Die Gartenlaube (1876)/Heft 1

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

No. 1.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.
Von E. Marlitt.


1.

Die Decembersonne huschte noch einmal scheu durch die große Schloßmühlenstube, dann nahm sie das letzte laue Strahlenfünkchen von den seltsamen Gegenständen, die auf dem tiefen Steinsimse des Eckfensters ausgebreitet lagen, und verschwand in dem Schneewolkenbette, das sich träge, aber beharrlich am Himmel emporschob. Die seltsam gleißenden Gegenstände auf dem Fenstersimse waren das Rüstzeug des Arztes, jene Sammlung von Instrumenten, die schon mit ihrem schneidig kalten Funkeln das Auge erschrecken und einen Schauer durch das Nervenleben des Menschen jagen. Ein mächtiges Bettgestell, an Kopf- und Fußende mit plumpen, bäurisch grellen Rosen- und Nelkensträußen bemalt und ausgefüllt mit Federbetten in bunten Ueberzügen, stand schräg in das Fensterlicht gerückt, und auf diesem Bette lag der Schloßmüller. Eben hatte ihn die rasche Hand des Arztes von einem Halsübel befreit, das ihn schon einige Male mit dem Erstickungstode bedroht – es war ein schwieriges, sehr gefährliches Unternehmen gewesen, aber der junge Mann, der jetzt sacht das Rouleau niederließ und geräuschlos die Instrumente in das Etui packte, sah befriedigt aus – die Operation war gelungen.

Der Kranke, der noch kurz zuvor unter der anfänglichen Wirkung des Chloroforms gegen die Hand des Arztes getobt und ihn mit kreischender Stimme Räuber und Mörder gescholten hatte, lag jetzt still und erschöpft in den Kissen. Das Sprechen war ihm untersagt, ein offenbar überflüssiges Verbot, denn wohl selten trug ein Gesicht so unverkennbar das Gepräge der verdrossenen Wortkargheit, als dieser dicke, viereckige Kopf, der nur eine Schönheit aufzuweisen hatte, das ungelichtete, silberweiße Haar.

„Du bist zufrieden, Bruck?“ fragte leise ein Herr, zu dem Arzte in die Fensternische tretend. Er hatte bis dahin am Fußende des Bettes gestanden und trug noch die Spuren der Aufregung und Spannung in seinen schönen Zügen.

Der Arzt nickte. „Alles gut bis jetzt – die robuste Natur des Kranken wird mich unterstützen,“ sagte er ruhig mit einem zuversichtlichen Blicke auf den alten Mann. „Und nun verlasse ich mich auf die Pflege – ich muß fort. Der Patient hat vorläufig unter allen Umständen in der gegebenen Lage zu verbleiben. Es darf durchaus keine starke Blutung eintreten –“

„Dafür lasse mich sorgen!“ unterbrach ihn der Andere lebhaft. „Ich bleibe, so lange eine so penible Aufsicht nöthig ist. … Willst Du drüben in der Villa sagen, daß ich nicht zum Thee komme?“

Ein leichtes Roth stieg in die Wange des Arztes, und etwas wie Niedergeschlagenheit lag in seinem Tone, als er sagte: „Ich muß den Umweg durch den Park vermeiden und so rasch wie möglich die Stadt zu erreichen suchen –“

„Du hast Flora heute noch nicht gesehen, Doctor –“

„Glaubst Du, das wird mir so leicht? Ich –“ er unterbrach sich und preßte die Lippen aufeinander, während er nach dem Etui griff, um es in die Tasche zu stecken. „Ich habe mehrere Schwerkranke,“ sagte er gleich darauf sehr ruhig; „das kleine Mädchen des Kaufmanns Lenz wird heute Nacht noch sterben. Dem Kinde kann ich nicht helfen, aber die Eltern, die vollkommen erschöpft sind durch Angst und aufopfernde Pflege, zählen die Augenblicke, bis ich komme – die Mutter ißt nur auf mein Zureden.“

Er trat an das Bett. Der Kranke hob die Lider und sah ihn vollkommen bewußt an; ja, in den stark hervorquellenden, von gerötheten Rändern umgebenen Augen lag ein Schimmer von Dankbarkeit für die so plötzlich fühlbar gewordene unaussprechliche Erleichterung. Er wollte seinem Befreier die Hand reichen, aber dieser hielt sie auf der Bettdecke fest, indem er das Verbot bezüglich jeder hastigeren Bewegung erneute. „Der Commerzienrath will hier bleiben, Herr Sommer; er wird dafür einstehen, daß meine Anordnungen streng befolgt werden,“ setzte er hinzu.

Dem alten Manne schien das recht zu sein; den Blick auf den Commerzienrath gerichtet, der die Versicherung mit einem freundlich lebhaften Kopfnicken bestätigte, schloß er die Augen wieder, als wolle er zu schlafen versuchen. Doctor Bruck aber nahm seinen Hut, reichte dem Commerzienrath die Hand und verließ das Zimmer.

Hätte eine angstvoll besorgte Frau am Krankenbette gesessen, ihr wäre jedenfalls bei diesem Hinausgehen das Gefühl des Verlassenseins, der Verzagtheit gekommen, wie jene arme Mutter in der Stadt mit dem Erscheinen des Arztes soviel Muth schöpfte, um aus seiner Hand die wenigen zur Selbsterhaltung nöthigen Bissen zu nehmen. Am Lager des Schloßmüllers waltete aber nicht solche zitternde Angst und unsägliche Liebe. Die alte Haushälterin, die beschäftigt war, das zur Operation gebrauchte Geräth zu entfernen, sah ziemlich gleichgültig darein; sie huschte wie eine Fledermaus an den Wänden hin, und die von der ärztlichen Hand verspritzten Wassertropfen auf der Tischplatte schienen sie mehr zu alteriren, als die Lebensgefahr, welche ihr Herr eben überstanden.

[2] „Bitte, lassen Sie jetzt das gut sein, Jungfer Suse!“ sagte der Commerzienrath in sehr höflichem Tone. „Das Reiben auf dem wackeligen Tische macht ein nervenangreifendes Geräusch. Doctor Bruck wünscht in erster Linie Ruhe für den Papa.“

Jungfer Suse packte schleunigst Wischtuch und Kehrbesen zusammen und ging hinaus, um sich in ihrer blitzblanken Küche über die nassen Reste auf dem Eßtische zu beruhigen. Es war nun still geworden, so geräuschlos, wie es eben in der Schloßmühlenstube sein konnte. Durch den Fußboden lief unausgesetzt jenes leise, tactmäßige Schüttern, das von der Räderarbeit im Mühlenraume ausgeht; über das Wehr drüben stürzten die zerstäubenden Wasser in ewiger Wiederholung ihrer beschränkten Rauschmelodie, und dazwischen rucksten die Tauben und kamen plump gegen die Fensterscheiben geflattert aus den uralten, riesenhaft ausgebreiteten Kastanienwipfeln, in denen sie nisteten, und die von der Abendseite her einen Dämmerschein in die Schloßmühlenstube warfen. Jenes Lärmgemisch aber existirte nicht für den Kranken – es gehörte so unbewußt zu seinem Leben und Behagen, wie die Luft, wie der regelmäßige Tactschlag seines Herzens. –

Was war doch das für ein abstoßendes Greisengesicht, das der elegante Mann am Bette versprochenermaßen mit den Augen hütete! Nie war ihm das Ordinäre des Ausdrucks, nie der Zug von Härte und gemeiner Grobheit, der sich in tiefer Krümmung um die dicke, hängende Unterlippe zog, so widerwärtig aufgefallen wie in diesem Augenblicke, wo der Schlaf oder die Erschöpfung den Willen aufhob und den äußern Charakterstempel in die ursprünglichen Linien rückte. … Nun ja, der Alte hatte auch tief unten angefangen; er war bei Beginn seiner Laufbahn Müllerknecht gewesen; aber jetzt war er ein Mann, dem der Getreidehandel Unsummen in den Schooß geworfen – er war ein Träger der Geldmacht, der da auf dem bäuerisch altväterischen Bettgestelle lag, und vielleicht auch ein wenig in Rücksicht auf diese imponirende Thatsache nannte ihn der Commerzienrath respectvoll und zuvorkommend „Papa“; denn in Wirklichkeit knüpfte sie nicht ein Tropfen gemeinsamen Blutes an einander. Der verstorbene Banquier Mangold, mit dessen ältester Tochter erster Ehe der Commerzienrath vermählt gewesen, hatte als zweite Frau die Schloßmüllerstochter heimgeführt – das war das verwandtschaftliche Verhältniß zwischen dem Kranken und seinem Pfleger.

Der Commerzienrath erhob sich und trat leise vom Bette weg an eines der Fenster. Er war ein jugendlich rascher Mann, den das Stillsitzen und ängstliche Beobachten nervös machten; es widerstrebte ihm, fortgesetzt das unsympathische Antlitz und die geballten, knotigen, tief in die Bettdecke gewühlten Fäuste anzusehen, die einst die Peitsche über den Müllerpferden geschwungen hatten. Die letzte Kastanie vor dem Fenster, an welchem er stand, hatte längst die Blätter abgeworfen; jede Rundung, jedes Viereck, welches die kahlen, in einander geschlungenen Aeste formten, wurde zum Rahmen kleiner Landschaftsbilder, eines lieblicher als das andere, wenn auch im Augenblicke der düstere Decemberhimmel das Silberlicht der Teichspiegel dämpfte und mit seiner nassen Wolkenschleppe die duftige Veilchenbläue[WS 1] der fernen Berggipfel häßlich verwusch.

Dort rechts, nachdem er die Räder der Schloßmühle gedreht, machte der Fluß eine starke Krümmung; ein kleines Medaillon der Aeste seitwärts umschloß ein Stückchen seines funkelnden Streifens und zugleich ein Menschenwerk, dem er abermals dienen mußte – ein mächtiger Bau in Würfelform, ein ungeschmückter Steinkoloß, über den die Fensterreihen wie einförmige Perlenschnüre hinliefen, stand es in häßlicher Nüchternheit am Ufer. Das war die Spinnerei des Commerzienrathes. Auch er war ein reicher Mann; er beschäftigte Hunderte von Arbeitern dort zwischen den kreisenden Spindeln, aber dieses sein Eigenthum brachte ihn in eine gewissermaßen abhängige Beziehung zu dem Schloßmüller. Die Mühle, vor Jahrhunderten vom Landesherrn erbaut, war mit unglaublichen Privilegien ausgestattet worden, die, noch heute in Kraft, eine bedeutende Strecke des Flusses beherrschten und den Anwohnern das Leben sauer genug machten. Und auf diesen verbrieften Rechten stand der Schloßmüller mit seinen breiten Füßen und wies Jedem die Zähne, der auch nur mit einer Fingerspitze daran zu rühren wagte. Anfangs nur Pächter, hatte er allmählich und unmerklich die Fangarme seines wachsenden Reichthums ausgestreckt, bis er nicht allein Besitzer der Mühle, sondern auch des Rittergutes selbst geworden war, zu welchem sie gehörte. Und das hatte er durchgesetzt kurz vor der Verheirathung seines einzigen Kindes mit dem angesehenen Banquier Mangold. Für ihn selbst hatten nur der ausgedehnte Waldbesitz und die Ländereien Werth gehabt; die dazu gehörige prächtige Villa inmitten eines stattlichen Parkes war ihm zu allen Zeiten ein Gräuel gewesen; nichtsdestoweniger hatte er bereitwillig „die kostbare Spielerei“ im Stande erhalten, weil er ja seine Tochter als Herrin da schalten und walten sehen durfte, wo die ehemaligen hochmüthigen Besitzer consequent vergessen hatten, seinen Gruß zu erwidern. Jetzt war der Commerzienrath Miether der Villa; es lagen somit die ausgiebigsten Gründe vor, in gutem Einvernehmen mit dem Flußbeherrscher und Hauswirthe zu verbleiben, und das geschah – der Commerzienrath stand wie ein fügsamer Sohn zu dem mürrischen Alten.

Von der Thurmuhr des Fabrikgebäudes schollen vier Schläge herüber, und hinter den hohen Scheiben des Comptoirs schlugen zugleich die Gasflammen auf; es wurde heute sehr früh dämmerig; jener feuchte Dampf, der Schnee bringt, füllte allmählich die Luft und machte den Essenrauch von der Stadt her träge über die Erde hinkriechen, während das Schieferdach der Spinnerei, jede Thürstufe und jeder Kieselstein den schlüpfrigen Glanz intensiver Nässe annahmen. Die Tauben, die noch geduldig, dick und faul neben einander auf den Kastanien hockten, verließen plötzlich die triefenden Aeste und flogen nach dem warmen, trockenen Schlage. Fröstelnd sah der Commerzienrath in die Stube zurück. Fast kam sie ihm behaglich und anheimelnd vor, die den verwöhnten Mann sonst stets anwiderte mit ihrer von Speiseresten erfüllten Luft, mit ihren verräucherten Tapeten und den berüchtigten Neuruppiner Bilderbogen an den Wänden, aber eben legte Jungfer Suse draußen frisches Scheitholz in das Ofenfeuer; das altväterische Sopha mit den dicken, weichen Federkissen stand so warm und bequem an der Wand, und auf den blankgeputzten Scheiben der Alkoventhür blinkte das letzte Restchen des falben Tageslichtes – ah, hinter dieser Alkoventhür stand der eiserne Geldspind – hatte er vorhin auch den Schlüssel abgezogen?

Kurz vor der Operation hatte der Schloßmüller sein Testament gemacht; die Gerichtspersonen und Zeugen waren dem Doctor Bruck und dem Commerzienrath noch auf der Treppe begegnet. Wenn er auch äußerlich bei guter Fassung war, mußte es doch im Innern des Patienten heftig gestürmt haben; jedenfalls war seine Hand beim Wegräumen der benöthigten Documente unstät und hastig gewesen, denn ein Papier war auf dem Tische liegen geblieben. Er hatte übrigens im letzten Augenblicke vor der Entscheidung das Versehen noch bemerkt und den Commerzienrath gebeten, das Schriftstück schleunigst im Schranke zu verschließen. Aus dem Alkoven führte noch eine zweite Thür nach dem Vorsaal, und es verkehrten viele fremde Leute in der Mühle; erschreckt trat der Commerzienrath in das schmale Stübchen; er war unverzeihlich leichtsinnig gewesen – die Schrankthür stand offen; wenn das der Alte gesehen hätte, der seinen Geldschrank wie ein Drache hütete! Es konnte wohl Niemand das Zimmer betreten haben, sagte sich der Commerzienrath zu seiner Beruhigung; selbst das leiseste Geräusch wäre ihm ja nicht entgangen, aber überzeugen mußte er sich dennoch, ob noch Alles in Ordnung.

Er schlug den eisernen Thürflügel möglichst lautlos zurück – sie standen sichtlich unberührt, die Geldsäcke, das silberschwere Piedestal des ehemaligen Müllerknechtes, und neben den Stößen von Werthpapieren thürmten sich in blinkenden Säulchen die Goldstücke aufeinander. Sein bewundernder Blick flog hastig über das Schriftstück, das er vorhin in Folge leichtbegreiflicher Spannung und Erregtheit allzuflüchtig in eines der musterhaft geordneten Fächer geworfen hatte – es war das Verzeichniß des Gesammt-Besitzthums. Welche imponirende Summen reihten sich da an einander! Sorgsam schob er das Papier auf die anderen Documente; dabei aber geschah es, daß er eines der Goldröllchen umstieß – klirrend rollte eine Anzahl Napoleonsd’or auf die Dielen nieder. Wie abscheulich das klang! Es war fremdes Geld, das er berührt hatte! Schrecken und eine an sich ungerechtfertigte Scham trieben ihm das Blut in das Gesicht; [3] unverzüglich bückte er sich, um das Geld aufzulesen. In diesem Moment warf sich ein schwerer, massiger Körper von rückwärts über ihn her, und harte, grobe Finger würgten ihn am Halse.

„Hallunke, Spitzbube! Ich bin noch nicht todt,“ zischte der Schloßmüller mit seltsam erloschener Stimme. Ein momentanes Ringen erfolgte; der schlanke junge Mann mußte alle seine Kraft und Elasticität aufbieten, um den Alten abzuschütteln, der wie ein Panther auf ihm hockte, ihm die Kehle so furchtbar zusammenschnürend, daß ein feuriger Funkenregen vor seinen Augen aufstiebte – ein angstvoller Griff seiner eigenen beiden Hände, dann ein gewaltsamer Ruck und Stoß, und er stand befreit auf seinen Füßen, während der Schloßmüller an die Wand taumelte.

„Sind Sie toll, Papa?“ keuchte er empört und athemlos. „Welche bodenlose Gemeinheit“ – er verstummte entsetzt; der Verband unter dem erbleichenden Gesicht des Kranken erschien plötzlich scharlachroth, und diese entsetzliche Farbe kroch sickernd, mit unglaublicher Schnelligkeit auch als breites Band über die weiße Bettjacke – da war die Blutung, die um jeden Preis verhindert werden sollte.

Der Commerzienrath fühlte seine Zähne wie im Fieber zusammenschlagen. War er schuld an diesem Unglück? „Nein, nein,“ sagte er sich erleichtert und umschlang den Kranken, um ihn für’s Erste nach dem Bett zu schaffen, aber der Alte stieß erbittert nach ihm und zeigte schweigend auf die verstreuten Goldstücke; sie mußten Stück um Stück aufgelesen und an Ort und Stelle zurückgelegt werden; die furchtbare Gefahr, in der er schwebte, ahnte er entweder nicht oder er vergaß sie über der Angst um sein Gold. Erst, nachdem der Commerzienrath vor seinen Augen den Schrank verschlossen und den Schlüssel in seine Hand gedrückt hatte, wankte er in die Stube zurück und sank taumelnd auf sein Lager, und als endlich zwei Müllerburschen und Jungfer Suse auf das wiederholte Hülferufen des Commerzienrathes herbeistürzten, da lag der Schloßmüller bereits lang hingestreckt und stierte mit gläsernen Augen wie entgeistert auf seine Brust, die der unaufhaltsam entfließende Lebensstrom immer breiter mit Purpur bedeckte.

Die Burschen eilten nach der Stadt, um Doctor Bruck zu suchen, während die Haushälterin Wasser und Leinen herbeischleppte – vergebliche Mühe! Es half nichts, daß der Commerzienrath angstvoll Tuch um Tuch auf die Wunde preßte, um den Quell zu verstopfen; der ließ sich nicht wieder zurückleiten. Es blieb kein Zweifel: die Schlagader war zerrissen. Wie war das gekommen? Trug die wahnsinnige innere und äußere Aufregung des alten Mannes allein die Schuld, oder – der Herzschlag stockte ihm – hatte er bei seiner verzweifelten Abwehr die Schnittwunde am Halse des Wüthenden gepackt und tödtlich erweitert? Für einen solchen Moment gab es kein Erinnern; wie kann Einer wissen, ob er die Schulter oder den Hals eines heimtückischen Angreifers faßt, wenn ihm der Erstickungstod droht und das gewaltsam nach dem Gehirne gedrängte Blut Feuerräder vor seinen Augen kreisen läßt! Aber wozu auch eine so gräßliche Möglichkeit aufstellen? Hatten nicht der Sprung aus dem Bette, die innere kochende Wuth vollkommen genügt, das Unglück herbeizuführen, das ja der Arzt selbst schon von einer einzigen allzu heftigen Bewegung abhängig gemacht? Nein, nein, sein Gewissen war rein und unbelastet; er konnte sich nicht den geringsten Vorwurf machen, auch was die Grundursache dieses grauenhaften Vorfalles betraf. Er war an den Schrank getreten, einzig und allein aus Besorgniß für das Eigenthum des alten Mannes; nicht einmal der Wunsch, diese Schätze zu besitzen, war ihm in jenem flüchtigen Momente gekommen – das wußte er genau. Was konnte er für die gemeinen Gesinnungen des erbärmlichen Kornwucherers, der bei Jedem, auch dem anerkannt respectabelsten Manne, räuberische Gelüste voraussetzte? An die Stelle der Angst und des Entsetzens trat jetzt der Ingrimm. Das hatte er von seiner Liebenswürdigkeit, von jener Höflichkeit des Herzens, die seine Bekannten an ihm rühmten; sie hatte ihn wie schon so oft, hingerissen, Verpflichtungen auf sich zu nehmen, die ihn in Unannehmlichkeiten verwickelten. Wäre er doch zu Hause geblieben, zu Hause in seinem köstlich behaglichen Salon, am Whisttisch in unverkümmerter Gemüthsruhe seine Cigarre rauchend! Sein böser Dämon mußte ihm zugeflüstert haben, die Rolle des aufopfernden Pflegers zu spielen; nun stand er inmitten der haarsträubendsten Situation, und seine vor Ekel und Grauen immer wieder zurückschreckenden Hände netzten sich mit dem Blute des Elenden, der ihn eben um ein Haar erwürgt hätte.

Wie bleiern träge Minute um Minute hinschlich! Jetzt war sich der Schloßmüller augenscheinlich bewußt, in welche Gefahr er sich gebracht hatte; er rührte sich nicht, und nur seine Augen richteten sich in angstvoller Spannung auf die Thür, wenn draußen auf dem Vorsaale Schritte erklangen; er hoffte auf Rettung durch den Arzt, während der Commerzienrath schaudernd die Veränderung in seinem Gesichte verfolgte. So aschfarben malt nur die Hand des Todes.

Jungfer Suse hatte die Lampe hereingebracht; sie war wiederholt vor das Thor gelaufen, um nach Doctor Bruck auszuschauen, und nun stand sie zu Häupten des Bettes und schüttelte sich stumm vor Entsetzen bei dem Anblicke, den das weiße Lampenlicht schreckhaft hervortreten ließ. Wenige Minuten darauf sanken die Augen des Schloßmüllers zu, und der Schlüssel, den er bis dahin krampfhaft festgehalten, fiel auf die Bettdecke; eine Ohnmacht trat ein. Unwillkürlich griff der Commerzienrath nach dem Schlüssel, um ihn wegzulegen, aber in den Moment, wo er das verhängnißvolle Stückchen Eisen mit den Fingern berührte, kam ihm ein Gedanke, der ihn traf, wie ein unvermutheter Schlag: welche Physiognomie erhielt wohl der unglückselige Vorfall in den Augen der Welt? Er kannte es nur zu gut, das zischelnde, flüsternde Weib, die Lästersucht; sie schlich ja auch durch seine Salons, und das starke Geschlecht am Spieltische amüsirte sich genau mit demselben Behagen bei ihren versteckten, boshaften Fingerzeigen, ihrem zweideutigen Lächeln, wie die theetrinkenden Damen. Und wenn nur ein Einziger achselzuckend mit bedenklichem Augenzwinkern sagte: „Ei, was hatte denn auch der Commerzienrath Römer im Geldschranke des Schloßmüllers zu suchen?“ so genügte das, um sein Blut sieden zu machen. Es blieb aber nicht bei diesem Einzigen; er hatte Feinde und Widersacher genug, wie Alle, die das Glück bevorzugt; er wußte, daß man sich morgen in der Stadt erzählen werde, die Operation sei gelungen gewesen, aber die Aufregung darüber, daß der Pfleger heimlich über seinen Geldschrank gegangen, habe eine Verblutung des Patienten herbeigeführt. Und da war ein schmutziges Mal auf dem Namen des beneideten Römer, das selbst keine gerichtliche Untersuchung wegwaschen konnte; wo waren denn die entlastenden Zeugen? Etwa seine bisher anerkannte Ehrenhaftigkeit? Er lachte bitter in sich hinein, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Niemand wußte besser als er, daß sich die Mitwelt in nichts rascher findet, als eine anerkannte Ehrenhaftigkeit für Schein zu halten, sobald der Schein gegen sie auftritt. Er bückte sich über den Ohnmächtigen, dem Jungfer Susanne die Schläfe mit Essenzen wusch, und beobachtete ihn plötzlich mit verändertem Blicke; wenn dieser Mann da nicht selbst so viel Kraft wieder erlangte, um den Vorgang zu erzählen, dann wurde das Ereigniß mit ihm begraben – über die Lippen des Anderen kam kein Wort.

Endlich schlugen draußen die Hofhunde an, und rasche Schritte kamen über das Steinpflaster und die Treppe herauf. Doctor Bruck blieb einen Moment wie versteinert in der Stubenthüre stehen, dann legte er schweigend seinen Hut auf den Tisch und trat an das Bett. Welche athemlose Stille bei einem solchen Erscheinen! Sie breitet gleichsam die Schwingen aus, um feierlich den Ausspruch über Leben und Tod zu empfangen.

„Wenn er doch nur erst wieder zu sich käme, Herr Doctor!“ flüsterte endlich die Haushälterin beklommen.

„Das wird er schwerlich,“ versetzte Doctor Bruck von seiner Untersuchung aufblickend – jede Spur von Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. „Mäßigen Sie sich!“ gebot er ernst, als Jungfer Suse in ein Klagelied ausbrechen wollte.„Sagen Sie mir lieber, weshalb der Kranke das Bett verlassen hat!“ Er hatte die Lampe vom Tisch genommen und beleuchtete den Fußboden – die Dielen vor dem Bette waren mit Blut bespritzt.

„Das rührt von den vollgesogenen Tüchern her,“ erklärte der Commerzienrath mit blassem Gesicht, aber großer Bestimmtheit, während die Haushälterin heilig und theuer versicherte, daß der Schloßmüller bei ihrem Wiedereintreten noch genau so im Bett gelegen, wie es der Herr Doctor angeordnet habe.

Doctor Bruck schüttelte den Kopf. „Die Blutung ist nicht [4] ohne alle äußere Veranlassung eingetreten; es muß eine heftige Erschütterung eingewirkt haben –“

„Daß ich nicht wüßte – ich versichere Dir, nein!“ sagte der Commerzienrath, ziemlich fest dem ausdrucksvollen Blick des Arztes begegnend. „Uebrigens, was soll dieser Inquisitorenblick? Ich sehe nicht ein, weshalb ich es Dir verheimlichen sollte, wenn der Kranke wirklich in einem Fieberanfall aus dem Bette gesprungen wäre.“ Er bliebe unbeirrt auf dem Wege, den er eingeschlagen. Fast wollte es ihm die Kehle zusammenschnüren bei seinen letzten Worten. Um den äußeren Ehrenschein zu retten, gab er die wahre innere Ehre hin – er leugnete mit eherner Stirne, aber er war ja auch in Wirklichkeit ohne alle Schuld; er war der an Leben und Gesundheit Schwerbedrohte gewesen. Nicht ein einziges Motiv lag nahe, welches das Bekennen des wahren Sachverhaltes zur Gewissenspflicht gemacht hätte.

Der Arzt wandte sich schweigend von ihm ab. Unter seinen Bemühungen schlug zwar der Schloßmüller die Augen wieder auf, aber er stierte mit wirrem, erloschenem Blick in’s Leere, und der Versuch, zu sprechen, erstarb in einem schwachen Gurgeln und Lallen.

Mehrere Stunden später verließ der Commerzienrath Römer die Schloßmühle – es war Alles vorüber. Ueber die Thüren des Sterbezimmers und des Alkovens spannten sich bereits breite Papierstreifen. Der Commerzienrath hatte sofort nach dem letzten Athemzuge des Schloßmüllers bei den Gerichten Anzeige gemacht und als vorsichtiger und gewissenhafter Mann vor seinen Augen versiegeln lassen.




2.


Er schritt jetzt durch den Park nach Hause. Die Lichter der Mühle, die noch eine kleine Strecke weit einen schwachen Schein auf seinen Weg herausgeworfen, verschwanden hinter ihm; er wandelte nun allein mit sich selbst in tiefster Finsterniß, und nicht der scharfe Windhauch, der ihn anblies, nicht die vereinzelten Schneeflocken, die wie flatterndes Nachtgevögel eisigkalt an seiner Wange niederstrichen, nein, seine aufgeregten Gedanken und die Erinnerung an den Anblick, den er stundenlang hatte ertragen müssen, sie waren es, die einen Schüttelfrost durch seine Glieder jagten. Auf demselben Wege, dessen Kieselgeröll jetzt mißtönend unter seinen Füßen rasselte, war er heute Nachmittag gekommen, eben aufgestanden vom reichbesetzten Mittagstisch, sorglos, seinen vielberufenen Glücksstern über sich wähnend – und nun, nach wenigen Stunden, wollte es fast scheinen, als trage er Mitschuld am Tode eines Menschen, er, der Commerzienrath Römer, der um seiner empfindlichen Nerven willen nicht einmal ein Thier leiden sehen mochte! Bah, das war der Neid der Götter, der kein ungetrübtes Menschenloos duldet, der dem Glücklichen gern Steine auf die glatte Bahn wirft, und welcher jetzt auch bemüht war, ihm einen Nagel in das Gewissen zu drücken; der heitere Lebensgenuß sollte ihm vergällt werden – mit nichten! Ihn traf nur ein Vorwurf, der des Verschweigens, aber wem schadete er denn damit? Niemand, Niemand auf Gottes weiter Erde! Basta – er war mit sich fertig. Eben bog er in die breite Lindenallee ein, welche direct auf die Villa zulief. Ströme silberweißen Lichtes flossen durch Fenster und Glasthüren des unteren Balkonzimmers. Von dort her griff das üppige Leben voll Genuß mit weißen, schwellenden Armen nach ihm und zog ihn an sich aus Nachtdunkel und innerer Bedrängniß. Er athmete befreit auf; er warf die schlimmen Eindrücke der letzten Stunden weit hinter sich und ließ sie gleichsam verfließen mit dem Rauschen des Mühlwassers, das in der Ferne allmählich erstarb.

In dem Salon dort, am Thee- und Whisttische der verwittweten Frau Präsidentin Urach, hatte sich eine zahlreiche Abendgesellschaft eingefunden. Die sehr tiefgehenden mächtigen Glasscheiben und das klar durchsichtige Bronzegeflecht des niedrigen Balkongeländers gestatteten einen vollkommenen Einblick in den Salon. Seine farbenglänzenden Wandgemälde, die faltenschweren Thürbehänge von veilchenblauem Sammet, der schwebende Kettenleuchter von Goldbronze, den die mit dem Silberlichte des Gases gefüllten Milchglaskugeln wie riesige Perlen umkreisten, ließen ihn feenhaft, aber auch herausfordernd wie eine Schaubühne aus dem intensiven Dunkel des Winterabends treten. … Ein Windstoß pfiff durch die Allee und schüttete ein Gemisch von Schneeflocken und dürren Lindenblättern wie toll über den Balkon her; die vornehme Ruhe hinter den Scheiben ließ sich nicht alteriren durch den groben Gesellen; nicht einmal das luftige Gewebe der Spitzengardinen bewegte sich – höchstens, daß der Feuerkern im Eckkamin unter seinem grimmigen Athem für einen Moment höher aufglühte.

Und der immer rascher daherschreitende Mann draußen überblickte mit einer Art von innerlich zitterndem Wonnegefühl die Gruppen der Versammelten – nicht daß blonde und dunkle Locken, weiche, schlanke Frauen- und Mädchengestalten sein Auge entzückt hätten, die Frühlingsgenieen des Deckengemäldes streckten vielmehr ihre mit Anemonen und Maiblumen gefüllten Händchen über Matronenhäubchen, über gebleichte Scheitel und Glatzköpfe hin – aber welche Namen waren da vertreten! Officiere von hohem Range, pensionirte Hofdamen und Herren vom Ministerium saßen an den Spieltischen, oder umsaßen, ihren steifen Rücken in den blauen Sammet der Lehnstühle gedrückt, plaudernd den wärmenden Kamin. Auch der alte, hochmüthige Medicinalrath von Bär war da. Beim Auswerfen der Karten zuckten Blitze von seinen kostbaren Brillantringen, lauter Geschenken fürstlicher Personen. Und alle diese Leute waren in seinem Hause, im Hause des Commerzienrath Römer; der rubinfunkelnde Wein in den Gläsern war aus seinem Keller, und die frischen, duftenden Erdbeeren, welche die betreßten Diener in großen Krystallschalen eben herumreichten, hatte er bezahlt. Die Frau Präsidentin Urach war die Großmama seiner verstorbenen Frau; sie machte mit unumschränkter Macht über seine Casse die Honneurs im Hause des Wittwers.


(Fortsetzung folgt.)




Louise.


Zur hundertjährigen Geburtstagsfeier der Mutter unseres Kaisers.


Am zehnten März dieses Jahres feiern wir den hundertjährigen Geburtstag von Preußens Königin Louise. Nicht durch männlichen Geist, durch Willenskraft und Herrschertalent, wie eine Elisabeth von England, eine Christine von Schweden und Katharina von Rußland, strahlt ihr Bild in der Geschichte, sondern durch echt weibliche Tugenden, durch Sittenreinheit, selbstlose Liebe und hingebende Treue hat diese echt deutsche Fürstin sich einen unsterblichen Namen erworben, als die edelste der Frauen und Mütter, als der gute Genius ihres hohen Hauses, der Schutzgeist ihres Volkes.

Da wir wohl voraussetzen dürfen, daß unsere Leser mit den bereits vorhandenen Biographien der gefeierten Königin durchweg vertraut sind, so wollen wir auf diesem Gedenkblatte nur einige weniger bekannt gewordene Herzenszüge der hohen Frau zur Vervollständigung des Charakterbildes derselben verzeichnen.

Als sechstes Kind des Herzogs Karl Friedrich von Mecklenburg zu Hannover geboren, verlor sie frühzeitig ihre Mutter, weshalb sie an dem Hofe ihrer würdigen Großmutter von mütterlicher Seite, der Landgräfin von Hessen-Darmstadt, erzogen wurde. In einem Alter von siebenzehn Jahren lernte sie bei einem Besuche in Frankfurt am Main den damaligen Kronprinzen von Preußen, den nachmaligen König Friedrich Wilhelm den Dritten, kennen. Ihre Schönheit, Anmuth und Liebenswürdigkeit machten den tiefsten Eindruck auf den jungen Fürstensohn. Noch im späteren Alter gedachte der um ihren Verlust trauernde Gatte dieser ersten Begegnung mit folgenden charakteristischen Worten: „Habe mal über diese wunderbare, wechselseitige Sympathie, in welcher verwandte Herzen sich gleich beim ersten Anblicke begegnen und finden, etwas sehr Schönes in Schiller’s Schriften gelesen, wo

[5]

Louise, Königin von Preußen.
Nach dem Oelgemälde von Kannegießer auf Holz übertragen von Adolf Neumann.

[6] treffend und wahr gezeichnet ist, wie mir und meiner seligen Louise zu Muthe war, als wir uns zum ersten Male sahen, und wie wir uns oft nachher bekannt haben. Es war keine verliebte Sentimentalität, sondern ein bestimmtes, klares Bewußtsein, was gleichzeitig im Lichtblicke ihre und meine Augen mit Freudenthränen netzte. Gott, was Alles liegt nun zwischen jenem ersten Anblick, wo ich sie fand, und diesem, wo ich ihren Verlust beweine! Weiß wohl, solche sympathische Gefühle sind die schönen Gefühle der ersten jugendlichen Liebe, sind nur einmal da und kommen nachher in dieser Reinheit nicht wieder. Aber gern denke ich daran zurück und möchte wohl mal jene Stelle im Schiller wieder lesen, habe sie aber nicht finden können.“

Bischof Eylert, an den der König diese Worte richtete, suchte in den Werken des Dichters die bezeichnete Stelle, welche er in der Braut von Messina in den bekannten Versen fand:

„–     –     –     –     –     –     –     Als ich
Die Augen wandte, stand sie mir zur Seite,
Und dunkel mächtig, wunderbar ergriff
Im tiefsten Inneren mich ihre Nähe.
Nicht ihres Lächelns holder Zauber war’s,
Die Reize nicht, die auf der Wange schweben,
Selbst nicht der Glanz der göttlichen Gestalt –
Es war ihr tiefstes und geheimstes Leben,
Was mich ergriff mit heiliger Gewalt,
Wie Zaubers Kräfte unbegreiflich weben. –
Die Seelen schienen ohne Worteslaut
Sich ohne Mittel, geistig zu berühren,
Als sich mein Athem mischte mit dem ihren;
Fremd war sie mir und innig doch vertraut,
Und klar auf einmal fühlt’ ich’s in mir werden:
Die ist es, oder keine sonst auf Erden.

„Ja, ja,“ bemerkte der König, nachdem er die herrlichen Verse gehört hatte. „Das ist die Stelle, die ich meinte; sehr schön! Macht aber jetzt einen anderen Eindruck. Die Rosen sind abgefallen, die Dornen übrig geblieben. In der Ehe selbst noch mehr gefunden als in der Poesie. Diese ist mir jetzt zu süßlich. Darf mich dem nicht hingeben. Macht mich weich und paßt nicht zu dem, was mir in böser, schwerer Zeit obliegt.“

Gleichzeitig mit dem Kronprinzen fühlte sich der jüngere Bruder desselben, Prinz Louis, zu der schönen Schwester der unvergleichlichen Louise hingezogen. Beide Paare feierten am 24. April 1793 in Darmstadt ihre Doppelverlobung, wogegen die Vermählung wegen des Krieges mit dem republikanischen Frankreich erst am 24. December desselben Jahres in Berlin erfolgte. Vom ersten Tage an war die Ehe, an der die Politik keinen Antheil hatte, die glücklichste, obgleich die Neuvermählten mit manchen Widerwärtigkeiten zu kämpfen hatten. Damals herrschte noch am Hofe ihres Vaters, Friedrich Wilhelm’s des Zweiten, die berüchtigte Gräfin Lichtenau, die preußische „Dubarry“, mit ihrem schamlosen Anhang charakterloser Männer und liederlicher Frauen. Man konnte sich in der That keine größeren Gegensätze denken, als den einfachen häuslichen, sittenstrengen, deutsch gesinnten Kronprinzen und den sinnlichen, verschwenderischen, französischen Moden und Galanterien huldigenden König. In einer Zeit, wo die Tugend verspottet wurde, die eheliche Treue lächerlich erschien, gab das junge fürstliche Ehepaar ein leuchtendes Beispiel der reinsten Liebe und Häuslichkeit. Beide vermieden, so weit dies ihnen nur möglich war, jede Berührung mit diesen unsauberen Elementen und bewahrten sich wenigstens im vertrauten Umgange den ihnen eigenen schlichten, keuschen Sinn. Während in den höheren Ständen Mann und Frau sich gegenseitig mit dem kalten „Sie“ anredeten, begrüßten sie einander mit dem alten vertraulichen „Du“, was förmlich Sensation erregte.

„Wie ich höre,“ bemerkte eines Tages der König mißfällig seinem Sohne, „nennst Du die Kronprinzessin Du.“

„Geschieht mit guten Gründen,“ entgegnete dieser, indem er scherzend die Erklärung hinzufügte: „Mit dem ‚Du‘ weiß man immer, woran man ist, dagegen bei dem ‚Sie‘ ist immer das Bedenken, ob es mit einem großen ‚S‘ gesprochen wird, oder mit einem kleinen.“

Trotz aller Vorstellungen der gestrengen Frau Oberhofmeisterin kümmerte sich der Kronprinz wenig oder gar nicht um die Etiquette, welche ihm vorschrieb, sich, wenn er seine Gemahlin sehen wollte, bei ihr vorher anmelden zu lassen. Zum Schein fügte er sich zwar, als aber eines Tages die würdige Dame mit feierlicher Miene in das Zimmer trat, um den ihr angekündigten Besuch des Kronprinzen in aller Form anzumelden, fand sie ihn bereits an der Seite seiner Louise sitzen, indem er rasch durch eine andere Thür unbemerkt ihr zuvorgekommen war.

„Sehen Sie, liebe Voß,“ rief er der erstarrten Oberhofmeisterin zu, „meine Frau und ich, wir sehen und sprechen uns unangemeldet, so oft wir wollen und wünschen. Es ist das, denke ich, in guter christlicher Ordnung. Sie aber sind eine charmante Oberhofmeisterin und sollen von nun an ‚dame d’étiquette‘ heißen.“

Aus diesem Grunde zogen auch beide ein stilles Leben in ländlicher Umgebung der geräuschvollen, aber lästigen Pracht des Hofes vor. Der König hatte seiner schönen Schwiegertochter, deren Tugend er wohl zu würdigen wußte und die er selbst nur „die Fürstin der Fürstinnen“ nannte, zu ihrem Geburtstage das Lustschloß „Oranienburg“ geschenkt, dessen Name an die erste Gemahlin des großen Kurfürsten, an die edle, fromme Namens- und Geistesschwester Louise von Oranien erinnerte.

Bei dieser Gelegenheit fragte der gutmüthige Monarch die Kronprinzessin, ob sie sonst noch einen Wunsch habe, worauf sie erwiderte: „Nur noch eine Hand voll Gold, um mit den Armen von Berlin mein Glück zu theilen.“ Als er dagegen lächelnd bemerkte, wie groß sich das Geburtstagskind wohl diese Hand voll Gold denke, gab sie die treffende Antwort: „Gerade so groß, wie das Herz meines guten Königs.“

In dem freundlichen Oranienburg verlebte Louise mit ihrem Gatten schöne, heitere Tage in ländlicher Abgeschiedenheit. Zum großen Verdrusse der Oberhofmeisterin ging es am kronprinzlichen Hofe so einfach und ungenirt zu, daß sie mehr als einmal schauderte. Die hohen Herrschaften machten sogar einmal eine Lustfahrt nicht in der sechsspännigen Staatsequipage mit obligaten Dienern und Lakaien, sondern auf einem – gemeinen Leiterwagen. Das war zu arg, und keine Macht der Erde, weder die freundliche Einladung des Gebieters, noch das liebenswürdige Zureden der hohen Herrin, konnten die „dame d’étiquette“ bewegen, den ominösen Leiterwagen zu besteigen.

Leider wurden die schönen Tage von Oranienburg durch den Aufstand in Polen gestört, zu dessen Bekämpfung der Kronprinz mit seinem Regiment in’s Feld zog, wo er bei dem Sturm auf Wola mit gewohnter Tapferkeit kämpfte. Damals äußerte die zurückgebliebene Louise: „Ich zittere vor jeder Gefahr, der sich mein Mann aussetzt, aber ich sehe ein, daß der Kronprinz, als der Erste nach dem König auf dem Throne, auch der Erste nach ihm im Felde sein muß.“

Aber auch sonst fehlte es dem jungen Ehepaar nicht an ernsten Prüfungen, welche besonders Louise’s Liebe zu bestehen hatte und aus denen ihr reines Herz wie lauteres Gold hervorging. Nach den vor Kurzem erst erschienenen Erinnerungen der eben genannten Oberhofmeisterin, der Gräfin Voß, wurde der geniale Prinz Louis Ferdinand, ein naher Verwandter des königlichen Hauses, von glühender Leidenschaft für die schöne Fürstin ergriffen. Mit Hülfe ihrer jüngeren, unerfahrenen Schwester suchte der Prinz sich der edlen Frau zu nähern und das reine unschuldsvolle Familienleben durch seine stürmische Neigung zu stören. Aber Louise fand die beste Stütze in ihrer Tugend und in ihrem streng sittlichen Gatten den treuesten Freund, der sie vor jeder Versuchung beschützte und im Augenblicke der Gefahr, wo sich fremde Einflüsse zwischen ihm und ihr eindrängten und den ehelichen Frieden bedrohten, durch seine Güte, Wahrhaftigkeit und Festigkeit die störenden Elemente für immer bannte.

Das Glück des hohen Paares wurde durch die Geburt des ersten Sohnes, des nachmaligen Königs Friedrich Wilhelm des Vierten gekrönt, nachdem die junge Mutter zuvor in Folge eines Falles von der kleinen Treppe des Palais von einer todten Tochter entbunden worden war. Mehr als je fühlten jetzt Beide nach solchen Ereignissen den Wunsch nach Zurückgezogenheit. Selbst das stille Oranienburg erschien ihnen nicht ländlich genug, das Schloß noch zu prächtig und die Umgebung noch zu geräuschvoll. Aus diesem Grunde kaufte der Kronprinz für dreißigtausend Thaler das Landgut Paretz in der Nähe von Potsdam, und ließ sich daselbst nach seinen eigenen Angaben ein bescheidenes Haus bauen, wie es sich „für einen armen Gutsbesitzer“ schickt. Hier führte die glückliche Familie ein idyllisches Dasein, besonders Louise, welche die Natur über Alles liebte.

[7] „Ich muß,“ sagte die sinnige Frau, „den Saiten meines Gemüths jeden Tag einige Stunden Ruhe gönnen, muß sie gleichsam wieder aufziehen, damit sie den rechten Ton und Anklang behalten. Das gelingt mir am besten in der Einsamkeit, aber nicht im Zimmer, sondern in dem stillen Schatten der freien, schönen Natur. Unterlasse ich das, dann fühle ich mich verstimmt, und das wird noch ärger im Geräusche der Welt. O, welch’ ein Segen liegt doch in dem abgeschlossenen Umgang mit uns selbst!“

Trotz dieser Neigung zu Einsamkeit und innerer Sammlung verschmähte sie keineswegs den Verkehr mit gleichgesinnten Freunden, mit ehrenwerthen Männern und Frauen, welche in Paretz stets willkommen waren. Auch nahm sie an dem Leben und selbst an den Vergnügungen ihrer Untergebenen lebhaften Antheil. Die hohe Fürstin vergaß gern ihre Hoheit und mischte sich bei passender Gelegenheit in die lustigen Tänze der jungen Bauernburschen und Mädchen. Selbst die strenge Frau Oberhofmeisterin legte zuweilen die steife Etiquette ab und ließ sich von dem Kronprinzen zu einem „Hopser“ im Freien verführen, wie der alte General von Köckeritz in einem begeisterten Briefe über seinen Aufenthalt in Paretz berichtet. Der genannte Herr, welcher sich weniger durch feinen Geist als durch biedere Gesinnung und Gemüthlichkeit auszeichnete, gehörte als Adjutant des Kronprinzen zu den Freunden des Hauses und erfreute sich der besonderen Gunst seines Gebieters. Um so mehr fiel es auf, daß der General sich stets nach aufgehobener Tafel sogleich entfernte, ohne sich an der Unterhaltung zu betheiligen. Man glaubte, daß der alte Herr sich zurückzöge, um sein ihm unentbehrliches Mittagsschläfchen zu machen, bis es der hohen Wirthin gelang, den wahren Grund seiner Abwesenheit zu entdecken. Das nächste Mal, als Köckeritz wieder vom Tische aufstand und forteilen wollte, trat ihm die Kronprinzessin mit einer gestopften – Pfeife und einem brennenden Fidibus in den Händen entgegen, indem sie mit bezaubernder Liebenswürdigkeit ihn anredete: „Heute, lieber Köckeritz, sollen Sie mir nicht wieder entschlüpfen. Sie werden bei uns Ihre gewohnte Pfeife rauchen.“

Mit besonderer Heiterkeit und ungezwungener Lust wurde in Paretz das Erntefest gefeiert. Gleich nach Tisch zogen die Arbeiter, Schnitter und Mägde nach dem Schloß unter den fröhlichen Klängen der Dorfmusik, um der Herrschaft den mit frischen Blumen und Bändern gezierten Kranz zu überreichen. Der Kronprinz trat mit seinen Gästen in ihre Mitte und hörte die an ihn gerichtete Rede der Großmagd an, worauf dieselbe den Erntekranz zu den Füßen der Herrin legte. Das Erscheinen der „gnädigen Frau von Paretz“ gab das Signal zu einem allgemeinen Vergnügen. Die Damen und Herren des Hofes drehten sich mit den flinken Dirnen und Burschen im Kreise und folgten dem Beispiel der hohen Gebieter, welche sich durch ihr freundlich herablassendes Benehmen alle Herzen gewannen. Ein nicht minder fröhliches Volksfest war der Jahrmarkt in Paretz, wo zahlreiche Besucher aus Berlin herbeiströmten. Mitten in dem Gewühl erschien die gütige Louise und vertheilte Kuchen, Pfeffernüsse und andere Kleinigkeiten an die Dorfkinder, welche sie zutraulich umringten und mit ausgestreckten Händen ihr entgegenriefen: „Mir auch, mir auch, Frau Kronprinzessin!“

Diese schönen, sonnigen Stunden und Tage wurden jedoch durch eine Reihe trüber, folgenschwerer Ereignisse unterbrochen, welche die Glücklichen in tiefe Trauer versetzten und sie an den Ernst des Lebens mahnten. Während der Vorbereitungen zum heiligen Weihnachtsfeste erkrankte Prinz Louis, der geliebte Bruder, und starb. Der herzzerreißende Abschied von dem Sterbenden und der Schmerz um diesen Verlust erschütterte den Kronprinzen so sehr, daß sein Leben in Gefahr schwebte. Wenige Wochen nach dem Begräbnisse des liebenswürdigen Prinzen folgte ihm die verwittwete Königin, die würdige Gattin Friedrich’s des Großen, Elisabeth Christine, welche von Louise wie eine Mutter geliebt wurde, und endlich am 16. November 1797 der regierende König, Friedrich Wilhelm der Zweite, der in seinem Marmorpalais zu Potsdam den Folgen seiner körperlichen und geistigen Erschöpfung erlag.

Mit schweren Sorgen und im vollen Gefühl seiner ernsten Pflichten übernahm der Kronprinz die Regierung, von den edelsten Vorsätzen und Wünschen für sein Volk beseelt. Sogleich nach seiner Thronbesteigung ließ er die Gräfin von Lichtenau verhaften und später aus Berlin verweisen. Der intriguante General von Bischofswerder, der bekannte Geisterbeschwörer, verlor seinen mächtigen Einfluß, und der Urheber des berüchtigten Religionsedictes und der theologischen Prüfungs-Commission, der pietistische Wöllner, erhielt seinen Abschied, nachdem ihm der König eigenhändig geschrieben: „Früher ist kein Religionsedict im Lande gewesen, aber gewiß mehr Religion und weniger Heuchelei.“ – Trotz des Geschreies der Dunkelmänner wurde dem freisinnigen Philosophen Fichte der Aufenthalt in Berlin mit den schönen Worten gestattet: „Wenn es wahr ist, daß der Fichte mit dem lieben Gott in Feindseligkeiten begriffen ist, so mag dies der liebe Gott mit ihm abmachen. Mir thut es nichts.“ Den Behörden wurde die Entfernung träger, unfähiger und unredlicher Beamten empfohlen und die strengste Ordnung, Sparsamkeit und Thätigkeit zur Pflicht gemacht; eine eigene Cabinetsordre wurde erlassen, welche den damals so übermüthigen Officieren das „Brüskiren“ von Civilpersonen auf das Strengste verbot. Dagegen aber konnte der damals siebenundzwanzigjährige König, der in Folge seiner Erziehung an allzu großer Bescheidenheit litt und kein Vertrauen zu seiner eigenen Kraft besaß, sich leider nicht entschließen, vollständig mit dem alten, verrotteten System zu brechen und die charakterlosen Räthe seines verstorbenen Vaters, den Minister Haugwitz und den Cabinetsrath Lombard, zu beseitigen.

Die Königin Louise gab das herrlichste Beispiel edelster und reinster Weiblichkeit. Der König und seine Gemahlin vereinigten sich, das durch französische Einflüsse zerrüttete Familienleben am Hofe wieder herzustellen, die vornehme Liederlichkeit zu unterdrücken und durch bürgerliche Einfachheit, strenge Sittlichkeit und Zucht Allen vorzuleuchten. Auch als König blieb Friedrich Wilhelm der Dritte ein abgesagter Feind jedes Ceremoniells; im Verkehre mit seiner Gattin behielt er nach wie vor das vertrauliche „Du“ bei. Seine Brüder mußten ihn Fritz nennen, und er selbst sprach nur von „seiner Frau“, sowie sie von „ihrem Manne“, was damals für eine unerhörte Neuerung galt. Selbst in Gegenwart der Diener wurde fast ausschließlich nur die sonst verpönte deutsche Sprache gebraucht. Wie früher sah man Beide Arm in Arm zu Fuß durch die Straßen Berlins wandern. Bei einem Besuche des Christmarkts im Jahre 1797 traten sie an eine Weihnachtsbude, um Einkäufe zu machen, und als eine gewöhnliche Bürgersfrau ehrfurchtsvoll ihren Handel abbrach, um dem Herrscherpaare Platz zu machen, sagte die Königin in ihrer leutseligen Weise: „Stehen bleiben, liebe Frau! Was würden die Verkäufer sagen, wenn wir ihnen die Käufer vertreiben wollten!“ Zugleich erkundigte sie sich nach den Verhältnissen der Frau, und da Louise von ihr hörte, daß Jene auch einen Knaben von dem gleichen Alter des Kronprinzen habe, kaufte sie einige Spielsachen, welche sie der erfreuten Mutter mit den Worten überreichte: „Nehmen Sie, liebe Frau, und bescheeren Sie diese Kleinigkeiten Ihrem Kronprinzen im Namen des meinigen!“

Auf einem Balle, den die Königin besuchte, bemerkte sie eine liebenswürdige junge Dame, welche wegen ihrer bürgerlichen Herkunft von den adeligen Herren der Gesellschaft nicht zum Tanze aufgefordert wurde. Kaum entdeckte sie die Ursache dieser Zurücksetzung, so bat sie den König, mit derselben Dame zu tanzen und sie so auszuzeichnen, damit die beschämten Herren ihren Fehler wieder gut zu machen suchten. Bald darauf redete sie bei der großen Cour die junge schüchterne Frau eines Officiers an, welche auf die Frage, „Was sie für eine Geborene sei?“ in ihrer Verlegenheit die von Allen belachte Antwort gab: „Ach, Ihre Majestät! Ich bin gar keine Geborene.“

„Ei, Frau Majorin,“ erwiderte die Königin mit feinem Lächeln. „Sie haben mir naiv-satirisch geantwortet. Ich gestehe, mit dem Ausdruck: von Geburt sein, habe ich nie einen vernünftig sittlichen Begriff verbinden können, wenn damit ein angeborener Vorzug bezeichnet werden soll; denn in der Geburt sind sich alle Menschen ohne Ausnahme gleich. Allerdings ist es von hohem Werth, ermunternd und erhebend, von guter Familie zu sein und von Vorfahren und Eltern abzustammen, die sich durch Tugend und Verdienst auszeichneten, und wer wollte das nicht ehren und bewahren? Aber dies findet man Gott Lob! in allen Ständen und aus den untersten selbst sind [8] oft die größten Wohlthäter der Menschheit hervorgegangen. Aeußere glückliche Lagen und Vorzüge kann man erben, aber innere persönliche Würdigkeit, worauf am Ende doch Alles ankommt, muß jeder für sich und seine eigene Person durch Selbstbeherrschung erwerben. Ich danke Ihnen, liebe Frau Majorin, daß Sie mir Gelegenheit gegeben haben, diese, wie ich glaube, für’s Leben nicht unwichtigen Gedanken unbefangen auszusprechen, und wünsche Ihnen in der Ehe viel Glück, dessen Quelle nur in unserem Herzen liegt.“

Durch solche humane Worte und rein menschliche Züge erwarb sich Louise die Liebe ihres Volkes, das in ihr den guten Genius des Königs verehrte. Um die hohe Frau schaarten sich alle guten und reinen Elemente der Gesellschaft; die Besten ihrer Zeit erblickten bereits in ihr das Ideal edelster Weiblichkeit und erkannten ihre Bedeutung für das durch ihren Einfluß wieder erstehende und aus tiefer Versunkenheit sich erhebende Familienleben.


(Fortsetzung folgt.)



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Um eines Knopfes Dicke.


Skizze aus dem Eisenbahnleben von M. M. von Weber.


„Nun, da kommt Ihr endlich, Ihr alten Pudel- und Bärenhäuter; der Punsch hat schon zwei Atmosphären Dampfdruck,“ rief der alte pensionirte Locomotivführer Zimmermann, in einer mächtigen Punschbowle rudernd, einigen dunkeln, vierschrötigen Gestalten entgegen, die tief in dicke, nur rothe Nasen und lustige Augen freilassende Pelze eingeknöpft, schneegepudert, pustend und stampfend in das Locomotivführerzimmer zu Bürglitz traten. –

Heute, am Sylvestertage, ist ausnahmsweise der Tisch in der Führerstube sauber weiß gedeckt, und oben auf dem Tische, zunächst am Ofen, steht die mächtige Bowle, in der der alte Zimmermann kräftig arbeitet. Und die Dämpfe, die daraus steigen, und die leeren Rumflaschen, die dabei stehen, lassen nicht im Zweifel, daß sein Gebräu eins „mit Hochdruck“ für Kehlen „wie Siederöhren“ bestimmtes, ein „fester Führerpunsch“ sei.

„Pest! Vater Zimmermann, böser Dienst heute zum Sylvester!“ rufen die Eintretenden, den Schnee abschüttelnd und sich aus Pelzen, Jacken, Mützen und Ueberstiefeln schälend.

„Was wißt Ihr Zuckerpuppen denn von bösem Dienst! In Euren Glaspalästen,[1] die Euch jetzt die Directionen über Eure Trittbretter bauen lassen, auf Euren Maschinen, die Euch mit ihren sanften Federn wiegen, wie Eure alte Kindermuhme auf ihren Armen! Ihr hättet mit uns Anno neununddreißig und vierzig auf den kleinen Maschinen stehen sollen, die so hart und bockig gingen, daß Ihr jeden Schienenstoß von der Sohle bis unter die Mütze fühltet, und die nicht weiter wollten, wenn der Schnee eine Hand hoch auf den Schienen lag. Und darauf standen wir ganz frei, Tag und Nacht, ohne Fach und Dach, im Decembernachtsturme, in der Julihitze und im Gewitterhagel – ohne weiteren Schutz als unseren Rock und unser wettergegerbtes Fell. Das war harter Dienst! Was wißt Ihr davon! Und wahrlich, was ist Euer schlimmster Dienst gegen das, was sie heute unsern Hennig zum Jahresschluß haben durchmachen lassen, der sein Führerexamen mit Glanz abgelegt hat! Unter freiem Himmel auf der Maschine, da ist Gott bei uns, in der Schulstube aber der Gottseibeiuns. Und da ist er ja der Geprüfte, Gemarterte – Hurrah!“

„Hurrah!“ rief der Alte dem Eintretenden entgegen, kräftig secundirt von sechs rauhen Kehlen; sechs harte, feste Rechte streckten sich dem jungen Manne zu, der in schwarzer Sonntagskleidung, gerötheten, offenen Gesichts, und mit jenem klaren Fernblick in den blauen Augen, der, außer dem Matrosen, nur dem Locomotivführer eigen ist, unter sie trat, etwas verlegen und linkisch die huldigende Begrüßung erwidernd.

„Nun, wie war’s? Wie ging’s? Hast Du beim Examen geschwitzt? Hat Dich der Maschinenmeister Knoll tüchtig gezwickt?“ – „Platz nehmen! Punsch!“ tönte es von den ihn umringenden rußigen Cameraden auf ihn ein.

„Ruhe da!“ dröhnte Zimmermann’s rostige Stimme dazwischen. „Platz nehmen, ja; Punsch, nein! Hörnig und Franz fehlen noch, die mit dem Güterzug hereinkommen. Er ist um zwanzig Minuten verspätet, wie mir der Telegraphenfritz vorhin sagte, und muß gleich da sein. Gleiches Recht und gleiches Getränk für Alle – sonst holt der Teufel alles reguläre Reglement.“

„Nun ja,“ hub der junge Gefeierte an und trocknete sich den bei der Erinnerung wieder ausbrechenden Angstschweiß von der Stirn, „sie haben mich weidlich gedrillt. Ich wurde schon nach dem neuen Regulativ examinirt. Es saß wohl eine fünf Meter lange Reihe von Herren um mich herum, von denen ich, außer unseren Maschinenmeistern, noch keinen auf einer Locomotive oder in einer Werkstatt gesehen habe.

Und unsere Meister waren nicht die Schlimmsten. Sie fragten mich scharf durch, das ist wahr, bis auf die Knochen, aber man verstand sie und man konnte ihnen vernünftig antworten. Aber das, was die anderen Examinatoren – hochgestellte und gelehrte Herren waren es – von mir verlangten, verstand ich nur halb. Sie sprachen kein Eisenbahndeutsch mit mir, und was sie wissen wollten – nun ja, ich wußte es – das hatte ich, nur um es beantworten zu können, aus den Büchern gelernt, die mir der Herr Werkführer Herzel geliehen hatte. Vorgekommen war mir’s nie im Dienst; gebraucht hatte ich’s nie und werd’s wohl auch nicht brauchen mein Lebelang.“

„Und was war’s denn etwa?“ begann Camerad Böhmig zu fragen, seine Cigarre anzündend, als die Thür der Führerstube plötzlich aufgestoßen wurde. Eine Wolke von Schneestaub quoll herein; aus derselben entwickelten sich die dunkeln Gestalten zweier neuer Ankömmlinge, die der erwarteten Führer der beiden Maschinen, welche „vor dem verspäteten Güterzuge gelegen hatten“. – „Bravo! daß Ihr kommt,“ jubelte es ihnen entgegen, „jetzt den Punsch ausgetheilt, und nach dem Festessen in die Restauration geschickt!“

„Hier ist ein Braten dazu,“ rief einer der Ankömmlinge, und hob einen halbverbrannten Hasen, den er bei den Hinterläufen gefaßt hatte, in die Höhe.

„Wo hast Du das Vieh her, was soll’s damit?“

„Herr Lampe hat sich die Ehre geben wollen, sich selbst für Hennig’s Festmahl aufzutischen, aber ist wohl etwas zu hitzig gewesen und hat sich mit Haut und Haar zu braun gebraten,“ lachte der Besitzer des Hasen. „Die rothen Signallichter meines ‚Pluto‘ jagten ihn aus der Schneegrube auf, in der er auf der Böschung ganz behaglich geduckt saß, und er fing an, mit unserem Zuge um die Wette zu laufen. Wohl zwei bis drei Minuten lang sah ich den kleinen, dummen, schwarzen Kerl beim Scheine meines Feuers im zweiten Gleise neben der Maschine über den Schnee hinfliegen. Ich that einen kurzen Pfiff, da bekam er einen Schreck, prallte vorwärts, gewann Vorsprung, kam in das rothe Licht der Signallaternen – das mochte ihn blenden – er schlug einen Haken vor der Maschine wie vor einem Hunde – quer über das Gleis. Ich schaute aus, wo er drüben wieder zum Vorscheine kommen würde, aber er kam nicht. Ich dachte, er sei todt gefahren oder unter dem Zuge zurück gelaufen, und vergaß das Thier. Als aber in Seestadt der Rost meiner Maschine schlackenfrei gemacht werden soll, schreit der unterirdische Geist mit der Feuerkrücke aus der Aschengrube herauf: ‚Herr Hörnig, Herr Hörnig! Sie haben sich ja einen Braten mitgebracht.‘ Ich denke, dem Kerl hat das Feuer des ‚Pluto‘ das Hirn versengt, steige ab und sehe nach. Seht, so wahr ich hier sitze, liegt mein Hase vom Bielitzer Gehölz unten in meinem [9] Aschkasten, todt und halb geschmort. Der Aschkasten mochte ihn wohl im Sprunge gefangen haben.[2] Der hatte es eilig gehabt, gebraten zu werden.“ Lautes Gelächter folgte der Erzählung des jungen Führers.

„Da lachen sie, die dummen Bengel, über das arme Vieh,“ murrte Zimmermann, die Gläser frisch füllend, dazwischen, „weil sie nicht wissen, wie verdammt es Einem so unter einem Asch- und Feuerkasten zu Muthe ist.“

„Und wissen Sie denn das, Vater Zimmermann?“ riefen mehrere Stimmen im Tone des starken Zweifels.“

„Ich weiß Alles, das wißt Ihr Burschen recht gut, und habe Alles durchgemacht, was zwischen der Unterkante der Schienen und der Oberkante eines Locomotivschornsteins vorgehen kann,“ erwiderte Zimmermann.

„Aber im Aschkasten haben Sie doch nicht gesteckt?“ lachte die übermüthige Gesellschaft.

„Nicht ganz,“ erwiderte der alte Führer sehr ernst, „aber darunter, und stückweis auch beinahe darin. Aber ich sage Euch, daß ich wohl dabei gewesen bin, wie aus einem stolzen Zuge von prächtigen Wagen, voll lustiger Menschen auf einen Ruck – ehe ihr die Hand nach der Pfeife erheben, oder eine Bremse anziehen könntet – ein Haufen von buntem Scheitholze, Schrauben- und Achsen- und Räderbruchstücken wurde, unter dem Stöhnen und Hülfegeschrei hervordrang und den verzweifelnde Menschen umjammerten, und wie Locomotiven, wie junge Katzen über das Dach, über die Böschung hinab sprangen und sich überkugelten, ein-, zwei-, dreimal, Räder oben, Schornstein unten, und Alles Dampf, Trümmer, Feuer, Zischen und Geschrei war – daß mir aber nie das Herz in fünfunddreißig Jahren Eisenbahndienst so still gestanden hat, wie unter dem Aschkasten –“

„Erzählen, Vater Zimmermann! Erzählen!“ riefen die rauhen Stimmen im Kreise, denen man es anhörte, daß sie gewöhnt sind, über das Klirren, Rasseln und Poltern der Maschine hinaus zu sprechen.

„Na, ich will’s wohl thun,“ erwiderte dieser, indem er langsam seinen Tabaksbeutel aufschnürte und seine kurze Pfeife zu stopfen begann, „obwohl ich nicht gern von der Geschichte spreche. Es dreht sich mir immer noch was hier unter der dritten Rippe herum, wenn ich daran denke.

Seht, Jungens, die Hände, die diesen Beutel damals stickten, wären beinahe dabei zu Wittwenhänden geworden, und mein Karl und mein Julchen wären gar nicht auf der Welt, wenn Ihr mich damals schon wie jetzt den ‚dicken Franz‘ hättet heißen dürfen.“

„Warum denn gerade deshalb, Vater Zimmermann?“ frug es wieder im Kreise.

„Nun, so brennt Euch denn in Gottes Namen wieder frische von Eueren verdammten modischen beizenden Glimmstengeln an – sie passen zu Euch Puppen in den Glaskästen, wie die kurze Pfeife zu uns Kraftkerlen unter Gottes freiem Himmel paßte – und gebt die Gläser her! Dann aber haltet die Mäuler, bis ich fertig bin! –

Es war Sylvesterabend wie heute, Anno 1845, vor vollen, ausgeschlagenen dreißig Jahren, und ein Hundewetter, Schneetreiben und Regenschlacker durcheinander. Ich lag als blutjunger Führer auf dem Hauptbahnhofe in der Residenz in Station und hatte vorm Jahre geheirathet. Ihr wißt, die Station ist ein schändlicher Platz für den Dienst; mag der Sturm herblasen wo er will, über den Platz, der, wie ein Kuchenbrett auf dem Tische, in der Ebene liegt, fegt er immer hin. Nach der Stadt hinein geht’s durch einen kleinen Einschnitt mit zwei Gleisen, von denen das eine immer in der ersten Stunde jedes Schneetreibens zuweht. Gleich wenn man durch den Einschnitt durch war, im dritten Hause der Gärtnergasse, hinter der alten Oelmühle, die wir so oft verwünschten, weil wir immer beim Vorbeifahren den Dampf absperren mußten, um nicht durch die Funken aus dem Schornsteine ihr Schindeldach anzuzünden, wohnte ich mit meiner Louise und dem eben geborenen Franz, der jetzt Werkführer bei Rüdrich’s ist.

Also am Sylvesterabend 1845 kam ich mit einem schweren Güterzuge von Griesthal herauf nach der Residenzstation und hatte ganze vierzehn Stunden bei sechs Grad Kälte und Sturm auf der Maschine gestanden. Ich war steifgefroren wie ein Bock und freute mich auf den Sylvesterpunsch wie ein Affe. Es dunkelte schon, als ich einfuhr, und durch das Schneegeflimmer hindurch sah die Station mit ihren hundert und aber hundert Lichtern an Perrons und Weichen aus wie eine große Weihnachtsbescheerung. Schlechte Bescheerung für mich! – Da war von den Weihnachtsfeiertagen her eine wahre Wagenburg von so ungefähr fünfhundert Wagen auf der Station zusammengefahren – und die mußten rangirt werden, damit die Sachen nach dem Neujahrsfeste gleich fort konnten.

Und kaum steige ich von der Maschine im Heizhause, so kommt der Schirrmeister an mich heran und sagt: ‚Zimmermann, Hauser ist krank geworden. Ihr müßt für ihn die dritte Rangirmaschine übernehmen.‘ ‚Schockschwerenoth!‘ sage ich, ‚aber in Gottes Namen, wenn’s nur nicht bis Mitternacht dauert, Herr Schirrmeister – da muß ich zu Hause sein, sonst giebt’s nächstes Jahr ein Unglück.‘

‚Narrenspossen,‘ sagt der Schirrmeister, ‚haltet Euch nur d’ran, daß Ihr fertig werdet!‘ und hinaus ist er wieder in den Schneewirbel.

Mir war die Sache fataler, als sie werth war; ich schob das Gruseln, das mir über die Haut lief, auf das unheimliche Wetter, das mich anschnaubte, als ich mit der Maschine hinauskam. Die ganze Luft war voll Schneestaub und Kältenebel, und wenn die weißen Gespenster im Sturme quer über die Maschine jagten, sah ich den Schornstein kaum.

Von den Lichtsignalen erwischte man nur dann und wann einen rothen, weißen oder grünen Blick, von den Horn- und Pfeifensignalen hörte man, bei dem Heulen des Windes in den Wagen und Wagenrädern und dem Singen in den Telegraphendrähten und dem Rollen der Wagen und dem Maschinenpfeifen nur gerade so viel, daß man eben gewahr wurde, daß man sie nicht verstanden hatte. Von den Zurufen der Rangirer nahm man schier nichts wahr, als daß sie schrieen.

Dazu wurden ein paar hundert Wagen von drei Maschinen gleichzeitig in allen Richtungen verschoben, überall prallten sie wie große Schatten aus Nebel und Schneegestöber heraus und verschwanden gleich wieder darin, und Alles war dumpf vom dicken Schnee; man hörte sie nicht rollen, nicht kommen, nicht gehen. Die armen Weichensteller und Rangirer sprangen, naß bis auf die Haut, im knietiefen Schnee zwischen den rollenden Wagen hin und her. Ihr wißt ja, wie eine Rangirstation in einer Winternacht aussieht! Der liebe Gott thut dann das Beste dazu, daß wir nicht Alle dabei zu Brei gefahren werden, und ich habe mich mein Lebtag immer gewundert, wenn ich am andern Morgen nicht gehört habe, Der oder Jener sei auf dem Platze geblieben. Und wenn was geschieht, holen die gestrengen Herren am grünen Tische, in der warmen Stube, das Reglement aus der Tasche. Nun freilich, es kann nicht anders sein. Wenn sie’s aber nur ein einziges Mal in ihrem Leben draußen mit ansehen wollten! –

In jener Nacht also war es gar schlimm, und der Sylvesterpunsch mochte überdies den Leuten im Voraus im Kopfe spuken, denn das Rangiren ging in einem Tempo, als commandire es der Satan. Die Wagen flogen nur so hin und her, und die Lichter gingen vorbei wie Blitze, und man hörte überall das Dröhnen und Klingen der zusammenstoßenden Puffer, und die Leute krochen unter und zwischen den Wagen umher, als wären die Räder Pfefferkuchen und die Puffer Daunenbetten. Da war vor Allem ein kleiner, wüster Schirrmeistergehülfe – ich mochte den Kerl nicht leiden, denn er war mir einmal bei einem Mädchen sehr in die Quere gekommen – aber ich mußte staunen, wie ich überall seine Signallaternen: rundgeschwungen, quergeschwungen, kreuzweise, oben, unten, hinten und vorn sah, und seine grelle Stimme durch den Sturm hindurch hörte.

Und seht, den Mann hatte ich eben angerufen, als ich ihn wieder zwischen zwei Puffern durchschlüpfen sah. Er solle nicht [10] so teufelsmäßig wagehalsig sein bei dem Wetter, wo man nichts sehe und höre und überdies ausrutschen könne. Er hatte mich aber ausgelacht und mich angeschrieen: ‚Kümmert Euch um Euren Dienst, Zimmermann, und nicht um mich! Wir müssen fertig werden vor Mitternacht – vorwärts, vorwärts!‘ Und weg war er gewesen; ich hatte ihm von Herzen: ‚Hol’ Dich der Teufel!‘ nachgerufen – und das soll ich mein Lebtag nicht vergessen, und auf dem Sterbebette noch bereuen.“ – Hier machte der alte Locomotivführer eine Pause, trocknete sich die Stirn, that einen Zug aus dem Punschglase und fuhr dann fort:

„Ich hörte ihn noch ‚los‘ commandiren, drüben bei meinem Collegen, und die Wagenketten klirren und dann einen Ton – nun, wie denn gleich? Habt Ihr einmal einen Metzger mit einem Beile einen dicken Knochen durchhauen gehört? – und einen dumpfen Schrei, und dann nur wieder das Kling und Klang der zusammenstoßenden Puffer; mir fuhr’s kalt durch die Glieder; da bekam ich das Signal zum Vorrücken, und da war kein Zaudern. Vorwärts! Vorwärts! Ich war gleich weit weg von der Stelle, am anderen Ende des Bahnhofs, da konnte Niemand wissen, was geschehen war.

Aber ich that meinen Dienst nur noch wie im Traume, und als wir eine halbe Stunde darauf fertig waren, und ich wieder in die Remise fuhr, sagte nur der Vorstand: ‚Wißt Ihr schon, Zimmermann? Der Schirrmeistergehülfe Porges ist todtgefahren worden, todtgedrückt zwischen den Puffern.‘ Ich habe nicht viel gefragt – mir war’s gruslig zu Muthe, und ich weiß nicht, wie ich die Maschine besorgt habe und auf den Heimweg gekommen bin. Als ich am Perron vorbeikam, sah ich einen Trupp mit Laternen dort stehen, und etwas mit einem Mantel Zugedecktes auf dem Schnee liegen. Ich hatte dabei nichts zu suchen; es schüttelte mich, und ich kann Euch sagen, Jungen, ich hätte wer weiß was darum gegeben, wenn ich ihn nicht eine halbe Stunde vorher zum Teufel gewünscht hätte. Ich gab mir schwere Mühe, mir das aus dem Kopfe zu schlagen, es war ja nicht so schlimm gemeint gewesen, eine Redensart, wie sie unter uns bösen, groben Mäulern gang und gäbe war. Unter Euch jungen Kerls ist’s noch schlimmer, und es würde Euch curiren, wenn Ihr das Wurmen damals da drinnen in mir gefühlt hättet. Na, endlich kam ich dahin, mir die helle, warme Stube daheim, mit den Filzpantoffeln und der Louise und dem kleinen Jungen und dem Kater und dem singenden Wasserkessel auf dem Ofen und der Arakflasche und Zuckerbüchse und den Citronen auf dem Tische vorzustellen, so wurde es denn allgemach helle in mir.

Daß ich nun, bei dem Hin- und Hersinniren nicht viel auf Wetter, Wind und Weg und Steg geachtet hatte, könnt Ihr denken, und ich merkte nur eben, daß es noch wirbelte und heulte in der Luft, als ich in den Einschnitt bei der alten Oelmühle eingetreten war, durch den hindurch man die Fenster meines Hauses gesehen hätte, wenn man überhaupt zehn Schritte weit hätte schauen können. Ich ging im rechten von den beiden Gleisen im Einschnitte fort, weil es für meinen Weg schneefrei war, und ich von ihm aus das Haus zuerst sehen konnte.

Und zwar ging ich ganz ruhig, denn ich kam vom Bahnhofe, und Ihr wißt, es ist das Einfahrtgleis, also konnte mir kein Zug von rückwärts nachkommen und von vorn war keiner zu erwarten. Auch hätte ich ihn kommen hören müssen.

Als ich nun mitten in dem Einschnitte war, der, wie Euch bekannt ist, in der Curve liegt und in dem man an jenem Abende nicht eine Wagenlänge weit sehen konnte, hör’ ich hinter mir pfeifen und gleich darauf das Klipp und Klapp der Räder auf den Schienenstößen eines langsam herankommenden Zuges. Ich hörte auch, daß die Maschine den Zug vor sich herschob, denn der Maschinenschlag war viel weiter hinten, als das Räderrollen. Ich dachte: Aha! Das ist der Reservezug von ungefähr zwanzig Achsen, der vorhin auf dem Gleise drüben stand und den sie nach dem Güterbahnhofe hinüberdrücken. Alles das ging mir aber nur ganz dunkel durch den Sinn, wie man immer mechanisch an den Dienst denkt, auch wenn man Kopf und Herz von anderen Dingen voll hat. Ich sage: ganz dunkel; im Grunde ging’s mich ja nichts an, denn der Zug mußte gleich auf dem linken Gleise an mir vorbeikommen. Als aber das Ping und Pang der Räder auf dem hartgefrorenen Gleise ganz nahe heran gekommen war und ich schon hörte, wie die Nothkette an dem vordersten Packwagen hin- und herklirrte, und sah, wie das Licht seiner Signallaterne neben mir auf dem Schnee hinzugleiten begann, drehte ich den Kopf zur Seite, um den Kerls drüben auf dem Zuge ein ‚Prosit Neujahr!‘ zuzurufen –

Aber da war kein Zug auf dem Gleise drüben – und in demselben Augenblicke nun – da bekomme ich einen gewaltigen Stoß in den Rücken. Feuer sprühte mir aus den Augen – puff, liege ich flach im Gleise, auf denn Gesicht, und pung – pung – beginnen die Wagen über mich wegzugehen.“

Der alte Locomotivführer machte hier wieder eine Pause. Es war todtenstill im Führerzimmer; weitgeöffneten Auges, vorgebeugt, bleich, umgaben die kräftigen Gesichter der jungen Führer den Tisch. – Er füllte die Gläser wieder, drückte den Tabak in die Pfeife fest und fuhr fort:

„Seht, Kinder, wenn wir so hier um den Tisch sitzen, oder auf der Maschine stehen, oder selbst auch, wenn wir, wie heute der arme Hennig, das Malheur eines Examens durchmachen, da kommen die Gedanken aus unseren dicken Schädeln immer einer nach dem andern – langsam ‚orndlich‘ und instructionsmäßig gegangen, man kann jeden einzelnen anschauen, jedem guten Tag und guten Weg wünschen; ja, die Herren Maschinenmeister sagen sogar manchmal, wir Führer dächten langsamer als andere Menschenkinder, weil alles Schnelle aus uns heraus, in unsere Maschinen gefahren sei. – Aber, Kinder, in dem Augenblicke, der zwischen dem Stoße und meinem Flach-auf-der-Erde-liegen inne war, habe ich so viel gedacht, wie sonst zwischen Ostern und Pfingsten nicht.

Zuerst an Daheim, die warme Stube und Alles darin und an das Neujahrsgeläut und den Neujahrskirchgang morgen – na, davon sprechen wir nicht –, dann an den Schirrmeistergehülfen, der im Bahnhof unter dem Mantel auf dem Schnee lag, und dann calculirte ich so deutlich, als hätte ich sein Rangiren zu commandiren, über den Zug, der über mich weg ging. Warum kam er denn auf dem unrechten, dem Gleise, in dem ich gegangen war, dem Einfahrtsgleise herauswärts? Und da hatte ich es gleich, was ich vorhin bei meinem Grübeln vergessen hatte. Das Ausfahrtsgleis hatte ich ja am Mittag noch tief im Schnee verweht gesehen, und deswegen fuhren sie auf dem Einfahrtsgleise hinaus. Dann sah ich den Zug deutlich stehen; es konnten nicht mehr als zwanzig bis zweiundzwanzig Achsen Güterwagen sein, alles unsere eigenen Wagen; die gingen alle hoch über den Schienen; die thaten mir nichts – ich lag flach genug zwischen den Gleisen. Aber die Maschinen, die Aschkasten der Maschinen! Ich kannte die drei Maschinen, die noch auf der Station im Feuer standen, wie meine Tabaksdose. Der ‚Wittekind‘ ginge harmlos über mich weg, auch wenn ich beleibter gewesen wäre, als ich damals war; der ‚Hermann‘ konnte mir allenfalls auch noch gnädig sein, wenn er wenig Wasser und Feuer im Kessel hatte, und die Kiesfüllung, auf der ich lag, nicht dick war, aber unter dem ‚Sirius‘, einem von den neuen niedrigen Elephanten, war ich ein todter Mann. Ja, ein gleich Todter, das wäre nicht das Schlimmste gewesen, aber ein langsam in Stücke zerrissener und zerdrückter Mann. Welche Maschine war es nun, die da kam?

Alles das, seht Ihr Kinder, hatte ich eigentlich zwischen Stoß und Liegen gedacht, aber als ich einmal lag, hörte alles Calculiren auf und nur ganz instinctmäßig streckte ich mich und zog den Athem an und machte mich dünn wie der Marder, der aus der Falle will, und zählte die Achsen, die über mich weg gingen. Da sprach deutlich jedes Ping und Pang Silben aus, die lauteten: Ein schlech-ter Tod – ein schlech-ter Tod. Und jetzt greift mich etwas Schweres an, nein, es ist noch nichts; es gleitet und streift nur klirrend der Länge nach über mich hin, und schlägt mich kalt in’s Genick, es ist eine herabhängende Zugkette. Aber jetzt kommt’s, der Boden beginnt, leise erst, dann stärker und stärker unter mir zu zittern, ganz langsam kommt’s, dann sah ich von der Seite, obwohl ich den Kopf in ein Taggerinne drückte, daß die Schiene und der Schnee und die rollenden Räderschatten über mir immer heller und heller roth beleuchtet wurden; das war das Maschinenfeuer, das aus dem Aschekasten schien. – Jetzt fühlte ich es heiß werden, am bloßen Kopfe und Genick. Die Schwellen drückten sich nieder; das Gleis dröhnte und bog sich; der Boden bebte gewaltig unter mir, da – ist’s. – Und zugleich packte es mich auch mächtig im Rücken, drückte [11] vorwärts – Gott sei mir gnädig! – da, Ritz und Ratz riß etwas an mir entzwei und – pang – pang – wälzend, donnernd und stampfend war die Maschine über mir hinweg. Der Boden zitterte nur noch nach. Vom freien Himmel herab stürzte das Schneewehen wieder auf mich herab.

Wie ich auf die Beine gekommen, weiß ich nicht. Ich stand da und schüttelte mich und sah die rothen Lichter der Maschine in der Curve verschwinden, die mir aussahen, wie die Augen des leibhaftigen Todes.

Dann fühlte ich mich an, was mir denn die Maschine vom Leibe gerissen habe, und seht, da fehlten nur die ordnungsmäßigen Knöpfe hinten am Dienstmantel. Ich ging zum nächsten Weichenwärter, ließ mir eine Laterne geben und suchte die Knöpfe im Schnee. Als wir aber zu Hause um die Bowle saßen, in die ich bald zu viel Arrak, bald zu viel Zucker that, daß die Louise mich verwundert fragte: ‚Mann, was hast Du denn heut? Du zitterst ja und sprichst gar nicht,‘ da kam mir erst Verstand und Sprache wieder, und ich zeigte Louise die Knöpfe und erzählte ihr die Geschichte und sagte, die Knöpfe zwischen den Fingern haltend: ‚Siehst Du, um so viel nur war Dein Männchen heute Abend vom schlechten Tode entfernt.‘ Seht, hier habe ich die Knöpfe und werde sie tragen, bis der Tod einmal wirklich kommt.“

Der alte Führer öffnete den Rock und zog zwei Knöpfe mit dem königlichen Wappen hervor, die er an einer Schnur auf seiner rauhen Brust trug.

„Und nun wißt Ihr auch, warum ich vorhin die arme Creatur im Aschkasten bedauerte. Ich habe Euch die Geschichte erzählt, weil nun einmal die Rede darauf kam, sonst spreche ich nicht gern davon, weil Todesangst dabei war, und an die erinnert sich kein Christenmensch gern. Laßt Euch dadurch die Courage nicht schwächen! Ihr braucht sie im neuen, wie im alten Jahre. Hört! es schlägt gerade Zwölf. Prosit Kinder, Prosit und Wohlfahrt noch auf hunderttausend Locomotivmeilen!“

Wien, 22. November 1875




Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Das rothe Quartal.


(März–Mai 1871.)


Von Johannes Scherr.


1. Mordpräludium.


Man schrieb den 18. März 1871, und der souveräne Unverstand flackerte und qualmte wieder einmal vollkräftig in der „Weltleuchte“ Paris.

Schon am 31. Oktober von 1870, dann am 22. Januar von 1871 hatte das Schwefelfeuer stark geglommen und geglostet, aber es hatte an der Apathie der Pariser zu wenig Nahrung gefunden und konnte daher durch die schwachen Hände der „Défense nationale“ sanft niedergedrückt werden.

Heute dagegen war, wie schon gesagt, der souveräne Unverstand obenauf. Hüben und drüben. Denn der Frevelhaftigkeit der Insurrektion entsprach vollständig die Schwäche der Regierung. Freilich ist es billig, anzuerkennen, daß die letztere, das heißt die Diktatur von Monsieur Thiers, in der denkbar schwierigsten Lage sich befand. Sie fand sich ja den deutschen Siegern, der royalistisch-klerikalen Nationalversammlung und der socialistischen Emeute zugleich gegenübergestellt. Sie hatte die Mehrheit der Versailler Versammlung von rückwärtigen Ueberstürzungen abzuhalten; sie hatte die Frankreich auferlegten Friedensbedingungen zu erfüllen, das fremde Besatzungsheer zu verköstigen, die Lösungsmilliarden herbeizuschaffen, die Armee ganz neu zu organisiren, während die hunderttausende von französischen Soldaten noch Kriegsgefangene in Deutschland waren, und mit all dieser ungeheuren Arbeit beladen sollte sie auch noch der rothen Revolte die Stirne bieten.

Trotzdem trifft die Regierung der gerechte Vorwurf, daß sie weit mehr hätte thun können, als sie gethan hat, um den 18. März zu verhindern, und daß sie, was sie that, weit besser hätte thun können. Sie mußte ja wissen und sie wußte auch zweifellos, welche Elemente der Ueberspanntheit, des Utopismus, des Wahnsinns, der Begehrlichkeit und der Zerstörungswuth die bewaffnete sogenannte Nationalgarde der Hauptstadt in sich barg. Des Unheils Anfang war allerdings die im Waffenstillstandsvertrag auf Andrängen Favre’s stipulirte Fortdauer der bürgerwehrlichen Bewaffnung, aber die Regierung von Thiers ließ den Schaden fortschwären, indem sie es zuließ, daß die Wehrmänner der socialistisch-internationalen Verschwörung hunderte von Geschützen unter dem lächerlichen Vorgeben, dieselben vor der Wegnahme durch die am 1. März ihren Triumpheinzug in Paris haltenden Deutschen zu bewahren, auf dem Montmartre, auf der Butte Chaumont und anderwärts zusammenbrachten und daselbst als ein augenscheinliches Aufstandsmittel bewachten. Möglich, wahrscheinlich sogar, daß es dem glühend patriotischen Greise, welcher von Versailles aus Frankreich regierte, als unmöglich, ja als undenkbar vorkam, Franzosen könnten angesichts der in den Ost- und Nordforts von Paris stehenden und den ganzen Norden und Osten Frankreichs noch unter der Gewalt ihrer Waffen haltenden deutschen Sieger die Fahne des Bürgerkrieges erheben. Allein ein so welterfahrener und menschenkundiger Mann wie Thiers mußte auch diese furchtbare Möglichkeit zugeben, so er erwog, daß in der Hauptstadt tausende und wieder tausende von Leuten lungerten und lauerten, welchen der Glaube an die höllische Botschaft, daß die Arbeit ein Fluch und der Genuß, der bestiale Sinnengenuß, das einzige Heil sei, alles, was heilig unter Menschen, alles, was die Gesellschaft bindet und zusammenhält, Vaterlandsliebe, Nationalehrgefühl und Pflichtbewußtsein, längst zu einem Spottlachen gemacht hatte. Es war ja das Geheimniß der Komödie, daß die Nationalgarden der revolutionären Quartiere einem „Centralcomité“ gehorchten, welches ungefähr so zustandegekommen, wie ihrer Zeit in der Nacht vom 9. auf den 10. August von 1792 die revolutionäre Commune von Paris. Man wußte, daß die schon im letzten Winter ausgegebene Losung „Errichtung einer Commune!“ in den Massen zum gehätschelten Afterglauben geworden war. Man wußte, daß der alte Erzverschwörer Blanqui, welcher zur Zeit Louis Philipps seine Mitverschworenen an die Polizei verrathen und überliefert hatte, trotzdem aber oder gerade darum beim Gesindel seine Geltung und seinen Einfluß behalten hatte, in Paris alles für den Ausbruch einer Commune-Insurrektion vorbereitet hatte und dann nach Lyon abgereist war, um dergleichen Insurrektionen auch in den Städten von Süd- und Ostfrankreich zu organisiren. Man wußte endlich, daß seit Wochen Katilinarier aller Länder, alle die kosmopolitischen oder, besser gesagt, kosmopolakischen Abenteurer, von denen geschrieben steht: „La révolution c’est notre carrière“ in der Hauptstadt zusammenströmten, Geiern gleich, die ein Aas witterten. Ja, man wußte das alles in Versailles, und dennoch wähnte man, die offenkundige Gefahr nicht beachten oder gar verachten zu dürfen. Und als man dann nach langem sträflichem Zaudern zum Handeln und zum Einschreiten sich entschloß, als man zum Zurückfordern und Zurückholen der auf dem verbarrikadirten Montmartre aufrührerisch in Batterie gebrachten Kanonen und Mitrailleusen vorschritt, da war das Unternehmen so schluderig geplant und wurde dasselbe so lässig und faul ausgeführt, daß es den Verschwörern nur die seit Wochen erlauerte Gelegenheit zum Losschlagen und damit zur Ergatterung der Herrschaft über Paris gab.

Die militärischen Verfügungen waren unzulänglich getroffen und wurden zusammenhangslos in’s Werk gesetzt. Die dazu verwendete Truppenzahl war wohl ausreichend – die Besatzung von Paris war ja auf 30,000 Mann gebracht worden – aber gerade auf den Punkt der Entscheidung hatte man ein durchaus unzuverlässiges Linienregiment hingeschickt. Anfangs ging alles ganz glatt. In den ersten Stunden vom 18. März setzten sich die Kolonnen der Truppen gegen den Montmartre, gegen Belleville und die Butte Chaumont in Marsch. Im ersten Morgengrauen waren alle Zugänge zu diesen Höhequartieren [12] von Westen und Süden her ausreichend besetzt. Eine Brigade, zusammengesetzt aus dem Infanterieregiment Nr. 88, einem Bataillon Chasseurs de Vincennes und etlichen Schwadronen Gensd’armen, steigt unter dem Befehle des Generals Lecomte die steilen engen Gassen zum Thurme Solferino auf dem Montmartre hinauf. Der General Susbielle erreicht und besetzt zur gleichen Zeit die Place Pigalle mit einer Schwadron berittener Chasseurs und einer Kompagnie Gensd’armen. Beide Generale finden weder auf ihrem Wege noch droben Widerstand. Es war eine Ueberraschung in aller Form und die schlechtbewachten Geschütze befanden sich demnach alsbald in der Gewalt der Truppen. Es handelte sich nur noch um das Fortschaffen der Kanonen. Aber gerade damit haperte es. Weder war die nöthige Anzahl von Pferden zur Stelle, noch konnte sie zeitig genug herbeigeschafft werden. Ueberhaupt klippte und klappte nichts, und vom letzten Trainsoldaten an bis hinauf zum ersten General des Tages wurde heute kläglich offenbar, daß die auf Frankreich lastende Wirrsäligkeit der Anarchie auch in den Ueberresten der Armee grassirte.

Derweil hatten Frühschoppentrinker von den Weinstuben aus, sowie Frühstücksbrote holende Köchinnen in den Gassen vom Montmartre und in den benachbarten Quartieren das Lärmzeichen gegeben. Schaaren von johlenden Jungen, fistulirenden Weibern und fulminirenden Bürgerwehrmännern begannen unter dem Rollen des Generalmarsches und dem Heulen der Sturmglocken herbeizuwimmeln und heranzuwuseln. Gruppen von zornigen Patrioten und zornigeren Patriotinnen schossen wie aus dem Boden auf, und von Haufen zu Haufen ging das wilde Geschrei: „Verrath! Verrath! Man will uns unsere Kanonen stehlen. Der Erzschurke Thiers will uns wehrlos machen und dann zusammenkartätschen. Nieder mit den Kanonenräubern!“

Der „Erzschurke“ Thiers! Das war der dem Manne, welcher die Befreiung seines Landes von der fremden Invasion und den Wiederaufbau des französischen Staatswesens dermalen zur Arbeit seiner Tage und zur Sorge seiner Nächte machte, dargebrachte Dank. Ein richtiger Volksdank, wie er überall im Weltgeschichtebuch steht. Nur Gaukler und Gauner sind der Gunst und des Beifalls der niedrigen wie der vornehmen Menge gewiß. Die Kunst der Popularität besteht darin, noch gemeiner zu sein als der obere und der untere Pöbel, und wer Menschen wie Völkern imponiren will, der muß damit anfangen, sie zu mißachten. Die Nerone, die Tamerlane, die Iwane, die Napoleone werden in der mit bebendem Erstaunen zu ihnen aufblickenden Erinnerung der Nachwelt zu Halb- oder Ganzgöttern. Warum? Weil sie der niederträchtig vor ihnen im Staube liegenden Menschheit den Eisenfuß auf den Nacken drücken. „Kusch!“ Dem Sokrates den Schierlingsbecher und dem Propheten von Nazaret den Kreuzgalgen, aber dem Sulla die Diktatur und dem Scheusal von Capri die Weltherrschaft und die Vergötterung! Manon Roland auf’s Schaffot, Marat in’s Pantheon! Dem Schiller einen unbezahlten Fichtenbrettersarg, dem glücklichen Börsenschwindler und Millionendieb ein marmoren Mausoleum! Immer und ewig dieselbe wüste Travestie von des Aristoteles Hymnus auf die

„Tugend, der Sterblichen mühvolles Ziel,
Herrlichster Kampfpreis irdischen Trachtens,
Jungfrau von weltüberwindender Macht!“

Es war kein Gefecht, sondern nur ein wirrsäliges Durcheinander von Arbeiterblusen, Weiberjupons, rothen Soldatenhosen und blauen Bürgerwehrröcken, von kecker Zumuthung auf der einen und jämmerlicher Nachgiebigkeit auf der andern Seite, was die Sache entschied. Die Truppen wollten sich nicht schlagen. Als Nationalgardenbanden aus Montmartre, La Villette und Batignolles durch die Rue Müller gegen die vom General Lecomte besetzte Stellung heranrückten, ging alsbald das „Fraternisiren“ los, das heißt die Soldaten, voran das 88. Linienregiment, entschlugen sich aller Mannszucht, kehrten die Gewehrkolben in die Höhe, lösten ihre Reihen, mischten sich mit dem „Volke“, ließen sich von Dirnen in die zahlreichen Kneipen ziehen und sangen in rasch erlangter Weinbegeisterung mit allen den Patrioten und Patriotinnen um die Wette die Marseillaise, welche der arme Rouget de l’Isle sicherlich ungedichtet gelassen hätte, so er vorausgehört, von was für Schmutzmäulern sie Anno 1793 und Anno 1871 hergebrüllt werden würde. Der unglückliche General Lecomte, dessen Befehl, auf den andringenden Insurgentenhaufen zu feuern, nur das eben gemeldete Resultat gehabt, wurde mitsammt seinem Stabe und einer Anzahl fest und treu gebliebener Gensdarmen gefangen genommen und, umheult von geiferndem und zeterndem Gesindel, zunächst nach Chateau Rouge in der Rue Clignancourt geschleppt.

Aehnlich klägliches Ende nahm das Unternehmen der Regierung auf der Place Pigalle und auf der Butte Chaumont in Belleville. Mit Ausnahme der Gensdarmerie, welche doch bei weitem nicht stark genug war, den Aufruhr zu bändigen, ließen sich die Truppen überall bereitwillig finden, mit dem Pöbel zu „fraternisiren“, d. h. Gesetz, Ehre und Pflichtgefühl mit Füßen zu treten. Der General Vinoy, welcher die also schmählich vergeckte Expedition befehligte, sah sich, um seine noch unverführten Regimenter vor Ansteckung zu bewahren, genöthigt, gegen Mittag den Rückzugsbefehl zu geben. Demzufolge räumten die Regierung und ihre bewaffnete Macht die ganze am rechten Seineufer gelegene Stadt, und auch die Räumung der Quartiere des linken Ufers ließ nicht lange auf sich warten. Herr Thiers mochte sich erinnern, daß er am Morgen des 24. Februars von 1848 dem stürzenden Louis Philipp gerathen hatte, alle Truppen zusammenzunehmen, um sich mit denselben aus der aufrührerischen Hauptstadt nach St. Cloud zurückzuziehen, um dann wohl vorbereitet von dort aus angriffsweise gegen die Revolution vorzugehen. Ueberdies blieb auch für die Regierung, nachdem zwei Aufrufe, welche sie im Laufe des Tages an die Nationalgarde richtete, um diese gegen eine „Handvoll Verblendeter, welche sich über das Gesetz stellten und geheimen Oberen gehorchten, zur Vertheidigung des Vaterlandes und der Republik“ unter die Waffen und zum Handeln zu bringen, vollständig erfolglos sich erwiesen hatten, kaum etwas anderes übrig als der Rückzug nach Versailles. Die Truppen zum „Fraternisiren“ geneigt, die Bürgerwehr, auch die der nicht insurgirten Quartiere, dem siegreichen Aufstand mit stumpfer Ergebung zusehend, – unter diesen Umständen mußte der Gescheidere vorderhand nachgeben, d. h. einpacken und gehen.

Während aber die Regierung zurückwich, ging das aus seiner Verborgenheit aufgetauchte „Centralkomité“ vorwärts, d. h. es ließ aus seinem Sitzungslokal Nr. 6 in der Rue des Rosiers auf Montmartre seine Vorwärtsbefehle ergehen und diese wurden pünktlich vollzogen. Nachdem im Laufe des Vormittags die Quartiere Montmartre, Velleville und La Villette mittels praktisch und emsig getriebener Barrikadologie zu wohlverschanzten, kanonenbekränzten Hauptstützpunkten der Insurrektion gemacht waren, wurde des Nachmittags angriffsweise gegen das Centrum von Paris vorgegangen. Die Eroberung war leicht, denn es gab keinen Widerstand. Als der Abend zu dämmern begann, befand sich so ziemlich das ganze rechtsuferige Paris in der Gewalt der Rothen, nachdem sie schon gegen 4 Uhr neben anderen wichtigen Punkten und Gebäuden auch des auf dem Vendomeplatze gelegenen Generalstabspalastes sich bemächtigt hatten. Dieses Haus und dieser Platz, sie sind denn das militärische Hauptquartier des Aufstandes geworden.

Ein so großer und rascher Erfolg war doch wohl einer Siegesfeier werth. Wie wär’ es, wenn wir diesen 18. Märztag roth anstrichen im ohne Zweifel wieder einzuführenden Kalender von 1793? „Blut ist ein ganz besonderer Saft“, und „la sainte canaille“ will ihr Amusement haben. Der christliche Herrgott zwar ist abgethan in unserem Glauben oder Nichtglauben, aber mit dem alten grimmigen Baal-Moloch ist es etwas anderes, und an Opfern fehlt es ja nicht.

In Wahrheit, es fehlte nicht an Opfern und die Opferung stand nicht lange aus.

Der gefangene General Lecomte war, wie oben gemeldet wurde, zunächst in’s Chateau Rouge gebracht und daselbst durch das 169. Bataillon der Nationalgarde bewacht worden. Wuthschnaubendes Gesindel schrie nach seinem Blut. Um 3 Uhr Nachmittags machte dieses Geschrei den beiden Kapitänen, welche das Bataillon befehligten, so angst und bange, daß sie, der Verantwortlichkeit sich zu entschlagen, beschlossen, den Gefangenen in die Rue des Rosiers hinauftransportiren zu lassen. Auf dem Wege dahin war das Leben des Generals wiederholt in Gefahr. Droben wurde er von einem Haufen seiner eigenen, verrätherischen Soldaten mit scheusäligen Schimpfreden empfangen.

[13]

Ernst Possart als Richard der Dritte.
Originalzeichnung von Eduard Grützner in München.

[14] Er setzte allem dem Infamen die Verachtungsruhe eines Braven entgegen, die einzige Waffe, welche einem Gentleman dem Mob gegenüber ziemt.

Derweil geschah in einer der an das Elysée Montmartre stoßenden Straßen zur Vervollständigung des Opferfestes Folgendes. Ein wüster Knäuel von Bürgerwehrleuten, Soldaten, Weibern und Kindern verhandelt die Ereignisse des Tages und erschöpft sich in Verwünschungen des Generals Lecomte. „Er hat seine Soldaten zum feuern auf das Volk kommandirt; dreimal hat er Feuer kommandirt, der Lumpenhund,“ geifert eine Megäre von Marketenderin. „Er hat rechtgethan,“ sagt nachdrucksam ein hochgewachsener, weißbärtiger Greis von soldatischer Haltung, aber in schwarzem Bürgerkleid. Die Menge beantwortet diese Bemerkung mit einem Hagel von Flüchen und Verwünschungen. Aber uneingeschüchtert sagt der alte Herr noch lauter: „Ja, der General that nur seine Schuldigkeit. Ihm war von seinen Vorgesetzten befohlen, die Kanonen zu holen und die Rottirungen zu zerstreuen, und er mußte diesen Befehl vollziehen.“ Die Megäre, vielleicht die Enkeltochter einer der „Guillotinefurien“ von 1793, springt mit einem Satze vor den greisen Wahrheitsager hin, sieht ihn scharf an, hält ihm die geballte Faust unter die Nase, schnaubt ein wüthendes „Ha!“ hervor und schreit dann, rückwärts gewandt, der Horde zu: „Das ist Clément Thomas.“

Ein Todesurtheil. Denn seit lange schwärender Pöbelhaß ruhte auf dem General Clément Thomas. Er hatte ja zweimal, im Jahre 1848 und dann wieder im Winter von 1870–71, das Oberkommando über die Pariser Nationalgarde gehabt, und beidemale hatte er ehrlich und energisch seine Schuldigkeit gethan. Auch gegen den Pöbel gethan. Jetzt war der Pöbel obenauf und pöbelte darauf los, wie von ihm zu erwarten.

Wahrscheinlich wäre der furchtlose Greis auf der Stelle in Stücke zerrissen worden, so nicht ein Blusenmann vorsprang und dem General zudonnerte: „Ha, du wagst es, den Volksmörder Lecomte zu vertheidigen? Wart’, wir wollen dich ihm beigesellen. Das wird ein hübsches Paar abgeben.“ Allseitige Zustimmung zu diesem sinnreichen Vorschlag. Die Rotte zwingt den Greis in ihre Mitte und schleppt ihn unter fortwährenden Lästerungen und Drohungen fort zu dem kleinen, geheimnißvollen Hause Nr. 6 in der Rue des Rosiers. Kurz zuvor war der General Lecomte dort angelangt. Clément Thomas wird ihm beigesellt zu einem furchtbaren Todesgang.

Was für Scenen spielten sich jetzo, zwischen 4 und 5 Uhr, in diesem Hause ab? Man weiß es nur beiläufig, nicht genau; denn alles war ja Trubel und Tumult, Unsinn und Wuth. Waren Mitglieder vom „Centralkomité“ anwesend? Es scheint nicht, denn es wird berichtet, das Komité habe zu dieser Stunde in der Mairie des 18. Arrondissement Sitzung gehalten. Von anderer Seite wird freilich gemeldet, allerdings seien Mitglieder des Komité in der Rue des Rosiers anwesend gewesen und sie hätten gewünscht, daß man das Leben der beiden Generale schonte und dieselben als Geiseln in Haft behielte. Aber auch angenommen, dieser Wunsch sei vorhanden gewesen und ausgesprochen worden, so fand er jedenfalls keine Erfüllung. Die unselige Legende der Revolution that wieder einmal ihre Wirkung, die Nachäfferei des schöngefärbten Schreckensjahres 1793 mit seiner durch Lamartine „vergoldeten“ Guillotine verlangte nach einer Gerichtsparodie, wie solche bei Gelegenheit der Septembermorde von 1792 in den Gefängnissen von Paris aufgeführt worden waren. Ein „Kriegsgericht“ sollte gebildet werden, um die beiden Generale davor zu stellen. Wer von den Anwesenden noch eine Fiber von Ehre und Scham im Leibe hatte, weigerte sich in dem Mordgerichte zu sitzen. Aber draußen heulte das Pack sein „A mort! A mort!“ mit steigender Wildheit, und so that ihm drinnen eine Dreck- und Spottgeburt von Tribunal den Willen. Ein Kerl Namens Verdaguer, notorischer Dieb zwar, aber dermalen Kommandant des 91. Bataillons, und der „Kapitän“ Kerdanski, ein polnischer Revolutionsreisender, saßen mit auf der Richterbank. Die traurige Posse währte jedoch, so kurz sie war, der draußen heulenden Meute zu lange. Die souveräne Pöbelhefe, vermischt mit Franctireurs, Liniensoldaten, garibaldischen Rothhemden, strudelt hinein in den Saal und schwemmt die beiden Generale weg, die Treppe hinab und in den kleinen Garten.

Hier spielt sich die Mordscene ab.

Ein Kerl in der Uniform eines Bürgerwehrofficiers packt Clément Thomas, hält ihm einen Revolver an die Kehle und brüllt ihn an: „Gestehe, daß du die Republik verrathen hast!“

Der greise Republikaner gibt nur ein Achselzucken der Verachtung zur Antwort.

„Zum Tode mit ihm! Zum Tode!“ heult die dicht am Gartenzaun gestaute Menge.

Er wird gegen die Hintermauer des Gartens gestoßen. Dort richtet er sich zur ganzen Höhe seines Wuchses auf, kreuzt die Arme und erwartet die mörderischen Kugeln.

Ein Augenzeuge hat nachmals sich des Umstandes erinnert, daß der frischausgeschlagene Blüthenzweig eines der Pfirsichbäume, welche an der Mauer standen, über das Haupt des Generals emporgeragt habe wie zur Bekränzung des Opfers.

Eine Rotte von uniformirten und nichtuniformirten Halunken entladet blindlings die Gewehre auf den verlorenen Mann. Er wird nicht getroffen, nur seinen Hut durchschlägt eine Kugel. Er nimmt ihn ab und entlastet seine Seele mittels des Zornschrei’s: „Feiglinge und Schurken seid ihr allesammt.“ Da kracht wieder ein Schuß. Getroffen stürzt der Gemordete vornüber auf Brust und Antlitz, und nun zerfetzen noch mehr als vierzig Kugeln seinen Körper.

„Jetzt kommst du dran,“ brüllt man dem General Lecomte zu.

Gefaßt schreitet der also Gerufene der Mauer zu. Ein fahnenflüchtiger Soldat springt vor, hält dem General die Faust vor’s Gesicht und schreit: „Du hast mich mal für dreißig Tage in Arrest geschickt. Dafür sollst du von mir den ersten Schuß kriegen.“

Lecomte geht vorwärts, steigt über den Leichnam seines Schicksalsgenossen hinweg und stellt sich an die Mauer. „Feu!“ Diesmal ist die Salve besser gezielt und, in’s Herz getroffen, stürzt der General rückwärts zu Boden.

„Vive la république!“ brüllt die grausame Menge, ganz wie ihre Großväter und Großmütter im Jahre 1793 gebrüllt hätten, so das „rasoir national“ auf dem Revolutionsplatze sein Tagewerk gethan, d. h. den dreißigsten, vierzigsten, fünfzigsten, sechzigsten Kopf abgeschnitten hatte. Der uralte Glaube, daß alles große Neue die Bluttaufe empfangen müsse, will nicht aus dem Volke hinaus. Er ist auch wohlbegründet, wie die Weltgeschichte darthut. Aber sie thut auch dar, daß der Pöbel allzeit und überall unter dem Blute, womit die Vorschrittsideen getauft und befruchtet werden müssen, nicht sein eigenes, sondern das anderer Leute verstanden hat.

Nach vollbrachtem Morden erschien der Herr Maire des 18. Arrondissement, der Citoyen Clemenceau, mit seiner Amtsschärpe umgürtet, auf der Blutbühne. Früher zu kommen sei ihm nicht möglich gewesen, sagte er. Er sei anderwärts zu sehr beschäftigt gewesen. Auch das „Centralkomité“ war anderwärts zu sehr beschäftigt, als daß es sich um so eine Bagatelle wie die Ermordung von zwei unpopulären Generalen hätte kümmern können. Ebenso war auch der Kommandant der Bürgerwehr von Montmartre, der Bürger Bergeret mit seinem rothbefederten Generalshute, anderwärts beschäftigt gewesen zur Stunde, als der Gräuel in der Rue des Rosiers geschah, nämlich im Hôtel de Ville, um bei der Theilung der Beute und der Vertheilung der Machtrollen nicht zu kurz zu kommen.

Ja, im Hôtel de Ville wurde am Abende des 18. März das Hallali geblasen. Dorthin hatte sich das „Centralkomité“ übergesiedelt, und seine Mitglieder, die noch heute Morgen nichts gewesen als geheime Verschwörer, waren jetzt öffentlich die Herren von Paris und dehnten mit Behagen die proletarischen Glieder auf der damastenen und sammetnen Polsterung der Prachtmöbel, womit das Empire die Säle des Stadthauses ausgestattet hatte.

Ein Zug von wahrhaft rabelais’schem Kynismus geht durch die ganze Geschichte des rothen Quartals von 1871. Auch bei dem Einzuge des Centralkomité in’s Hôtel de Ville kam derselbe zum Vorscheine. Frohüberrascht, in das alte Hauptquartier der Revolution ohne irgendeinen Widerstand eingezogen zu sein, soll der Bürger Assi, welcher der neuen Stadthausregierung vorsaß, ausgerufen haben: „Wir brauchten die Thore des Hôtel de Ville [15] nicht einzuschießen, sondern sie gingen von selber auf, als wir auf dem Grêveplatze unser Wasser abschlugen.“

Nach eingebrochener Nacht ging es hoch her in den Schenken der Stadt rechts von der Seine. Das „Volk“ von Paris schwelgte in dem Hochgefühle, wieder einmal eine Revolution gemacht zu haben, die Angstphilister luden, statt ihre Gewehre zu laden, ihre Koffer, und „la sainte canaille“ torkelte weinselig über die Boulevards.



Ein entlaufener Lehrling.


Von Herman Schmid.



Eines unserer guten deutschen Sprüchwörter sagt: „Was ein guter Haken werden soll, das krümmt sich bei Zeiten.“ Es würde nicht schwer sein, in allen Kreisen des Lebens Belege für diesen Satz zu finden; in keinem derselben aber kommen sie wohl häufiger und entschiedener vor, als wenn – um beim Gleichnisse zu bleiben – das junge Häkchen zu einem Anker werden soll, der ein neu ausgerüstetes Fahrzeug auf dem anscheinend so glatten und doch so sturmreichen Meere der Künste zwischen Klippen und Untiefen hindurch begleiten und in dem endlich erreichten Hafen festhalten soll. Die Natur des Künstlers aller Gattungen hat etwas von der Seidenraupe an sich, welche lediglich in dem Drange, ein frei schwebender Schmetterling zu werden, freiwillig ihren Cocon durchbohrt, ehe es dem Aufseher gelungen ist, den Schmetterlingstrieb in ihr zu tödten und sie dahin zu bringen, sich für den gewöhnlichen Bedarf des Lebens ruhig abhaspeln zu lassen. Der praktische Seidenzüchter hat deswegen doch kein Recht, geringschätzig auf die durchbohrten Cocons herabzusehen, weil sie ihm höchstens Floretseide liefern; denn eben die ausgekrochenen Schmetterlinge sind es, welche wieder Eier legen und so den Bestand des ganzen Raupenstaates unterhalten.

Ein schönes Beispiel einer jungen Kraft, die in den Verhältnissen, in denen sie eingesponnen lag, nicht zu bestehen vermochte und sie daher schon frühzeitig aus innerem Drange zerbrach – ist der Schauspieler Ernst Possart, ein Meister im Fache der Charakterdarstellung und gegenwärtig eine der ersten Zierden des Münchener Hoftheaters.

Zu einem praktischen Berufe bestimmt, brachte er es schon in den Knabenjahren dahin, dem ihm innewohnenden Triebe zur Schauspielkunst Nahrung und Raum zu verschaffen, und als das gewöhnliche Leben ihm die Flügel verschneiden wollte, brach der kaum gereifte Jüngling seine Bande und seinem unauslöschlichen Feuereifer gelang es, als er kaum das erste Mannesalter erreicht hatte, sich auf eine Kunststufe zu schwingen, welche ihn berechtigt, mit den ersten Größen seines Faches um die Palme zu ringen.

Ernst Possart, geboren zu Berlin am 11. Mai 1841, stammt aus einer bürgerlichen Familie, deren Lebenskreisen die Bühne ebenso fern lag, wie ihre Anschauungen sich von derselben abwendeten; dennoch glimmte in der Brust des Sohnes ein Funke für dieselbe, und als der Knabe nach Beendigung des Gymnasialunterrichts als Lehrling in einer Buchhandlung untergebracht war, fand der Funke Zeit und nach der Art des Geschäftes wohl auch Nahrung, im Stillen fortzuglimmen. Der verborgene Brand sollte eben zum Ausbruche kommen, und der Lehrling war bereits im Begriffe, Eltern und Haus, Lehrherrn und Geschäft in heimlicher Flucht zu verlassen.

Die Dazwischenkunft eines Freundes verhinderte die Explosion. Es war dies der rühmlichst bekannte Schauspieler Kaiser (zuletzt Director des großherzoglich Badischen Hoftheaters in Karlsruhe), welcher mit dem Vertrauen auch das Geheimniß des Knaben errang und ihn dadurch von seinem Vorhaben abbrachte, daß er ihm, gegen das Gelöbniß, letzteres nicht auszuführen, heimlichen Unterricht zusagte und ertheilte. Das Liebhabertheater Urania in Berlin, an welchem schon manches schöne Talent sich die ersten Sporen verdiente, war der Deckmantel für die damit verbundene Beschäftigung.

Endlich waren die Tage der Freiheit gekommen; die Lehrzeit war zu Ende, und Lehrherr und Eltern sahen Possart im Geiste schon wieder in das Geschäft eintreten und sich erst so recht breit darin festsetzen; auch der heimliche Lehrer rieth dazu – vermuthlich um nicht die ganze Verantwortung für ein etwa verunglücktes Menschenleben auf sich zu nehmen. Die Nothwendigkeit der Entscheidung trat mit ihrem ganzen unabweisbaren Ernste an den jungen Mann; entschlossen warf er seine Würfel und ging über seinen Rubikon – er entfloh und ließ sich am Theater in Breslau engagiren, begleitet von dem Schmerz und Unwillen der Seinen.

Aber der Trost hierfür sollte als Lohn der Entschlossenheit nicht ausbleiben und der frühgekrümmte Haken sich bewähren als festgehärteter Stahl.

Durch das Entweichen eines anderen Schauspielers kam der junge Künstler in eine unerwartet reiche und verschiedenartige Beschäftigung und wurde erst so recht eigentlich über sich selbst dahin klar, daß das sogenannte Charakterfach die Sphäre sei, auf welche ihn seine Anlagen mit Vorzug verwiesen. Er gefiel als Narciß außerordentlich und erlebte die gewiß seltene Genugthuung, daß seine Darstellung des Inders Matali in dem Gottschall’schen Trauerspiele „Der Nabob“ den im Theater anwesenden Mörder des Schleifermeisters Anger, den Sergeanten Geisler, derartig im Innersten traf, daß der Verbrecher nach der Scene, in welcher Matali, von Gewissensbissen gequält, sich selber ersticht, plötzlich aufsprang und verwirrt und entsetzt das Theater verließ, um am anderen Tage sich reuevoll dem Gerichte zu stellen.

Nach kürzerer fortbildender Thätigkeit an den Bühnen in Bern und Hamburg kam Possart zum Gastspiele nach München, um in das Charakterfach einzutreten, eine schwierige Aufgabe, denn einer seiner Vorgänger war seit Jahren der Hamburger Karl Jost gewesen, ein unvergessener Meister aus der alten Schule strenger, aber schöner Natürlichkeit. Desto bedeutsamer war der Erfolg, welchen Possart gleich mit der ersten Rolle als Franz Moor errang: es war ein vollständiger Sieg, der augenblicklich klar machte, daß in dem jungen Manne wieder eine künstlerische Kraft ersten Ranges gewonnen sei.

Seitdem hat Possart unter stetem und steigendem Beifall des Münchener Publicums nicht nur die gesammten größeren und kleineren Rollen seines Faches mit Auszeichnung gespielt, er hat auch vieles Angrenzende sich annectirt, und seine Leistungen sind dadurch nicht blos der Zahl nach, sondern auch nach der inneren Bedeutsamkeit gewachsen, so daß man jede seiner neuen Rollen mit Recht als eine neuerklommene Stufe des Fortschritts bezeichnen kann. Scharf sich ausprägende Menschen sind es in Scherz und Ernst, die seinem Naturell am besten zusagen und in denen er den Dichter schauspielerisch in einer Weise zu ergänzen versteht, daß vor den Augen des Zuschauers eine volle Persönlichkeit erscheint, welche ganz das Werk des Dichters und doch die eigentliche Schöpfung des Schauspielers ist. Franz Moor’s zähnefletschende Bosheit und Richard des Dritten kaltberechnende Tücke gelingen ihm ebenso sicher, wie die sonnenklare Ruhe Nathan’s oder der Humor eines Shakespeare’schen Narren. Zwei seiner großartigsten Leistungen sind Hamlet und Lord Byron’s Manfred, welch letzterer hauptsächlich durch ihn (mit Schumann’s Musik) in München zu wiederholter, höchst beifälliger Darstellung kam. In Beiden kommt die Tiefe und der Gedankenreichthum des glücklosen Ringens eines an und in sich untergehenden Gemüthes sowohl rhetorisch, wie schauspielerisch zur vollsten Geltung, und es gelingt dem Darsteller, zwischen idealer Zeichnung und realer Farbengebung jene glückliche Mitte zu treffen, mit welcher immer und überall die Linie der Schönheit zusammentrifft. Daher kommt es auch, daß Possart mit nicht eben großen persönlichen Mitteln doch gewaltige Wirkung zu erzielen vermag.

Wenn man auch, namentlich beim ersten Anblicke, sich mitunter von der Art seiner Auffassung befremdet fühlt, wird man doch augenblicklich eben durch diese Eigenthümlichkeit gefesselt und ihr zu folgen genöthigt, und selbst wenn man nicht damit [16] einverstanden sein kann, muß man immerhin anerkennen, daß, was der Künstler giebt, vollkommen berechtigt und durch scharfsinniges Studium aus dem Wesen der Dichtung abgeleitet worden ist. Wie als Charakteristiker und in der Kunst der Maske ist Possart auch als Rhetoriker von eminenter Bedeutung, und nur dadurch ist es ihm möglich, eine Gestalt wie Byron’s Manfred (welche für ein Drama doch nur höchst dürftig geformt und wegen der sich keineswegs steigernden Wiederholungen sehr monoton ist) so herauszuarbeiten, daß man sie wie wirkliches Leben zu ergreifen vermag.

Lange Zeit bekleidete Ernst Possart auch die Stelle eines Regisseurs und wußte in dieser Periode durch außerordentliche Sicherheit und rasche Eleganz den Vorstellungen ein eigenthümliches Gepräge zu geben. Die Ueberlast der Geschäfte hieß ihn um Befreiung von derselben nachsuchen, und der König entsprach der Bitte, damit unter dem Regisseur nicht der Schauspieler Schaden leide.

Jetzt lebt er nur seiner ausübenden Kunst, daß er aber darüber der anordnenden Bühnenthätigkeit nicht völlig untreu geworden, beweist, nebst seiner unlängst im Buchhandel erschienenen Bearbeitung von Shakespeare’s „Lear“, die vor Kurzem auf Anregung seines kunstsinnigen Chefs, des Freiherrn von Perfall, mit ihm getroffene Vereinbarung, nach welcher Possart in Zukunft, ohne mit Bureauarbeiten überladen zu sein, doch alljährlich eine Anzahl hervorragender Dramen in Scene setzen wird. Eines der ersten hiervon soll das Schauspiel „Gelbe Rosen“ von Arthur Müller sein, dem talentvollen Dichter so vieler beliebter Bühnenstücke („Gute Nacht, Hänschen“, „Die Verschwörung der Frauen“), welcher so früh den Faden seiner Schöpfungen mit eigener Hand durchschnitt. Possart war mit Müller in innigster Weise befreundet und hat von ihm die Aufführung dieses letzten Werkes wie eine Art Vermächtniß übernommen, das er in seltener, über den Tod hinausreichender Freundestreue zu erfüllen gedenkt.

Ein in den letzten Wochen am Stadttheater in Berlin durchgeführtes längeres Gastspiel hat durch einen nahezu beispiellosen Erfolg dem Künstlerschaftsdiplome Possart’s ein neues glänzendes Siegel der Anerkennung aufgedrückt; nicht nur, daß das Publicum sich zu den Vorstellungen drängte und sie mit endlosem Beifalle begleitete, auch die Kritik traf in seltener Einstimmigkeit in dem Ausspruche zusammen, daß in Possart ein Schauspieler ersten Ranges aufgetreten war. Das Gastspiel umfaßte eine ansehnliche Reihe von Charakterrollen, worunter sowohl die kleineren, wie Hans Jürge oder der alte Fritz in „Königs Befehl“, wie die größeren eines Franz Moor und Richard des Dritten neben der vollendeten Meisterschaft der individuellen Erscheinung und Durchführung, wie der Eigenthümlichkeit und Schärfe der Auffassung in gleich hohem Grade die seelisch-dichterische Durchdringung und Vertiefung der Gestalten bewundern ließen. Dies war namentlich in der Rolle Nathan’s der Fall, wo Possart nicht, wie andere Künstler, den jüdelnden Geschäftsmann darstellt, der nebenher auch in Lebensklugheit macht, sondern – gewiß nach Lessing’s Intention! – den Weisen, der zufällig zugleich Jude und Kaufherr ist. Die durchschlagendste Wirkung erzielte er jedoch mit der Rolle des Advocaten in dem Schauspiele „Das Fallissement“ von Björnstjerne Björnson, wo er den heimlich bankerotten Kaufmann in einer ergreifenden Scene mit furchtbarem Ernste, aus welchem doch das wärmste Gemüth durchblickt, gewissermaßen zwingt, wahr zu sein und seine Lage offen einzugestehen. Mit dieser Rolle hat Possart – um ein in der Theaterwelt übliches Sprüchlein zu gebrauchen – „den Apfel abgeschossen“; ihr verdankt das Stück unstreitig zum größten Theile seinen in ähnlicher Weise lange nicht dagewesenen Erfolg. Da das Stück vorher in München gegeben und zuerst zur Geltung gebracht wurde, Possart aber die Rolle dort spielte, gebührt ihm der Ruhm, dieselbe – wie man in Frankreich zu sagen pflegt – eigentlich „geschaffen“ zu haben. Das vielbesprochene Stück des norwegischen Dramatikers, das als allgemein bekannt vorausgesetzt werden darf, ist so recht ein gelungener Griff an das Ader- und Nervengewebe der Gegenwart, aber auch Possart’s Advocat Berend ist eine Schöpfung, welche, obwohl auf breiter realistischer Darstellung beruhend, doch an die besten idealen Bestrebungen der früheren Schauspiel-Traditionen anknüpft.

Die Züge des „entlaufenen Lehrlings“, welcher so bald ein Meister geworden, giebt in unserer heutigen Nummer der berühmte Genremaler und Schöpfer der so humoristischen Mönchsbilder, Eduard Grützner in München, in der Scene aus „Richard dem Dritten“ wieder, in welcher der heuchlerische Bösewicht, zwei Bischöfe an der Seite, im Gebet die Bürgerschaft empfängt, welche ihm die Krone anbieten soll.

Grützner hat in diesem Bilde ein kleines Meisterwerk charakterisirender Kunst geliefert. Der ränkevolle und ehrgeizige Throncandidat, in jedem Zoll, in jeder Linie eine infernalische Erscheinung, und ihm zur Seite die beiden Fanatiker der Kirche – das ist ein leben- und charaktervolles Kleeblatt, welches durch die realistische Kraft der geistigen Gestaltung nicht minder packend wirkt, wie durch die künstlerische Feinheit der technischen Durchführung, welche unser Meister ihm hat zu Theil werden lassen.




Der Spiritismus,

eine geistige Verirrung unserer Zeit.
Von Dr. S. Th. Stein.
Der Spiritisten-Congreß in der Hauptstadt Belgiens. – „Umgeist“ und „Geist“. – Die sehenden, die schreibenden und die physischen Medien. – Die verfallene Capelle in der Rue de la Regence. – Eines Excanonicus und eines Exschneidermeisters wundersame Reden. – Die Entlarvung eines Hauptspiritisten durch eine Dame. – Ein ergötzliches Experiment des Verfassers.

Am 25. September des vorigen Jahres, an dem Tage, als der internationale medicinische Congreß seine wichtigen Sitzungen zu Brüssel geschlossen hatte, eröffnete eine andere Wanderversammlung in der lieblichen Hauptstadt von Belgien ihre Verhandlungsperiode. Es war dies ein Congreß von Geistergläubigen, Somnambülen, Magnetiseuren und Gespenstersehern – congrès des spirites – ein Conglomerat moderner Anhänger des alten Cagliostro.

Das Sitzungslocal durfte von Ungläubigen nur auf ganz besondere Einladung betreten werden; dem Schreiber dieser Zeilen war es vergönnt, durch einen Anhänger der Geisterlehre zu jenen interessanten Sitzungen Zutritt zu erhalten. Dieselben versprachen einen tiefen Einblick in eine Classe von Verirrungen und Störungen des menschlichen Geistes, und dieser Umstand bestimmte mich, den bezüglichen Sitzungen als beobachtender Arzt einige Aufmerksamkeit zu widmen.

Der Spiritismus hat in den jüngsten Jahren so auffallend um sich gegriffen, die bei ihm auftretenden Hallucinationserscheinungen mehren sich in einem Maße, daß die Sache wohl der ärztlichen Beobachtung werth erscheint. Eine Heilung dieser, wie aller krankhaften Zustände kann aber nur erfolgen durch das Studium der betreffenden Krankheit, durch das ernste Eingehen auf die bezüglichen Thatsachen und die prüfende Sichtung des vorhandenen Materials. Erklären wir vornweg, ohne uns der angedeuteten Mühe unterzogen zu haben, den Spiritismus für Blödsinn, so werden uns diejenigen Anhänger der genannten Lehre, welche die große Schaar von Betrügern bilden, im Innern zulächeln, die nicht kleine Zahl der Betrogenen und der Gläubigen dagegen wird uns, wie dies schon oft geschehen, den Vorwurf machen, daß wir über eine Sache aburtheilen, welche kennen zu lernen wir uns nicht einmal die Mühe gegeben haben.

Von dieser Voraussetzung geleitet, benutzte ich die Gelegenheit, welche meine damalige Anwesenheit zu Brüssel mir bot, den Spiritismus von Grund aus zu studiren.

Der Spiritismus oder moderne Geisterglaube ist nicht mehr wie zur Zeit des Tischrückens als ein Curiosum zu betrachten, für welches einzelne Individuen eingenommen sind. Nein, es haben sich in den verschiedensten Städten von Frankreich, England und Nordamerika diese Individuen zu vollständigen Gemeinden zusammengeschaart, welche unter der Führung eifriger [17] Seelenhirten es als ihre Mission betrachten, ihre Lehre mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verbreiten. Freilich sind die Gläubigen, welche von diesen Hirten geleitet werden, recht leicht zu führen, denn ihre Spiritistenseelen sind etwas Sichtbares, etwas Greifbares, Materielles.

Der Geist im Menschen besteht nach der betreffenden Lehre aus einem doppelten Wesen und ist als eine von flüssiger Masse bekleidete Doppelseele aufzufassen. Das Seelen-Fluidum führt den Namen „Perisprit“, zu deutsch „Umgeist“. Während des Erdenlebens bildet der „Perisprit“ das flüssige Medium, welches die Seele mit dem Körper verbindet und in allen Theilen des Körpers lebt und webt. Während des Schlafs läßt die Seele den Perisprit im Körper zurück und begiebt sich in der Nacht in den Aether zu ihren himmlischen Colleginnen. Im Tod nimmt die Seele Besitz von ihrem Perisprit, den sie dem Körper nur geliehen hatte, geht mit ihm wieder in’s Jenseits und hängt ihn daselbst in den Sonntagsschrein, um ihn bei gelegentlichen Besuchen auf der Erde wieder anzuziehen und unter den Menschen zu lustwandeln.

Die Schwindel-Photographie im Dienste des Spiritismus.
 Natürliche Aufnahme. Aufnahme mit einem „Geist“.

Durch Vermittelung des Perisprit ist es der Seele ermöglicht, sich als „Geist“, wenn es ihr beliebt, auf die Erde zurückzutelegraphiren und da und dort sogar sichtbar zu werden. Sie nimmt dann gewöhnlich die Gestalt und die Kleidung des Menschen an, in welchem sie zu ihren Erdenzeiten gewohnt hatte. Bei allen Offenbarungen der Geister, bei allen Erscheinungen des Spiritismus spielt dieser Perisprit die Hauptrolle. Er ist der Schlüssel zu allen außergewöhnlichen, berühmt gewordenen Thatsachen, welche die Geschichte des Spiritismus aufzuweisen hat, und wir werden bei Beleuchtung der sonderbaren Erfahrungen, die Schreiber dieser Zeilen unter den Spiritisten gemacht, noch weiter mit diesem Perisprit zu thun haben.

Der modernen Spiritistenlehre ist eine Art von christlich-freireligiöser Schwärmerei beigemischt, welche der absoluten Verehrung der durch den Perisprit sich materialisirenden Geisterwelt eine gewisse Weihe geben soll. Die Anhänger glauben, daß die Seelen der Abgeschiedenen, in materieller Erscheinung uns fortwährend umschwebend, den einzelnen Menschen in christlicher Liebe beschützen. Es giebt unter den Anhängern des Spiritismus drei Classen von Begabten: Die Geisterseher oder sogenannte sehende Medien verfügen durch Vermittelung einer höheren Macht angeblich über die Gabe, fortwährend diejenigen Seelen zu sehen, von welchen Andere umschwebt sind und welche den sogenannten schreibenden Medien durch Leitung der Hand ihren Willen in die Feder dictiren. Eine dritte Art, die physischen Medien, in welchen nur eine Beziehung zur Geisterwelt schlummert, die aber noch nicht in der Erkenntniß soweit fortgeschritten sind, wie die genannten beglückten Personen, bilden die andere Schaar der Adepten. Die Medien sind demnach eine Art Priesterkaste, die Adepten das blindgläubige Volk. In neuester Zeit versteigt sich die Lehre sogar zu der Annahme, daß die Geister, die uns umschweben, sich incarniren, d. h. zeitweise wieder Fleisch und Blut werden, uns umarmen, küssen, necken, stoßen und sogar mißhandeln. Der berühmte englische Chemiker, der neuerdings dem Geisterglauben ergebene Mr. William Crookes, hat sogar mit dem berühmten Geist Katie King, von welchem die „Gartenlaube“ in Nummer 42 vor. J. so interessante Enthüllungen gebracht hat, nach mir von glaubwürdigster Spiritistenseite zugekommener Mittheilung ein neuplatonisches Liebesabenteuer bestanden. Eine Geisterphotographie, die mir zu Gebote stand, zeigt Herrn W. Crookes am Arme eines reizenden Frauenzimmers, recht reell und greifbar, das der große Engländer thatsächlich für einen materialisirten Geist hält. Es ist eben die „enthüllte“ Katie. Das Bild ist bei Nacht mit Magnesiumlicht in Gegenwart des berühmten Darwinisten R. Wallace photographisch aufgenommen worden. Beide, Crookes und das Frauenzimmer, zwicken die Augen zu; das Magnesiumlicht war zu hell, sodaß selbst der sonst in den Höhen so lichtgewohnte weibliche Geist die Blendung nicht vertragen konnte. – Daß Crookes und Wallace in der That an alle diese Geschichten und Firlefanzereien glauben und den „Geist“ auch recht lieb gewonnen haben, ist mir von einem berühmten Leipziger Professor, der Crookes im vorigen Herbste besucht hat, persönlich bestätigt worden.

In der Dämmerstunde des 25. September geleitete mich der obenerwähnte Freund in die Rue de la Regence Nr. 59 vor ein halbverfallenes, von rauchschwarzen Mauern umstarrtes Gebäude, in dessen Nachbarschaft verschiedene Neubauten aufgeführt werden und welches selbst dem Untergange bestimmt zu sein schien. Wir schlüpften hinter eine Mauer, stiegen daselbst eine dunkle Treppe hinan und gelangten in eine halbverfallene [18] Capelle, welche schon früher gottesdienstlichen Zwecken gewidmet war und in welcher jetzt allsonntäglich die Brüsseler Spiritistengemeinde ihren Gottesdienst hält. Hier hielt auch der Spiritistencongreß seine Sitzungen. Der Betsaal war mittelst einiger Oellämpchen kümmerlich erleuchtet; die Versammlung dürfte wohl gegen neunzig Theilnehmer (Damen und Herren) gezählt haben, welche mit gespanntester Aufmerksamkeit den Worten der Sprecher lauschten.

Wie wir beim Eintritt in das merkwürdige Sitzungslocal von dem gerade die Sitzung eröffnenden Präsidenten zu hören Gelegenheit hatten, bezweckte der Congreß vornehmlich, die Gläubigen um ein Banner zu schaaren, sowie eine gesellschaftliche Organisation zu erreichen, um den, wie der Präsident sich äußerte, mit einander verbundenen Ultramontanen und Materialisten mit Erfolg entgegentreten zu können. Nachdem noch ein früherer katholischer Geistlicher, der Excanonikus Mouls aus Bordeaux, welcher unter dem Namen Dr. Conrad in Brüssel als magnetisirender Wunderdoctor sich etablirt hat, über den Einfluß des Magnetismus auf den menschlichen Körper eine lange Rede gehalten hatte und noch einige Herren über die Geschichte des Geisterglaubens, über den Einfluß der Geisterwelt auf die menschlichen Entschließungen gesprochen und neben vielen phantastischen Hirngespinnsten auch manches ansprechende Wort über humanitäre Fragen zu Tage gefördert war, betrat der von dem Zuchtpolizeigerichte zu Paris wegen spiritistischer Umtriebe zu einem Jahr Gefängniß verurtheilte ehemalige Schneidermeister Leymarie die Rednerbühne und suchte mit staunenswerthem Rednertalent die auf ihn angehäuften Anschuldigungen zu entkräften. Leymarie war zu Paris, wie die „Gartenlaube“ ausführlich in Nummer 20 des Jahrgangs 1875 berichtet hat, mit dem Photographen Buguet verbunden und beide hatten durch Vermittelung der Geister, welche kamen um sich photographiren zu lassen, ein vorzügliches Geschäft gemacht.

Buguet hatte bei der Gerichtsverhandlung zu Paris seine Betrügereien eingestanden, in Brüssel jedoch den dort versammelten Gläubigen durch einen Abgesandten erklären lassen, daß seine zu Paris gemachten Geständnisse, sowie seine Anschuldigungen bezüglich der Theilnehmerschaft des Leymarie und des Amerikaners Firman falsch gewesen seien. Zwei Vertrauensmänner des Congresses, die Herren C. H. Fritz und Augustin Boyard, begaben sich mit Buguet auf die Kanzlei des französischen Consulats, woselbst Buguet öffentlich erklärte, daß seine Geständnisse ihm zu Paris erpreßt und daß die dreihundert Puppenköpfe, während er krank gewesen, von seinem Personal benutzt worden seien; zwei Drittel aller seiner Geisterphotographien stellten echte Geister, die wirklich neben die aufzunehmenden Personen getreten seien, dar, was übrigens auch durch die von den Angehörigen der Geister bezeugte und beschworene Aehnlichkeit documentirt sei. Auch betonte Buguet besonders, daß alle seine Angaben betreffs des Leymarie und des Amerikaners Firman falsch gewesen und dieselben als ehrenhafte, echte Medien anzusehen seien.

Dieser Firman hatte in Paris in demselben Grade durch seine spiritistischen Wunderthaten die hohe französische Aristokratie für sich einzunehmen gewußt, wie Holmes und Frau es in London gethan hatten (siehe Gartenlaube 1875, Nr. 42). Einem bekannten Pariser Arzte, dem Dr. Huguet, welcher selbst ein Anhänger des Spiritismus ist, wurden die Umtriebe des Firman endlich doch zu stark, und er beschloß den Betrüger zu entlarven. In einem Salon der Madame Huguet befindet sich ein kleines alkovenartiges Dunkelcabinet, welches mit hohen Stoffvorhängen verdeckt ist. Da die Medien die Gewohnheit haben, sich bei Darstellung ihrer Geistererscheinungen hinter Vorhängen zu verbergen, glaubte man, daß Firman diesen Schlupfwinkel zum bequemen Laboratorium seiner Geistererscheinungen ausersehen werde, und man hatte sich nicht getäuscht. Madame Huguet ließ einen geschickten Arbeiter kommen und befahl demselben in einem Winkel dieses kleinen Cabinets einen ganz engen Verschlag mit sehr kleiner Oeffnung anzubringen, aus welchem heraus man das, was in dem Dunkelcabinet allenfalls vorgehen könnte, zu beobachten im Stande sei. Der Verschlag wurde mit der Tapete des Alkoven überzogen, sodaß unmöglich ein hohler Raum dahinter zu vermuthen war. Der Verschlag selbst war mit einer kleinen Oeffnung zum Durchblicken versehen. Firman wurde zu den Gesellschaften bei Huguets eingeladen, auch oftmals zum Arrangement einer spiritistischen Sitzung aufgefordert, was er jedoch vier Monate lang hartnäckig verweigerte. Während dieser Zeit wußte sich Frau Huguet mit einer staunenswerthen Geduld mit gläubigen Spiritisten der höchsten Aristokratie zu umgeben, indem sie ihre Gäste glauben machte, zum Spiritismus sich bekehren zu wollen. Sie erklärte zum Oefteren Firman und den Spiritisten gegenüber, daß sie nur durch ein entscheidendes Experiment bekehrt werden könne.

Nachdem Firman während der genannten Zeit die Räumlichkeiten im Huguet’schen Hause zur Genüge ausgekundschaftet hatte, entschied er sich endlich, der Frau Huguet den gewünschten Beweis seiner Beziehungen zur Geisterwelt zu geben. Eines Abends, als wiederum eine auserlesene Gesellschaft versammelt war, kam er mit einer Person, welche seine Frau vorstellte, angerückt. Er war in einer ernsten und feierlichen Stimmung, gleich einem Priester, welcher eine religiöse Ceremonie auszuüben im Begriffe ist. Er hieß seine Anhänger um einen großen Tisch sich setzen und befahl, alle Lichter auszulöschen. Hierauf ließ er Psalmen singen, da diese Gesänge die Eigenschaft haben sollen, die Geister mächtig anzuziehen; seine Frau gab den Ton an, und die Jünger summten sich in eine eigenthümliche Ekstase hinein. Alles dies geschah natürlich, um die naive Gesellschaft in einen erregten Zustand zu versetzen und sie zu unschuldigen Zuhelfern einer Betrügerei zu stempeln. Bald ging das Getöse und Gerumpel in dem dunkeln Raume los, in den sich Firman begeben hatte. Umgeworfene Stühle, herabgestürzte Figuren, Gläserklirren, Zähneklappern wurde gehört; eine Trompete fing an von selbst zu tönen, spieldosenartige Weisen erklangen, zarte Glasharmonikamelodien erfüllten die Luft. Die Gesellschaft war außer sich vor Entzücken und Wonneschauer und fühlte sich so recht erhoben durch die Nähe der Geisterwelt. Da verschwand plötzlich auch Meister Firman’s Gattin hinter dem Vorhange des oben geschilderten Cabinets. Auf seinen Befehl entfernte man die letzte Lampe, welche noch einen schwachen Schimmer auf die Gesellschaft zu werfen geeignet war, in einen Winkel des Zimmers, man schob den Tisch vor die verhängte Pforte, in welcher der Geisterbeschwörer sich befand, und der Spuk sollte losgehen.

Die Gesellschaft saß erwartungsvoll um den Tisch herum; zehn Minuten vergingen in lautloser Stille. Die Aufregung der Gläubigen hatte den höchsten Grad erreicht. Man erwartete, daß Firman den berühmten Geist Quiboche, den kleinen Indianer, citiren werde – und siehe da, plötzlich bewegte sich der Vorhang; ein Männlein mit schwarzem Gesichte, weiß gekleidet, trat ein, machte seine Complimentchen und begann mit dünner Kopfstimme im Kindertone zu sprechen, der Gesellschaft guten Abend zu wünschen und wieder hinter dem Vorhange zu verschwinden.

Die Gläubigen triumphirten; die Ungläubigen ließen sie gewähren, und man bestimmte einen weitern Tag für eine zweite Sitzung. Am zweiten Abende begab sich Frau Huguet im Geheimen in den kleinen Beobachtungsraum, den sie hatte anfertigen lassen, und sie sah, bevor die Erscheinung kam, wie Firman rasch eine schwarze Maske vor das Gesicht band, ein weißes Mousselinhemd überwarf, das er in seiner Brusttasche verborgen hatte, und, sich auf die Kniee niederlassend, mit größter Geschicklichkeit in dieser Stellung zu marschiren sich anschickte. Die Erscheinung kam wieder wie das vorige Mal und man beglückwünschte Firman ob seiner wunderbaren Resultate. Frau Huguet hatte aus ihrem Verschlage Alles genau beobachtet; man war überein gekommen, an einem dritten Abende den Betrüger zu entlarven. Eine große Anzahl von gläubigen Spiritisten war versammelt; die Lichter wurden ausgelöscht – wieder dasselbe Getöse mit Sphärenmusik; man war in gespanntester Erwartung. Plötzlich erschien der Geist des kleinen indianischen Prinzen; kaum aber hatte er die erste Frage beantwortet, welche die Gläubigen über das Jenseits an ihn gerichtet hatten, als eine Frauenhand den Geist in’s Gesicht schlug, ihm die Maske herunterriß und, ihn auf die Kniee herunterdrückend, mit den Worten festhielt:

„Sie werden Niemanden mehr betrügen, Herr Firman.“

Triumphirend hielt Madame Huguet die Maske den Gläubigen entgegen, wie auf ein Zauberwort erhellte sich der Salon, und man sah das arme Medium Firman unter der fesselnden Hand der Frau Huguet in jämmerlicher Weise sich [19] drehen und winden, während seine Frau verzweiflungsvolle Schreie ausstieß und die Adepten wie versteinert um den Tisch herum saßen. Die beiden Betrüger verschwanden nun wirklich, und alle Anwesenden wurden von Herrn und Frau Huguet veranlaßt, das Protokoll über diesen Vorgang zu unterzeichnen, aus welchem wir Obiges wiedergegeben.

Was half aber diese drastische Belehrung? Obgleich man nach Entfernung des Firman eine Musikdose, eine kleine Trompete, ein Tambourin, ein kleines pianoartiges Tastinstrument vorfand, ließ man sich später von Neuem von jenem Charlatane an der Nase führen, den jetzt noch alle Spiritisten trotz seiner mannigfachen Spitzbübereien für ein brauchbares Medium halten.

Von den drei durch die siebente Kammer des Zuchtpolizeigerichts zu Paris entlarvten Medien scheint Leymarie allein ein Betrogener gewesen zu sein. Während den beiden Anderen positive Schwindeleien nachgewiesen werden konnten, sprach gegen Leymarie nur der Indicienbeweis und der durch ihn bewerkstelligte Verkauf Buguet’scher Geisterphotographieen.

Kehren wir nun zu unserm Spiritistencongreß nach Brüssel zurück! Nachdem der wieder zu Ehren gekommene Leymarie seinen Reinigungsvortrag beendet hatte, theilte der Präsident der Versammlung mit, es sei ein Mitglied des internationalen medicinischen Congresses anwesend, welches durch ein Experiment constatirt habe, daß man die Geister allerdings photographiren könne und der Betreffende auch Geister photographirt habe, daher die Thatsache der Geisterphotographie von wissenschaftlicher Seite festgestellt sei. Dieser angebliche Experimentator war der Schreiber dieser Zeilen. Ich nahm natürlich sogleich das Wort und belehrte den Herrn Präsidenten seines Irrthums, indem gerade im Gegentheil ich in einem photographischen Atelier einigen höchst ehrenwerthen mir persönlich befreundeten Anhängern der Spiritistenlehren den Beweis durch das Experiment gegeben hatte, wie Buguet und Consorten jene Täuschungen hervorbringen. Ich zeigte den Herren im Dunkelzimmer eine vorher mit Salpetersäure vor den Augen der Herren geputzte photographisch präparirte Platte, welche noch keinerlei Bild zeigte. Die Platte wurde angesichts aller Anwesenden in die Cassette gelegt und aus dem Dunkelzimmer in das Atelier und zur Camera obscura gebracht, vor welcher ein Spiritist saß, der mit einem Geiste zusammen photographirt werden wollte. Der anwesende Geisterseher, ein alter englischer Seemann, hatte vorher bei dem Einstellen des Bildes mitgetheilt, daß er neben dem zu photographirenden Menschen den Geist eines jungen Mädchens mit wallendem Haare stehen sehe. Wir Anderen sahen natürlich Nichts. Die Platte wurde exponirt, das Bild auf die gewöhnliche Methode hervorgerufen und fixirt, und siehe da, neben dem Herrn, der zum Photographiren gesessen hatte, erschien in halbverschwommenen Zügen ein hübsches junges Mädchen mit wallendem Haar. Die Herren Spiritisten waren entzückt und geriethen zum Theil durch diesen Effect in eine solche Aufregung, daß sie thatsächlich erbebten. „Ah, ah, da ist ein Beweis für unsere Behauptung, ein Beweis von einem glaubwürdigen Manne,“ riefen sie voll Begeisterung.

Wie war jenes Photographiren zugegangen? Bekanntlich ist das photographische Bild, selbst wenn das Licht schon auf die Platte gewirkt hat, unsichtbar oder latent, wie man dies in der Sprache der Wissenschaft ausdrückt, und wird erst durch Aufgießen gewisser chemischer Lösungen sichtbar, indem durch derartige Einwirkungen die molecularen Silbertheilchen, aus denen die Lichtbilder bestehen, sich je nach dem Grade der Einwirkungen des Lichts zusammengruppiren. Ich hatte nun im Beisein eines der Herren, ohne die anderen davon in Kenntniß zu setzen, gleich nach der eigentlichen Aufnahme des Bildes jene Geistererscheinung in die Platte, im Dunkelzimmer, mittelst künstlichen Lichts als ein latentes Bild sehr rasch eincopirt, um später die Herren von den Täuschungen, denen sie fortwährend ausgesetzt sind, zu überzeugen und dadurch eine Heilung zu erzielen. Das Original des eincopirten Bildes hatte ich unter einigen Hundert Platten, die in einem Schranke des Dunkelzimmers standen, passend zur Aussage des Geistersehers, rasch ausgesucht. Nachdem ich den Herren den Vorgang ganz genau erklärt und aus meiner Rocktasche das Originalnegativ des weiblichen Geistes hervorgezogen, waren sie zwar für den Augenblick frappirt, hielten sich aber trotzdem nicht für überzeugt, indem sie behaupteten, daß sich außer dem von mir eincopirten Geiste noch ein Geist auf der Platte befinde, den sie sehen könnten, den ich aber wegen meiner Ungläubigkeit nicht erkennen wolle.

Von diesem angeblichen Geiste, von dem in der That auf der Platte nichts zu sehen war – es sei denn, daß einige gelbe Flecken von unfixirtem Jodsilber gemeint waren –, sprach der Präsident, und es ist als günstiger Zufall zu betrachten, daß mir Gelegenheit geboten war, der Mystification sofort Schranken zu setzen. Obgleich ich am andern Morgen den versammelten Spiritisten nochmals einen mathematischen Beweis gegen diesen photographischen Unfug durch ein neues total negatives Experiment zu geben mich bemühte, indem die Geister absolut nicht auf die Platten kommen wollten, konnte ich meinen Zweck der Aufklärung und Belehrung nicht erreichen. Man half sich mit dem Troste, daß eben die Geister nicht gelaunt seien, zu erscheinen.

Geisterphotographien können auf verschiedene Weise dargestellt werden, theils durch Eincopiren eines vorhandenen Bildes in die Platte, theils durch directe Aufnahme einer zweiten Figur zur Originalaufnahme, theils durch das Auftauchen einer Puppe, oder einer verkleideten Person hinter dem zu Photographirenden im Momente der Aufnahme, wie dies unsere Abbildung andeutet. Der junge Mann, welcher sich hier getreulich bei einem befreundeten Photographen aufnehmen ließ, hatte keine Ahnung davon, daß hinter ihm während der zweiten üblichen Aufnahme ein Geist auftauchte, der mit ihm auf die Platte zu stehen kam.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Das Bremerhavener Unglück bewegt die ganze Welt, und die Gartenlaube kann dasselbe nicht mit Schweigen übergehen. Eine aus Zeitungsartikeln zusammengesetzte Schilderung der beklagenswerthen Katastrophe mochten wir nicht veröffentlichen und haben deshalb einen Augenzeugen der Explosion beauftragt, auf Grund seiner eigenen Erlebnisse einen selbstständigen Artikel für unser Blatt zu verfassen, welcher in der nächsten Nummer zum Abdrucke kommen wird. Heute veröffentlichen wir als Einleitung zu demselben im Folgenden einige interessante Mittheilungen eines ebenfalls Betheiligten, insofern Betheiligten, als durch seine Vermittelung die Bestellung des vielbesprochenen Uhrwerkes des Verbrechers vermittelt wurde. Es wird dadurch bestätigt, daß Thomas sich schon seit Jahren planmäßig mit seinem grauenhaften Vorhaben beschäftigt hat. Unser Berichterstatter erzählt:

„Im März 1873 führte der amerikanische Consul in Leipzig den Mr. William K. Thomas – so lautete seine Karte – mir zu, einen Mann von mittelgroßer untersetzter Statur mit geröthetem Gesicht. Er trug eine goldene Brille und machte den Eindruck eines angenehmen, ich möchte sagen gemüthlichen Menschen, der die Höflichkeit des Amerikaners keinen Augenblick verleugnete. Sein Englisch – deutsch sprach er damals so gut wie gar nicht – hatte die entschiedene Färbung des Yankeedialects. Der Zweck seines Kommens war, durch mich den Nachweis eines Uhrmachers zu erlangen, der ihm ein Werk baue, welches herzustellen schon verschiedene Mechaniker vergeblich versucht hatten; auf meine Frage, welcher Art das gewünschte Werk sein solle, erwiderte Thomas, es solle ein längere Zeit laufendes sein, auch müsse irgend ein Mechanismus daran angebracht werden, der, mit einer Maschine in Verbindung gesetzt, auf diese einen damals nicht näher bezeichneten Einfluß ausübe, sobald das Werk die vorgeschriebene Zeit gelaufen habe. Es solle nicht durch Gewicht, sondern durch Federkraft in Bewegung gesetzt werden. Ich bemerkte Herrn Thomas, daß es doch nöthig sei, zu wissen, welcher Art der zu bewirkende Einfluß sein solle und wie die Maschine beschaffen sei, mit der das Werk in Verbindung gesetzt werden würde. Seine darauf gegebene Erklärung ließ mich den Zweck des Werkes nicht klar erkennen. Auch sollte es, wie er ausdrücklich bemerkte, kein Uhrwerk sein, welches die Zeit angiebt, und doch eine gegebene Zeit laufen. Darauf erwiderte ich ihm, daß er sich die Lösung seiner Aufgabe nicht gar so leicht vorstellen solle; ein Werk zu bauen, das Stunden, Tage, Monate, ja, ein Jahr lang oder länger liefe, dazu würden zwar viele Uhrmacher oder Mechaniker im Stande sein, um jedoch seine Aufgabe vollkommen zu lösen, bedürfe er eines tüchtigen Denkers, der sich ganz und gar in seine Idee hineinleben könne. Als einen solchen überaus praktischen und denkenden Mann, von dem ich behaupten könne, daß er die Aufgabe, wenn irgend möglich, zur Zufriedenheit lösen werde, empfahl ich ihm den mir damals geschäftlich befreundeten, weit und breit berühmten Thurmuhrmacher und Mechaniker J. I. Fuchs in Bernburg.

Da ich befürchtete, daß Thomas in Folge seines gebrochenen Deutsch nicht im Stande sein würde, meinem Freunde seine Ideen verständlich genug vorzutragen, und schriftlich erst recht nichts erreicht werden würde, schlug ich vor, noch einige Wochen bis zur Ostermesse zu warten, und versprach, dann beide Herren zusammenzuführen und, wenn nöthig, ihnen als Dolmetscher zu dienen. Thomas besuchte mich dann noch mehrere Male und war ziemlich gespannt auf die Ankunft meines Freundes, da er bald nach Dresden zu ziehen beabsichtige.

Gegen das Ende der Ostermesse 1873 kam Herr Fuchs nach Leipzig, [20] und ich forderte ihn auf, mit mir nach der Auenstraße 2 zu Thomas zu gehen, wir trafen denselben jedoch nicht an. Da es meine Zeit nicht erlaubte, ihn abermals zu begleiten, ging Fuchs andern Tags allein zu Thomas. Wie ich vermuthete, war Letzterer nicht im Stande, sich Fuchs gegenüber in deutscher Sprache über die Beschaffenheit des gewünschten Werkes vollkommen verständlich auszudrücken. Fuchs hatte denn auch den Auftrag als zu unwichtig unberücksichtigt gelassen.

Ich sah Thomas später noch einige Male und glaubte aus seinen Worten schließen zu müssen, daß er nicht rechtes Vertrauen zu Fuchs gefaßt habe, was jedenfalls seinen Grund darin hatte, daß Dieser Alles, was ihm Jener gesagt in Folge mangelhafter Ausdrucksweise nicht recht begriffen hatte. Da ich gehofft hatte, meinem Freunde Fuchs zu einem guten Geschäfte zu verhelfen, so bedauerte ich den erfolglosen Ausgang dieser Sache sehr und wiederholte Thomas, daß meiner Meinung nach Fuchs, und nur er allein, im Stande sei, seine Aufgabe befriedigend zu lösen. Thomas ist dann nach Dresden gezogen, und Fuchs wie ich glaubten die ganze Angelegenheit als vergessen betrachten zu müssen.

Auf der Wiener Ausstellung hat Thomas Gelegenheit gehabt zu sehen, daß J. I. Fuchs in Bernburg kein gewöhnlicher Uhrmacher sei, wie die von ihm ausgestellte neuconstruirte Thurmuhr mit freischwingendem Pendel ohne Steigrad, die so großes Aufsehen bei Kennern erregte, bewies; Thomas setzte sich trotzdem nicht mit Fuchs, sondern mit Wiener Fabrikanten in Verbindung, keiner hat jedoch die Aufgabe zur vollkommenen Zufriedenheit lösen können. Zu nicht geringem Erstaunen des Herrn Fuchs erschien Thomas am 9. März 1875 in Bernburg, brachte ein Wiener Werk mit, hob dessen Mängel und Unzuverlässigkeiten hervor und fügte die Bemerkung hinzu, daß man ihn auch in Wien von verschiedenen Seiten auf Fuchs aufmerksam gemacht habe, als denjenigen, der die gewünschten Vervollkommnungen zu erreichen im Stande sei.

Jetzt sah Fuchs, daß es Thomas wirklich Ernst mit seinem Auftrage sei, bemerkte auch, daß sein Auftraggeber nunmehr der deutschen Sprache weit besser mächtig sei als im Frühjahr 1873, und bat dann, ihm nochmals den Zweck des Werkes und die Anforderungen an dasselbe auseinanderzusetzen. Darauf gab denn Thomas etwa folgende Erklärung ab:

Er habe eine neue Erfindung in der Seidenfabrikation gemacht und wünsche das Werk zunächst in einer Seidenweberei in Rußland anzuwenden. Es müsse volle zehn Tage laufen und am zehnten einen Hebel auslösen, welcher wiederum einen Mechanismus in Bewegung zu setzen habe; diesen Mechanismus würde er später selbst anbringen; seine Bestimmung sei, tausend Fäden mit einem Ruck zu zerreißen. Das Uhrwerk müsse ganz geräuschlos und die gegebene Zeit von zehn Tagen, mit höchstens einigen Stunden Unterschied, laufen. Es solle nämlich an der Peripherie eines großen, sich um seine Achse drehenden Rades befestigt werden, dürfe daher in keiner Lage seinen gleichmäßigen ruhigen Gang verlieren.

Meinem Freunde Fuchs kam allerdings die Bestimmung dieses Werkes etwas sonderbar vor, allein die Forderungen, die heutzutage an die Mechanik gestellt werden, sind oftmals sehr complicirt; so hatte er z. B. einige Zeit vorher ein Uhrwerk gebaut, welches, in einem Saale aufgestellt, die Fäden von zwölf Nähmaschinen in sich vereinte und so jeden Tag genau zeigte, wie viel Seide auf den Maschinen verarbeitet wurde.

Nachdem der Preis von hundert Thalern und die Lieferzeit zum 1. April festgesetzt, auch ein weiterer Auftrag auf zwanzig Stück in Aussicht gestellt worden war, ging Fuchs an die Arbeit. Er hat seine Aufgabe meisterhaft gelöst. Er baute ein Laufwerk, das heißt ohne Hemmung (Echappement), wie jedes Uhrwerk hat, und erzielte dadurch einen völlig geräuschlosen Lauf des Werkes, den er so zu reguliren verstand, daß es richtige zehn Tage mit einer geringen Abweichung von sechs bis acht Stunden lief; zur Auslösung des Hebels hatte er einen neuen, sinnreichen Mechanismus, den er bei seinen Thurmuhren ohne Steig- oder Hemmungsrad angebracht, verwandt.

Während am Werke gearbeitet wurde, kam Thomas öfter nach Bernburg, um sich von dessen Fortschritt zu überzeugen und die Fertigstellung zu beschleunigen.

Endlich machte ihm Fuchs die Mittheilung, daß das Werk nunmehr zur Ablieferung fertig sei, und fuhr damit am 20. April 1875 nach Leipzig. Hier angekommen, wurde er auf dem Bahnhofe von Thomas empfangen, und Beide gingen in ein Zimmer des „Hôtel de Pologne“. Das Werk wurde in Gang gesetzt und wiederholten Prüfungen unterzogen. Thomas erklärte, daß seine Erwartungen übertroffen seien, und betonte mit besonderer Genugthuung den Umstand, daß das Werk so ganz und gar geräuschlos liefe. Die von Fuchs über den bedungenen Preis hinaus verlangten fünfundzwanzig Thaler zahlte Thomas ohne Weigerung und versprach, ihn in einigen Monaten wieder zu besuchen. Das Wiener Werk blieb bei Fuchs zurück; er hat Thomas nie wieder gesehen.

Das Werk würde also sein Amt genau und sicher verrichtet und die Zeitungen würden von dem spurlosen Verschwinden der „Mosel“ zu erzählen gehabt haben, hätte nicht Thomas vergessen, Fuchs darauf aufmerksam zu machen, daß das Werk einen starken Stoß oder Fall vertragen müsse, denn das Genie des Meister Fuchs würde auch dafür haben sorgen können, daß der Hebel nicht durch starke Erschütterung vor der gegebenen Zeit sich auslöse.

So beklagenswerth die Bremerhavener Katastrophe auch ist, so ist es doch noch bei allem Unglück ein Glück, daß durch Fall oder starken Stoß der Hebel sich so zeitig auslöste; wäre dieser Umstand nicht eingetreten, so hätte Thomas seinen teuflischen Zweck nicht nur sicherlich erreicht, sondern sich auch der Früchte seines Verbrechens wahrscheinlich ungestraft erfreut.

Otto Martin.




Schutz den Krähen. Der um die Hebung der Forstcultur des nördlichen Oberösterreichs so hochverdiente fürstlich Starhemberg’sche Oberförster, Karl Geyer zu Waxemberg, hat im Laufe des letzten Sommers eine Entdeckung gemacht, die wohl die Aufmerksamkeit der Forstleute verdient. Wie im südlichen Böhmen tritt auch in den weitgedehnten Wäldern des nördlichen Oberösterreichs der Borkenkäfer[WS 2] in verheerender Anzahl auf. Zu seiner möglichsten Vertilgung brachte nun der oben genannte Herr in den ihm unterstellten Forsten nebst andern Mitteln die sogenannte Rindenfalle in Anwendung.

Stücke von Rinde werden mit der Bastseite in der Nähe von käferbehafteten Bäumen auf die Erde gelegt und mit einem Steine beschwert. Die schwärmenden Rüsselkäfer kriechen vor Tagesanbruch unter diese Rindenstücke und können so leicht gesammelt und vertilgt werden. Die auf diese Weise gestellten Rindenfallen waren nun regelmäßig des Morgens umgekehrt, die Steine weggerollt und kein Käfer war zu finden. Anfangs glaubte man es mit einem einfachen Bosheitsacte zu thun zu haben und Herr Geyer befahl, auf den Thäter zu fahnden. Der wachhabende Forstadjunct sah zwar keinen Menschen, jedoch eine große Zahl Raben- und Saatkrähen sich geschäftig in der Nähe der Rindenstücke herumtreiben, dieselben von den Steinen befreien, umdrehen und hin- und herzerren. Unmuthig darüber, schoß er einen der Vögel und hing ihn als Scheuche auf. Aber schon am nächsten Morgen hatte sich dasselbe Spiel wiederholt.

Als Herr Geyer diesen Bericht vernahm, machte ihn das dreiste Verhalten der sonst so vorsichtigen Vögel stutzen und den wahren Sachverhalt ahnend, untersuchte er den Magen der geschossenen Krähe. Derselbe war mit gefressenen Borkenkäfern[WS 2] ganz angefüllt. Der Magen mehrerer anderer im Walde geschossener Krähen zeigte denselben Inhalt. Unzweifelhaft sind sonach die Krähen unsere besten Alliirten im Kampfe gegen die Borkenkäfer[WS 2]. Bei dem durch den gefräßigen „Borkwurm“ so arg bedrohten Bestande unserer Wälder ist daher die Schonung dieser nützlichen Vögel nothwendig. Erwägt man ferner, eine wie große Zahl von Mäusen, Schnecken und Würmern die Krähe unaufhörlich vertilgt, so wird man zugeben müssen, daß diese armen schwarzen Gesellen vollkommen mit Unrecht für „vogelfrei“ erklärt werden. Es wäre sehr wünschenswerth, daß die Jagdbesitzer in Zukunft das Schießen der Krähen zu jeder Zeit streng untersagten, statt für das Erlegen derselben, wie es jetzt üblich ist, Schußgeld zu zahlen. Fällt auch mitunter ein faustgroßes Häschen oder ein Rebhuhn der Krähe als Beute – der große der Land- und besonders der Forstwirthschaft durch Schonung dieses Vogels gebrachte Nutzen wiegt gewiß diesen doch nur winzigen Verlust des Jägers auf.

Dr. W. S.




Kleiner Briefkasten.

W. in Lgza. Das in den dreißiger Jahren erschienene Gedicht über Kolter können wir Ihnen leider nicht mehr verschaffen, doch erinnern wir uns noch, daß es damals in einer Sammlung von „Gedichten, zum Vortrage passend“, abgedruckt war und hübsch und einfach, im volksthümlichen Tone die „nach einer wahren Begebenheit“ versificirte Scene aus dem Leben des Seiltänzers erzählt. Der Inhalt ist etwa folgender:

Ein reisender Handwerksbursche, ein armer Teufel, kommt nach langer Fußtour, bestaubt und erschöpft, endlich in einer Provinzialstadt an, wo er etwas rasten will. Trompetentöne und vorübereilende Menschenmenge veranlassen ihn, nach einem großen Platze zu eilen, wo gerade eine „Seiltänzergesellschaft“ ihre Production beginnt. Der arme Bursche vergißt ob des wunderbaren, für ihn so interessanten Schauspiels seine Ermüdung und klatscht freudig und eifrig mit. Gegen Schluß der Vorstellung wird, wie es allgemein Gebrauch ist, bei den außerhalb des Ringes stehenden Zuschauern vom Künstlerpersonale eine Collecte veranstaltet, diesmal vom Director der Truppe selbst. Bei unserm Burschen angekommen und dessen dürftiges Aussehen berücksichtigend, will der Sammler schon weitergehen, da hält ihn Ersterer mit freudig erregtem Antlitze zurück und wirft mit zitternder Hand – einen Dreier, der einen großen Theil seines winzigen Vermögens bildet, auf den ihm vorgehaltenen Teller, in etwas traurig vibrirendem Tone die Worte hinzufügend: leider wäre es ihm unmöglich, wie er wohl wollte, mehr zu geben, da er selber fast nichts besäße. – Kolter – denn er war der Einsammler – fragt den Handwerksburschen nun aus, woher er komme etc. und wie ihm die Vorstellung gefalle. Der Bursche ist des größten Lobes voll, gesteht, sich prachtvoll amüsirt zu haben, ferner daß er lange ohne Arbeit sei und seine ganze Baarschaft fast aufgezehrt habe etc. – Da ersucht Kolter ihn plötzlich, seine Mütze einmal herzuhalten; der Bursche thut solches mit befremdetem Gesichte, und Kolter schüttet den ganzen Inhalt des Tellers, hoch angefüllt, mit nicht wenigen Silbermünzen darunter, in die vorgehaltene Mütze des verdutzten Zuschauers mit den Worten: „So, nun gehe in die Herberge, lasse Dir zu essen geben und ruhe Dich hübsch aus!“ – Im nächsten Augenblicke war Kolter schon aus dem Gesichtskreise des Handwerksburschen verschwunden.

K. in Dr. Dergleichen Verkennungen und falsche Beurtheilungen kommen nicht nur in der Schule, sondern mehr noch im Militär-, Universitäts- und Beamtenleben vor. Als Stephan, der jetzige Chef des deutschen Postwesens, als junger Postsecretair von Cöln nach Magdeburg versetzt wurde, fühlte sich sein damaliger Oberpostdirector verpflichtet, Herrn Stephan den wohlgemeinten Rath zu geben, sich einen anderen Berufskreis zu suchen, da er bei der Post nie Carrière machen würde.

A. H. in Dresden. Sie haben die Wette verloren. Das Meyer’sche Lexicon berichtet ausdrücklich, daß in Pommern Gänse in der Schwere von dreißig bis sechsunddreißig Pfund nicht zu den Seltenheiten gehören.




Leider erlaubte uns der Raum dieser Nummer nicht, derselben die versprochene Fortsetzung von Levin Schücking’sDer Doppelgänger“ einzureihen. Die genannte Erzählung wird erst von Nr. 2 ab ohne Unterbrechung, Nummer für Nummer, bis zum Schlusse fortgeführt werden.

Abonnenten, welche neu hinzugetreten sind und die Anfangscapitel des interessantesten Romanes nachträglich zu beziehen wünschen, können dieselben gegen Zahlung von 1 Mark durch jede Buchhandlung bestellen.

D. Red.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Auf den Locomotiven befinden sich jetzt fast überall eine Art von Cabinen mit Glasfenstern über den Standplätzen des Maschinenpersonals, die diesem Schutz gegen Wind und Wetter gewähren. Vor dem Jahre 1860 war dies fast nirgends der Fall, und es haben die Erörterungen des Verfassers über Mortalität und Morbilität des Betriebspersonals der Eisenbahnen (publicirt unter dem Titel: „Gefährdung des Personals beim Maschinen- und Fahrdienst der Eisenbahnen“, Leipzig, Teubner 1862), denen die königlich preußische Regierung in den Jahren 1862 bis 1866 umfassende, in derselben Richtung gehende Ermittelungen folgen ließ, manches zur Verbreitung dieser in Amerika längst durchgeführten humanen Einrichtung beigetragen.
  2. Unter dem Feuerroste jeder Locomotive befindet sich in der ganzen Breite desselben ein Kasten von starkem Eisenbleche, dessen Hauptzweck es ist, zu verhindern, daß die häufig durch den Rost fallenden glühenden Kohlen und Schlacken nicht in das Freie gelangen und Gefahren erzeugen. Der Kasten ist meist nach vorn und hinten offen, und die beiden Oeffnungen sind durch Klappen verschließbar, wenn es gilt, das Feuer zu dämpfen oder vor dem Eindringen des Schnees von unten beim Durchfahren von Wehen zu schützen. Diese „Aschkasten“ sind diejenigen Theile des Fahrparkes der Eisenbahnen, welche, fast in der ganzen Breite des Geleises, am tiefsten nach der Schienenoberfläche hinabreichen. Dies ist zum Verständnisse des nachfolgenden im Sinne zu behalten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Veichenbläue
  2. a b c gemeint ist der Fichten-Rüssel-Käfer; vergl. Kleiner Briefkasten in Heft 8