen, alles nur gewünschte Glück herbeiführten, fanden im Volke reißenden Absatz, namentlich unter den heirathsbedürftigen Mädchen. Er besaß außerdem eine Kreuzspinne, welche glückbringende Nummern webte. Die Polizei entdeckte bald, daß der Herr Professor seine Weisheit nicht seinem Aufenthalt unter den Indianern, wie er behauptete, sondern der Muße des Zuchthauses verdankte, die ihm bereits früher vergönnt gewesen.

Die mannigfachste Thätigkeit entwickelt natürlich das Gaunerthum auf dem weitverzweigten Gebiete des industriellen Verkehrs. Hier ist sein Wirken so complicirt, wie jener selber. Wie der menschliche Erfindungsgeist fast täglich neue positive Produkte seiner Thatkraft erzeugt, so halten mit ihm auch der Schwindel, die Gaunerei gleichen Schritt in ihrer negirenden vernichtenden Thätigkeit. Jede neue große That wird hier in gaunerischer Hand zur Parodie. Die unendlich segensvolle Telegraphie wird zur willkommenen Handhabe für die Erlangung gaunerischen Credits durch Ausgabe renommistischer unwahrer Depeschen; die Eisenbahnen, die Bahnhöfe sind die ergiebigsten Gelegenheitsmacher für Diebe und gaunerische Verbrüderungen, sowie die besten Unterstützer für eine gaunerische Haupttaktik, welche darin besteht, zwischen die Schauplätze ihres Wirkens möglichst große Entfernungen zu legen; der gesteigerte Noten- und Wechselverkehr erleichtert die Fertigung von Falsifikaten und ihren Vertrieb; nicht zu gedenken der tausenderlei Fälschungen der industriellen Produkte selbst, denen nachzuspüren die Polizei ganz ohnmächtig ist. Die erhöhte Steigerung der Productionskraft, des Unternehmungsgeistes der vergangenen Jahre wurde alsbald parodirt und zuletzt lahm gelegt durch ihren gaunerischen Doppelgänger, den Schwindel. Die Gartenlaube hat darüber uns erst vor Kurzem einen unterrichtenden Artikel gebracht. Es ist nicht möglich auf diesem Gebiete nur einigermaßen erschöpfend zu skizziren, manches dahin Einschlagende haben wir im Gang unserer Skizze schon erwähnt, Vielem sind wir auch schon früher in diesen Blättern begegnet. Wir beschränken uns darauf, nur einige taktische Momente aus der beobachteten Thätigkeit dieser Industrieritter zu verfolgen und einige Beispiele dieser selbst anzureihen.

Da ist zunächst die Taktik der Taschendiebe eine sehr ausgebildete. Hier ist noch das meiste Zusammenwirken zu verspüren, da sie ohnedies mehr in den großen Städten, also zusammengedrängter, wohnen. So oft dort die Controle eine strengere wird, schwärmen sie aus in die Provinz. So verlegten die Berliner Taschendiebe Ende der fünfziger Jahre den Schauplatz ihres Wirkens theilweise in die Rheingegenden. Der Taschendieb (Torfdrücker) hat immer wenigstens einen Helfer bei sich, der das Gestohlene rasch in Empfang nimmt, so daß der eigentliche Dieb sich unverdächtig macht. Die Gaunersprache nennt dieses Geschäft: Zugleuten. Oder der Andere beschäftigt während der Aktion die Aufmerksamkeit des erlesenen Opfers. Um eine unbefangene Annäherung möglich zu machen, muß der Taschendieb sich seiner Umgebung in Kleidung und Haltung anpassen. Zu seinem Handwerkszeuge gehören falsche Hände mit Handschuhen, die er in Omnibus und Eisenbahn vor sich auf die Kniee legt, um mit seinen wirklichen Händen desto ungestörter arbeiten zu können; ferner ein scharfes feines, womöglich im Siegelringe verstecktes Messerchen zum Ausschneiden der Taschen, eine scharfe Zange zum Zerschneiden der Uhrketten; Seidenfädchen mit Häkchen oder – zum Einprakticiren in Tabaksdosen – einer Bleikugel. Ein Act der Gefälligkeit leitet die verbrecherische That ein, z. B. Abstäuben von Staub oder Asche, Ausführung einer Erkennungsscene mit Umarmung und nachfolgender Entschuldigung. Daß in dieser Branche es auch die leise auftretende Damenwelt zu einer gewissen Virtuosität bringt, liegt nahe, um so mehr, als ihr die Arbeit durch ein galantes Entgegenkommen oft sehr erleichtert wird.

Ein Consortium von Gaunern errichtete in L. vor einigen Jahren ein Auctionsschwindelgeschäft. Einer gerirte sich als Auctionscommissar, ein Anderer als Buchhalter, ein Dritter als Proclamator. Die Uebrigen waren Scheinbieter, welche die Bietungslustigen anzuregen und die Sachen als preiswürdig und echt zu empfehlen hatten, obwohl die goldnen Uhren nur tombackene und die schweren Ringe hohl und mit Sand gefüllt waren. Ein ähnlicher Schwindel wird in der Weise in Scene gesetzt, daß eine Menge Waaren bei verschiedenen auswärtigen Fabrikanten oft gegen vorläufige Abschlagzahlungen unter fingirter Form zusammengekauft und dann rasch im „Ausverkaufe“ verkauft werden. Auf diese Weise wurde einmal von London aus eine große Anzahl deutscher, französischer und englischer Fabrikanten geprellt. Die kaufende Firma war nicht aufzufinden; sie hatte nie existirt.

Von London, dem Eldorado der Gauner, ging auch ein ähnlicher Schwindel aus. Ein dort gebildetes Lebensassecuranzbureau schrieb in alle Welt hinaus an die Verwandten von Personen, deren Tod von diesen öffentlich angezeigt war, indem sie dieselben aufforderten, unverzüglich den Betrag einer fällig gewordenen Jahresprämie für eine Police ihres Erblassers einzuzahlen, die sonst verfalle. In der – natürlich getäuschten – Hoffnung auf Gewinnung eines großen Versicherungscapitals fielen manche der Erben in die Gaunerfalle. Aehnlich operirten die Vermittler holländischer Erbschaften, die gegen wiederholte Auszahlung von Vorschüssen die verlockende Aussicht auf überseeische Erbschaften bei Namensvettern eines in Holländer Blättern ausgeschriebenen Todten zu erwecken wußten.

Ein Hauptaugenmerk aller Industriegauner ist darauf gerichtet, sich Credit anzulügen. Ein gewisser B. erschwindelte [79] sich dadurch eine Menge Schuhwaaren, daß er den Fabrikanten nachgemachte Rechnungen von Concurrenzfirmen vorzeigte und damit ihre Eitelkeit aufregte. Zu gleichem Zwecke theilten zwei andere Gauner sich in die Rollen von Herr und Diener. Der „Herr“ verfügte sich in große Verkaufsgeschäfte und machte als wohlhabender Kaufmann bedeutende Einkäufe. Wenn man die Ablassung der Waaren auf Credit beanstandet, so spielt er den Empfindlichen. Mit den stolzen Worten: Er brauche ja die Waaren nicht hier zu kaufen, er stehe mit den größten Häusern in Verbindung, verläßt er den Laden. Nach einiger Zeit tritt der „Diener“ ein und fragt nach seinem Herrn. Man stutzt, forscht ihn aus und erfährt aus seinem Munde eine so glänzende Schilderung der Verhältnisse seines Herrn, daß man ihn dringend und gegen ein gutes Trinkgeld ersucht, ihn wieder zu holen.

Ein vor drei Jahren in Breslau verhaftetes sauberes Kleeblatt, bestehend aus einem Kellner, einem Handlungsreisenden und einem Cigarrenmacher, ernährte sich in der Weise, daß es Adreßkarten und Briefe an Dienstboten abgab. Während diese sich entfernten, um sie der Herrschaft zu überbringen, stahlen sie die im Corridor hängenden Kleider. Diese versetzten sie in Leihhäusern, fälschten die Pfandscheine auf höhere Summen und verkauften diese wieder. Der Kellner besorgte das Stehlen, der Commis das Fälschen und der Cigarrenmacher den Vertrieb der Scheine.

Die Hauptwirkungsplätze für die industriellen und auch die sonstigen Gauner bleiben immer die Verkaufsläden und Gasthöfe. In der Gaunersprache heißt der Ladendieb Schottenfeller, ein Wort, das, in’s Hochdeutsche übertragen, eigentlich Waarenbetrüger heißt und also eine beißende Ironie, auf den Bestohlenen enthält, der so dumm war, vor seinen eigenen Augen sich bestehlen zu lassen. Das schöne Geschlecht läuft in dieser Branche, in Folge der Gunst seiner Bekleidung, dem männlichen den Rang ab. Besonders günstig war ihm die Epoche der Crinoline. Der Ladengauner gerirt sich meist als Standesperson, ist wählerisch in den Stoffen, deren er sich deshalb eine größere Anzahl vorlegen läßt, was zur Folge hat, daß der Ladendiener ihm öfters den Rücken zu kehren genöthigt ist. Er bezahlt auch eine Kleinigkeit und legt die mit Spielmarken oder Kupfergeld stark gefüllte Geldbörse oder, wie das Gaunerpaar G., eine schwere mit Steinen gefüllte Cassette prunkend auf den Ladentisch. Mit Vorliebe trägt er einen Regenschirm, den er hart an den Rand des Ladentisches lehnt. Heißt er die Waaren nicht gleich selbst mitgehen, so bittet er, sie in den Gasthof zu schicken und zwar mit quittirter Rechnung, oder ihm einen Lehrling mitzugeben, der sie dahin trägt. Letzteren Falls weiß er sich desselben durch ein Vorgeben, zum Beispiel daß er Etwas vergessen, zu entledigen, erstern Falls beauftragt er den Wirth, die Waaren für ihn in Empfang zu nehmen.

Der eigentliche Gasthofsdiebstahl wird meist am frühen Morgen in Scene gesetzt, wo es in den Gasthöfen am stillsten ist. Diese Morgendiebe nennt die Gaunersprache mit einem poetischen Anfluge Zephyrgänger, da sie so leise auftreten wie der säuselnde Wind. Im Halbdämmern tritt der meist im Gasthofe selbst logirende Gauner in die Fremdenstuben, begrüßt den Schläfer mit leisem Morgengruße, nähert sich, ihn feste im Auge behaltend, Tischen und Stühlen, auf denen das Geld und die Pretiosen liegen, nimmt sie an sich und entfernt sich nach altbewährter Diebestaktik rückwärts wieder. Der Ruhende wird die in unklaren Umrissen auftretende Gestalt meist für den Hausknecht halten, der die Kleider zum Reinigen holt. Ist er schon wach, was der Dieb oft erst durch vorheriges Anklopfen sondirt, so ist eine rasche Ausrede bei der Hand. Man hat das Zimmer verwechselt oder ist Friseur, Balbier u. dgl. mehr. Deshalb ist beim Schlafen in Gasthöfen der Zimmerverschluß durchaus anzuempfehlen.

Weit mehr noch als durch diese ihrer Haftpflicht unterliegenden Entfremdungen werden die Gastwirthe dadurch geschädigt, daß sie die unfreiwilligen Ernährer einer Menge von Hochstaplern sind. Diese wissen es recht gut, wie es leider noch immer Gasthofspraxis ist, daß, je prätentiöser der Fremde auftritt, desto mehr sein Ansehen und Credit wächst. Nach dieser Taktik verlangen sie meist die besten Zimmer und finden die höchsten Preise außerordentlich billig, fragen viel nach Briefen und Depeschen, die sie erwarten, schicken selbst solche an hohe Adressen ab, lassen auf den Tischen nachgedruckte Visitenkarten mit den Namen hervorragender Personen liegen und zeigen bei wankendem Credit falsche Wechsel und Werthpapiere vor. Schließlich sind sie noch vor Tagesgrauen oft mit einem Sprung durch das Fenster verschwunden. So ließ ein „spanischer Marquis T. de T. aus Valencia“ stets bedeutende Werthbriefe nach Bayonne, Marseille und anderen Orten auf die Post befördern und ehe dieselben als unbestellbar zurückkamen, war er mit einem Vorschusse des Wirths verschwunden. An anderen Orten ließ er sich in Scheinhändel um große Besitzungen ein, nach deren Käuflichkeit er sich erkundigte. Der Abenteurer D. schloß überall große Lieferungskäufe in Weinen, Tapeten, Meißner Porcellan, je nach dem örtlichen Fabrikbetriebe, ab. Ein Gauner niederer Classe spielte, wenn er gut bei Casse war, den Handlungsreisenden, eine bei Wirthen stets angesehene Kundschaft, indem er mit einem Musterkasten auftrat, der in einer mit Steinen beschwerten und mit Wachstuch überzogenen Cigarrenkiste bestand. Waren seine Mittel knapp, so begnügte er sich mit der Rolle eines reisenden Kellners.

Der echte und vielgereiste Hochstapler spricht auch gewöhnlich mehrere Sprachen und tritt dann gern als Ausländer auf, weil auch diesen die Hôteliers eine vermehrte Sympathie entgegenbringen. Sie wittern in jedem mit Bartkoteletten und umgewickeltem Plaid auftretenden Engländer einen unverfälschten Lord, und doch wäre hier gerade Vorsicht theilweise sehr vonnöthen. Die Polizei ist davon wohlunterrichtet, daß fast alljährlich zwischen Mai und October Londoner Gauner nach dem Continente reisen, dort Bäder und erste Hôtels frequentiren und, „nachdem, sie sich vollgesogen“, um den Ausdruck eines Londoner Polizeibeamten zu brauchen, mit unbezahlten Rechnungen zurückreisen. Um ihrer Abreise etwas Unverfängliches zu geben, lassen sie oft ihre Frauen zurück. Diese erhalten dann plötzlich ein Telegramm über ein dem Gemahl zugestoßenes Unglück, das sie nöthigt, ihm rasch nachzureisen. Ein so geprellter Gasthofsbesitzer scheute die Mühe nicht, mit der unbezahlten Rechnung sich nach London aufzumachen, dort fand er nach langem Suchen den vermeintlichen Lord im dritten Stocke eines armseligen Häuschens am Strande, im alleinigen Besitze eines Versatzzettels und eines Portemonnaies mit einigen Pence. Viele von ihnen verschaffen sich auch Credit mit gefälschten Checks Londoner Bankhäuser. Erst im vergangenen Sommer hat eine ganze, jedenfalls unter sich zusammenhängende Bande von Engländern deutsche Banquiers in Mainz, Frankfurt, Karlsruhe und Stuttgart um ganz bedeutende Summen betrogen, indem sie dort den Kreditbrief einer bekannten Londoner Firma mit einer darauf bereits notirten Zahlung eines Brüsseler Hauses vorlegten. Auf erfolgte Nachfrage erwiesen sich Brief wie Quittung als unecht.

Wie ist es möglich, daß diese Gauner erster Classe sich so lange über dem Wasser halten, daß sie ihr Geschäft sogar berufsmäßig und als alleinigen Erwerb treiben? Diese Frage wird sich an Manchen herangedrängt haben, wenn er den Gang dieser Skizze verfolgt. Eine lang ausgebildete traditionelle Taktik kommt auch hier dem Gauner zur Hülfe. Zunächst ist es die Vertauschung der Penne mit dem Hôtel, die Verlegung seiner Thätigkeit aus den unteren in die höheren Gesellschaftsschichten, die ihn vor einer Berührung mit der Polizei wenigstens längere Zeit sichern. Er umgiebt sich dabei noch mit dem Nimbus des Reichthums und eines großen Namens. Er begnügt sich nicht immer mit dem Professoren-, Freiherrn- und Grafentitel, er langt sogar frech hinauf nach fürstlichen Kronen. Vielleicht erinnern sich manche unserer Leser noch jenes armenischen Prinzen, der während des orientalischen Krieges die ganze Zeitungs- und theilweise sogar die diplomatische Welt für sich zu interessiren wußte. Unter dem stolzen Titel Prinz Leon Jacques Fürst von Gaan, präsumtiver Erbe der Krone Armeniens, verlangte er von Rußland sein Königreich, seine Domänen, seine Diamanten zurück. In Berlin, wo er mehrere Monate logirte, ließ sich jedoch die Polizei trotz des über der Thür befestigten königlichen Wappens nicht abhalten, über seine Schwelle zu schreiten und ihn dingfest zu machen. Der ordensbesternte Königssohn entpuppte sich unter ihren Händen als der Sohn eines holländischen Schiffsrheders und einer deutschen Mutter. Gleichzeitig mit ihm, vielleicht durch ihn angeregt, tauchte ein Prinz von Georgien auf, unbeschadet seiner in der Schweiz bereits verbüßten Strafhaft. Auch im Jahre 1862 erschien ein solcher verstoßener Thronerbe in Hamburg [80] als Fürst Wladimir Prinz von Montenegro. Er wollte in Brüssel zehntausendfünfzig Stück Gewehre angekauft haben, und sobald sie angekommen wären, ein Corps werben, mit Hülfe dessen er seinen Bruder vom Throne zu stoßen hoffe. Angeblich verfolgt, reiste er rasch ab und verwechselte bei der Abreise seinen Paß mit dem eines französischen Sprachlehrers, mit dessen Firma er sich wahrscheinlich fortan begnügte, da die Geschichte nichts weiter von ihm meldet. Erst ganz neuerdings hat sich in Wien wieder ein falscher Demetrius, ein Prinz Dimitry, gezeigt.

Ist die Polizei daran, ihm die vorgesteckte Maske abzureißen, so steckt der Gauner rasch eine andere vor. Diese oft mit hoher Virtuosität durchgeführten gaunerischen Metamorphosen erschweren die Entdeckung der wahren Person ungemein. Sie beziehen sich nicht blos auf die Wechsel der Namen, sondern auch auf die Wechsel der Berufsarten und – Gesichter.

So erscheint der Gauner heute in rothem, morgen in schwarzem Haare, heute trägt er eine grüne, morgen eine blaue, andern Tags gar keine Brille; bald erscheint er einäugig mit schwarzer Augenbinde à la Murray in Gutzkow’s Rittern vom Geiste, heute mit vollem Barte, morgen bartlos. Wahrhaft erstaunlich aber ist die Verschiedenheit der Rollen, in denen ein routinirter Gauner sich auf der Bühne des Lebens zu bewegen versteht, die doch weit erhöhtere Schwierigkeiten bietet als die Bretter-Bühne. So trat z. B. ein gewiser W. von T. nach einander auf als Geometer, Oekonomie-Inspector, Forstgehülfe, Schauspieler, Handelsgehülfe und Maler. Noch wandelbarer sind Namen und Titel. Vor der Polizei und dem Gerichte erklärt ein solcher Gauner gewöhnlich, daß Familienrücksichten ihn verhinderten, seinen wahren Namen anzugeben.

Sehr ausgebildet ist bei den Gaunern auch die Kunst des Nachmachens von Pässen, deren Jeder mehrere bei sich zu tragen pflegt. Zur Zeit des Paßzwanges war dies für ihn sehr wichtig. Bald erkennbar ist der Gauner an seiner Art zu leben. Der Gauner kennt keinen Etat, wie der Mann der bürgerlichen Ordnung. Hat er gute Geschäfte gemacht, so lebt er verschwenderisch, so spielt er den Baron; hat er Unglück im Gewerbe, so sinkt er in das alte Nichts zurück und wird eine Zeitlang kleinbürgerlich im Namen, Titel und Beruf. Dies giebt seiner ganzen Erscheinung einen kometenartigen Charakter.

Ist er der menschlichen Gesellschaft für immer entzogen? Wird sie ihn nie wieder aufnehmen können? Mit dieser Frage eilen wir zum Schlusse unserer Skizze. Wenn auch die Philosophie des Pessimismus jetzt wieder neuen Umfang gewinnt, der Glaube an die Rettung der Menschenseele darf und soll uns doch nicht verlassen, wenn er uns selbst hier und da zu Opfern eines gaunerischen Spiels macht. Selbst nach dem tiefsten Falle findet der Geist noch die Schwingen, sich wieder zu erheben. Und so haben es oft auch Diejenigen, welche bereits aus den schwarzen Blättern unserer Polizei-Anzeiger verzeichnet standen – ganz abgesehen natürlich von den dort fälschlich verzeichneten Politikern – vermocht, sich zu rehabilitiren, nicht blos damit, daß sie den Wanderstab ergriffen – auf fremder Erde in harter büßender Arbeit, auch selbst noch auf altem deutschem Boden. Es stünden uns Beispiele zu Gebote. So wollen wir nicht gnadelos über sie den Stab brechen. Ist es doch oft nur eine einzige unbewachte Stunde, ein einziger Schritt vom Wege, der zum Verhängniß wird für ein ganzes zu reichem Glücke und hohen Ehren angelegtes Leben.




Winzige Verderber.

Manches Gute hat die neue Welt der alten geschenkt zum Danke für ihre Civilisation, und viele ihrer Erzeugnisse möchten wir heute um keinen Preis mehr missen. Aber auch andere Gaben hat uns Amerika gesandt, für welche wir ihm weniger dankbar sind. Von der entsetzlichen Bettwanze nicht zu reden, deren transatlantischer Ursprung – sie soll mit canadischen Hölzern nach dem großen Brande vom Jahre 1666 in London eingeschleppt worden sein – in der neueren Zeit erfolgreich bestritten worden ist, auch der Muskito’s nicht zu gedenken, welche im Sommer 1874 plötzlich in Darmstadt aufgetreten sind, wahrscheinlich mit Droguen für eine dortige große chemische Fabrik über das Meer gebracht, so bleibt noch eine ganze Reihe von gefährlichen Eindringlingen aus dem Thier- und Pflanzenreiche aufzuzählen, die voraussichtlich sogar noch auf zahlreichen Zuwachs zu rechnen hat, so daß in dieser Hinsicht stete Vorsicht anzuempfehlen sein wird. Welche Gefahren hier drohen, wie außerordentlich die Verluste sind, die dem Nationalvermögen durch das massenhafte Auftreten eines kaum sichtbaren kleinen Insects zugefügt werden können, davon hat die Gegenwart ein betrübendes Beispiel erhalten durch die Verbreitung der Wurzellaus des Rebstockes, Phylloxera vastatrix. Da dieselbe trotz aller Gegenmaßregeln von Jahr zu Jahr in rapidem Maße zunimmt und zu einer allgemeinen Plage für die Länder des edlen Weinbaues zu werden droht, so wird eine kurze Nachricht über das Wesen, die Naturgeschichte und die Schädlichkeit der neuen Geißel des Rebstockes den Lesern der Gartenlaube wohl nicht unwillkommen sein.

Es sind erst zwölf Jahre her, daß man in Südfrankreich auf eine eigenthümliche, vordem unbekannte Krankheit der Weinreben aufmerksam wurde. In früheren Zeiten hätte man dieselbe Gott weiß welchen Ursachen zugeschrieben, in denen der wissenschaftlichen Forschung und des Mikroskopes fand man aber bald aus, daß die Wurzeln der Pflanze von zahllosen Schmarotzern aus der Familie der Aphiden oder Blattläuse besetzt seien, welche derselben den Saft entzögen und sie somit zum Absterben brächten. Anfangs nahm man die Sache leicht, allein schon nach wenigen Jahren gewann sie ein sehr bedenkliches Aussehen. Mit reißender Schnelligkeit, die man auf fünfundzwanzig Kilometer von einem Infektionsherde aus im Laufe eines Sommers schätzt, schritt das Uebel nach allen Richtungen hin vorwärts; es überfiel die gesegnetsten Weindistricte Frankreichs einen nach dem andern. Binnen zehn Jahren hatte es sich über eine Million Hectar erstreckt und einen Schaden von dreißig Millionen Franken angerichtet. Weite Flächen, sonst übergrünt vom fröhlichen Rebenlaube, standen jammervoll verdorrt, und Tausende von fleißigen Winzern rangen die Hände über den räthselhaften Entgang ihrer Ernten. Im Auslande aber, namentlich überall dort, wo Weincultur florirt, blickte man mit Spannung nach dem Nachbarlande, in steter Erwartung, daß doch endlich der eingebrochenen Noth ein Damm gesetzt und dadurch das eigene Rebengebiet vor der Einschleppung behütet werde. Vergeblich, die Hiobsposten mehrten sich von Jahr zu Jahr. Schon 1870 wurde bekannt, daß auch in Portugal, namentlich am Douro, dem Districte der berühmten Portweine, die Reblaus verheerend aufgetreten sei; ganz gewiß ist sie auch schon bei den Spaniern eingekehrt, allein diese haben bekanntlich gegenwärtig keine Zeit, sich um dergleichen Bagatellen zu kümmern. In Oesterreich wurde sie im Jahre 1872 aufgefunden, bisher nur an einer Stelle, in der Schweiz im Herbste 1874 und endlich auch schon am deutschen Rheine, in einem Weingarten bei Bonn. So werden denn die winzigen Verderber, wie es scheint, die Rundreise machen durch alles Weinland, gleich als wollten sie die hochgerühmte Intelligenz und Thatkraft des Menschengeschlechts herausfordern zum Kampfe gegen eines der unbedeutendsten Wesen der Schöpfung.

Sobald man ein Uebel mit Erfolg bekämpfen will, muß man es möglichst genau kennen zu lernen suchen. An Bestrebungen dazu hat es, trotz zu bewältigender großer Schwierigkeiten, gegenüber der Wurzellaus des Weinstockes nicht gefehlt; die hervorragendsten Gelehrten, wie Balbiani, Lichtenstein, Dumas, Rösler, Vogt und Andere, haben sich eingehend damit beschäftigt, aber noch sind nicht alle Räthsel gelöst. Man hat es hier mit einem Thiere zu thun, das einer ganz absonderlichen Gruppe angehört, deren Lebensmetamorphosen den Forschern schon vieles Kopfzerbrechen gemacht haben. Was wir über seine Naturgeschichte mit Bestimmtheit wissen, ist das Folgende.

Die Reblaus oder Wurzellaus des Rebstocks, Phylloxera vastatrix (von φύλλον, Blatt und ξηραίνειν vertrocknen) ist eine Blattlausart, deren nächste Verwandte auf den Blättern der Eichbäume (daher der griechische Name) leben, während sie selber ein unterirdisches Dasein an den Wurzeln des Weinstocks führt. Das Insect ist mikroskopisch klein, nur punktgroß, vereinzelt

[81] daher mit unbewaffnetem Auge schwer zu entdecken. Seine Farbe ist gelb. Da immer eine große Zahl von Rebläusen dicht zusammengedrängt sitzt, so sind die dadurch gebildeten gelben Flecken deutliche Merkmale des Vorhandenseins, das dann unter der Loupe leicht zu constatiren ist. Die Vermehrung dieser Insecten geschieht in verschiedener Weise, am meisten durch geschlechtslose, besser vererbte Zeugung. Wie bei den Blattläusen überhaupt, entwickeln sich die Männchen erst kurz vor Winter, als vollkommene Insecten;

Fig. 1.

die Weibchen werden befruchtet und legen dreißig bis vierzig Eier, welchen im Frühjahre nur weibliche, oder geschlechtslose Individuen, sogenannte Ammen, entschlüpfen, die in verschiedenen Generationen, deren man bis zwölf im Laufe eines Sommers annehmen will, fort und fort Eier legen, bis die Befruchtungskeime erschöpft sind. Alsdann verwandeln sich die Ammen in sogenannte Nymphen, und diese in das vollkommene, geflügelte Insect. In welcher ungeheueren Progression die Vermehrung dieser winzigen Verderber vor sich geht, lehrt ein einfaches Rechenexempel. Gesetzten Falles, die Ammen legten jedesmal dreißig Eier, und diese kämen sämmtlich ungefährdet zur Entwickelung, so würde sich in der zwölften Generation die Nachkommenschaft eines Insects auf die ganz unermeßliche Zahl von 17,714,700,000,000,000 Individuen belaufen. Daraus geht aber auch die Gefährlichkeit dieser kaum sichtbaren Wesen hervor. Uebrigens sollen neuere Forschungen dargethan haben, daß auch ungeflügelte Männchen der Phylloxeren auftreten, sowie, daß die Weibchen zu gewisser Zeit ein besonders großes Ei legen, aus welchem dann die fruchtbare Stammmutter einer ganzen Generationsreihe erwächst. Es kann aber keineswegs unsere Aufgabe sein, hier die verschiedenen Ansichten und Beobachtungen der Gelehrten in dieser Sache abzuwägen, oder des Tieferen in die Physiologie des Insectes einzudringen.


Fig. 2.

Die junge, dem Ei entkrochene Phylloxera läuft emsig hin und her, bis sie einen Platz gefunden hat, um sich festzubohren. Sie thut dies zunächst an den zarten Thauwurzeln, hier bohrt sie an geeigneter Stelle mit ihrem Rüssel durch das Zellengewebe und senkt dann ihre vier Saugeröhren ein, um den Saft zu saugen. Von nun an bleiben die Thierchen unbeweglich sitzen, dicht aneinander gedrängt, gleich einem Schuppenpanzer. Die verwundeten Stellen der Wurzeln aber bilden Wülste oder Verdickungen von hellerer Farbe; an ihnen ist das Dasein der Wurzelläuse zunächst mit Bestimmtheit zu erkennen; allmählich gehen sie in Fäulniß über, und das Absterben des Weinstockes beginnt. Diesem selber sieht man im ersten Jahre nicht an, daß zahllose winzige Verderber an seinem Marke zehren. Erst im zweiten oder dritten, je nach dem Grade der Befallung, beginnt er von oben nach unten zu vergilben; die Trauben gelangen nicht zur vollkommenen Ausbildung; die Reben werden dürr, und zuletzt verdorrt der ganze Stock. Bemerkenswerth ist, daß einzelne Rebensorten den Wurzelläusen besser widerstehen, als andere, namentlich die amerikanischen. Denn aus Amerika, wo es schon im Anfange der fünfziger Jahre genau beschrieben worden, ist das Insect, wahrscheinlich mit Wurzelreben der Vitis cordifolia oder Labrusca nach Europa gelangt.

Fig. 3.

Doch hat auch die Ansicht volle Berechtigung, daß es längst einheimisch gewesen, früher aber niemals so massenhaft aufgetreten oder aus Mangel an genügenden Hülfsmitteln nicht entdeckt worden sei. Die Phylloxera verbreitet sich entweder durch die Pfade der Risse und Spalten in festem Erdreiche – im rinnenden Sandboden tritt sie nicht auf oder bleibt unschädlich – oder sie wandelt an der Erdoberfläche von einem Stocke zum andern, endlich als geflügeltes Insect, sei es mittelst eigener oder der Kraft des Windes. Natürlich ist das letztere sprunghafte Wandern, welches allein die sonst räthselhafte Erscheinung von neuen Infectionshorsten inmitten gesunder Weingärten erklärt, das gefährlichste, und müssen in Zukunft die Hauptvorkehrungen gegen die Flügelinsecten gerichtet werden.

Fig. 4.

Freilich ist man trotz aller erdenklichen Anstrengungen, und obgleich sich bedeutende Größen der Wissenschaft die Köpfe gemartert haben, heute noch immer in den Anfängen der Bekämpfung des heimtückischen Feindes. Alle Mittel haben bisher wenig oder nichts geholfen, von den ungereimtesten Abenteuerlichkeiten bis zu den feinst ausspintisirten Theoremen. Hat man doch Weihwasser und das heilige Wasser der Quelle von Lourdes als unfehlbare Gegengifte vorgeschlagen, ebenso wie fast jeden Stoff, der in irgend einer Pharmakopöe enthalten ist. In den zu diesem Zwecke eigens ausersehenen Versuchsweinbergen zu Sorres im Departement Herault hat man allein ein Vierteltausend „ganz sicherer“ Verfahren probirt, sämmtlich ohne den gewünschten Erfolg. Die französische Regierung hat schon im Jahre 1869 einen Preis von 20,000 im Jahre 1874 einen solchen von 300,000 Franken [82] ausgesetzt für ein wirklich erfolgreiches Mittel, und man kann sich denken, welche Menge von Glücksjägern sich darum beworben hat. Allein bis jetzt vergeblich.

Die befriedigendste Wirkung hat bisher das Unterwassersetzen der Weingärten mehrere Wochen hindurch während des Winters gezeigt, es kann jedoch dieses Verfahren begreiflicher Weise nur in der Ebene und dort, wo Wasser vorhanden ist, angewendet werden. Dann hat sich das Umgeben der Rebenwurzeln mit feinem Sande, am besten von der Meeresküste, als erfolgreich bewiesen, aber wie schwierig und kostspielig würde es sein! Starkes Kräftigen der Pflanzen durch entsprechende Düngung und nebenbei Anwendung eines Bodenvergiftungsmittels scheinen bis jetzt unter allen Verfahren den Vorzug zu verdienen; als Vergiftungsstoffe wendet man solche an, deren Dünste sich möglichst weithin im Boden verbreiten, so: Schwefelkohlenstoff, der jedoch neben den Rebläusen leicht auch die Weinstöcke tödtet; schwefelkohlensaures Kali, welches nach Dumas den Reben nicht schaden soll; Steinkohlentheeröl oder Carbolsäure. Gilt es, einen vereinzelten Infectionsherd im Interesse der angrenzenden Weinberge zu vernichten, so müssen die Rebstöcke ausgehauen, sammt Blättern und Wurzeln verbrannt der Boden rigolt, mit Schwefelkohlenstoff behandelt und mindestens ein Jahr lang der Weincultur entzogen werden. Wird er derselben wieder zugeführt, so empfiehlt sich starke Düngung, wohl auch die Anwendung von mit Steinkohlentheeröl imprägnirten Rebpfählen, die sich außerdem durch dreifach längere Dauer als ein Mittel gegen die kostspielige Holzverschwendung empfehlen. In Frankreich will man das Uebel durch Einführung amerikanischer Reben, die demselben am besten widerstehen, bannen, allein diese liefern keinen Chateau Yquem oder Hermitage, keinen Rauenthaler oder Forster, ja nicht einmal einen rheinischen sogenannten Garibaldi oder Flöhpeter. Sie müßten daher durch Pfropfen veredelt werden, was aber dadurch gewonnen wäre, ist nicht recht einzusehen.

Die Abbildungen, welche wir unserem kurzen Berichte mit auf den Weg geben, sind den unübertroffenen Zeichnungen des Professors Dr. Leonhard Rösler in Klosterneuburg nachgebildet, welche bei der entomologischen Ausstellung zu Paris 1874 mit dem ersten Preise, der goldenen Medaille, ausgezeichnet und in dem österreichischen landwirthschaftlichen Wochenblatte veröffentlicht worden sind. Ihre Treue ist zuverlässig. Die erste stellt eine Amme der Phylloxera vastatrix, ein junges Thier drei Tage, nachdem es das Ei verlassen, und die Eier in hundertfacher Vergrößerung dar; in der zweiten Zeichnung ist die Reblaus abgebildet, wie sie ihre Saugeröhren in das Zellengewebe der Wurzel senkt, die dritte giebt das vollkommene, geflügelte Insect wieder und zwar stets in der gleichen Vergrößerung. Die vierte Abbildung endlich stellt in natürlicher Größe die durch die Verletzungen der Schmarotzer entstandenen knolligen Verdickungen (Nodositäten) an den feinen Wurzelausläufern des Weinstocks dar; letztere werden dazu dienen, selbst dem Unerfahrenen auch ohne Loupe und Mikroskop das Erkennen des Auftretens der Phylloxera am Weinstocke zu erleichtern. Bis jetzt ist sie nur an diesem, an Obstbäumen nicht, gefunden worden.

Wie die Angelegenheit gegenwärtig steht, werden sich die Weinbauer vorläufig darein finden müssen, künftig auch trotz oder mit der Wurzellaus den Weinstock zu cultiviren, und nur dahin zu trachten haben, daß sie sich nicht in’s Unendliche vermehre. Die Erfahrung hat gelehrt, daß auch von dem Insecte befallene Reben gute Lesen geben können. Die Analogie ähnlicher Erscheinungen giebt aber den – freilich der Gegenwart unnützen – Trost, daß wahrscheinlich die Geißel der Phylloxera eines Tages verschwinden wird, wie sie gekommen ist. Meteorische Einflüsse werden sicherlich zur Verringerung des Uebels beitragen, und wie es der Intelligenz des Menschen gelungen ist, die schädliche Wirkung des Traubenpilzes, der Kartoffelkrankheit, der Seidenraupenseuche abzuwenden, so wird unzweifelhaft die Wissenschaft im Bunde mit der Praxis siegen über die neuen winzigen Verderber.

W. H.


Karlsbad im Schnee.
Ein Wintermärchen aus dem Böhmerwald.

Die Badenymphe hat längst ihre glänzende Toilette abgelegt und das bequeme Hauskleid angezogen. Und sie sieht darin ganz putzig und reizend aus, wie sie, die Hände müde in den Schooß gelegt, sinnenden Blickes der kaum verflossenen Zeit nachträumt, dem Gesumme und Gekicher in allen lebenden Sprachen, den rauschenden Festen, dem Frou-Frou der schönsten Frauen, dem süßen Geflüster unter dem verschwiegenen grünen Dache der großen Kastanienbäume, den Unterleib-Elegien melancholischer Hämorrhoidarier und nierensteinreicher polnischer Juden, begleitet von fröhlich lockender Labitzkischer Musik.

Seit Monden liegt Karlsbad unter weißer Decke – still und selbstbeschaulich. Trotz der Bahn rauscht der große Strom des Lebens weit von hier ab; kaum daß eine leichte Welle das Thal bespült. Der Winter herrscht mit rauher Hand. Schnee auf allen Höhen; Schnee in allen Straßen. Der eingeschneite tannenduftige Christbaumwald steht wie verzuckert da oben; über ihm blaut der Himmel mit blendend weißen Wolken; die niedlichen Häuschen der sich amphitheatralisch aufbauenden Stadt sehen verwundert aus ihren grünen Jalousienaugen drein; die Teyl schlingt sich wie ein weißglänzendes Atlasband durch die winterliche Landschaft. Sie ist fest zugefroren; auf ihrem Rücken schwingt sich die Jugend in fröhlichem Reigen, aber gegen den Markt zu wird das Eis immer dünner, und plötzlich durchbrechen es heiße Fluthen, die zischend, brodelnd und dampfend hoch hinaufsteigen.

Aber der Sprudel macht setzt sein altes Kunststück vor einem Parterre von Köchinnen, die muthwillig den alten Herrn an seinem weißen Barte zupfen und ihn zur häuslichen Arbeit zwingen, um die Hühner, Gänse und Enten zu entfedern.

Die Quellen ergießen sich rastlos, aber die Brunnen-Colonnaden sind geschlossen. Die meisten Hôtels, die Restaurants feiern. Die Aerzte haben ihre Winterquartiere bezogen, die Mitglieder der Labitzkischen Kapelle sich in alle Windesrichtungen zerstreut. Die Hausthore, die Verkaufsläden sind gesperrt. Das Curhaus feiert, nur in einem matt erleuchteten Eckzimmer servirt der „Brezelbub“; die Brunnen- und Cafémädchen machen große Toilette; die Fremdenführer fahren jetzt Sand und Ziegel zu den Bauten, und Mancher, der in der Saison mit der Sammelbüchse herumging, hängt jetzt die Flinte auf die Schulter, steigt den Wald hinauf, aus dem jeden Augenblick in die idyllische Ruhe des Thales ein Schuß hinabrollt, welchen das Echo der Berge vertausendfältigt.

Die „alte Wiese“, der Tummelplatz der Gesellschaft in der Saison, ist jetzt am verödetsten. Die Kastanienbäume ringen ihre dürren Arme über die nun geschlossenen Boutiken; die Kaffeehäuser sind leer. Der „Elephant“ sieht mürrisch drein wie ein alter maroder Menagerie-Geselle, der vor einem Pfennig-Publicum seine Künste machen soll; die Veranda des Hammerschmied’schen Etablissements ist mit Brettern verschlagen, und nur der weit ausschauende Name „Salle de Saxe“ zeugt von verschwundener Pracht. Die Fremdenzimmer sind geschlossen, die Kaufläden im Erdgeschoß rasch zu Wohnungen umgewandelt worden. Zwischen den wohlverschlossenen Doppelfenstern hängen süße Trauben; auf dem grünen Moose unten liegen weich gebettet die rothwangigen Aepfel; ein hübsches Kind blättert in der „Gartenlaube“, während die Mutter sich den Tisch am Kachelofen zurecht gerückt und in das Studium ihres Einnahmebuches vertieft hat; sie knüpft an die Namen der Miether biographisch-finanzielle Commentare von weittragender Bedeutung für das Erträgniß des Hauses. Die Linnen werden ausgebessert, zerrissene Vorhänge kunstgerecht vernäht. Man arbeitet und schwatzt, glossirt die Fremden, bespricht den letzten Ball und die Toiletten für den nächsten. Aber das Sehnen manch schönen Kindes flattert über die Berge hinüber, und wenn es den Leinlaken jetzt kunstgerecht stopft, gedenkt es dessen, der darauf mit dem lieben blonden Haupt geruht, der mit ihm so süß gesprochen – rasch zerdrückt es dann die heiße Thräne [83] im Auge, springt auf, wirft die Kapuze um und huscht eilig zur Post. – Und wieder kein Brief!

„Und die Marie wird von Tag zu Tag blässer, und im Frühjahr muß sie 'Franzensbader Eisenquelle' trinken,“ sagen Mutter und Muhmen.

Die Anwesenheit so vieler Fremden aus den höchsten und gebildetsten Ständen, aus fremden Landen, die romantische Beleuchtung, die sie durch die fremde Sprache und galante Lebensweise gewinnen, üben einen poetischen Reiz auf das empfängliche Mädchengemüth. Was Wunder, daß man in Karlsbad hineinfährt, wie in eine Lebenschronik: bleiche Novellen schleichen, tragisch angehauchte Balladen schlottern, heiße Romanzen eilen hinter den jüngsten Mädchen und den Matronen einher.

Am Markplatz geht es noch am lebhaftesten zu. Hier ist das Postamt, die altberühmte hundertjährige Apotheke Becher's und das Capitol. Karl der Vierte, der „Gründer Karlsbads“, steht, aus rohem Sandstein gemeißelt, da und reibt sich den Theil, mit dem man gemeinhin dem Photographen nicht sitzt, an dem städtischen Rathhaus. Hier thront der Bürgermeister, der Erfinder der draconischen Curtaxe, die auch Nicht-Curgäste einschließt. Die Sitzungen dieses Senats gehören zu den beliebtesten, leider durch Raummangel beschränkten Volksbelustigungen. Schade, daß sie der Stadt so theuer zu stehen kommen, denn es schlägt in ihnen eine viel kräftigere, humoristischere Volksblutader als in dem „Ziogel-Bürgermeister und Sandauer Dosenstück“, welches, von einem Einheimischen gedichtet, in dem renommirtesten Dilettantentheater Cassastück wurde. Dieses Dilettantentheater führt den poetischen Namen „Flohburg“, weil es während der Saison zur Aufbewahrung der polnischen Juden dient. Das städtische Theater ist im Winter meist geschlossen, da man den Stadtverordneten-Sitzungen nicht Concurrenz machen will.

Ich wandle durch die Mühlbad-, Kreuz- und Egerstraße; hier wird ein neues Haus gebaut, da ein altes ausgeflickt, dort ein drittes Stockwerk aufgesetzt und eine Remise in ein lohnenderes Etablissement umgewandelt. Man arbeitet rasch und mit Hast, denn nur bis zur Eröffnung der Saison – am 1. Mai – darf gebaut werden. Da heißt es: sich sputen, hurtig zur Hand sein, den ersten Sonnenstrahl erwischen und den letzten noch ausnutzen, den Gulden nicht sparen und mit den Arbeitern fein säuberlich umgehen. Nur die städtischen Bauten schreiten bedächtig im behäbigen Bürgerwehrtrab vorwärts, und die Mühlbadcolonnade, obgleich sie im Kegelbahnstile angelegt ist, wird doch den berühmtesten gothischen Bauwerken, den Domen, gleichen – gleich diesen wird sie niemals ausgebaut sein.

Ein Freund begleitet mich in den Wald hinaus. Anfangs haben wir noch Pfad, bald aber ist der Weg von Laub, Schnee, Tannenzapfen und Geröll bedeckt. Hier und da sind die breiten Fußstapfen eines Holzschlägers sichtbar. Einsamkeit und Stille herrscht; nur ein Hase huscht vorüber; ein Eichkätzchen klettert behend den Baum hinauf. Ueberall Frieden – eine Sabbathruhe der Natur. Das Thier, verwundet, flüchtet in's tiefste Waldesdunkel und klagt sein Leid den alten Bäumen – und auch der Mensch, mit der Wunde im Herzen und dem Grame in der Seele steigt er hinauf und findet im Walde Trost, Ruhe und Erleichterung. Denn der Wald ist die grüne Kirche, die der Schöpfer da oben aufgebaut hat. Durch die Aeste bricht goldiger Schein, und als ewige Ampel ist die Sonne da oben aufgehängt. Erhebender als Orgelklang tönt der Blätter Rauschen, und Baumpredigt erhebt mehr als des Pfaffen Litanei. Der würzige Harzgeruch duftet andächtiger als der Weihrauch, und der beste Betschemel ist uns der von weichem Moossammet überkleidete Fels.

Die alten Tannen erzählen sich jetzt ihre Erlebnisse; sie plaudern wundersame Dinge und lächeln über das windige Treiben der kleinen Leute, die in ihrem Schatten gewandelt. Sie flüstern von Liebesschwüren, die hier heiß aufgelodert und so rasch verglüht sind, von Seufzern, die hier geschluchzt und so rasch verklungen sind, von Eiden und großen Worten, die hier für die Ewigkeit gesprochen und dann so rasch gebrochen wurden. Und eine alte Eiche, die in ihrer Brust ein Muttergottesbildchen trägt, weiß noch von den alten Schöppengerichten zu erzählen, und lächelt in den weißen Bart hinein über dermaligen Karlsbader Senat.

Ein gewaltiger Stein, der sich abgelöst, legt sich über den Weg, und aus seiner Schneehülle glänzt es goldig heraus. Als ich ihn überschreiten will, was seh ich? – Verse! veritable gereimte Verse „von Einem, der hoffnungslos hierher kam und geheilt heimzog“, und der sich darob verpflichtet fand, Jenen, die nach ihm kommen, das grüne Banner der Hoffnung aufzustecken, in Jamben Kunde zu geben von den Quellen, die er trank, und den Offenbarungen, die er hatte, oder in Trochäen zu warnen vor des rohen Obstes leicht gefährlichem Genusse und des Sprudelsatzes lösender Macht. Und so werden selbst Commerzienräthe zu Poeten und treiben mit dem Metrum Spott. Er aber, der hier Gesetztafeln für das Leben gab und seine Fastenpredigt in Stein grub, er sitzt wieder daheim, der unverbesserliche Alte, schwärmerisch blickt er auf den Citronentropfen im zuckenden Austerleibe, wie der verliebte Jüngling auf die Thauthränen im Blumenauge, und die Rechte, die noch kürzlich krampfhaft den Sprudelbecher umfaßte, füllt jetzt toastend das Champagnerglas.

Immer höher hinan. Da öffnet sich der Weg zum Hirschensprung. Wer Alles ist diesen Weg vor mir schon gewandelt! Was für Gestalten tauchen da nicht auf, blicken aus dem Busche und treten hinter den Tannen hervor! Auf den Arm des Oesterreicher Herzogs Ferdinand stützt sich seine holde Gattin, die blonde Welserin; an diesem Felsen ruht August der Starke zu den Füßen der schönen Aurora; Gellert, der 1763 auf seinem famosen Schimmel hergeritten kam, den ihm Prinz Heinrich von Preußen schenkte, schreitet fürbaß an der Seite seines unzertrennlichen Sprudel-Zechkumpans, des kleinen hageren Laudon; Schiller reitet nach Frauenart auf seinem Esel, die kurze Tabakspfeife im Munde, den Berg hinan – zu seiner Seite schreitet sein junges Weib; Theodor Körner dichtet hier seine schönsten und namhaftesten Schwertlieder, umrankt mit seiner Poesie die hohen Buchen, um bald darauf bei Gadebusch sein junges Leben auszuhauchen; Goethe, Karlsbads treuester Stammgast, wandelt mit der Fürstin Pankrazin, mit Schiller, Tiedge und dessen edler Freundin Frau von der Recke, während des Congresses als Staatsminister mit all den hohen Herren und geriebenen Diplomaten; Bettina klagt ihn hier im Schatten dieser Buchen bitter an, wie sehr er sie vernachlässige, und läßt in der grünen Waldeinsamkeit ihre Thränen fließen, und er selbst, als siebenundsiebzigjähriger Greis fühlt er noch einmal die Liebe an sein nie alterndes Herz pochen und bietet in verschwiegener Waldeinsamkeit seine Hand einem siebzehnjährigen rosigen Kinde an; der alte Blücher macht hier seine Verdauungspromenade, nachdem er unter kernigen Flüchen, daß „ihm, dem Todfeind aller Wasser, solch dumme Geschichte passiren muß“, ein halb Dutzend Becher Neubrunn getrunken hat.

Während des Congresses wandeln da Fürst Metternich, Winzingerode und Hardenberg und berathen, wie die Welt wieder einzurichten sei; der geistreich-witzige Prince de Ligne führt die Prinzessin Biron hinan und wirft ein köstliches Bonmot der hinter ihm am Arme Schwarzenberg's schreitenden Herzogin von Sagan zu, deren rosige Finger manch zarten diplomatischen Faden weiter spinnen, während Gentz sich Appetit holt für die leckere Tafel des Fürsten Esterhazy und mit Grafen Bernstorff und Adam Müller sich inspirirt für die Abfassung der Artikel, betreffend die „Maßregeln gegen die Presse“; Chateaubriand geleitet die Herzogin von Angoulême, zu deren Besuche er von Teplitz (wo Karl der Zehnte die Bäder gebraucht) herübergekommen ist, und schneidet seinen Namen und ein großes Kreuz mit mächtiger Hand in die alte Linde, welche das steinerne Kreuz am Hirschensprung überschattet. Die reizende Comtesse O..., deren Geliebter mit seinem Blute die Schlachtfelder Polens färbte und jetzt in den Eisgefilden Sibiriens friert, erkauft hier in den heißen Armen des allmächtigen Günstlings, des russischen Fürsten M., seine Rückkehr, um dann, sobald er Kenntniß von dem Geschäfte hat, mit ihren eigenen seidenen, blonden Zöpfen von dem Geretteten erwürgt zu werden. Und jetzt bricht hinter dem Baume ein stämmiger Geselle mit energischen Zügen im Zwilchkittel hervor; ein verwitterter mächtiger Calabreser stülpt sich auf sein Haupt; er führt in der Rechten einen Knittel, in der Linken Gervinus' „Einleitung zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ – das ist Herr von Bismarck Anno 1865 in Karlsbad.

Doch steigen wir in's Thal hinab. Es ist Sonntag. Die Feuer am häuslichen Herde sind bereits erloschen; der Mittagstisch ist vorüber, die Straße bis zur Wiese hinauf belebt. [84] Die Väter schreiten steif und gravitätisch an der Seite ihrer herausgeputzten besseren Ehehälften einher, die Meerschaumpfeife im Munde, das große spanische Rohr in der Hand; daneben, dazwischen und vorüber das junge Volk; die jungen Mädchen, deren Kleid noch nicht das Pflaster streift, aber doch nur den feinen Knöchel sehen läßt, sperren die Gasse; sie kichern laut, moquiren sich über den Lehrer, flüstern sich prickelnde Schulnovellen zu und parodiren die älteren Schwestern, welche im vertraulichen Flüstern zu Zweien oder schmachtend am Arme des Galans einherziehen. Und heute giebt es gar viel zu erzählen, viel zu bekennen, viel zu bereuen. Die Gesichter sehen auch etwas übernächtig drein, denn gestern war großer Ball. Und was für ein Ball! Als ich den großen Saal des Curhauses betrat, rieb ich mir verwundert die Augen. Ist's Traum, ist's Wirklichkeit? Wieder flammten die Kerzen; wieder rauschten die verlockenden, berückenden Walzerrhythmen; wieder hüpften die kosenden Polkatöne, aber diesmal lustiger, strammer, pulsirender, frischer, als während der Saison, wo aus curgemäßen Gründen alle Töne gedämpft sind; wieder sah ich diese Toiletten, die im Sommer Furore gemacht, von dem schilfgrünen Kleide, welches die Nixengestalt der blonden Fee aus England umfloß, bis zum Feigenblatt der Wiener Gräfin, aber jetzt von rothbackigen, lebenslustigen, festbusigen Mädchengestalten getragen; denn Alles, was im Sommer Aufsehen macht, der kühnste Mantelwurf, die bizarrste Robe, die buntfarbigste Mantille, das längste Schleppkleid, das koketteste Hütchen und die wild romantische und grotesk-komische Frisur, all dies findet im Karlsbader Winter seine Doppelgänger und Copieen. Sie stehen freilich zum Original, wie der Bürstenabzug zum fertigen Druck, wie die Negative zum eigentlichen Bild, aber „sie sind“. Man macht gar außerordentliche Toilette. Und just die, welche während des Sommers die arbeitsamsten, die bescheidensten, die entsagendsten sind: die Brunnenmädchen, welche schon um sechs Uhr Morgens dem polnischen Juden mit den fettglänzenden Locken und der Marquise mit dem eleganten Rock den genesungsbrauenden Trank schöpfen, die Kaffeeheben, die diversen Fanny's, Anna's, Marie's, welche die „Verkehrten“, „Rechten“ credenzen und mit Grazie ihre sechs Kreuzer „Trinkgeld“ einstreichen: sie sind jetzt Allen voran. Man weiß wahrlich nicht, was mehr zu bewundern ist, wie sparsam diese Mädchen oder wie billig diese theuren Toiletten sind.

Sobald aber die ersten warmen Strahlen in's Thal fallen, findet der lange Winterfeiertag sein Ende. Die Tage werden länger, die Bierabende kürzer. Die Winterquartiere werden abgebrochen, die Parterre-Wohnungen geräumt und wieder zu Verkaufsläden herausstaffirt; mit Kind und Kegel schachtelt man sich in die letzten Räumlichkeiten ein. Die Wege werden wieder urbar gemacht, die Ruhebänke und die in Form von Tonnen freundlich winkenden Einsiedeleien in den Wäldern gepflanzt. Die Kastanienbäume der alten Wiese werden reglementsmäßig beschnitten, der Christus am Kreuzberge frisch lackirt; der heilige Nepomuk erhält ein neues Gewand, und unter den Eseln und Brunnenmädchen wird fürchterliche Musterung gehalten; die Colonnaden werden in Stand gesetzt, die städtischen Spritzen „behördlich geprüft“.

Da ist jetzt ein fortwährendes Hämmern, Sägen, Feilen, Rasseln, Hobeln; zwischen durch tönen süße Rossinische Musik, Straußische Walzerrhythmen und Wagner'sche Keulenschläge aus dem großen Saale des Curhauses, wo jetzt Labitzki von früh bis spät seine Mannschaft einexercirt. An die Bauten wird die letzte Feile gelegt; die verschiedenen Raphaels, Michel Angelos und Corregios pinseln und tünchen in ihren Ateliers auf offener Straße hier ein Haus, dort eine Schildertafel, und wie von den Küsten Spaniens der Duft der Orange dem Landenden schon von Weitem entgegenweht, so begrüßt jetzt der Firnißgestank den Ankommenden bereits am Bahnhofe. Die Badewirthe ziehen jetzt die Herrenröcke aus, und manch stolzer Senator, der in den Herbsttagen seinem Clärchen versprach, im Frühling „spanisch zu kommen“, drischt jetzt eigenhändig mit dem Rohre aus dem Lande der Hesperiden seine verstaubten Möbel aus. Die Hôtel-Omnibuse werden aus der Remise geholt; der Doctorenwagen wird frisch lackirt; die für die Saison bestimmten Beamten der Post und des Telegraphen treffen ein. Die Aerzte sind bereits wieder vollzählig; die Placate, welche freundlich melden: hier ist Wohnung zu vermiethen, bedecken in allen nur erdenklichen Formaten, in allen Farben und in allen Sprachen die Stadt. Der häusliche Krieg wird beigelegt angesichts des gemeinsamen patriotischen Kampfes gegen den Fremden; das Heirathen, Sterben und Schuldenzahlen wird auf den Herbst verschoben. Der Gemeinderath giebt heute seine letzte große Vorstellung, denn morgen ist der erste Mai, die feierliche Eröffnung der Saison.

Aus dem Aschenbrödel ist wieder die festgeschmückte Schöne geworden. Die Bade-Nymphe erscheint in glänzender Festtoilette; die Bauten sind eingestellt, die Hämmerschläge verstummt; die Forellen plätschern in den Speisekarten; es grünt und blüht, und die Stadt leuchtet vor Nettigkeit.

Es ist der erste Mai, der große Tag der Brunnenweihe, der Eröffnung der Saison. Diese Feier ist aber eine mehr innerliche als äußere und nur wenig prunkhaft. Während einst die attischen Brunnen mit Veilchen umrahmt wurden, holde Jungfrauen duftige Kränze in die eurymenische Quelle in Thessalien warfen, Petrarca von den Frauen Kölns zu erzählen weiß, wie sie blumenumgürtet zum Rheine ziehen, in Sicilien Nymphenfeste mit bacchischen Tänzen aufgeführt wurden: beschränkt sich die Brunnenweihe der Karlsbader Quellen, gleich der aller übrigen böhmischen, auf die schwarzbefrackte Anwesenheit der jüngsten noch ungeweihten Quellenpriester – die alten haben es, Gott sei Dank! nicht mehr nöthig – unter Vortragung des hochwürdigen Bürgermeisters und Hinzutritt einiger reizenden Brunnenmädchen, welche aus „curgemäßen Rücksichten“ in den böhmischen Badeorten von Matronen dargestellt werden.

Ist die Quelle mit dem saisonmäßigen grünen Gemüse bekränzt und sind die feierlichen Worte gesprochen, so erdröhnen die Salven der Bürgerwehr; die Glocken läuten – die Saison ist eröffnet, das heißt, Jeder, ohne Unterschied des Alters, der Nationalität und der Confession muß von jetzt an die Curtaxe zahlen.

Julius Walter.




Vor dem Hause der Louise Lateau.


„Herrgott, wie geht man mit Deiner Menschheit um!“ So werden Tausende hier, vor dem Hause der Louise Lateau, dem Landmädchen mit den blutenden Wundenmaalen des Gekreuzigten in dem Dorfe Bois d'Haine, von Zorn und Trauer erfüllt, mit uns ausrufen, während tausend Andere theils in der Blindheit eines Wunderglaubens hier eine neue Gewähr ihrer Seligkeit suchen, theils im stillen Triumphe einen neuen Sieg der Priestermacht über deren Widersacher ausbeuten, und wiederum Tausende bald in Hohn und Spott ausbrechen über jedes religiöse Gefühl, bald mit kalter Verachtung oder lächelnder Gleichgültigkeit an der ganzen Bewegung auf dem gefährlichen Kampffelde der Gegenwart vorübergehen.

Die Bewegung ist da, und die Zeit ist vorbei, wo die stolze Aufklärung in hochschwebendem Selbstgefühle auf solche Zeugnisse noch immer herrschender Finsternis hinabsehen konnte, wie auf unschädlich Vorübergehendes; die Zeit ist vorbei, wo eine vornehme Duldung geübt werden durfte gegen die Umtriebe frommer List und selbstsüchtiger Heiligkeit. Es ist kein gesellschaftliches Flüstern und kein Zeitungsgeplänkel mehr, das neben interessanten Principiendebatten die Harmlosigkeiten des persönlichen Verkehrs nicht beeinträchtigt. Nein, die Kriegserklärung ist laut verkündet; die Parteien stehen in festen Lagern; der Kampf tobt in der ganzen Schlachtlinie, und der Haß heißt jede Kriegslist willkommen.

Ein solche Kriegslist im Kampfe der Ultramontanen gegen den Staat und die Cultur der Gegenwart und vor Allem gegen den gefürchtetsten Gegner der Priestergewalt des Unfehlbaren, das deutsche Reich und den deutschen Geist, ist auch dieses Mädchen von Bois d'Haine mit ihren blutenden Wundenmaalen, und gegen die Glorie dieses gefeierten Wahns giebt es keine

[85]

Vor dem Hause der Louise Lateau in Bois d’Haine.
Für die Gartenlaube nach der Natur aufgenommen von L. v. Elliot.

[86] schlimmeren Waffen, als Spott und Hohn. Die Verletzungen durch sie vermindern die Zahl der fanatisirten Gegner nicht um einen Mann, aber sie verschärfen die Erbitterung und wandeln immer mehr den Kampf in einen Krieg mit vergifteten Waffen um. Nur ein Mittel giebt es, um nach und nach auch dieser Kriegslist ihre Gefährlichkeit zu nehmen: man beweise die Unmöglichkeit des gefeierten Wunders! Und wenn solch ein Beweis noch so vereinzelte Erfolge gewinnt, er dringt doch vorwärts, der unaufhaltsam rinnende Tropfen Wahrheit muß endlich den Granit des Aber- und Wahnglaubens besiegen, wenn man nicht am stetigen Fortschritte des Menschengeschlechts verzweifeln soll.

Wir haben, von diesem Standpunkte aus, mit Freude die Flugschrift des Spitalarztes Dr. B. Johnen in Düren begrüßt, die sich's zur Aufgabe gestellt, auf ruhigem, wissenschaftlichem Wege die bekannten und einflußreichsten Berichte der Professoren Lefebvre und Rohling und unseres deutschen Reichstags-Ultramontanen Majunke in ihrer Haltlosigkeit darzulegen und das Wunder als Täuschung zu entlarven. Um dieser ehrlichen und würdigen Kampfesweise womöglich noch durch eine authentische Illustration zu Hülfe zu kommen, beauftragte die „Gartenlaube“ einen belgischen Künstler, Herrn L. von Elliot, den Schauplatz und die Hauptpersonen des stigmatischen Wunderspiels zu zeichnen. Trotz anscheinlich genügender Empfehlungen fand derselbe jedoch keinen Zutritt zu dem trefflich bewachten Geheimniß; in Ermangelung eines Einblicks in das Innere des Stigmatisationshauses bietet er uns den Anblick des Aeußern, und zwar wie es vor dem Hause an dem Freitage, an welchem er die Wallfahrt zu dem Wunder gewagt, Nachmittags um zwei Uhr ausgesehen und hergegangen.

Wir sehen auf den ersten Blick auf unsere Abbildung, daß die geistliche Vertretung hier nichts zu wünschen übrig läßt. Dieses Haus bildet einen Hinterhalt im Glaubenskampfe, dem eine tüchtige Besatzung nicht fehlen darf. Wir sehen aber auch, mit welcher Strenge die äußerste Vorsicht hier geübt wird. So hoch nämlich schätzt man den Werth des so glücklich blühenden Wunders, daß der Zutritt zu Louise Lateau Niemandem gestattet ist, der nicht eine bischöfliche Erlaubnis dazu mit zur Stelle bringt. Unser Bild deutet an, daß soeben eine offenbar nicht gewöhnliche Gesellschaft mit Geschirr angekommen ist, aber ebenso deutlich erscheint die abweisende Handbewegung des priesterlichen Wachtpostens: „Ohne Schein – nicht hinein!“ Die übrigen Gruppen erklären sich selbst. Uebrigens entzieht sich die Lateau dem Auge der Oeffentlichkeit nicht ganz: sie besucht jeden Morgen die Messe in der Dorfkirche, um die geweihte Oblate zu genießen, in welcher angeblich ihre einzige Nahrung bestehen soll. Am Schlusse des Gottesdienstes eilt sie jedoch im raschesten Laufe ihrem Hause wieder zu.

Wenn auch unserm Künstler der Zutritt zur Wunderperson selbst versagt war, so ist dies trotz der priesterlichen Wachsamkeit durch einen andern, und zwar sehr scharfen Beobachter gelungen, dessen Bericht hierüber in der „Magdeburger Zeitung“ wir das hier Nothwendigste entnehmen. Bekanntlich besteht die Stigmatisation darin, daß der Leib eines Menschen sämmtliche Wundenmaale (griechisch Stigmata) zeigt, welche Christus bei der Geißelung, Kreuztragung und Kreuzigung erhalten, und daß diese Wunden zu bestimmten Zeiten, namentlich an jedem Freitage und hohen Festtage, bluten.

Treten wir nun mit Herrn M. L. in das Zimmer der „Heiligen“, wie sie bereits vom Volke genannt wird. Es ist sehr klein und einfach, jedoch nicht ohne Geschmack eingerichtet. An der Langwand steht ein Bett, die Lagerstätte der „Gottbegnadigten“. In der der Thür entgegengesetzten Mauer befindet sich ein Fenster, das einzige des ganzen Kämmerchens. Durch dasselbe fällt das Licht nur spärlich herein, weshalb auch sogar im Sommer eine Art Halbdunkel in dem engen, niedrigen Raume herrscht.

Louise Lateau sitzt auf einem Sessel und nimmt, da sie in Ekstase ist, von unserem Eintreten gar keine Notiz. Sie zählt jetzt etwa vierundzwanzig Jahre, sieht aber viel jünger aus, zumal ihre Figur nur mittelgroß ist. Die etwas coquett frisirten Haare sind blond; das Gesicht macht auf den Beschauer keinen unangenehmen Eindruck, wenngleich die früher von Geistlichen gemachten Schilderungen über die „wunderbare, engelgleiche Schönheit“ der Stigmatisirten stark übertrieben sind. Die Züge sind weniger als schön, denn als interessant zu bezeichnen; der Mund ist außergewöhnlich klein; die Lippen sind roth und schwellend. Wenn letztere sich öffnen, was während der Ekstase mehrfach geschieht, zeigen sich sorgfältig gepflegte, schneeweiße Zähne. Die großen, blauen Augen verrathen einen bedeutenden Grad von Intelligenz; die langen Wimpern geben der ganzen Physiognomie einen etwas träumerischen Anstrich. Die Taille Louisens ist sehr schlank und wird durch den Schnitt des Kleides vortheilhaft hervorgehoben. Letzteres harmonirt auch in Beziehung auf die Farbe mit der ganzen Gestalt und Rolle Louisens. Im Allgemeinen läßt sich sagen, daß sie von der Natur mit einem im Vergleiche zu ihrer Umgebung ungewöhnlichen Maße von körperlichen Vorzügen ausgestattet ist.

Wie bereits erwähnt, sitzt Louise während des Anfangs der Ekstase auf einem Sessel, und zwar hält sie sich völlig unbeweglich, als wenn sie aus Stein ausgehauen wäre. Das Gesicht ist nach oben gerichtet. Die Augen sind weit aufgerissen und starren auf einen Punkt, wie es schien, in eine Ecke des Plafonds. Von den Umstehenden erfahren wir, daß dieser Zustand längere Zeit andauern werde; wir haben daher noch Muße, uns die Stigmata anzusehen.

Durch eine anscheinend unwillkürliche Bewegung verschob sich das Tuch, welches um die auf dem Schooße liegenden schneeweißen, ungewöhnlich kleinen Hände gewickelt war, und ermöglichte den das ganze Zimmer anfüllenden Besuchern die Betrachtung der betreffenden Wundenmaale. Die übrigen Wunden, ausgenommen die Kopfwunden, entziehen sich natürlich der Beobachtung des Publicums. Letzteres, welches Blut, recht viel Blut zu sehen gekommen ist, kann solches in reichlichem Maße an der Bettwäsche, dem Sessel und auf dem Boden des Zimmers wahrnehmen. Zur Vermehrung des Effectes ist auch blutige Leinwand den Blicken der Neugierigen ausgestellt.

Auf der Außenfläche der linken Hand bemerken wir ein etwa drei Centimeter langes und zwei Centimeter breites Oval, das anscheinend die Quelle des den größten Theil der Handfläche bedeckenden Blutes ist. Etwas kleiner ist das auf der inneren Handfläche liegende Stigma. Auch aus der rechten Hand kommt Blut, jedoch in ganz unbedeutender Menge. Noch geringer ist die Blutung aus den Kopfwundenmaalen. Diese befinden sich auf der Stirn und rings um den Kopf herum. An den mit Haaren bewachsenen Stellen ist außer einigen trockenen Blutkrusten nichts bemerkbar. An der Stirn nimmt man einige halbvertrocknete Blutstropfen wahr. Im weiteren Verlaufe der Ekstase wird die Stellung verändert, und diese Tropfen beginnen, so weit sie inzwischen noch nicht vertrocknet sind, nach dem Gesetz der Schwere abwärts zu fließen und nehmen ihren Weg über Wangen und Hals herab. Herr M. L. wollte einige Tropfen Blutes auffangen, um nachher sie einer mikroskopischen Untersuchung unterziehen zu lassen; seine Bitte wurde ihm jedoch rundweg abgeschlagen. Uebrigens geben die Kopfstigmata dem Gesichte der Ekstatischen einen widerlichen Ausdruck: man glaubt ein mit Opferblut beschmiertes Götzenbild vor sich zu haben. –

Während der Ekstase betrachtet die Stigmatisirte die Lebensgeschichte Christi. Den heiteren oder düsteren Momenten derselben entsprechend, wechseln Physiognomie und Stellung. Bald sieht man sie lächeln, bald weinen; jetzt ist sie heiter, jetzt wieder ernst. Daß der Körper übrigens nicht unempfindlich sei, bewies auf ganz einfache Weise eine freche Fliege; als diese plötzlich am Auge Louisens vorbei summte, zuckte sie kaum merklich zusammen.

Allmählich begann sich die ganze Gestalt zu beleben; sie drehte sich nach rechts und links; plötzlich erhob sie sich und beugte sich vorwärts, als ob sie ein uns anderen Sterblichen unsichtbares Etwas haschen wollte. Jede Bewegung, jeder Seufzer, jeder Auf- und Niederschlag der Augen zeigt, daß sie in nicht geringem Grade ihre Mienen und Geberden zu beherrschen und mit Hülfe derselben auf die anwesenden Gläubigen jeden gewünschten Eindruck hervorzubringen weiß, mit Einem Worte, daß an ihr eine Schauspielerin verloren gegangen ist.

Endlich setzte sie sich wieder mit einem gewissen theatralischen Anstand. Einige der Herren zogen die Uhr; der Haupteffect sollte jetzt zur Darstellung kommen: der Fall auf die Erde. Die Ekstatische erhob sich schnell, stand einen Moment gerade und warf sich der Länge nach auf den Boden und zwar so, daß der Rücken nach oben schaute. Dabei versäumte sie nicht, beim [87] Niederfallen dem Kleide einen solchen Schwung zu geben, daß es sich in malerische Falten legte und von den Füßen nichts sehen ließ, als die verhüllten Spitzen. Der von gewisser Seite als unnachahmlich geschilderte „Fall“ ging übrigens in ganz einfacher Weise vor sich. Zuerst ließ Louise sich auf die Kniee, dann auf die Ellenbogen und Hände nieder und lag dann mit einem Rucke auf dem Bauche. Alles dies ging so gewandt und schnell vor sich – man erinnert sich, daß seit sechs Jahren an jedem Freitag sich die gleiche Scene wiederholt –, daß man mit den Augen kaum zu folgen vermochte. Die Füße waren lang ausgestreckt, ebenso der linke Arm, auf welchen sich der Kopf stützte. Die Augen waren geschlossen; der Athem kam keuchend zwischen den halb geöffneten Lippen hervor; das Gesicht gab sich Mühe, die größte Todesangst auszudrücken.

Unterdeß war es drei Uhr geworden. Einige der Anwesenden theilten sich dies flüsternd mit. Auf einmal machte Louise eine Bewegung. Sie lag jetzt so auf der Erde, als wäre sie an ein Kreuz festgenagelt. Die ausgesteckten Arme standen in rechtem Winkel vom Körper ab; die Hände lagen flach auf der Erde; die Beine waren gekreuzt und die Füße lagen so auf einander, daß der Rücken des rechten auf der untern Fläche des linken Fußes ruhte. In dieser Stellung blieb sie längere Zeit unbeweglich liegen.

Auf den unbefangenen Zuschauer machte die ganze Scene einen unbeschreiblich widrigen und peinlichen Eindruck. Man denke sich das mit Blut beschmutzte Kleid und Gesicht des Mädchens, die zusammengeklebten Haare, ferner die unästhetischen Stellungen und die verschiedenen oben geschilderten Manipulationen. Vervollständigt man noch das Bild, indem man sich ein halbes Dutzend Geistliche, einige dito ältliche Damen aus allen Ständen und einige wallfahrtende Laien vorstellt, welche alle das Wunder anstarren und voll Ehrfurcht jede Bewegung der „Heiligen“ mit einer Aufmerksamkeit verfolgen, die einer bessern Sache würdig wäre, so kann man sich einen annähernden Begriff von dem jeden Freitag in Bois d'Haine sich abwickelnden Schauspiele machen.

Hier schließen wir die Mittheilungen des Herrn M. L über die Lateau, und nun möge Dr. Johnen die Führerschaft der Leser durch das Labyrinth der Untersuchungen der als Wunder verehrten Täuschung übernehmen. Wir können ihm natürlich nur zu den wichtigsten Sätzen folgen, indem wir sein Schriftchen selbst der Theilnahme, die es bereits gefunden (dritte Auflage, Köln und Leipzig, E. H. Mayer), in immer weiteren Kreisen empfehlen. Es ist nicht ohne Bedeutung für die Wirkung der Johnen'schen Schrift, daß ihr Verfasser selbst Katholik ist. „Der katholischen Religion von Herzen ergeben,“ sagt er, „habe ich die Ueberzeugung, daß nur die Wahrheit, welche sie auch sei, in dieser Angelegenheit der Kirche Nutzen bringen kann. Es bedarf keines Beweises, daß hier, wie überall, eine recht baldige Erkenntniß der Wahrheit, und, wenn diese gegen die Sache spricht, ein offenes Geständniß das Beste sein wird.“

Nach Johnen's Ansicht ist ein Besuch im Hause des Wunders zur Aufdeckung der Wahrheit völlig vergebens. Darum hält er es auch für ein Zeichen von Mangel an Urtheil und Erfahrung, wenn man daraus, daß Männer wie Virchow, trotz der wiederholten Einladung von Seiten der „Germania“, nicht nach Bois d'Haine pilgern, ein stillschweigendes Zugeständniß des Rückzuges der Wissenschaft ableitet. Auch Professor Schwann aus Lüttich erklärte vor Kurzem in einem in mehreren Zeitungen mitgetheilten Briefe, daß er an den Arbeiten der Commission (zu welcher Lefebvre gehörte) in Bois d'Haine nicht Theil genommen habe, weil die Bedingungen einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht erfüllt worden wären.

Ein sehr beachtenswerther Abschnitt der Johnen'schen Schrift handelt vom Zweck der Stigmatisation. Johnen sagt:

Nach Rohling ist derselbe folgender: „Seitdem die Thatsache von Golgatha bei Tausenden gleichgültiger Seelen wie in Vergessenheit kam, wollte Gott von Zeit zu Zeit Einigen seiner Auserwählten, welche durch Gottes- und Nächstenliebe glänzten, auf wunderbare Weise an ihrem Körper jene Wunden des Welterlösers von Neuem einprägen.“ Nach allen Berichten war der heilige Franz von Assisi der Erste, der dieser Gnade theilhaftig wurde; seit jener Zeit, 1226 nach Christo, bis auf unsere Louise finden sich nach unseren Gewährsmännern etwa sechszig bis siebenzig Personen, welche die Stigmata bald so, bald anders gezeigt haben. Wenn der eben angegebene Zweck der Stigmatisation richtig ist, so muß es auffallend erscheinen, daß bis zum Jahre 1224, also in den ersten zwölfhundert Jahren des Christenthumes, kein Fall von Stigmatisation verzeichnet ist, während von da ab, bis zum Jahre 1867, also in den folgenden sechshundert Jahren, sechszig bis siebenzig Mal das Wunder von Gott gesetzt wurde. Entweder war das Wunder bis zum Jahre 1224 nicht nöthig, oder es fand sich bis dahin kein Mensch, der desselben würdig gewesen, oder endlich drittens muß man annehmen, daß Gott sich bis dahin desselben nicht habe bedienen wollen. Herr Rohling und Herr Majunke bringen uns über diesen Punkt keine Aufklärung. Für uns ist die Thatsache wohl geeignet, die Stigmatisation in Mißcredit zu bringen.

Bei Betrachtung der Geschichte der Stigmatisation muß es ganz besonders auffallend erscheinen, daß die meisten Träger der Stigmata dem weiblichen Geschlechte angehörten. Wenn nun der Zweck, den Gott durch das Wunder im Auge hat, der ist, uns Menschen noch einmal recht eindringlich, ja gleichsam in natura das Leiden Christi in Erinnerung zu bringen – ein anderer ist auch kaum denkbar, da nach katholischer Lehre eine Wiederholung des Leidens Christi um der Verdienste willen unnöthig ist – , so widerstrebt es dem gesunden Menschenverstande und dem jedem Menschen eingeborenen Gefühle für das Schickliche, daß sich Gott hierzu des Körpers eines unreifen, kranken weiblichen Wesens bedienen sollte. Die kühne Hoffnung Rohling's auf das Wunder von Bois d'Haine, daß es die Katholiken stärken, die Protestanten und Juden in den Schooß der wahren Kirche führen werde, können wir nach dem Gesagten nicht theilen. Wenn diese Wirkungen durch die Betrachtung des Lebens, des Leidens und der Lehre Jesu selbst nicht hervorgebracht werden, durch das blutende Mädchen zu Bois d'Haine werden sie nimmer zu Stande kommen. Denn wenn das Original, Jesus selbst, ohne Wirkung bleibt, wie soll dann ein so zweifelhafter, naturwidriger Abklatsch so große Kraft besitzen?

In der Geschichte der Stigmatisation, fährt Johnen fort, begegnen wir noch einem andern Punkte, der die directe Urheberschaft Gottes zweifelhaft macht. Es ist dies, wie bereits angedeutet, die für alle Träger des Wunders constatirte und in den Berichten concedirte Thatsache, daß sie vor und während der Stigmatisation krank waren. Und da sollen wir eine Thatsache, die ebenfalls einem kranken Boden entsprossen ist, die in ihrem Werthe und Wesen auf derselben Linie mit jenen Erzeugnissen verstörter Gehirnthätigkeit steht, als ein von Gott gewirktes Wunder betrachten? Die Thatsache, daß Louise von frühester Kindheit an bis heute krank war und ist, bietet uns die psychologische Erklärung ihres Handelns; sie enthält zugleich die einzige Entschuldigung ihres Thuns. Denn nur die Annahme einer Krankheit kann sie ganz oder wenigstens theilweise entlasten von der Schuld, daß sie so Viele getäuscht hat und noch täglich täuscht.

Ein weiteres Bedenken, welches uns in der Geschichte der Stigmatisirten entgegentritt, ist die große Conformität in den Erscheinungen, wenigstens in den letzten Fällen. Die Wunder sind alle wie nach einem Muster gearbeitet und verrathen dieselbe Abstammung. Anfangs klein an sich, werden sie von der Umgebung selbst groß gezogen. Unbemerkt treiben der Wunderträger und diejenigen, welche sich für die Erscheinung interessiren, in eine Fährte, aus der ihnen der Rückzug schwer wird. So schreiten sie auf der eingeschlagenen Bahn voran; sie vervollkommnen und vergrößern das Wunder immer mehr und mehr, bis von dem natürlichen Menschen fast Nichts mehr übrig bleibt. So haben es bei Louise der Pfarrer, die Bischöfe und die medicinische Commission gemacht.

Das letzte Glied in der Kette der Erscheinungen ist daher bei vielen der Stigmatisirten die völlige Enthaltsamkeit von den Subsistenzmitteln der übrigen lebenden Erdenwesen: sie leben ohne Speise und Trank. Auch Louise Lateau fastet nun schon drei Jahre. Allerdings läuft die ganze „medizinische Untersuchung“ dieser Enthaltsamkeit auf den Satz hinaus: „Louise nimmt keine Nahrung zu sich, denn sie hat es selbst gesagt, und ihre Schwester Aline hat es auch gesagt.“ Der einzige wissenschaftliche Beweis für die völlige Enthaltsamkeit ist nur durch Constatirung der Leere des Magens zu liefern; aber eine Untersuchung des Inhaltes des Magens hat nicht stattgefunden; sie wäre durch Anwendung der Magenpumpe mit Leichtigkeit auszuführen gewesen.

[88] Am ausführlichsten und eingehendsten behandelt Johnen die beiden mehr sinnenfälligen Erscheinungen des Wunders: das Bluten und die Ekstase. Auf diesem Gebiete, auf welchem der Mediciner Schritt um Schritt mit unerbittlichen Sätzen der Wissenschaft dem Wunder zu Leibe geht, können wir ihm hier nicht folgen; man muß die ganze Kette der Beweisgründe gegen die Behauptung, daß die stigmatische Blutung nur durch ein Wunder zu erklären sei, vor Augen haben, um sich des Resultats auch gründlich mit zu erfreuen; das Herausheben einzelner Glieder hilft uns nichts, und darum verweisen wir in dieser Beziehung unsere Leser auf das Schriftchen selbst. Am Schlusse desselben faßt Johnen das Ergebniß seiner Beleuchtung zusammen und stellt als unbestreitbar folgende vier Sätze auf:

1. Louise Lateau war und ist noch heute eine kranke Person.

2. Für die Behauptung, daß Louise Lateau keine Nahrung seit mehreren Jahren zu sich nehme, ist kein einziger wissenschaftlicher Beweis erbracht worden.

3. Die Berichte haben nicht den wissenschaftlichen Beweis geliefert, daß die stigmatischen Blutungen nicht auf natürlichen Ursachen beruhen.

4. Louise Lateau leidet an Hysterie und die Ekstase ist ein Zeichen dieser Krankheit.

Soweit Dr. Johnen. Diesem klaren und wahren ärztlichen Bekämpfer unwürdigen Spiels mit Religion und Glauben kommt nun auch die Naturwissenschaft zu Hülfe. Ein Bericht aus Zürich verkündet folgende merkwürdige Entdeckung der Chemie:

„In der letzten (December-) Sitzung der ‚Naturforschenden Gesellschaft in Zürich‘ machte Professor Weith Mittheilungen über ein Verfahren, die Erscheinungen der sogenannten Stigmatisirung, wie sie z. B. Louise Lateau von Bois d’Haine zeigt, welche jeden Freitag an bestimmten Stellen des Körpers Blut schwitzt, auf chemischem Wege künstlich hervorzubringen. Reibt man die Haut mit einer Lösung von Eisenchlorid oder besser noch von schwefelsaurem Eisenoxyd ein, welche Operation durchaus keine sichtbaren Spuren hinterläßt, und besprengt man dann die betreffenden Stellen mit der sehr verdünnten wässerigen Lösung des Rhodankaliums, so tritt in auffallendster Weise eine höchst intensive, scheinbare Blutung ein. Der Vorgang beruht auf der bekannten Umsetzung des Rhodankaliums mit der Eisenverbindung; es entsteht lösliches Eisenrhodanid, welches sich durch seine intensive, rein blutrothe Farbe auszeichnet. Durch Vorführung eines vorher mit Eisenchlorid präparirten Individuums, welches dann mit der völlig farblosen Lösung von Rhodankalium besprengt wurde, konnten sich die Mitglieder der Gesellschaft von dem überraschenden Effect dieser chemischen Reaction überzeugen.“

Sollte mit dieser Eisenchloridlösung auch das große Räthsel der Stigmatisation gelöst sein, dann hätte, wie schon so oft, ein kühner Trumpf der Finsterlinge zu einem neuen Triumph der Wissenschaft geführt. Dies Eine steht wenigstens fest: Die Stigmatisation kann künftig mit obigem Mittel Jedermann zu seinem Vergnügen treiben.

Fr. Hfm.




Blätter und Blüthen.


Ein Märchenerzähler. (Mit Abbildung, S. 77.) Es ist ein classischer, sagenreicher Boden, auf welchem Tunis steht. Hier gründete Elissa mit den Riemen einer Rindshaut ein Weltreich, an dessen Größe und Zerstörung sich die Namen Hamilkar’s, Hannibal’s und der Scipionen knüpfen; hier tauchten im Laufe der Geschichte bunt nacheinander die Schaaren der Vandalen, Mauren und Kreuzfahrer, die Krieger Karl’s des Fünften, Cromwell’s und Ludwig’s des Vierzehnten auf, und vor Allem hier an diesen träumerischen Ruinen Karthagos zog zum großen Theil die Glanzperiode des siegreichen Halbmondes vorüber. Man muß es wohl deshalb natürlich finden, daß die jetzige Bevölkerung dieses Landes mit besonderer Vorliebe von dessen romantischer Vergangenheit zehrt, und die Weise, in welcher sie es thut, stimmt mit dem öffentlichen Leben und Treiben, dessen orientalischer Ursprung unverkennbar ist, ebenso überein, wie die schreienden Waarenausrufer und die offenen Werkstätten im Zuck (Bazar). Der letztere ist der Centralpunkt des Verkehrs, der das ganze lärmende und ostensible Gepräge eines Handelsplatzes trägt, auf welchem sich Nationen der verschiedensten Art ein Stelldichein geben.

Nachdem wir die große Moschee und die Kasbah, oder wie es von den Spaniern genannt wird, das Fort la Goletta, in Augenschein genommen und uns mühsam durch das bunte Gewimmel der Beduinen, Araber, Juden, Neger, Griechen, Portugiesen etc. gedrängt haben, verspüren wir eine leichtverzeihliche Sehnsucht nach jener Erquickung, die in diesem tropischen Himmelsstriche eine wahre Gottesgabe zu nennen ist, nach einer Tasse echten Mocca, und da sich nahe vor uns ein alter maurischer Bau erhebt, der sich durch den zerlumpten Araber, welcher oben auf den Stufen behaglich eine Tasse des heißen Labsals schlürft, sozusagen als Kaffeehaus zu erkennen giebt, so zögern wir nicht, einzutreten. Durch einen engen dunkeln Gang gelangen wir in eine hohe, düstere Halle. Das Mauerwerk ist verwittert, und die weißgestrichenen byzantinischen Bogen werden von grün und roth bemalten schlanken Säulen getragen. Auf dem roh getäfelten, mit Steinsitzen und Binsenmatten versehenen Fußoden haben sich Männer jeden Alters gelagert und bilden in ihren hellfarbigen Trachten malerische Gruppen. Schweigend und ernst trinken sie ihren Kaffee oder rauchen ihre Cigarette, ihren Haschisch, während der Kaffeediener leichtfüßig und fast unhörbar umhertrippelt, um mit der glimmenden Kohle das aromatisch duftende Kraut in Brand zu stecken. Die ganze träge Ruhe, die sich im Wesen des Orientalen ausspricht, kommt in einer solchen Tabagie zum vollen Ausdrucke. Da es hier aber keine Kaffeehausliteratur nach europäischen Begriffen giebt, so ist auf andere Weise auch für geistigen Genuß gesorgt. Ein Greis, der schon durch seine schöne, imposante Gestalt Aufmerksamkeit erregt, erhebt sich, besteigt einen der Ruhesitze und beginnt zu sprechen. Alles lauscht; immer fließender und feuriger tönen seine Worte; lebhafte Gesten begleiten sie und verfehlen auch auf die scheinbar Theilnahmlosen unter den Anwesenden ihren Eindruck nicht. Was erzählt dieser Mann im fremden Idiom seines Landes?

Ist es der Scheiterhaufen der Dido, oder sind es die Ruinen des alten Karthago, die ihm dieses Pathos entlocken? Sind es die Kriegszüge der Kalifen und die Heldenthaten seiner Voreltern, die ihn und seine Zuhörer so begeistern, oder sind es romantische Rhapsodien aus der Geschichte der spanischen Mauren, Bruchstücke jenes herrlichen Märchenschatzes, der in der Alhambra Granada’s vergraben liegt? Wir wissen es nicht; wir können uns nur dem fremdartigen, aber immerhin wohlthuenden Eindruck hingeben, den diese an historischen Erinnerungen so reiche Küste, diese gleich Rom so vielfach verwandelte Stadt und vor Allem die vor uns sich abspielende Scene, staffirt von hohem, ehrwürdigem Gemäuer, auf uns macht. Von dem gleichen Gefühle scheint auch der Künstler geleitet gewesen zu sein, dessen gewandter Stift diese Scene uns in dem vorliegenden Bilde wiedergiebt.

S.



Kleiner Briefkasten.


W. P. in Berlin, Manteuffelstraße Nr. 48. Unsere letzte[WS 1] Nummer wird Sie bereits überzeugt haben, daß Ihr Verdacht ein ungerechtfertigter war. Wir billigen auch vollständig die Empörung unseres verehrten Mitarbeiters Glagau und bedauern namentlich die vielen Opfer, welche in der Schwindelperiode ausgesogen und zum Theil ruinirt wurden. Die Gerechtigkeit verlangt indeß auch die Kehrseite der Medaille aufzudecken, und da will es uns doch scheinen, als wenn einige Anschauungen Glagau’s nicht immer mit den unsrigen harmonirten.

Ist es zum Exempel nicht ein Irrthum, wenn unser schlagfertiger Mitarbeiter, wie das in dem ersten Artikel geschehen, die Behauptung aufstellt, die „nationale Begeisterung“ und die „heiligsten Gefühle“ des Volkes seien durch die Speculation und das Gründerthum benutzt und auf eine verbrecherische Weise ausgebeutet worden? Sollte Herr Glagau im Ernst glauben, daß alle die Leute, welche mit Rumäniern und andern Gründungsactien, wie die Berliner sagen, „h’reingefallen“ sind, aus „nationaler Begeisterung“ und „durch heilige Gefühle“ veranlaßt, gezeichnet oder gekauft haben? War es nicht im Gegentheil und nur allein die Sucht, statt der bisherigen vier und fünf Procent mit Leichtigkeit acht, zehn und zwölf Procent zu verdienen, und wurden nicht die meisten Opfer lediglich durch die Aussicht verlockt, mit wenig Mühe viel Geld zu gewinnen und so nebenbei auch „ein wenig gründen“ zu helfen? Was haben die „heiligen Gefühle“ mit Strousberg’schen oder Quistorp’schen Actien zu thun? Das Gründungswesen, wie es in den letzten Jahren betrieben wurde, kann nicht scharf genug gegeißelt werden, aber andererseits darf auch nicht verschwiegen werden, daß die übertriebene Gewinnsucht der kleinen Leute den Gründungsschwindel auf jede Weise unterstützt und dadurch längere Zeit gefördert hat. Geradezu gefährlich aber ist es, dieser schnöden Gewinnsucht auch auch noch die patriotische Märtyrerkrone aufzusetzen und „heilige Gefühle“ unterzuschieben, wo allein der leidige Mammon die Triebfeder war.

K. L. in Fbg. Wir möchten Ihnen doch rathen, bei Ihrer mangelhaften Vorbildung nicht mit diesem Feuer zu spielen. Sie dürften sich die Finger in einer Weise verbrennen, die Sie für alle Zeiten zum Krüppel machen könnte. Schopenhauer’sche Philosophie und namentlich das Hartmann’sche System des Unbewußten sind Dinge, die sich nur für feste, eiserne Constitutionen eignen. Ein Kritiker Hartmann’s äußerte sich neulich sehr richtig über die „Philosophie des Unbewußten“: „Wir haben Bücher über die Art glücklich zu sein; aber das ist wahrhaftig eines, welches ohne Schaden seinen Titel vertauschen könnte gegen den der Kunst, sich unglücklich zu machen, wenn man es nicht ist, und noch unglücklicher, wenn man es schon ist.“ Freilich hat die Philosophie, wenn sie ihr Ziel, die Wahrheit, erreichen will, nicht zu fragen, ob Illusionen vernichtet und einige Schwache und Zweifelnde unglücklich werden.

J. B. in Dresden. Nicht Signore, wohl aber Signor wird im öffentlichen Leben Italiens, genau wie in Deutschland, bei der Anrede allen Titeln vorangesetzt und nur im vertraulichen Verkehr, wie ja bei uns auch, weggelassen. Wenn nun, unserer Ansicht nach, das Nichtbekanntsein mit einem solchen Gebrauche noch lange keine „grobe Unwissenheit“ involvirt, so dürfte es doch selbst für einen Tertianer (Tertianerin?) räthlich sein, der Veräußerung seiner Kenntnisse das Gewand der Bescheidenheit umzuhängen; denn, wie Lateiner auch schon in Tertia sagen, errare humanum est.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Heft 4, Vorlage: vorletzte