Die Gartenlaube (1876)/Heft 23

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 23.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)
26.

In der Residenz wußte man sich seit langen Jahren keines Ereignisses zu erinnern, das alle Menschen so furchtbar aufgeregt und in peinlicher Spannung erhalten hätte, wie die Explosion im Thurme, welcher, außer dem Commerzienrath, auch der Müller Franz zum Opfer gefallen war.

Zwei Tage waren seitdem verstrichen, und in diesen zweimal vierundzwanzig Stunden wandelte sich allmählich die bestürzte Klage, das Bejammern des verunglückten reichen Mannes in dumpfe, erschreckende Gerüchte, die vorzüglich die Geschäftsleute, den Handwerkerstand alarmirten – da stand ja der Name des Millionärs noch mit vielen Tausenden rückständig in den Büchern. Der Commerzienrath hatte alle die neuen Bauten und Verschönerungen auf seiner Besitzung Baumgarten in Accord gegeben, und demzufolge war von seiner Seite bis zu dem Unglückstage nur ein Bruchtheil der Forderungen berichtigt worden. Und nun ging der Ausspruch, den der Ingenieur schon beim ersten Anblick der entsetzlichen Zerstörung rückhaltslos gethan, bestätigt und bekräftigt durch andere Sachverständige, von Mund zu Mund, und die bisher vollkommen zuversichtlichen und Vertrauensseligen Lieferanten und Arbeiter mußten sich nothwendig fragen, wie und wozu das Dynamit in den Weinkeller des Commerzienraths von Römer gekommen sei, just unter die Räume, die alle seinen Besitzstand documentirenden Papiere und Bücher umschlossen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Vertrauliche Briefe aus Berlin sprachen von immensen Verlusten, die der Commerzienrath, um dessen entsetzlichen Tod dort noch Niemand wußte, bei den neuesten, rasch aufeinanderfolgenden Concursen erlitten haben müsse. Zwar hatte er es, wie selten ein Speculant, verstanden, vertraute Mitwisser von seinen Unternehmungen fernzuhalten; nicht einmal der frühere Buchhalter der Spinnerei, den er nach Verkauf derselben als Secretär beschäftigte, hatte einen Einblick in seine Börsenmanipulationen gehabt. Der reiche Mann war ferner im Besitz jener glücklichen Begabung gewesen, welche hinter einer stets aufgescheuchten undurchdringlichen Wolke funkelnden Goldstaubes die dunkle Kehrseite der Dinge und Verhältnisse unsichtbar zu machen weiß. Und so wäre es ihm doch vielleicht trotz der Nachricht von seinen Verlusten geglückt, auf immer als Opfer seiner Liebhaberei für das historisch merkwürdige Pulver im Thurmkeller der Burgruine beklagt zu werden, wenn er sich nicht in der Dosis des modernen Sprengstoffes vergriffen hätte – das war die „in den Coulissen gebliebene Lücke, durch die man der Wirklichkeit auf den Leib gehen würde“, wie Flora gesagt hatte.

Während sich somit in der Stadt noch eine unausbleibliche Katastrophe lawinenartig vorbereitete, gingen auch im Trauerhause unheimliche Wandlungen vor sich. Am ersten Tage waren alle Befreundeten des Hauses herbeigeeilt, und hatten bei aller Gedämpftheit der Stimmen und Schritte dennoch eine Art von Tumult hervorgerufen; am zweiten dagegen herrschte bereits eine tiefe, schwüle Stille in Erdgeschoß und Beletage, die um so drückender erschien, als die Läden vor den meisten der zertrümmerten Scheiben lagen und nur ein ungewisses, beklemmendes Halbdunkel zuließen. Noch ahnte die Frau Präsidentin nicht, daß nach dem furchtbaren Ereigniß ein zweiter Sturz erfolgen werde; noch concentrirte sich all ihr Sinnen und Denken auf das, was nach dem unrettbar Zerstörten von dem großen Vermögen geblieben und wem es zufallen würde. Mit der ganzen Selbstsucht des Alters gingen ihre Gedanken bereits völlig über den Todten hinweg. Nie war überhaupt das egoistische Element, das die Großmutter und ihre älteste Enkelin in gleichem Grade beseelte, so kraß und nackt hervorgetreten, wie in diesen Tagen der Heimsuchung.

Flora hatte der Präsidentin sofort nach der Entscheidung in kurzen Worten angezeigt, daß sie ihr bräutliches Verhältniß zu Doctor Bruck gelöst habe, ohne die Motive zu diesem Entschluß auch nur zu berühren, und die alte Dame war nichts weniger als wißbegierig gewesen – sie hatte, für einen Moment aus ihrem fieberisch angestrengten Grübeln und Brüten aufgeschreckt, halb blöde emporgesehen und sich mit einem Achselzucken begnügt. Wie wenig bedeutend erschien diese Schicksalswendung im Leben der Enkelin neben der Tragödie, die eine hochgestellte, verwöhnte Frau plötzlich aus wahrhaft fürstlichem Luxus in die beschränktesten pecuniären Verhältnisse zurückzuschleudern drohte! Dann hatte sich Flora in ihre Zimmer zurückgezogen; unter dem Vorwande heftigen Unwohlseins war sie allen Condolenzbesuchen ausgewichen und hatte den ganzen ersten Tag mit Ordnen und Umpacken ihrer Effecten verbracht.

Im Souterrain aber, dem Aufenthalte der Lakaien und der Küchenbedienung, herrschte an dem Tage, welcher der lange erwartete und lange vorbereitete Hochzeitstag hatte sein sollen, eine Verwirrung, eine Auflösung alles Bestehenden, wie sie nur ein Haufen fluchtbereiter Menschen hervorbringen kann. Dort [378] unten hatten die von der Stadt herdringenden Gerüchte bombenartig eingeschlagen, um so mehr, als schon am ersten Morgen nach dem Unglück einige Scharfsichtige unter den Leuten scheu und versteckt darauf angespielt hatten, daß möglicher Weise „doch nicht Alles mit rechten Dingen zugegangen sei“. Nun erwartete man jeden Augenblick, die Gerichtscommission in das Haus treten zu sehen – ein Jedes griff nach dem Seinigen, und dabei wurden in der offenstehenden Speisekammer die langen Tafeln voll Kuchen und Torten geplündert und die Bowlen ausgetrunken, die für den Polterabend bestimmt gewesen waren.

Und von dieser Region aus kamen auch der Frau Präsidentin Urach die ersten bestürzenden Anzeichen, daß ihr Regiment in der Villa Baumgarten auch von Anderen als beendigt angesehen werde. Während sonst auf ihren ersten Klingelzug die Betreffenden herbeigestürzt warm, mußte sie wiederholt schellen, ja, sich zum Rufen bequemen; sie hörte, wie draußen ihr Löwenhündchen, das die Dienerhände bisher als den Abgott der Herrin cajolirt und gehätschelt hatten, unter einem Fußtritte aufschrie – und die Augen, die sie bis jetzt nur in scheuer Ehrfurcht niedergeschlagen gekannt hatte, sahen wie herausfordernd in ihr strenges Gesicht.

Von dieser Wandlung der äußeren Verhältnisse wurden die Bewohner der Beletage nicht berührt. Henriette hatte sich stets gütig und nachsichtsvoll – für die Dienerschaft war die kleine, gebrechliche Gestalt immer ein dem Tode geweihtes Kind gewesen; man war gewöhnt, in ihrer Nähe lautlos auf den Zehenspitzen zu gehen und nur mir sanftgedämpfter Stimme zu ihr zu reden, und in diesen Rücksichten erschöpfte man sich heute doppelt, da ja „der Herr Hofrath“ gesagt hatte, daß es bedenklich um die Kranke stehe.

Ja, sie lag droben im Wohnzimmer, fast nur noch kenntlich an den wunderschönen blauen Augen – wunschlos und willig den lebensmüden Leib der dunklen Gewalt endlich überlastend, die ihr seit Jahren, Schritt für Schritt, auf den Fersen gefolgt Sie war sich vollkommen bewußt, daß sie sterben müsse; sie hatte alle schreienden Farben, mit denen sie sich stets einen Schein von Gesundheit und Jugendblüthe zu erborgen gesucht, nunmehr mit Abscheu von sich gewiesen. Wie in Schnee gebettet, lag sie in den weißen Kissen und Decken, unter der weich herabfließenden Mullgardine. Es blieb ihr erspart, den flüchtigen Fuß von der heimischen Schwelle zu wenden, und, Flora’s Programm gemäß, in der Schloßmühle ein Asyl zu suchen. Sie ging, noch ehe das Gericht im Namen des Gesetzes, im Namen der geängstigten Gläubiger seine Hand auf die Reste eines in alle Lüfte zerstobenen märchenhaften Reichthums legte; sie ging, ohne noch hören zu müssen, daß das Brandmal eines schweren Verbrechens das Andenken ihres Schwagers verunehre, dessen fürchterliches Ende auch zugleich die schwache Wurzel zerrissen hatte, mit welcher sich das zarte, so lange angefeindete Mädchendasein noch an die Erde festgeklammert. … Und was sie stets so heiß gewünscht, es erfüllte sich nun doch noch: sie wurde bis zum letzten Athemzuge von den Augen ihres Arztes behütet; er hatte ihr gesagt, daß er bei ihr bleiben und nach L…g nicht eher gehen werde, als bis es „besser um sie stehe“. Nun war sie wieder so unaussprechlich glücklich, wie sie es im Fremdenzimmer der Tante Diakonus gewesen: Doctor Bruck pflegte sie, und ihm zur Seite stand Käthe – die beiden Menschen, die sie auf Erden am meisten geliebt hatte.

Käthe erholte sich rasch. Schon am Nachmittag des zweiten Tages war sie aufgestanden. Die schmale, um den Kopf gelegte Binde und die über den Rücken hinabhängenden Flechten, die ihrer Schwere wegen nicht über der Stirn liegen durften, erinnerten daran, daß sie Reconvalescentin sei, sonst aber hätte wohl Niemand geahnt, daß der fürchterliche Stoß der Explosion diese schlanke Mädchengestalt weithin geschleudert und mit erstickenden Wassermassen überschüttet habe, daß sie verloren gewesen wäre, wenn nicht das Auge der Liebe sie gesucht. Ihre Haltung war kraftbewußt und energisch wie vorher, und die ihr eigene Sammlung und Sicherheit in ihr ganzes äußeres Wesen zurückgekehrt, wenn es auch stürmisch genug in ihrer Seele aussah. Neben dem tiefen Leid um die sterbende Schwester, um Römer’s tragisches Ende, drängte sich ihr die furchtbare Gewißheit auf, daß ihr Schwager und Vormund bei dem grauenhaften Vorgang nicht ohne Schuld gewesen sei – auf eine derartige Andeutung, die sie angstvoll gegen Doctor Bruck gemacht, hatte er nicht vermocht „nein“ zu sagen. Er war still und schweigsam wie immer. Das erheischte schon Henriettens Zustand, aber es lag etwas eigenthümlich Feierliches in dieser Verschlossenheit, von welcher auch die Tante Diakonus angesteckt zu sein schien.

Die alte Frau war in den Nachmittagsstunden des ersten Tages, nach einer leise geführten Unterredung mit dem Doctor, verweint und doch unverkennbar freudig bestürzt, aus dem Cabinet gekommen, das an Henriettens Schlafzimmer stieß, und hatte sich dann verabschiedet, um Betten und Möbel aus dem Hause am Flusse in die Stadtwohnung des Doctors schaffen zu lassen, wohin sie einstweilen mit ihrer Freundin übersiedeln sollte, bis die Reparaturen an dem verwüsteten Doctorhause vollendet seien. Sie hatte mit keinem Laute verrathen, was in ihr vorgehe, aber sie hatte die Villa verlassen, um nur dann und wann, Henriette’s wegen, für einige flüchtige Augenblicke vorsprechen, wobei sie augenscheinlich bestrebt war, einer Begegnung mit Flora auszuweichen!

Die schöne Braut war auch nur ein einziges Mal in der Beletage erschienen, um nach der Schwerkranken zu sehen, just zu der Zeit, wo sich Doctor Bruck in Folge einer dringliches Aufforderung zum Fürsten begeben hatte. Es war zu sonderbar und verletzend, daß sie, Henriettens Salon, passirend, an Käthe’s Lager vorüberschritt, als sei dort, wo sich die verwundete Schwester zu ihrer Begrüßung aufrichtete, die leere Wand. Sie hatte keinen Blick, kein Wort für „die Jüngste“ und vermied es, durch den Salon zurückzukehren, indem sie sich von der Kammerjungfer die direct in den Corridor führende Thür des Schlafzimmers aufschließen ließ. Zu alledem berichtete Nanni mit zweideutiger Miene, daß das gnädige Fräulein drunten sich zur schleunigen Abreise rüste.

Es war Käthe so schwer beängstigend zu Muthe, als starrten sie aus allen Zimmerecken dunkle Räthsel an; sie wähnte den Plafond, selbst den Himmel über ihrem Haupte nicht mehr sicher, weil alles Bestehende der stattgehabten entsetzlichen Erschütterung nachstürzen müsse.

Einigemal im Laufe des Tages kam auch die Präsidentin herauf, eine schwarze Krepphaube über dem verstörten Gesichte, und treulos verlassen von der kühlen, stolzen Ruhe eines wohlgeschulten Geistes, der sich, wie sie stets behauptet, gerade in schlimmen Lebenslagen am glänzendsten bewähren müsse. Sie hatte nur Thränen und ein krampfhaftes Händeringen für die „fürchterliche Situation“, in welche mit einem Schlag alle Bewohner der Villa geschleudert waren. Die erschöpfte Kranke athmete stets auf, wenn der letzte Zipfel des schwarzen Wallkleides der Großmama hinter der Thür verschwand.

Es war am Morgen des dritten Tages nach dem Ereignisse, als die alte Dame plötzlich die Thür des rothen Studirzimmers aufriß und, ein Zeitungsblatt in der Hand, über die Schwelle wankte. Flora war eben beschäftigt, Etiketten für ihre Effecten zu schreiben; sie erhob sich und trat ahnungsvoll auf die Großmama zu, die in einen Armstuhl sank.

„Meine viertausend Thaler!“ stöhnte sie. „Kind, Kind ich bin von Schurken betrogen um mein Bischen Hab und Gut, um das kärgliche Erbe, das mir der Großpapa hinterlassen hat. … Meine viertausend Thalern die ich behütet habe wie meinen Augapfel –“

„Nein, Großmama, bleibe bei der Wahrheit, sage lieber, Deine viertausend Thaler, mit denen Du allzu sanguinisch und leichtgläubig speculirt hast!“ fiel Flora in unerbittlichem, hart strafendem Tone ein. „Wie habe ich Dich gewarnt! Aber da wurde ich ausgelacht und verhöhnt, weil ich meine wohlgesicherten Staatspapiere nicht auch ‚mit arbeiten‘ ließ. Das Etablissement, bei welchem Du Dich betheiligt, hat fallirt?“

„Eclatant! Schurkisch! Da lies! Ich glaube, nicht fünfzig Thaler bleiben mir,“ rief die Präsidentin mit brechender Stimme und schlug die Hände vor das Gesicht. „Nur Eines fasse ich nicht,“ fuhr sie, wieder emporschreckend, fort, während Flora die bezügliche Nachricht überflog. „Das Blatt bezieht sich auf frühere Mittheilungen; der Sturz muß demnach schon vor circa vier bis fünf Tagen erfolgt sein – und Moritz hat nichts davon gewußt – unbegreiflich.“

„Sollte das nicht mit dem ausgebliebenen Börsenblatte zusammenhängen? –“

[379] „Ah – Du meinst, unser armer Moritz habe mir während der Hochzeitsfeier den Schrecken ersparen wollen und das Blatt confiscirt? Ach, ja – jedenfalls! Und er hätte mir auch den Schaden ersetzt, ich weiß es – war er es doch selbst, der mir die Sache eingeredet hat. … O mein Gott, das ist ein Gedanke von oben. Nöthigenfalls kann ich’s beschwören, daß Moritz mich zu dem Unternehmen verleitet hat. Wie – sollte ich nicht darauf hin doch vielleicht Anspruch auf Ersatz aus der Erbschaftsmasse haben?“

Flora warf die Zeitung auf den Tisch; sie, die in allen Fällen rücksichtslos Vorgehende, war doch einen Augenblick in Verlegenheit, wie sie ihre Worte, diesen unzerstörbaren Illusionen gegenüber, zu wählen habe. Sie hatte bis zur Stunde geschwiegen, voraussetzend, daß sehr bald einer der guten Freunde die Mission der Aufklärung übernehmen werde, aber die guten Freunde waren ja schon gestern ausgeblieben; es ließ sich keiner mehr blicken und nun mußte sie es selbst thun; sie durfte doch nicht zugeben, daß sich ihre Großmama mit dieser beispiellosen Zuversicht und Harmlosigkeit vor aller Welt blamire.

„Großmama,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme und legte die Hand auf den Arm der alten Dame; „es fragt sich vor allen Dingen, wie hoch sich diese Erbschaftsmasse beziffern wird.“

„O Kind, sieh Dich um, sieh nur zum Fenster hinaus, und Du wirst wissen, daß man den Abzug meiner viertausend Thaler an dem Nachlasse kaum merken wird. Mag auch das ungeheure Capitalvermögen, mit welchem Moritz operirte, unwiederbringlich verloren sein, weil alle darauf bezüglichen Bücher und Documente vernichtet sind, die Liegenschaften und anderen Werthobjecte, die er hinterlassen, repräsentiren immer noch einen Besitz, den man reich, ja glänzend nennen darf“ – ein tiefern schmerzlicher Seufzer hob ihre Brust. – „Ich wollte Gott danken, wenn ich den unbestrittenen Anspruch an diese Erbschaft hätte.“

Flora zuckte die Achseln. „Wer weiß, ob Du sie antreten würdest –“

Die Präsidentin fuhr empor. „Bist Du toll, Flora? So schwach ich auf meinen Füßen bin, ich wollte stundenweit laufen, ich wollte wochenlang hungern und dursten und kein Auge schließen, wenn ich mir dadurch die Ansprüche der Universalerbin erringen könnte. – Sollte man es glauben, daß das Geschick so teuflisch, so grausam ironisch sein könne? Ich, ich in meiner Stellung, muß mich hinausstoßen lassen aus dem Hause, das seinen Glanz, sein aristokratisches Air mir einzig und allein verdankt, und sie, eine ganz obscure, alte Person, die jetzt noch ahnungslos altes Leinen für Fremde flickt, die es ihr Lebenlang nicht besser gewußt und gehabt hat, sie wird sich hier breit machen.“

„Darüber brauchst Du Dich nicht zu alteriren, Großmama – die alte Tante am Rhein erbt so wenig wie Du –“

„Ah, so treten doch noch andere Erben auf?“

„Ja – die Gläubiger.“

Die Präsidentin taumelte unter einem scharfen Aufkreischen in den Armstuhl zurück.

„Still! Ich bitte Dich, mache keine Scene!“ murmelte Flora. „Drunten im Souterrain giebt es Leute, die das noch viel besser wissen als ich; sie sind im Begriff, das Haus zu verlassen, wie die Ratten das sinkende Schiff. Ich kann und darf es Dir nicht länger verschweigen, wie die Sachen stehen. Jetzt heißt es au fait sein, wenn wir uns, als die Düpirten, nicht unsterblich lächerlich machen wollen.“ Sie zog die schwarze Kreppwolke um Kinn und Hals der alten Dame in die gehörige Faltenordnung und steckte die mit einer einzigen wilden Handbewegung völlig zerstörten weißen Lockenpuffen wieder auf. „So darf Dich Niemand sehen, Großmama,“ sagte sie streng. „Wir müssen uns so rasch wie möglich mit Haltung und Ruhe aus der Affaire ziehen – sie ist zu gemein und entehrend; darüber waltet kein Zweifel mehr, daß die Explosion ein Verzweiflungsakt – auf deutsch gesagt: ein Schurkenstreich – von Seiten Römer’s gewesen ist.“

„Der Elende! Der infame Betrüger!“ schrie die Präsidentin aufspringend – die wahnsinnige Aufregung ließ sie plötzlich im Zimmer hin- und herlaufen, als sei ihr ein Räderwerk in die schwachen Füße gekommen.

Flora deutete nach dem einen Fenster, vor dessen zerschlagenen Scheiben keine schützende Jalousie lag. „Bedenke, daß man Dich draußen hört!“ warnte sie. „Seit dem Morgengrauen schleichen Geschäftsleute um das Haus; die Aufregung in der Stadt soll grenzenlos sein; es sind Leute, welche die Angst um ihr Geld aus den Federn getrieben hat. Was wir während des letzten halben Jahres in unserer großen Wirthschaft gebraucht haben, steht noch in den Büchern der Lieferanten. Der Fleischer hat sich sogar in das Haus hereingewagt und in dreister Weise gefordert, daß man Dich wecken möchte, er habe mit Dir zu reden. Jedenfalls will er versuchen, von Dir, weil Du dem Haushalt vorgestanden, die ihm schuldigen sechshundert Thaler zu erpressen, ehe die Gerichte einschreiten. Er ist frech genug gewesen, meiner Jungfer zu sagen, die Damen des Commerzienrathes hätten ja auch mitgegessen.“

„Pfui, in welchen Sumpf hat uns jener erbärmliche Wicht gelockt, um sich dann feig aus dem Staube zu machen!“ rief die Präsidentin, halb erstickt vor Grimm und Erbitterung, und zog sich instinctmäßig von dem offenen Fenster zurück. Sie rang die Hände. „Gott im Himmel, welche entsetzliche Lage! Was nun thun?“

„Vor allen Dingen einpacken, was uns mit Fug und Recht gehört, und das Haus räumen, wenn wir nicht wollen, daß unser Eigenthum mit versiegelt werde; da könnten wir wohl lange warten, bis es uns zurückgegeben würde! Ich bin eben im Begriff, hinaufzugehen und meinen“ – sie unterbrach sich mit einem schneidenden Lachen – „meinen Trousseau in Kisten und Koffer zu bringen. Dann will ich mit den Leuten das Hausinventar aufnehmen, und wenn Du nicht selbst die Uebergabe vollziehen willst –“

„Nun und nimmermehr –“

„Dann mag es die Wirthschaftsmamsell thun; wir haben Grund genug, krank zu sein.“ Sie nahm den Schlüssel zu dem Zimmer, in welchem der Trousseau aufgestellt war, aus ihrem Schreibtisch, während die Präsidentin mit verzweifelnd gen Himmel gehobenen Armen davonstürzte, um das Ihrige vor den Gerichtssiegeln in Sicherheit zu bringen.


27.

Ueber den Baumwipfeln des Parkes wehte die Morgenluft und zog durch das weit offene Fenster; sie trug ein traumhaftes, halbverlorenes Wasserrauschen vom fernen Fluß her in die Kirchenstille des Schlafzimmers und hauchte das weiße Gesicht der schlummernden Kranken mit Reseda- und Levkoyendüften an. Und das rothe wilde Weinlaub, das draußen den Fensterrahmen umkränzte, bebte im leisen, sammetweichen Zugwind; es sah aus, als habe er die dreifingerigen Purpurblätter im Vorüberstreifen gepflückt und über die weiße Bettdecke und das gelöste aschblonde, Haar hin verstreut und die blassen Hände in das kühle Laub wohlig vergraben. Henriette hatte sich die Blätter pflücken lassen „als letzte Grüße des Sommers, der sich nun auch zur Wanderschaft anschicke.“

Käthe saß am Bett und behütete den Schlaf der Schwester. Sie hatte selbst das dreist herbeifliegende Rothschwänzchen, das gewohnt war, Kuchenkrümchen auf dem Fenstersims zu finden, mit einer angstvollen Handbewegung fortgescheucht; sein zartes Gezwitscher klang fast erschreckend in das bange Schweigen, das dem Ohr jeden schwachen Athemzug hörbar machte, unter welchem sich die schmale Brust der Kranken in beängstigend langen Zwischenräumen hob. Doctor Bruck hatte seine Patientin für eine halbe Stunde verlassen müssen; der Fürst bestand darauf, den Arzt, der ihn nach so vielen fehlgeschlagenen Curen in kurzer Zeit vollkommen hergestellt hatte, bis zu dessen Abreise als Berather täglich zu empfangen. Und so war Bruck gegangen, die günstige Schlummerstunde benutzend, wo Henriette ihn nicht vermißte.

Die Kammerjungfer hatte sich mit einer Näharbeit hinter die Bettgardine postirt, um nöthigenfalls bei der Hand zu sein; sie sah dann und wann verstohlen zu dem regungslosen jungen Mädchen dort im Armstuhl hinüber. Drunten im Souterrain hatten sie vorhin davon gesprochen, daß „das Fräulein aus der Mühle“ bei „dem Streich des gnädigen Herrn“ am schlimmsten wegkomme, und sie meinte nun, ein Menschenkind, dem eben eine halbe Million aus der Hand geschlüpft sei, müsse doch ganz anders verzweifelt aussehen, als die junge Dame, die, den Verband über der Stirn [380] und ihre schönen Glieder in ein weiches, weißes Morgenkleid gehüllt, traurig ernst, aber still gefaßt, wie eine Statue in ihrer aufmerksam beobachtenden Stellung verharrte. „So jung und so gesetzt, so frischblühend und lebenstrotzend, und doch so wenig für die Welt und alle ihre guten Dinge!“ meinte die Beobachterin in ihren Zofengedanken weiter – da war die schöne Dame klüger, die jetzt drüben ihren Trousseau einpackte; sie brachte vor allen Dingen ihre Sachen in Sicherheit; sie hetzte ihre Jungfer treppauf, treppab nach jedem Taschentuch, das sich in die Hauswäsche verirrt hatte und mit gepackt werden sollte – sie wollte Nichts, auch gar Nichts verlieren. Und so schlau und energisch hatte sie immer für sich gesorgt, und drum war sie auch die Reiche, „der kein Härchen gekrümmt wurde,“ in der Familie geblieben. Nun reiste sie mit ihren Koffern und Kisten dem Bräutigam Voraus nach L…g und ging allen Schrecknissen, die jeden Augenblick über die Villa Hereinbrechen konnten, aus dem Wege. Man hätte sich zu Tode ärgern mögen, daß ihr auch Alles glückte, was sie durchsetzen wollte; sie durfte sich Alles erlauben, und die ganze Welt hieß es gut und recht. Und jetzt wurde auch noch im Trousseau-Zimmer so laut gepoltert, daß die Kranke aus dem Schlafe aufschreckte.

„Das gnädige Fräulein kramt drüben und packt ihre Sachen,“ sagte Nanni mit erkünsteltem Gleichmuthe, als Käthe entsetzt emporfuhr und ihre Hände beschwichtigend über die Halberwachte hinstreckte.

Henriettens Salon trennte allerdings die beiden Zimmer, und Flora setzte deshalb jedenfalls voraus, daß man ihr Hantiren im Krankenzimmer nicht hören könne; sonst hätte sie doch sicher das anhaltende Schieben und Umherstoßen der Kisten und Koffer rücksichtsvoller vermieden. Käthe erhob sich, und die nach dem Salon führende Thür hinter sich schließend, ging sie hinüber in das Zimmer, wo gepoltert wurde.

Flora stieß einen leisen Schrei aus – es blieb unentschieden, ob vor Schreck, oder im Aerger über die Störung – als die hohe, weiße Gestalt auf der Schwelle erschien und mit sanft gedämpfter Stimme um Ruhe für die Schlummernde bat.

Die schöne Schwester stand dicht neben dem Ständer, der die Brauttoilette trug. Die weiße Atlasschleppe, von welcher das Kammermädchen die Orangenblüthenbouquets absteckte, um sie in einen Carton zu legen, hing neben ihrer Schulter nieder, und in den Händen hielt sie den Brautschleier, offenbar in der Absicht, ihn zusammenzufalten. Die zerstückte Hochzeitsfeier konnte allerdings nicht schneidender illustrirt werden, als durch diese Gruppe.

„Es thut mir leid; ich habe nicht geglaubt, daß das Aufstellen der Kisten bis zu Henriette hinüberschalle – wir werden vorsichtiger sein,“ sagte sie kurz, aber doch mit hörbar alterirter Stimme. Ein böses Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Du schleichst ja so weiß, so lautlos durch das Haus, daß man denken könnte, die Ahnfrau der Baumgarten habe, weil es in der Stammburg mit dem Wandeln aus und vorbei ist, ihr Domicil in der Villa aufgeschlagen. Unheil genug heftet sich an Deine Fersen – wo Du eintrittst, sollte ein rechtschaffener Christ drei Kreuze schlagen.“

Sie schickte die Kammerjungfer mittelst einer Handbewegung aus dem Zimmer. „Halt!“ rief sie, den Brautschleier fortschleudernd, als Käthe dem Mädchen schweigend folgen wollte. „Wenn ein Funken von Frauenehre in Dir lebt, so stehst Du mir jetzt Rede.“

Käthe streifte gelassen die Hand ab, die ihr Kleid festhielt, und trat in das Zimmer zurück. „Ich stelle mich Dir zur Verfügung,“ sagte sie ruhig und heftete ihre ernsten Augen fest auf das leidenschaftlich erregte Gesicht der Schwester. „Nur bitte ich Dich, nicht so überlaut zu sprechen, damit uns Henriette nicht hört.“

Flora antwortete nicht; sie ergriff Käthe’s Hand und zog sie in die Nähe des Fensters. „Komm her! Lasse Dich einmal ansehen! Ich muß wissen, wie Du aussiehst, nachdem Du geküßt hast.“

Das junge Mädchen wich zurück vor dem frivol funkelnden Blick, der ihr, im Verein mit der leichtfertigen Bemerkung, die tiefe Gluth der beleidigten Scham in das Gesicht trieb. „Als ältere Schwester solltest Du doch Anstand nehmen, einen solchen Ton anzuschlagen –“

„Ei, Du heilige Unschuld! Und ich sage Dir: Als jüngere Schwester solltest Du Dich schämen, Deine Augen auf einen Mann zu werfen, der mit der älteren verlobt ist!“

Käthe stand wie vom Blitz getroffen. Wer hatte in die Tiefen ihres Herzens geblickt und das Geheimniß, das sie, angstvoll, mit Aufbietung aller inneren Kraft hinabgedrängt, an das Licht gezogen? Sie fühlten wie sie sich entfärbte; sie wußte, daß sie in diesem Augenblick wie eine auf dem schwersten Verbrechen Ertappte dastand, und doch brachte sie keinen Laut über ihre blassen Lippen.

„Schau, das böse Gewissen! Man könnte es nicht plastischer darstellen,“ lachte Flora scharf auf und berührte mit dem Finger die Brust des Mädchens. „Ja, nicht wahr, Schatz, und wenn man es noch so schlau einfädelt, die ältere Schwester läßt sich nicht düpiren? Sie sieht solch einer ‚reinen‘ Mädchenseele bis auf den Grund; sie verfolgt mit klugem Blick die verschiedenen zarten Regungen von der ersten Blumenspende an, die man mit dem naiven Wunsche, Aufmerksamkeit zu erregen, dem Mann in sein Zimmer legt –“

Jetzt kam Leben in die förmlich versteinerte Gestalt des jungen Mädchens. Unwillkürlich schlug sie die Hände zusammen – es kam ihr vor, als sei, seit sie den Fuß auf den heimischen Boden gesetzt, ihre ahnungslose Seele beschlichen worden, wie das Wild vom Jäger. War es möglich, daß man ihr aus dieser kleinen Nachlässigkeit, die ihr ja selbst Thränen des Verdrusses erpreßt, einen solchen gehässigen Vorwurf machen konnte? Jetzt wallte ein gerechter Zorn in ihr auf.

„Diese Vergeßlichkeit habe ich mir allerdings zu schulden kommen lassen,“ sagte sie, ihre hohe Gestalt stolz aufrichtend. „Wer Dir aber auch davon gesprochen haben mag –“

„Wer? Er selbst, Kleine.“

„Dann bist Du es, die den Vorfall in ein total falsches Licht zieht –“

„Ah, Kind, nimm Dich ein wenig zusammen! Die so lange verhaltene Leidenschaft bricht Dir aus den Augen,“ rief Flora mit kaltem Lächeln, aber ihre Fußspitze hämmerte in kaum zu bezähmendem Grimm auf dem Parquet. „Also ich lüge? Nicht er, mein Fräulein, indem er sich der Eroberung rühmt?“

Es war abermals, als fliehe jeder Blutstropfen aus dem Mädchengesicht, während sie energisch den Kopf schüttelte. „Nein! Und wenn Du mir das zu tausend Malen wiederholst, ich glaube es nicht. Eher werde ich irre an Allem, was uns das Sittengesetz als gut und recht hinstellt. Er sollte eine Unwahrheit auch nur denken? Er sollte sich, wie nur irgend ein charakterloser Geck, einer Eroberung rühmen? Er, der“ – sie unterbrach sich, als erschrecke sie vor ihrer eigenen, leidenschaftlich bewegten Stimme. „Du hast ihn häßlich verdächtigt, als ich hierher kam,“ setzte sie, sich bezwingend, hinzu. „Damals durfte ich Dir nicht entgegentreten, obgleich ich instinctmäßig sofort für ihn Partei ergriff, aber jetzt, wo ich ihn kenne, leide ich nicht, daß er auch nur mit einem Wort verunglimpft wird. Geradezu unglaublich ist’s, daß ich Dir das sagen muß. Wie kannst Du es über’s Herz bringen, wie ist es Dir möglich, die Ehre dessen fortgesetzt anzufeinden, der Dir in der Kürze seinen Namen geben wird?“

Flora fuhr bei den letzten Worten herum und maß die Sprechende mit einem ungläubigen Blicke, als traue sie ihren Sinnen nicht. „Entweder Du bist eine Schauspielerin comme il faut, oder – eine Liebeserklärung muß Dir schwarz auf weiß überreicht werden, wenn Du sie verstehen sollst. Du wüßtest wirklich nichts?“ Mit einem impertinenten Lächeln, das alle ihre feingespitzten Zähne zeigte, legte sie beide Hände auf Käthe’s Arm und schob sie, nach einem durchbohrend dämonischen Aufblicke in die braunen Augen, zornig, heftig von sich. „Bah, was will ich denn noch? Hast Du nicht eben gekämpft und Dich echauffirt, als wolltest Du den letzten Athemzug für ihn verhauchen?“

Käthe wandte ihr den Rücken und schritt nach der Thür. „Ich sehe nicht ein, weshalb Du mich vorhin zurückgehalten hast,“ sagte sie unwillig.

„Ach, ich war zu verblümt? Muß ich durchaus gut deutsch sprechen? Nun denn, meine Liebe, ich will nichts mehr und nichts weniger wissen, als was Bruck gestern und heute mit Dir verhandelt hat.“

(Fortsetzung folgt.)
[381]

Palmengruppe auf Ceylon.
Nach einer photographischen Aufnahme auf Holz gezeichnet von O. Schulz.

[382]

Bis Ceylon.
Von F. Deichmüller.
Mit Abbildung.


Im August des Jahres 1874 verließen wir den englischen Hafenplatz auf einem nach Bombay gehenden Postdampfer, fuhren der spanischen Westküste entlang, dem märchenhaften Süden entgegen. Bot uns schon die vom besten Wetter begünstigte Fahrt längs der Küste eines von der Natur so reich gesegneten Landes fast ununterbrochen neue malerische Anblicke und unerwartete imposante Naturscenen, so sollten wir bald noch mehr entzückt werden. Zunächst war es der imposante Anblick, den uns das am Abende des dritten Reisetages erreichte Gibraltar mit seiner majestätischen Felsenfestung, seinem prächtigen Hafen und der terrassenförmig an die steil in’s Meer abfallende Bergeswand hingestreuten Häusermenge – die ganze Landschaft matt erleuchtet vom Silberlichte des Mondes und umflossen von dem eigenthümlichen Zauber der südlichen Nacht – darbot. Einige Tage später das von herrlichen, üppigen Wäldern mit feenhaften Moscheen reizend umsäumte Algier, und dann in fast noch höherem Maße die den ausgeprägt südlichen Charakter tragende Insel Malta mit dem herrlich gelegenen festen La Valette. Wurden so schon durch die ersten Plätze südlicher Länder auch unsere kühnsten Erwartungen übertroffen, so malten wir uns die vielgepriesenen tropischen Gegenden, die paradiesische Natur der indischen Wälder in um so lebhafteren Farben aus. Unsere Erwartungen sollten zwar um nichts getäuscht werden, doch mußten wir erst die unangenehme Kehrseite des tropischen Lebens kennen lernen: das Ungewohnte des Klimas, die überaus hohe Temperatur. Eben waren wir in den Canal von Suez eingelaufen, als auch bald eine so drückende Schwüle eintrat, daß mehr oder weniger bei allen Mitreisenden eine geistige Abspannung die baldige Folge war. Und doch bot die eigenthümliche Umgebung an interessanten und charakteristische Bildern so vieles dar, daß die Aufmerksamkeit doch hin und wieder hier oder dort gefesselt wurde. Hatte schon vorher Port-Said, als die erste ägyptische Stadt, die wir sahen, mit seinem bunten Gewühle von Aegyptern und Arabern in den dem Hafen zunächst gelegenen Theilen unser Interesse in Anspruch genommen, so boten sich jetzt, an den Ufern des Canals, charakteristische Scenen des Wüstenlebens dar.

Eben kam auf der afrikanischen Küste von Westen her, vielleicht aus den gesegneteren Gefilden des Nils, eine Karawane, deren lasttragende Kameele sich dicht am Ufer des Canals zu kurzer Rast lagerten. Doch auch an der allzu großen Magerkeit dieser uns in Deutschland oft in der schönsten Körperfülle gezeigten Thiere spricht sich die spärliche Production des öden Wüstenlandes nur zu deutlich aus. Weiter im Westen aber, intensiv beleuchtet von dem Lichtreflex, der endlosen Sandebene, erschien jetzt Ismaila mit dem prächtigen Schlosse des Khedive, dessen Contouren sich scharf von der tiefen Bläue des Himmelsgewölbes abhoben. Und jetzt, bevor noch die brennende Sonne in parabolischer Form am Horizonte gesunken, zeigte sich gegenüber auf der arabischen Küste das wunderbare Schauspiel einer Fata Morgana.

Erst nach einem kurzen Aufenthalte in Suez, der durch die Gastfreundschaft des dortigen deutschen Consuls für uns zu einem um so angenehmeren wurde, setzten wir die Reise fort und gelangten bald durch den Meerbusen von Suez in’s Rothe Meer.

Bei der andauernden tropischen Hitze und der dadurch gesteigerten geistigen Abspannung sind es nur zwei bemerkenswerthe Punkte, die mir aus dieser Gegend in der Erinnerung verblieben sind, nämlich der nicht weit vom Strande auf der arabische Küste liegende vielbesprochene Berg Serbal (von den neueren Forschern als der eigentliche biblische Sinai bezeichnet), von dem uns sofort die höchste einer größeren Gruppe kegelförmiger Bergspitzen aus leisem Nebel sichtbar war, und das ganz im Süden der arabischen Halbinsel gelegene vielgenannte Mocha mit seinem blendend weißen Häusermeer und den es umgebenden herrlichen Plantagen.

Das Thor der Thränen sollte glücklicherweise für uns eine freudigere Bedeutung haben, denn obgleich wir täglich in südlichere Breiten kamen, sollte doch die bisherige ununterbrochene Schwüle mit Bab el Mandeb ihren Abschluß finden und einer erträglicheren, oft durch kühlende Seeluft besänftigten Temperatur weichen. Noch einmal wurde uns, bevor wir den gesegneteren tropischen Ländern entgegeneilten, durch einen zwar nur kurzen, aber um so interessanteren Aufenthalt in dem südarabischen Aden ein charakteristisches Bild von Natur vernachlässigter, von der sengenden Sonne recht ausgedorrter südlicher Landstrecken vor Augen geführt.

Die arabische Stadt in ihrer eigenthümlichen, dem excentrischen Klima angepaßten Einrichtung mit den stolzen britischen Festungswerken scheint aber auch durchaus dazu angethan, das Unerquickliche des ganzen Landschaftsbildes zu vollenden; nur im Hafen entwickelte sich bei unserer Ankunft ein regeres Leben. Drüben am Strande bemerkte man jetzt größere Abtheilungen lasttragender Kameele, hin und wieder wohl auch einige Straußen, von deren prächtigem Gefieder die Eingeborenen uns ein Andenken verschafften. Inzwischen producircten sich die jugendlichen Sprößlinge der Eingeborenen als vorzügliche Taucher. Sie umlagerten in kleinen schmalen Booten die im Hafen liegenden Dampfer und holten mit großer Gewandtheit kleine von den Passagieren zu diesem Zwecke in’s Meer geworfene Geldstücke heraus.

Doch schon nach einem Aufenthalt von nur wenigen Stunden wurden die Anker gelichtet, und fort ging’s mit gutem Winde und Volldampf unserem nächsten Reiseziele, Bombay, entgegen. Während der mehrtägigen Reise wurde durch die ungemeine Veränderlichkeit der Witterung die oft gewünschte, oft befürchtete Abwechselung geboten. Bald gelangte die tropische Sonne zur unumschränkten Herrschaft und verlieh dem Klima seinen eigentlichen, uns unangenehmen Charakter, wobei sich aber die Bewohner des Meeres recht behaglich fühlen mußten, da ganze Schaaren fliegender Fische unser Schiff fast beständig umschwirrten, hin und wieder sich auch einige auf’s Deck und in die Cabinen verirrten – und dann bezog sich plötzlich das ganze Himmelsgewölbe mit dunkeln Wolkenmassen, und ein heulender Sturmwind peitschte die ungeheuren Wasserwogen wild durcheinander und schaukelte spielend den Koloß unseres Dampfers nach allen Richtungen hin. In dem bald glücklich erreichten Bombay war uns ein achttägiger Aufenthalt verstattet und damit Gelegenheit geboten, die (neuerdings aus anderweitigem Anlasse besprochenen) Sitten und Gebräuche der Eingeborenen etwas näher kennen zu lernen.

Begnügen wir uns, hier mit wenigen Worten eines Ausfluges nach Elephanta zu gedenken. Durch die Freundlichkeit unseres Capitains wurde es uns ermöglicht, mit einem Dampfboote die circa zehn Kilometer vom Festlande entfernt liegende kleine, aber mit herrlicher tropischer Palmenwaldung und wahrhaft üppiger Vegetation gesegnete Insel zu erreichen, und bald befanden wir uns auf der Spitze des Berges, dem Olympe der Indier. Da thronte, kunstvoll in eine kolossale Felsenwand eingehauen, die indische Dreieinigkeit (Brahma, Wishnu, Shiwa), umgeben von den ebenso kunstvoll ausgeführten Statuen der übrigen Götter – ehemals eines der herrlichsten Baudenkmäler eines früheren Jahrtausends, jetzt nur noch eine großartige Ruine; denn bei der Einnahme dieser Insel durch die Holländer wurde auch dieser Wallfahrtsort orientalischer Völker von der Zerstörung nicht verschont.

Bald waren die wenigen Rasttage auf indischem Boden verstrichen, und mit nunmehr fast direct südlichem Course eilte unser Dampfer dem schöneren Ceylon entgegen. Am Morgen des 25. September, bald nachdem die Sonne dem Meere entstiegen, zeigten sich im Südosten die ersten Spitzen des zu erreichenden Landes. Kurze Zeit später wurden immer größere Landstrecken sichtbar. Wir fuhren nun nahe der Küste entlang, und gegen Mittag erreichten wir den Hafenplatz, das auf der Südspitze der Insel westlich gelegene Point de Galle. Ein herrlicher weiter Hafen war es, der uns jetzt aufnahm, die Küste der Insel, von Massen eigenthümlich geformter Felsen gebildet, dehnt sich im Halbkreise um ihn aus. Doch wie bisher noch in keinem der passirten Häfen, herrschte hier eine ungemein hohe See, sodaß alle auch größeren Schiffe, die hier vor Anker lagen, nach allen Richtungen stark schwankten, das unsere aber nach [383] der Einfahrt in den Hafen noch bedeutend stärker bewegt wurde, als dies auf offener See kurz vorher der Fall gewesen. Dieser ungünstigen Thatsache schien auch in der eigenthümlichen Bauart der Fischerboote Rechnung getragen, die, an sich sehr schmal, mit einem Gegengewichte balancirt werden, wodurch ein Umschlagen verhütet wird.

In solchen Booten, die nach Ankunft eines Dampfers in großer Zahl im Hafen sichtbar und von bronzefarbigen Eingeborenen geführt werden, fuhren wir jetzt an’s Land, kamen aber, von den hohen Wellen oft überfallen, ganz durchnäßt drüben an. Point de Galle (von den Eingeborenen Galla genannt, was bei ihnen Felsen bedeutet und woraus die Portugiesen, die es mit „Gallo“ der Hahn verwechselten, Punto de Gallo machten) ist seit dem Jahre 1640, wo sich die Holländer der Stadt bemächtigten, befestigt und von starken Forts und Wällen umgeben, die sich eine und eine viertel englische Meile um sie ausdehnen. Als Kreuzungspunkt bedeutender Weltverkehrsstraßen ist der Ort ein nicht unbedeutender Handelsplatz. Es sind namentlich die Mauren (Araber) daselbst, in deren Händen der Haupthandel liegt. Eigenthümliche Gestalten, diese Mauren: dunkelbrauner Teint, ganz kahl geschorener Kopf, als dessen Bedeckung ein hoher, meist roth bemalter Rohrcylinder dient, anstatt der Beinkleider ein um die Hüften geschlungenes, bis zu den Knöcheln reichendes, grellfarbiges Tuch – dies sind die äußeren Kennzeichen dieser maurischen Jünger Mercur’s. Auch sind Portugiesen, in geringerer Zahl, in Gallo vertreten und als Hafenplatz der englischen Postdampfer natürlich auch Briten, weshalb sich auch ein mit europäischem Comfort ausgestattetes Hôtel dort befindet.

Wenn wir nach den in den Welthandel übergehenden Producten Ceylons fragen, so denkt man unwillkürlich zunächst an die großartigen Perlenfischereien, welche im Alterthume und im Mittelalter die Insel im ganzen Orient so berühmt machten. Seit aber ein englischer Statthalter die Perlenbänke ausfischen ließ (lediglich um eine größere Productivität zu erzielen), ist die Perlenfischerei fast gänzlich ausgestorben. Die Perlenbänke, an der Palksstraße liegend, begrenzen nur dürre kahle Sandebenen, und die sengende Sonne macht selbst den Eingeborenen einen längeren Aufenthalt in dieser Einöde unmöglich. Ueberhaupt scheint die Perlenfischerei ausschließlich von den Eingeborenen ausgeübt worden zu sein und nie von civilisirten Menschen: man fand nur Spuren nackter Füße dort, nie aber den Abdruck von Schuhen. Welchen Umfang die Perlenfischerei Ceylons in der Glanzperiode erreichte, ist bekannt, ebenso welches hohe Ansehen die Insel dadurch erlangt hat – dies scheinen die jetzigen Eingeborenen zu benutzen, indem sie einen nicht geringen Handel mit imitirten Perlen unterhalten, wogegen die Production der echten fast gänzlich aufgehört hat. Um die hauptsächlichsten Erzeugnisse der Bodencultur Ceylons kennen zu lernen, müssen wir einen Ausflug in das Innere der Insel unternehmen, und es wird daher zweckmäßig sein, zunächst mit den Eingeborenen, in deren Händen die Bodencultur ruht, bekannt zu werden. Die Cingalesen, fast ausschließlich noch dem Buddhismus angehörend, wohnen meist zerstreut in Hütten, die sich im Dickicht des Urwaldes verbergen, und nur selten trifft man an etwas urbar gemachten Plätzen der Insel größere Gruppen ihrer urwüchsigen Wohnungen (abgesehen von den wenigen größeren Ortschaften, die wir nicht Gelegenheit hatten, kennen zu lernen).

Schlanke magere Gestalten, das kohlschwarze Haar am Hinterkopf in einen Knoten gebunden und bestenfalls versehen mit der nothdürftigsten Kleidung – so erscheinen sie uns, oft plötzlich aus dem Dickicht hervortretend, die heimischen Söhne der unverfälschten tropischen Natur. Zur Genüge giebt ihnen die üppige Vegetation des gesegneten Bodens, ohne ihnen große Mühe aufzuerlegen, die nöthigsten Lebensbedürfnisse, und gleich ihren Vorfahren sind auch sie mit den unmittelbaren Naturproducten zufrieden. So stießen auch die Engländer, die erst 1815 in den Besitz des Innern der Insel kamen, bei ihnen auf Schwierigkeiten gegen die systematische Bebauung des Bodens und die Cultur der hauptsächlichsten einheimischen Nutzpflanzen, namentlich Kaffee und Baumwolle, zu deren erfolgreicher Bebauung der Boden besonders geeignet schien. Doch bald gelang es den neuen Ansiedelungen, den Kaffeebau auf Ceylon zu solcher Blüthe zu bringen, daß dadurch den Holländern, die in ihren indischen Besitzungen diese Cultur schon früher eingeführt, ernstlich geschadet wurde, obgleich erstere wegen der Verschiedenheit des Bodens mit nicht geringen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Dies beruhte übrigens nur auf Gegenseitigkeit, indem die Holländer durch ihre ausgedehnte Zimmtproduction, wofür doch Ceylon früher ein Monopol besaß, die Cingalesen überflügelten. Große Sorgfalt verwendeten die Pflanzer noch auf die Cocospalme, und Cocosnußöl ist daher ein Hauptstapelartikel Ceylons geworden. Weniger umfangreich, aber um so edler liefert Ceylon eines der kostbarsten Hölzer, das Ebenholz. Nur der Kern des schmalen rußigen Stammes mit schwarzer Rinde kommt in den Handel. – Alle übrigen Bodenerzeugnisse, namentlich Mais, rother Pfeffer, süße Kartoffeln, Reis werden von den Eingeborenen fast ausschließlich für ihre Lebensbedürfnisse gebaut.

Der reiche tropische Urwald, mit dem die ganze Insel gesegnet ist, besteht zum größten Theil aus meist prächtigen Palmengattungen, von denen die erwähnte Cocospalme, ferner die Dattel-, Sago-, Talipot- und Arecapalme die herrlichsten Erscheinungen bieten. Namentlich sind es die beiden letztgenannten Palmen, die sich sowohl durch ihren majestätischen Wuchs wie die ausgedehnte Verwendung ihrer Früchte und Blätter durch die Eingeborenen auszeichnen. Während die erstere durch ihre riesenhaften fächerartigen Blätter, deren Umfang wohl zehn Meter beträgt, prächtiges Material zu Schirmen, ja selbst zu Wohnungen bietet, imponirt die letztere zunächst durch ihren stattlichen Wuchs; sie erreicht eine Höhe von fünfundzwanzig Meter, wogegen ihr Schaft verhältnißmäßig dünn (ein Decimeter Durchmesser) bleibt. Unter ihrer reichen Blattkrone am Gipfel des Stammes wachsen die Areca- (Betel-) Nüsse, aus einer scharfen gewürzigen, dem Pfeffer ähnlichen Substanz bestehend, die von allen Eingeborenen als Kautabak verwendet wird, wodurch eine starke Entwickelung röthlichen Speichels und eine dunkle Färbung der Zähne entsteht. Doch nicht allein in Ceylon, auch in vielen indischen Plätzen ist die Unsitte des Arecakauens, bis zur Leidenschaft gesteigert, heimisch und wird der Bedarf in Indien fast ausschließlich von Ceylon befriedigt.

Einen weniger tiefen Standpunkt als die Indier und Chinesen durch ihren schädlichen Opiumgenuß nehmen die Cingalesen in ihren Berauschungsmitteln ein: Fungur (Fliegenschwamm) und indischer Hanf, welche letztere Pflanze getrocknet geraucht und gekaut wird und mehr erheiternd als berauschend wirkt.

Wir erwähnten bereits, daß sich die Cingalesen fast ausschließlich zum Buddhismus, der Religion ohne Gott, bekennen, und finden daher zwar keinen Heiligencultus bei ihnen, wogegen der Reliquiendienst ein um so ausgedehnterer ist. Die am meisten gepflegten Reliquien sind die Cripâdâs (Fußstapfen) Buddha’s, des über allen Göttern erhabenen vollendeten Weisen, des Stifters ihrer Religion. Die berühmteste dieser geheiligten Fußstapfen befindet sich auf der Spitze des (zweitausendsechshundert Meter hohen) Adamspiks in Ceylon, nach welchem schon im fünften Jahrhunderte viel gewallfahrtet wurde und der noch jetzt, wo über ihm ein Tempel erbaut ist, die geheiligte Stätte, der besuchteste Wallfahrtsort der Buddhisten ist.

An einem prächtigen Nachmittage fuhren wir in einem der landesüblichen, ungemein leicht gebauten Wagen, von zwei feurigen Pferden in raschem Trabe gezogen, dem herrlichen Palmenwalde entgegen. Der bronzefarbene Rosselenker war von uns bedeutet worden, so weit wie möglich in’s Innere zu fahren. In Windeseile hatten wir so die der Stadt zunächst liegenden in üppigem Pflanzenwuchse prangenden Felder durchfahren und befanden uns bald inmitten eines regelmäßige Alleen und reizende Gruppen bildenden Hains von stattlichen Palmenbäumen, deren hohe Wipfelkronen sich, schützend vor den heißen Strahlen der Sonne, zu einem duftigen Dache über unseren Häuptern wölbten. Zu beiden Seiten der schmalen Waldstraße lagen zerstreut eine größere Anzahl der eigenthümlichen Hütten der Eingeborenen, deren Bewohner in der vegetationsreichen Umgebung ihren Beschäftigungen nachgingen, während ihre jüngsten Sprossen sich zuweilen das Vergnügen machten, eine lange Strecke Wegs unserm in raschem Laufe dahineilenden Wagen nachzulaufen. Wir mochten vielleicht eine Meile weit gefahren sein, als der Weg durch ein Gewässer begrenzt wurde. Wir ließen jetzt Wagen und Pferde zurück und setzten den Streifzug zu Fuße fort. Erst einem schmalen Waldwege folgend, stiegen wir eine leichte Anhöhe hinauf, doch bald hatte die erwähnte Regelmäßigkeit des [384] Waldes ein Ende; nur mühsam konnte man sich durch das dichter werdende Gebüsch hindurcharbeiten.

Nach längerem derartigen Vordringen gelangte man auf ein herrliches Plateau, von wo aus eine erquickende Rundsicht über einen nicht geringen Theil der im herrlichsten Grün prangenden Insel gestattet war. Rings umgeben von einem schönen Palmenwald, der gesegnete Boden von üppigem Pflanzenwuchs bedeckt, bot dieser Punkt den vollendeten Genuß tropischer Naturschönheit. Lange erquickte sich das Auge an der nie in solcher Vollkommenheit erblickten paradiesischen Gegend, und eine feierliche Ruhe lag über der Natur. Kein Laut eines heimischen Vogels, noch das Rascheln einer Schlange wurde hörbar; kein Lüftchen störte die feierliche Stille des Urwaldes.

Wir können uns nicht versagen, hier eine der vollendetsten Palmengruppen, die uns nie aus der Erinnerung schwinden wird, im Bilde beizufügen, wenn wir auch das Ausmalen der imposanten tropischen Farbenpracht der Phantasie der Leser überlassen müssen.

Die Sonne verschwand eben in tiefem Purpur am klaren Horizont und mahnte zur Rückkehr. Unser Rosselenker hatte sich in einem cingalesischen Wirthshaus am Flusse inzwischen häuslich niedergelassen; auch wir ließen uns von den Eingeborenen ein Schälchen Kaffee bereiten und fuhren dann, noch entzückt von der herrlichen Natur, zurück nach Point de Galle. Die drückende Schwüle des Tages war einer angenehmen Kühle gewichen, und jetzt ließen sich auch hie und da einige buntgefiederte Zweigbewohner, Papageien, sehen, die sich wohl vor der brennenden Sonne verborgen hatten und erst Abends zum Vorschein kamen. Wer diese ideale tropische Natur kennen gelernt hat, der wird gewiß geneigt sein dem Forscher beizustimmen, der das biblische Paradies nach Ceylon verlegt.




Vogelsteller an allen Enden.
Von F. A. Bacciocco.


Jeder kleine Schulbube hat etwas von einem jungen Jagdhunde. Er muß immer auf der Suche sein. Je besser der Knabe physisch bedacht und je gewandter er ist, um so schärfer tritt diese Eigenschaft hervor. Er fängt, selbst kaum flügge, mit dem Sport auf die Zimmerfliege an, wirft sich alsbald auf andere Insecten und kleines Gewürm und feiert seinen ersten großen Nimrodtag, wenn er eine Schachtel voll Maikäfer heimbringt. Der Hang zur Jagd scheint zu den Ureigenthümlichkeiten des Geschlechtes zu gehören, welches es ohne dieselben auch schwerlich so hübsch weit gebracht hätte. In ein neues, höheres Stadium der Jägerei tritt der Knabe, wenn er, ablassend von Maikäfern und Schmetterlingen, sich auf die Vogelstellerei verlegt. Es ist ein gefährliches Stadium für ihn; für seine „wissenschaftlichen Bestrebungen“ nicht minder, wie für Garten und Feld und Wald. Er fängt an, auf eigene Faust in den Wiesen und im Buschwerke herum zu vagabondiren, um fröhliches, oft werthvolles Leben zu zerstören. In nicht seltenen Fällen ist es die Vorstufe und Vorschule für eine Richtung in seinem späteren Leben. Ist der enragirte Nestsucher und Vogelsteller ein Cavalierssohn, so wird er gewiß mit der Zeit ein großer Jäger und Sportsman vor den Herren und Damen; ist er ein Bauernjunge, so geht die Passion nicht selten in einen unauslöschlichen Hang zur Wilddieberei über, und ist er ein Stadtkind, so bringt er die Passion mit heim in die Stube, und er wird ein Vogelliebhaber in gutem oder schlimmem Sinne. In einigen Fällen wird auch aus dem frühreifen Vogelsteller und Jäger ein solider Naturforscher.

Wer ein wenig herumgekommen ist in der Welt, wird gefunden haben, daß die Passion für die Vogelstellerei bei allen Nationen und Volksstämmen und bei Jung und Alt vorhanden ist; nur erscheint sie bei den verschiedenen Racen in verschiedenen Formen. Die Leidenschaft geht nämlich mit dem Verständnisse und mit dem Talente nicht harmonisch Hand in Hand. Ganz verschieden z. B. von der Neigung des Italieners und des Franzosen für die Vogelwelt und Vogelstellerei ist diese Neigung bei dem Deutschen. In Deutschland selbst erscheint sie wieder in Abstufungen und Variationen je nach den Eigenthümlichkeiten der Stämme. Aber von der Lüneburger Haide bis zu den einsamsten Dörfern Tirols wird die Jagd mit der gleichen Hingebung betrieben. Und schier in jedem Gaue und in jedem Reviere (allein auf germanischem Grund und Boden) nimmt das Gewerbe oder die „Kunst“ andere Formen an. Und geht man von diesem auf die benachbarten romanischen Gebiete über, auf Frankreich und Italien, dann steigert sich die Mannigfaltigkeit in geradezu verwirrender Weise, und man kann zuweilen kaum begreifen, wie das arme Sängervolk überhaupt noch zurückkehren mag zu dem alten gefährlichen Boden Europas, wo ihm, von der Küste Dänemarks bis hinab nach der Campagna di Roma und bis zur blühenden Küste von Sorrent, nur immer und immer Fallen, Stricke, Netze und Hinterhalte in hundert und aber hundert Gestalten gelegt werden! Aber es scheint beinahe, daß die bestrickende menschliche Cultur es auch dem Vogel angethan hat, sodaß er sich nicht mehr von ihren Spuren losreißen kann. Man darf jedenfalls annehmen, daß in den unermeßlichen Gebieten Afrikas und Asiens, an den Ufern des Nils und an der ungemüthlichen Küste von Marokko und Tunis, daß in den Hochsteppen des asiatischen Binnenlandes und in den russischen Tiefebenen die Vogelwelt bei weitem nicht die Nachstellungen von menschlicher Seite erfährt, wie in dem „humanen“ Europa. Trotzdem kehrt sie mit unverwüstlicher Hartnäckigkeit zu den „freundlichen Thälern“, zu den Waldungen, Gärten und Parkanlagen zurück, wie man sagt, aus Instinct, oder weil es so Herkommen ist, gewiß eine sehr gute und bestimmte, vielleicht nur keine sehr gründliche Erklärung.

In Deutschland dürften die bekanntesten Vogelstellergebiete wohl in Thüringen, im Harze, im Schwarzwalde und in Tirol zu suchen sein. Im Harze und im sächsischen Erzgebirge aber züchtet man nicht einheimische Vögel allein. Gewisse Theile Hannovers werden ebenfalls als hervorragend in dieser Passion bezeichnet. Auch in Böhmen und in Deutsch-Oesterreich erfreuen sich verschiedene Städte und Gegenden eines Rufes auf diesem Gebiete. Sehr wenig Beachtung hat man bislang aber jenem deutschen Landstriche geschenkt, der am Niederrheine von der belgischen und holländischen Grenze eingeschlossen und theilweise von einem wallonischen Volksstamme bewohnt wird. Wenn meine Erfahrung mich nicht täuscht, dürften hier die passionirtesten Vogelsteller und die geschicktesten Züchter zu suchen sein. Uebertroffen werden diese nur noch von den belgischen und holländischen Liebhabern. In jener Gegend hat jede Stadt am Sonntage ihren ständigen Vogelmarkt; jede Stadt hat ihre berühmten Liebhaber und berühmten Exemplare, die für kein Geld feil sind. Wer Gelegenheit hatte, den schönen alten Rathhausplatz in Brüssel an einem Sonntage zu besuchen, weiß, was ein echter niederländischer Vogelmarkt zu bedeuten hat. In gleicher Weise haben die Städte Aachen, Eupen, Mastricht, Lüttich, Antwerpen etc. ihre Vogelmärkte und an besonderen Tagen des Jahres ihre Vogelmessen. Uebrigens brachten die letzten Jahre auch zu Tage, daß die besten Taubenzüchter in Belgien zu suchen sind; das hängt mit der Passion im Allgemeinen zusammen. Der eigentliche Holländer unterscheidet sich aber auch hier vom Flamänder und Brabanter. Er hat sich mehr der exotischen Vogelzucht ergeben, während diese bei den heimischen Finkenarten, bei den Lerchen und Sprossern bleiben. Die Buchfinkenzucht nimmt dabei eine hervorragende Stelle ein, und leider ist auch die grausame Gewohnheit des Blendens im Spiele, die dort zu Lande nicht ausgerottet werden kann.

In Frankreich nimmt natürlich Paris als Sitz der besten Vogelfänger und Vogelsteller einen dominirenden Rang ein, und das ist um so merkwürdiger, weil Paris von allen Hauptstädten der alten Welt (mit Ausnahme vielleicht von Neapel) jene Stadt ist, in deren Umgebung man am wenigsten Vogelgesang vernimmt. Die langjährige, altüberlieferte Ausrottung und Verfolgung hat wohl die Vögel von Paris zu vertreiben vermocht, aber nicht die Vogelfänger und Liebhaber. Paris hat einige permanente Vogelmärkte in den Arbeitervorstädten, und jeden Sonntag sammeln sich in der Gegend von Notre-Dame die Liebhaber zum Kaufe und Tausche. Die Vogelfänger sind hier nur noch Geschäftsleute, die im Frühjahre weite Fahrten machen, selbst bis [385] zu den Ardennen, um Nester auszuheben und die Brut heranzuziehen. Der exotische Vogelhandel, der in Paris in großartigem Maßstabe florirt, vermag gleichwohl der einheimischen Production keine Concurrenz zu bereiten. Der Pariser Arbeiter und die Blumenmacherin ziehen einen mauserigen Flachsfink dem blanksten Canarienvogel vor; sie meinen, daß der andere sich besser ausnimmt zwischen ihren Blumen am Dachfenster. Uebrigens sind sie auch mit einem schlichten Sperling zufrieden.

Wenn man Vergleiche auf den deutschen und romanischen Märkten und im Heim der Kenner und Liebhaber anstellt, dann wird man unbedingt finden, daß die deutschen Vogelfänger manche Vorzüge vor jenen haben. Sie wissen besser mit den Thieren umzugehen; sie behandeln dieselben rationeller; man kann sogar sagen: wissenschaftlicher. Eine Ausnahme bilden vielleicht nur die obengenannten Wallonen, wobei aber schwer zu sagen ist, ob die rationelle Art von den Wallonen oder von den Flamändern stammt. Es ist zum Beispiel einem Franzosen oder Italiener ziemlich gleichgültig, zu welcher Frist er einer Nachtigall oder Lerche Mehlwürmer oder scharfes Futter giebt, die eigentlichen Kenner dagegen warten die geeignete Zeit ab und steigern sie allmählich. In derselben Weise ist der deutsche Züchter vorsichtig in der Wahl der Körner und gewissenhaft in der Reinlichkeitspflege. Er versteht die Kunst, das Leben des gefangenen Vogels zu verlängern – ein Punkt, worüber der Romane sich weniger Kopfschmerzen macht.

Am gleichgültigsten und leichtsinnigsten ist in all’ diesen Punkten der Italiener, der überhaupt auf den Vogel in der Gefangenschaft nicht viel giebt; er hat ihn lieber im Topfe. Die Herbstzeit, der Beginn der Wanderzeit, könnte für den Zugvogel in Deutschland mit einer Fegefeuer-Periode verglichen werden, aber es wird dieselbe Periode in Italien zur Hölle. Der große Vogelzug, der über die Alpen südwärts geht, hat einen ununterbrochenen Kampf zu bestehen, von den zahlreichen Thälern, Schluchten und Defileen der großen deutsch-romanischen Bergkette bis zur Küste von Ostia, wo einer der großen Sammelplätze ist für den gemeinsamen Zug aber die Meeresfluth.

Wenn man in Deutschland dem armen Wanderer aufgelauert hat mit Schlingen, mit Leimruthen, mit Springgarnen, mit Flügelnetzen, mit „Trassen“ zur Tag- und Nachtzeit und nebenbei mit Flinten und anderen Mordwaffen, mit und ohne polizeiliche Erlaubniß, so tritt auf der Südseite der Alpen das große Wandnetz (Roccollo) in seine Rechte, das lange Flügelgarn und die ganze hungrige Jagdgier des lebhaften italienischen Volkes. Wenn in Deutschland die Passion noch einen gewissen gemüthlichen Anstrich hat, weil viele Vögel eingefangen werden, um im Zimmer in der Gefangenschaft gehegt zu werden, so ist sie in Italien dieses Anstriches vollständig entkleidet, weil dort die ganze Jagd für den Magen, für die Küche betrieben wird. Nur ein verschwindend kleiner Theil der Vögel wird in Gefangenschaft gehalten.

Im Herbste, wenn den Wanderzug die Campagna zu berühren anfängt, begeben sich die edlen Römer mit Kind und Kegel hinaus in die Ebene zum Fange der „uccelli“. Ein Theil geht bis nach Ostia auf den Wachtelfang, indessen ist die eigentliche Wachteljagd im Frühjahre. Im Herbste werden nur kleine Partien weggefangen, wenn die Thiere an der Küste ihre letzte Rast halten. In der Campagna wird aber Alles, ohne Ansehen des Gefieders, mitgenommen und mit allen erdenklichen Waffen bekriegt. Netze, Fallen und Vogelflinten, die zu führen der Römer sich nicht nehmen läßt, kommen zur Anwendung. Die Resultate dieser Tage kann man auf dem alten Markte beim Pantheon erkennen. Dort spielt einige Woche hindurch der „kleine Vogel“ die Hauptrolle. In unzähligen Koppeln und ohne Auswahl sind Lerchen, Finken, Schwalben, Sprosser zum Kaufe vorhanden. Ein ähnlicher Markt dürfte schwerlich in einer andern Stadt Europas vorhanden sein, und man muß sagen, glücklicher Weise. Die Jagdzeit wiederholt sich im Frühjahre, wenn die Vögel aus Afrika zurückkehren. Alsdann werden an der Küste die langen Wachtelnetze ausgespannt und die ermüdeten Thiere zu Tausenden hineingetrieben. In derselben Frist wird in der Campagna mit entsprechendem Eifer der Lerchenfang betrieben. Vielleicht tragen diese heftigen Nachstellungen bei der ersten Berührung des europäischen Bodens dazu bei, die Thiere schneller und in größeren Schwärmen nach dem Norden zu treiben. Im Frühjahr bringt die Lerche ein eigenthümliches, wunderbares Leben in die große römische Campagna. In der frühlingsfrisch und fröhlich aufblühenden Ebene ertönt unbeschreiblicher Gesang. Es ist gleichsam ein singendes Netz über das grüne Land gespannt, unter welchem der harmlose Spaziergänger neben dem grünen Jägersmanne einherschreitet. Die Verfolgung hält den edlen Vogel nicht ab von seinem alten Brauche, immer und immer wieder in den Himmel hineinzusteigen, dem Lichte, dem ewigen Sonnenlichte entgegen mit jubelndem Sangesgruße.

Der Vogelfänger in der Campagna bringt das „doppelte Flügelgarn“ zur Anwendung, welches ebenfalls in Norddeutschland, im Niederland und in Frankreich gebraucht wird. Der Vogelsteller sitzt dabei in seiner Reisighütte; er hat Lockvögel und Lockpfeifen. In Rom habe ich auch das kleine Springgarn gefunden, welches besonders im Frühjahre zur Anwendung kommt und wohl die verächtlichste Fangart repräsentirt. Ich sage: auch, denn ich habe es leider in Deutschland zuerst getroffen. Es wird im Frühjahre, in der Brutzeit gebraucht. Der Vogelsteller legt sich mit demselben in Hinterhalt, an einen kleinen, einsamen Wasserpfuhl, bei welchem das Netz gespannt wird. Alle Vögel, die dabei weggefangen werden, werden dem Neste und der Brut entrissen. Die solcher Weise gefangenen Sänger sterben fast immer; natürlich geht nebenbei die Brut zu Grunde. Diese Fangart sollte allenthalben durch ein besonderes strenges Gesetz verboten werden.

Man sagte mir, daß im Römischen auch der sogenannte „Trassengang“ bekannt sei, der in einigen Gegenden Norddeutschlands betrieben wird. Aber ich hatte keine Gelegenheit, mich von der Wahrheit zu überzeugen. Am Niederrhein ist er vielfach in Schwang und gehört zu den jagdberechtigten Fangarten. Die Jäger machen sich mit der „Trasse“, einem oft zwanzig Fuß langen aufgespannten Netze, bei Nacht auf den Weg. Das Feld, in welches ein Schwarm Lerchen (im Herbste) eingefallen ist, wurde am Abende durchsucht, und die Leute kennen beiläufig die „gefüllte Stelle“. Auf Commandoruf wird das Netz niedergelegt, und die aufflatternden Vögel werden mit leichter Mühe gefangen und getödtet. Im Hannoverschen soll eine ähnliche Netzconstruction gebräuchlich sein, die durch Pferde über das Feld gezogen wird. Zu den großen Fangnetzen gehört ferner noch das berüchtigte Roccollo in den Alpen. Es kommt in allen Thälern der großen Alpenkette von Chambery bis nach Trient zur Anwendung; an allen oberitalienischen Seen, am Lago maggiore, am Lago di Como, am Gardasee bildet diese Jagd das Ergötzen der Liebhaber.

Italienische Nobili haben sich eigene Villen im Gebirge bauen lassen, um bequem diesem Fange obliegen zu können. Die roccolli (die Piemontesen nennen es rai) bilden eine zwölf Fuß hohe, oft sehr lange Netzwand, welche auf einem hohen Felsen, der aus einer von Norden nach Süden streichenden Schlucht hervorspringt, aufgepflanzt wird. Das Garn wird möglichst nahe an den Abhang gebracht. Vor demselben wird der Boden aufgeworfen, Futter gestreut und werden Lockvögel, im Bauer und am Halfter, angebracht. In einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten befindet sich die Hütte des Vogelstellers. Er ist mit einer „Holzratsche“ bewaffnet oder hat auch eine Flinte zur Hand, um im geeigneten Momente zu schießen. Die Vögel fallen auf den Vorsprung ein, zur Wanderzeit oft in dichten Schwärmen; der Vogelsteller wartet eine gehörige Ansammlung ab und springt plötzlich mit seinem Instrumente hervor, ein entsetzliches Getöse in der Bergeinsamkeit machend. Die Vögel habe die Gewohnheit, nach kurzem Auffluge, vielleicht in Folge des Schreckens, sofort wieder niederzusinken, und zwar lassen sie sich sanft an dem Felsen hinabgleiten. So gerathen sie in das verrätherische Netz, welches mit hinterlistiger Geschicklichkeit an der Bergkante aufgestellt ist. Der Vogelsteller springt herzu und tödtet mit geübtem Handgriffe die in den Maschen zappelnden Thiere. In Südtirol ist es oft vorgekommen, daß Vogelsteller, im Eifer der Jagd, über den Felsen hinkollerten und das Netz mitrissen. Ob mit dem Roccollo, dem Trassengang und dem Flügelgarne die großen Fangarten erschöpft sind, möchte ich bezweifeln; indessen genügt ihre Erwähnung, um die Gefahren und Nöthen anzudeuten, denen die „Sänger des Hains“, unsere Lieblinge, ausgesetzt sind in ihrer herbstliche Wanderzeit von der öden Lüneburger Haide bis hinab zur ehrwürdige Campagna di Roma.



[386]
Böhmische Glasindustrie.
Von A. B.
(Schluß.)


Bei unseren Wanderungen in dieser so stark bevölkerten Gegend ist es auffallend, wie still und ruhig es in den Ortschaften zugeht, welche die Hausindustrie der Glasartikel umfassen. Auf der Landstraße begegnet man meistens Leuten, welche in kleinen Bündeln die Erzeugnisse ihrer Thätigkeit an die Handelshäuser abliefern, für welche sie beschäftigt sind. Die Zurückkehrenden nehmen das in den Rohglasniederlagen für einen Theil des Erlöses gekaufte Material zu neuen Arbeiten mit heim. Lange Reihen schwerbeladener Frachtwagen führen Massen großer und kleiner Kisten nach den nächsten Eisenbahnstationen, von wo aus diese Waaren die Weiterreise über das Meer nach fernen Welttheilen antreten.

Es ist ein schweres Leben, das die Bewohner der Gebirgsdörfer schon von Kindesbeinen an führen. Die armen Kleinen müssen bereits daheim von frühester Jugend an schaffen helfen und zum Erwerbe des oft kargen Lebensunterhaltes beitragen. Die Perlen, welche Vater und Mutter oder größere Geschwister gesprengt oder geschliffen haben, müssen die kleinen oft nur drei- oder vierjährigen Kinder auf Fäden reihen, Knöpfe oder allerhand Schmucksachen auf Cartonnagen befestigen, die etwas älteren Kinder müssen sogar mit den schweren Scheeren die beim Pressen des geformten Glases zurückgebliebenen Ränder entfernen, um so diese Gegenstände zum Schleifen vorzubereiten. Es ist oft rührend zu sehen, wie diese armen Kinder voll Aufmerksamkeit die ihnen übertragenen Arbeiten emsig verrichten. Nur verstohlen werfen sie zuweilen einen sehnsüchtigen Blick hinaus nach den schönen Bergen oder auf das Stückchen Garten vor dem Hause, wo nur Schmetterlinge und Käfer ungestört spielen dürfen. Das Spiel der fleißigen Kleinen hier heißt – Arbeit, und das Leben stellt ihnen meist für die Zukunft nur eine endlose Kette von Mühe und Anstrengung in Aussicht.

Welche Thätigkeit herrscht überhaupt in jenen einfachen, aber immer reinlichen Wohnungen, wo die Arbeitsstube freilich oft genug gleichzeitig Wohn- und Schlafraum sowie Küche für die ganze Familie abgeben muß! Bei dem Glasformer sitzen an einem kleinen Tische zwei oder drei Arbeiter. Jeder hat eine Lampe einfachster Art vor sich: ein kleines irdenes Gefäß, in dem ein durch Talgstücke genährter Docht brennt; Manche versteigen sich auch schon zu dem kostspieligeren Petroleum für ihre Lampen. Unter dem Tische ist für jeden Arbeiter ein kleiner Blasebalg angebracht, der mit dem Fuße in steter Thätigkeit gehalten wird und dessen nach oben geleitetes Rohr an der Lampe eine lange Stichflamme erzeugt. Den Stab der durch ihren starken Bleioxydzusatz so leicht schmelzbaren Glascomposition bringt nun der Former mit der einen Hand zur Flamme, während er, um z. B. einen Knopf zu fertigen, mit einer durch die andere Hand gehaltenen Zange einen Metallhenkel aufnimmt, an welchen er von der glühenden und sich fast so leicht wie geschmolzenes Siegellack verarbeitenden Masse durch gleichmäßiges Drehen so viel anlegt, bis der Knopf seine vorgeschriebene Gestalt erlangt hat. Dann werden auch sogleich noch die etwa zur Verzierung bestimmten Metallblättchen oder die aus anders gefärbtem Glase bestehenden Muster aufgelegt, und endlich wird der nun fertige Knopf vor seinem gänzlichen Erkalten in eine Metallform gedrückt, wodurch er gleichzeitig noch einen reicheren Glanz erhält. – Auf ähnliche Weise werden aus freier Hand Blumen und allerhand Gegenstände gefertigt, die uns den Formensinn des Arbeiters in höchster Entwickelung zeigen.

Es würde zu weit führen wenn wir auch nur oberflächlich die interessante Anfertigung der zahllosen Glaskurzwaaren hier beschreiben wollten, denn in jedem Häuschen findet man wieder irgend etwas Neues und Ueberraschendes. Aber auch der Naturfreund findet hier nicht minder seine volle Befriedigung. Von Gablonz führt unser Weg weiter aufwärts im Neissethale, welches die prächtigsten Punkte in Menge darbietet. Bald erreichen wir Wiesenthal, ein weit ausgedehntes Dorf von städtischem Aussehen. Hier steht die Fabrikation der Glaskurzwaaren seit langer Zeit in höchster Blüthe und hat sich wesentlich von hier aus auf die übrigen Orte ausgebreitet. Ebenso hat das zunächst gelegene Morchenstern gewaltig an fast großstädtischer Ausdehnung gewonnen. Zwischen den letztgenannten beiden Orten führt die prächtige Landstraße über den hohen Bergrücken, welcher die Wasserscheide für die Zuflüsse der Nord- und Ostsee bildet. Von diesem höchsten Punkte bietet sich eine überraschend schöne Aussicht. Gegen Westen erhebt das Jeschkengebirge bei Reichenberg seine dunkeln Massen, mit denen der Hintergrund des von uns eben verlassenen lieblichen Thales sich abschließt. Nach Osten zu aber eröffnet sich uns ein neues Thal, welches dem vorigen den Vorzug landschaftlicher Schönheit streitig zu machen scheint. Weit in der Ferne aber erblicken wir einen großen Theil des Riesengebirges.

Ein schon ziemlich ansehnliches Gebirgswasser, die Kamnitz, wird von jetzt an unser Begleiter, und bald erheben sich auch schon uns zur Seite auf’s Neue großartige Baumwollenspinnereien, welche sich die Kraft des Wassers zu Nutze machen. An die letzten Häuser des weit ausgedehnten Ortes Morchenstern schließt sich sogleich tiefer unten im Thale Tannwald an, wo auf kurze Zeit die Webe- und Spinnerei-Industrie die Anfertigung der Glasfabrikate überwiegt. Die Lage Tannwalds ist überaus romantisch und zu längerem Aufenthalte einladend; dabei herrscht hier ein reger Verkehr und geselliges Leben, dem Fußwanderer aber bieten sich prächtige Ausflüge in die Umgebung.

An Tannwald schließen sich unmittelbar Tiefenbach und Polaun. Hier beginnt nun neben der überall vertheilten Hausindustrie die Fabrikation des Rohglases in größeren Massen. Die größten Glashütten dieser Art befinden sich in Polaun, dann in Wilhelmsthal (Klein-Iser) und Wurzelsdorf. Sämmtliche drei Werke gehören einem einzigen Besitzer, Josef Riedel, der durch Intelligenz und Fleiß sich zu hoher Bedeutung emporgeschwungen hat und dessen vielseitigen Schöpfungen wir auch noch auf anderen Gebieten begegnen.

Zu der nahe an der Landstraße liegenden Polauner Glashütte führt der Weg durch lange Reihen von mächtigen Holzstößen, aus deren Asche, dem Phönix gleich, ein schöneres, glänzendes Gebilde hervorgeht. In dieser Hütte wird jetzt nur weißes Krystallglas producirt. Die weißglühende flüssige Masse wogt in zwei gewaltigen Ringöfen auf und nieder. Von den Formern und Glasbläsern werden hier mit metallenen Stäben oder Röhren kleinere oder größere Quantitäten der glühend-flüssigen Masse aus den Schmelzhäfen emporgehoben und entweder zu zierlichen Gläsern oder Flacons aufgeblasen oder in Formen zu massiven Gegenständen gepreßt. Selbstverständlich bedürfen alle diese Artikel nun erst noch des mühevollen, sorgfältigen Schleifens, um uns dann in ganzer Schönheit entgegen zu treten.

So interessant die verschiedenen Arbeiten in einer großen Glashütte stets für die Zuschauer sind, so anstrengend und aufreibend sind sie für die Arbeiter selbst. Die gewöhnlich fünf bis sieben Stunden anhaltende Beschäftigung vor dem weißglühenden Ofen, dem wir kaum bis auf einige Schritte zu nahen wagen, ferner das für die Lungen auf die Dauer so schädliche Glasblasen sind leider nur zu sehr dazu angethan, auf Gesundheit und Leben jener Leute einen keineswegs günstigen Eindruck auszuüben. Mancher dieser Arbeiter am Glasofen verdient sich täglich sechs Gulden und noch mehr. Aber der größte Theil dieses nur scheinbar hohen Lohnes geht oft für seinen Lebensmittelbedarf auf. Der von dem glühenden Ofen hervorgerufene Durst widersteht dem Wasser und ist nur durch Bier siegreich zu bekämpfen; so behaupten nämlich diese Arbeiter meist selbst. Dann aber gehört zur Ueberwindung des hitzigen Feindes stets eine so mächtige Colonne gefüllter Bierkrüge, daß ein solches Contingent gar nicht unter zwei Gulden täglich zu beschaffen ist. Dazu kommt nun noch, durch Gluth und Arbeit geweckt, ein Bärenhunger, zu dessen Stillung, schon wegen der so nöthigen Körperkräftigung, Kartoffeln und trockenes Brod auch nicht genügen. Man wird also begreifen, daß nur die kleinere Hälfte des scheinbar hohen Lohnes der Familie übrig bleiben kann.

Die oben erwähnten beiden anderen Glashütten desselben [387] Besitzers produciren Perlengläser und massives Stangenglas in allen erdenklichen Farben. Von diesen Producten der Riedel’schen Hütten befinden sich in den größeren Ortschaften der Umgegend bedeutende Niederlagen, und der Werth dieser im rohen Zustande unscheinbaren Erzeugnisse beziffert sich dort nicht selten nach Hunderttausenden von Gulden. Aus jenen Niederlagen oder von den Hütten selbst beziehen die Arbeiter der Umgegend auf Meilen weit ihren Bedarf.

Auf den drei Riedel’schen Hütten werden jährlich dreißig- bis vierzigtausend Centner Glas erzeugt und hierzu acht- bis zehntausend österreichische Klafter Holz verbraucht. Bei den früheren Heizeinrichtungen betrug der Holzverbrauch noch etwa vierzig Procent mehr. Wenn man nun aber noch annimmt, welcher Unzahl von kleinen Glashütten, Schmelzen etc. wir hier überall begegnen, so muß man trotz des sprüchwörtlichen Holzreichthums der hiesigen Wälder doch mit Schrecken an deren immer weiter greifende Vertilgung denken. Durch den gegen früher dreifach gesteigerten Preis des Holzes wird der Entwaldung kein Ziel gesetzt. Man wird aber diese prächtige Wälder am besten schonen durch die endliche Ausführung der schon vor langen Jahren projectirten Eisenbahn von Reichenberg bis Tannwald oder weiter bis zur schlesischen Grenze. Schon die mächtige Industrie dieser Gegend konnte mit vollem Rechte auf diese Verkehrserleichterung längst Anspruch machen. Führt man aber erst den Tausenden von Arbeitsfeuern hinreichend die billigeren Kohlen als Ersatz zu, so werden die prächtigen Wälder dann von selbst geschont und der allgemeinen Wohlfahrt des Landes erhalten bleiben.

In der Umgebung der von uns erwähnten Polauner Glashütte haben sich Krystallglasschleifer in Menge angesiedelt, welche die zuweilen noch sehr geringe Kraft der Bergwässer mit Sorgfalt ihrem Zwecke nutzbar machen. Von Haus zu Haus wird oft das Bächlein geleitet, um ein kleines Rad zu treiben, das dann wieder drinnen verschiedene horizontale oder verticale Scheiben in Bewegung setzt. Diese Scheiben sind von Sandstein oder von Holz; erstere dienen zum Abschleifen der aus der Glashütte roh gelieferten Gegenstände, letztere geben dann dem Glase die prächtige Politur. Das Schleifen des Glases erfordert Kraft und Geschick, und dabei ist der Aufenthalt in den fortwährend mit feinsten Glastheilchen erfüllten Räumen der Gesundheit der Schleifer sehr nachtheilig. Da nicht jeder der armen Lohnarbeiter den Bau eines Wasserschutzes und Rades bestreiten kann, so befassen sich gewöhnlich Wohlhabendere mit der Anlage einer kleinen Schleiferei und vermiethen die einzelnen Plätze oder Scheiben darin gegen eine wöchentliche Abgabe.

Durch einen Besuch der an unserem Wege gelegenen großen Umann’schen Schleiferei in Tiefenbach erlangen wir rasch einen Ueberblick über diesen wichtigen Zweig. Hier hilft bereits eine Dampfmaschine der Wasserkraft nach, und wir finden in den weiten Lagerräumen des Umann’schen Hauses allerhand meist weiße Krystallglasartikel in überraschender Auswahl. Das Auge wird im eigentlichsten Sinne fast geblendet, wenn aus tausend Gegenständen zugleich die gebrochenen Lichtstrahlen in Regenbogenfarben uns entgegenblitzen und bei jedem neuen Schritte von einer andern Stelle uns zuzuströmen scheinen. Die Wirthschafts- und Luxusartikel zeigen uns, auf welcher hohen Stufe die Kunst des Glasschleifens angelangt ist. Um nur eines zu erwähnen, werden die von den Londoner und Pariser Ausstellungen her bekannten Nachbildungen der größten existirenden Krondiamanten hier ebenso vollkommen angefertigt, wie dies bisher um vierfach höheren Preis nur in England und Frankreich geschah. Aber auch kleine Diamant-Imitationen finden wir hier so prachtvoll, daß deren Feuer vielleicht manchen Kenner irre führen dürfte. Wie viele Tausende dieser böhmischen geschliffenen Glassteine mögen bei den Festen der hohen Aristokratie und wohl auch bei Hofe unerkannt zwischen den echten Diamanten einherwandeln!

Auf unserer Wanderung bietet uns die herrliche Landschaft fast bei jedem Schritte neue Schönheiten dar. Von Polaun aus steigt die prächtige Straße in hundertfachen Windungen den Pzichowitzer Berg hinauf. Hier werden freilich die Hütten und Häuser seltener als unten im Thale, und trotz des Spätsommers finden wir auf dieser Höhe (fast zweitausendvierhundert Fuß) noch die dürftigen Feldfrüchte auf grünen Halmen; erst im Herbste kann die schmale Ernte eingeheimst werden, wenn nicht etwa früher Schneefall die Hoffnung des Landmannes überhaupt vollständig vernichtet.

Auf dem Gipfel des Pzichowitzer Berges, ungefähr noch sechshundert Fuß höher als die Paßhöhe unseres Weges, hat man dem Erbauer der prächtige Riesengebirgsstraße, dem Erzherzoge Stefan, zu Ehren eine Thurm zu bauen begonnen, leider ohne den Bau zu vollenden. Von dieser Höhe, dem Lieblingsaufenthalte des Erzherzogs in damaliger Zeit, hat man eine entzückend schöne Aussicht nach dem Riesengebirge und weit hinein in das herrliche Böhmerland. Sonderbarer Weise scheint der Thurm Ruine bleiben zu sollen.

Von der Thurmruine führt uns bald ein Weg abwärts zu einem echten Edelsteine in der schönen Landschaftskette, die uns bisher umgab. Durch mächtige, altehrwürdige Tannen- und Buchenwälder gelangen wir in ein Thal, wie es idyllischer und lieblicher nicht gedacht werden kann. In dem Thale selbst aber laden freundliche, stattliche Häuser zu längerer Rast unwiderstehlich ein. Mitten zwischen dunklen Tannen liegt an den Ufern der rauschenden Iser der nur wenig Häuser zählende Ort Wurzelsdorf, seit Jahren schon in der Umgegend durch eine heilkräftige Eisen- und Schwefelquelle bekannt. Damals war ein ärmlicher Holzbau mit einigen überaus schlichten Bädern Alles, was man hier fand. Jetzt stehen schon mehrere schmucke, reinliche Häuser hier und bieten den Fremden die behaglichste Aufnahme. Die von Josef Riedel in’s Leben gerufene Anlage des Ganzen zeigt auf den ersten Blick, daß bei der Schöpfung dieses Unternehmens Gewinnsucht fern gelegen hat, den die hiesigen Preise contrastiren überaus wohlthuend mit den Tarifen und Taxen so vieler anderer und selbst kleiner Badeorte. Wer fern von dem Geräusche der Welt in herrlichster Luft den stillen Frieden eines Waldaufenthaltes genießen will, der wird in dem freundlichen Wurzelsdorf und seinen herrlichen Umgebungen die vollste Befriedigung finden.

Wir aber eilen jetzt dem Ende der Wanderung zu. An der großen Wurzelsdorfer Spinnerei und der schon früher erwähnten Glashütte vorüber führt unser Weg noch eine Strecke im schönen Iserthale hin, bis wir bald in das nicht minder schöne Mummelthal einbiegen und am Ufer des klaren, forellenreichen Baches aufwärts wandern, wo sich nach anderthalb Stunden plötzlich das Thal erweitert. Hier finden wir die letzte, aber keineswegs die kleinste Station der böhmischen Glasindustrie. Wir sind in dem freundlichen Dorfe Neuwelt, wo sich uns auf der altbewährten gräflich Harrach’schen Glashütte das Bild gemeinsamer Arbeit und der Vereinigung der verschiedenen Industriezweige darbietet. Nirgends ist es uns bisher wie hier geboten, auf kleinem Umkreise alle Manipulationen der Glasbereitung beobachten zu können, von der Quarzstampfmühle und dem gewaltigen Glasofen an bis hinauf zu den kunstvollsten Schleifereien und Malereien. Die Neuwelter Fabrikate genießen mit Recht einen Weltruf, und das dortige Musterlager gleicht einer glänzenden Ausstellung. Die Besucher der Pariser Weltausstellung werden sich vielleicht noch unter anderen Neuwelter Prachtstücken der beiden großen, durch ihre kostbare Malerei ausgezeichneten Vasen entsinnen, von denen jede gegen fünfhundert Gulden kostete. Nur eine davon kam unversehrt zurück; die andere zerbrach auf dem Rücktransport. In der Glasmalerei aber dürfte die Neuwelter Fabrik überhaupt kaum übertroffen werden. Wir fanden unter Anderm auf Vasen Portraits von höchster Vollendung und wurden nicht wenig überrascht, mitten unter gekrönten Häuptern das vortreffliche Brustbild unseres alten, unvergeßlichen Freundes Gerstäcker, freundlich lächelnd wie im Leben, auf uns herniederblicken zu sehen.

In allen Häusern Neuwelts regen sich thätige Hände für die Glasfabrik, welche fortwährend über vierhundert Arbeiter beschäftigt und dabei in anerkennenswerther Weise für Altersschwache und Invaliden durch ein Pensionsinstitut sorgt.

Und so nehmen wir denn Abschied von diesen schönen, gewerbfleißigen Thälern Böhmens; selten dürfte eine andere Gegend auf verhältnißmäßig so kurzer Strecke so viel des Interessanten darbieten. Der böhmischen Glasindustrie aber wünschen wir, daß sie noch lange, lange mit ihren Fabrikaten den Ruhm deutschen Fleißes nach allen Welttheilen aussenden möge.



[388]
Die Corruption des amerikanischen Beamtenthums.
(Schluß.)


Was that nun der Präsident bei dieser Entlarvung seines speciellen Günstlings? Denn das war Belknap. – Als dieser sich am Tage seines Sturzes in’s Weiße Haus begab, um sein Entlassungsgesuch einzureichen, nahm Grant dasselbe ohne Weiteres an und entzog dadurch den Verbrecher der Jurisdiction des Congresses, indem nach dem Gesetze nur ein im Amte stehender Minister vor die Schranken des Senats gefordert werden kann, nicht wohl aber ein schon entlassener. Sein gefügiger Diener, General-Anwalt Pierrepont, erließ aber sofort einen Verhaftsbefehl gegen Marsh, was dieser auch gut genug verstand und schleunigst nach Canada verduftete. Dadurch wurde der Hauptbelastungszeuge, dem selbstverständlich Straflosigkeit hätte zugesichert werden sollen, um den eigentlichen großen Verbrecher zu überführen, der Anklage entzogen, sodaß es jetzt zweifelhaft ist, ob der verdächtige Minister formell überführt werden kann, zumal seine Partei sowohl im Weißen Hause wie im Congresse Alles aufbieten wird, seine Schuld möglichst abzuschwächen und ihn vom Zuchthause zu retten.

Alle diese schmachvollen Ereignisse sind Geschwüre an unserm Volkskörper, die endlich, zum Glücke aufgebrochen sind und die in ihrer moralischen Häßlichkeit wohl Ekel erregen, zugleich aber einen klaren Einblick in die Ursachen der Krankheit gestatten, von welcher die Nation ergriffen worden ist. Wer die socialen und politischen Verhältnisse der Union aus eigener Erfahrung näher kennt, wer die Entwickelung der inneren Zustände dieses Landes während der letzten zwanzig Jahre aufmerksam beobachtet hat, dem kommen solche Thatsachen, wie die oben geschilderten, nicht unerwartet; sie sind ihm ganz naturgemäße Resultate der von Jahr zu Jahr wachsenden, Alles zerfressenden Corruption.

Das amerikanische Volk rühmt sich vieler Eigenschaften, die ihm nicht nur unter den Culturvölkern der Gegenwart eine hervorragende Stellung einräumen, sondern ihm für die Zukunft eine noch weit glänzendere Rolle in der Geschichte der Menschheit zuweisen. Mag dem sein wie ihm wolle, es fehlt ihm, bis jetzt wenigstens, eine Eigenschaft, deren Mangel seinem gesunden Wachsthume sehr hinderlich gewesen ist und viele der Zustände erzeugt hat, die wir jetzt so tief beklagen: der Amerikaner kennt nicht die rechte Mäßigung. Bei aller Thatkraft und bei allem Scharfsinne, die ihn auszeichnen, leidet er an einem Hange zur Excentricität, der ihm das weise Maßhalten in fast allen Beziehungen schwer macht. Dieser Fehler erklärt sich aus der fieberhaften Hast, mit welcher der Amerikaner seine Geschäfte betreibt ohne sich Ruhe und Rast zu gönnen; er zeigt sich ebenso excentrisch im Ueberschreiten des Maßes, wenn er sich einmal für eine Stunde dem Vergnügen hingiebt. Dieser Fehler liegt der schrankenlosen Freiheit zu Grunde, in der er seine Kinder erzieht oder vielmehr häufig ohne alle rechte Erziehung aufwachsen läßt; er hat die bis zur Lächerlichkeit abgöttische Verehrung erzeugt, welche dem weiblichen Geschlechte gezollt wird, in Folge deren die Frau mit solch schrankenlosen Emancipationsgelüsten erfüllt worden ist, daß sie häufig ihrer naturgemäßen Stellung in der menschlichen Gesellschaft ganz vergißt; aus ihm erklären sich die unsinnigen Temperanzbestrebungen, welche auch das Gute, das in ihnen enthalten ist, zum Gespött gemacht haben; er färbt endlich die Religiosität des Amerikaners mit einem Fanatismus, der namentlich den maßvollen, ruhigen Deutschen häufig sehr unangenehm berührt; der düster strenge Puritaner, der überspannte Methodist, der engherzige Baptist, der springende Tunker, der vielbeweibte Mormone, der geisterklopfende Spiritualist, Alle gedeihen hier besser, als sonst irgendwo, während eine ruhigere, in den Schranken der Vernunft und des Gemüths bleibende Religion dem excentrischen Amerikaner nicht genügt. Aus derselben Maßlosigkeit erklärt sich auch die Verbindung von zwei sonst schwer vereinbaren Eigenschaften in seinem Charakter: er vereinigt in sich eine unersättliche Geldgier mit einer ebenso schrankenlosen Verschwendung, und gerade diese beide Laster haben vor Allem die gegenwärtige Corruption erzeugt.

Während des Bürgerkrieges hatten Tausende von Speculanten sich theils auf rechtmäßigem Wege, theils aber auch – und zwar der Mehrzahl nach – durch ungesetzliche und betrügerische Mittel in kurzer Zeit große Reichthümer erworben; es war die Brutzeit der sogenannten Shoddy-Aristokratie, die sich in den auf den Krieg folgenden Jahren zu ihrer höchsten Blüthe entfaltete und die alte, solide ehrenwerthe Geld-Aristokratie an Zahl und auch an äußerlichem Glanze und Schimmer weit überflügelte. Ihr Erfolg reizte andere Tausende zum gleichen Streben, schnell und mühelos reich zu werden; auf die Mittel, wie dies geschah, kam es dabei nicht an. So entwickelte sich schnell und verderbenbringend die Periode der wilden, schwindelhaften Speculation in Eisenbahnen, Minen und allen möglichen anderen Unternehmungen; Millionäre wuchsen allenthalben empor, wie Pilze auf feuchtem Modergrunde über Nacht emporschießen. Aber der Grund, auf welchem diese Reichthümer ruhten, war faul und ungesund, und um ihr Scheinleben zu fristen, mußten die neuen Crösusse zu jeder Art von Betrug greifen. Diese auf’s Höchste gesteigerte Sucht nach Gewinn, die alle Schichten der Gesellschaft ergriffen hatte und der leider durch das Beispiel der höchsten Kreise des Beamtenthums die verderblichste Nahrung gegeben wurde, erzeugte jene unter dem Namen der „Ringe“ bekannten schändlichen Verschwörungen, deren alleiniger Zweck war, das öffentliche Eigenthum zu plündern, und welche das ganze Land wie mit einem unentwirrbaren Netze überzogen. Es war aber durchaus nicht allein die Habsucht, welche diese systematischen Betrüger erzeugte, sondern ebenso sehr und in vielleicht noch höherem Grade die unmäßige Verschwendungssucht, welche ein trauriger Zug des amerikanischen Volkes geworden ist. Was der aufgeblasenen Shoddy-Aristokratie an wahrem innerem Adel, an Geistesbildung abging, sollte durch äußeren Prunk, durch den unsinnigsten Luxus ersetzt werden. Durch palastähnliche Wohnungen, durch kostbare Equipagen und reichgalonnirte Bediente wurden die Gebräuche des Geburtsadels der Alten Welt nachgeäfft; prachtvolle Toiletten, Gold und Juwelen in oft geschmacklosem Uebermaße mußten die Gemeinheit der Manieren, den Mangel alles feineren Tactes verdecken; die luxuriösesten Feste, lucullische Schwelgereien die Abwesenheit geistiger Genüsse ersetzen. Dieses Shoddythum ergriff wie eine ansteckende Krankheit alle Schichten der Gesellschaft. Das glänzendste und verderblichste Beispiel wurde in der Bundeshauptstadt des Landes gegeben, wo die republikanische Einfachheit früherer Zeiten einem Treiben Platz machen mußte, welches dem Hofleben eines Fürsten möglichst getreu nachgebildet wurde. Der Präsident, die Minister, die Senatoren und Staatsbeamten aller Classen wetteiferten mit einander in der Pracht und dem Glanze ihres Auftretens und ihres Haushaltes. Verlangt es doch die Würde der Republik, daß ihre Beamten nicht hinter den hochadeligen Vertretern der europäischen Mächte zurückbleiben, wenn auch die Kosten, die solche Nachäfferei verursacht, vom Volke bestritten werden mußten.

Es ist eine Thatsache, daß nur zwei der Minister des Grant’schen Cabinetes Privatreichthum genug besitzen, um einen solchen Aufwand treiben zu können, ohne zu unredlichen Mitteln zu greifen; alle übrigen, wie z. B. ein Belknap, mußten ihre Einkünfte vermehren, um mitmachen zu können. Dasselbe gilt von den meisten Senatoren und Repräsentanten. So ging es von oben herab durch alle Classen der Gesellschaft hindurch, von der Hauptstadt an bis zum kleinsten Landstädtchen herab; überall dasselbe Streben, einen Luxus um sich zu verbreiten, der in keinem Verhältnisse zu den wirklichen Vermögensumständen stand, es sich gegenseitig zuvorzuthun im Entfalten eines erborgten Pompes, der die innere Hohlheit und Armuth nur mühsam verdeckte. Und wenn die Habsucht das hervorstechende Laster der Männer genannt werden kann, so sind es die Frauen, welche der Verschwendungssucht, dem Luxus, dem Modewahnsinn in oft maßloser Weise fröhnen. Die amerikanische Frau alten Schlages ist eine höchst respectable, oft wahrhaft noble Erscheinung; von der modernen Amerikanerin kann dies nicht immer gesagt werden. An geistiger Regsamkeit und Beweglichkeit, an Witz und Scharfsinn, auch häufig an Liebenswürdigkeit fehlt es ihr keineswegs, an Unabhängigkeit im Auftreten und an Freiheit der Manieren noch weniger, an der anspruchsvollsten Erwartung, alle ihre Wünsche, was Vergnügen [389] und Bequemlichkeit betrifft, erfüllt zu sehen, aber am allerwenigsten. In vielen Fällen betrachtet die moderne Amerikanerin sich nicht als Gefährtin des Mannes in Freud’ und Leid, sondern als seine unumschränkte Gebieterin, für die er sich plagen und abarbeiten muß, damit sie ihr Leben in Nichtsthun verbringen und allen Vergnügungen nachgehen kann, ohne sich darum zu sorgen, wo die Mittel dazu herkommen. Dieses Urtheil mag hart klingen, trifft aber bei der Classe von Dämchen, die ich meine, vollständig zu. Nicht nur wurde Frau Belknap ein Fallstrick für ihren Mann, die Opfer einer rücksichtslosen weiblichen Verschwendungssucht sind in jedem Staate und in jedem Städtchen des Landes zu finden, und nicht gar klein ist die Zahl namentlich junger Geschäftsleute, die, zu schwach, um die Gelüste der Frau in Schranken zu halten schon nach wenigen Jahren eines glänzenden Scheinlebens in Bankerott und Armuth enden. Wenn Habsucht und Verschwendungssucht allgemeine Ursachen der herrschenden Corruption sind, so hat die Fäulniß, von welcher das Beamtenthum im Speciellen ergriffen ist, noch eine besondere Ursache in den politischen und Verfassungsverhältnissen unseres Landes.

Sämmtliche amerikanische Beamte zerfallen in zwei Classen, in die vom Volke gewählten und in die von der Bundes- oder Staatsregierung ernannten. Zu den ersteren gehören fast alle Staats- und Localbeamte; die letzteren liefern das stärkste Contingent zu dem überaus zahlreichen Heer der Steuer- und Postbeamten. Der Amtstermin der gewählten Beamten ist in der Regel ein einjähriger, längstens ein zweijähriger und wird in sehr vielen Fällen lediglich als eine Zeit angesehen, in welcher man sich so viel wie möglich aus der öffentlichen Krippe zu sättigen sucht. Dazu treibt einmal die Art und Weise, wie der Beamte seine Stelle erlangt. Eine Wahl kostet in der Regel Geld. Man wähne ja nicht, daß das Volk dieser freien Republik seine Diener durchaus selbstbewußt und selbstständig durch freie Wahl einsetzt; im Gegentheil, Geld und Intriguen aller Art spielen auch hier die Hauptrolle. Wahlkniffe der verwerflichsten Art, Stimmenkauf, Beeinflussung der ungebildeten Volksclasse durch bezahlte Subjecte beherrschen die Wahlurne in so hohem Grade, daß es einem ehrlichen Candidaten, der zu solchen Mitteln nicht greifen kann oder mag, sehr schwer wird, ein Amt zu erlangen.

August von Kreling.
Originalzeichnung von G. Krämer in Nürnberg.


So werden häufig Summen ausgegeben, die in gar keinem Verhältnisse zu dem rechtmäßigen Gehalte des Beamten stehen und die dann auf andere Weise wieder eingebracht werden müssen. Will der Beamte wieder gewählt werden, so muß er sich mit Geld versehen; rechnet er nicht darauf, dann sucht er während seines Termins so viel zu „machen“, wie er ohne große Gefahr eben machen kann. Daraus erklärt sich die schreckenerregende Zahl von Fällen, in denen öffentliche Gelder von den betreffenden Beamten veruntreut werden, so daß es kaum eine Stadt giebt, die nicht einen betrügerischen Schatzmeister oder sonstigen öffentlichen Diener hat, der von Rechtswegen in’s Zuchthaus gehört, leider aber meist irgendwo ungestraft seinen Raub verzehrt. Auf die ernannten Beamten findet dies nicht weniger seine Anwendung. Um eine Stelle zu erlangen, ist Fürsprache nöthig, denn direct an den Präsidenten oder die Departementchefs, von denen die Ernennungen ausgehen, sich zu wenden, ist nicht so leicht thunlich. Da sind denn die Senatoren, Repräsentanten und andere einflußreiche Männer die geeigneten Vermittler, welche dies auch bereitwillig thun, nur meistens nicht umsonst. Die Zeit, für welche diese Beamten ernannt werden, ist an und für sich nicht bestimmt, aber es ist nach und nach Sitte oder vielmehr Unsitte geworden, daß mit dem Wechsel der politischen Partei bei einer Präsidenten- oder Staatswahl auch ein allgemeiner Beamtenwechsel eintritt. Fähigkeit und Treue im Amte sind nicht mehr maßgebende Gründe für Ernennung oder Beibehaltung eines Mannes; es kommt dabei fast ausschließlich die Frage in Betracht, in wie weit er ein geschicktes und gefügiges Werkzeug zur Förderung der Parteizwecke abgiebt. Er muß zur herrschenden Partei gehören oder zu ihr übergehen, wenn er Berücksichtigung erwarten will; er muß für sie arbeiten, wenn er seine Stellung behaupten will; er steht und fällt mit der Partei. So ist das mehrere Hunderttausende zählende Heer der Regierungsbeamten zu einer auf’s Vollkommenste organisirten und auf’s Strengste disciplinirten Wahlarmee geworden, die, den Winken der Parteiführer blindlings gehorchend, maschinenartig für Parteizwecke arbeitet und namentlich bei der Präsidentenwahl in den letzten Jahren einen unberechenbaren Einfluß ausgeübt hat. In welch hohem Grade demoralisirend die Herabwürdigung eines ganzen Standes zu einer bloßen politischen Clique, die kein eigenes Gewissen mehr haben darf, wirken muß, ist leicht begreiflich. Wenn der öffentliche Diener nichts mehr als das gefügige Werkzeug selbstsüchtiger Parteileiter oder eines nach immer größerer Macht strebenden Präsidenten sein darf, wenn seine Hauptaufgabe darin besteht, dahin zu wirken, daß die Partei, die ihn erhoben, die herrschende bleibt, ist es da zu verwundern, wenn Rechtlichkeit und Patriotismus zu Grunde gehen und eine alle Moral zersetzende Corruption die Masse dieses Standes ergriffen hat? Beamtenreform ist darum auch eines der Schlagwörter aller Bestrebungen zur Besserung dieser faulen Zustände geworden.

Es war einer der Hauptpunkte des Programms, welches die sich neu bildende Reformpartei bei der letzten Präsidentenwahl aufstellte, und als dieser Versuch scheiterte, nahm die siegende Partei das Stichwort nothgedrungen auf und versprach Alles, ohne indeß das Geringste zu thun. Die Grantianer, welche in dem corrumpirten Beamtenheer gerade ihre Hauptstütze hatten, und die ihrem Herrn nur gar zu gern einen dritten Amtstermin [390] sichern möchten, konnten sich selbst unmöglich den Boden unter den Füßen wegziehen, und so blieb alles beim Alten, bis endlich die schmachvolle Wirthschaft durch die jüngsten Enthüllungen in der unmittelbaren Umgebung des Präsidenten offen vor der Welt bloßgelegt worden ist. Mancherlei Vorschläge zur Abhülfe dieser traurigen Zustände sind gemacht worden. Die Radicalsten möchten die Präsidentenwürde ganz abgeschafft sehen, indem sie die beständige Gefahr des Mißbrauchs des großen Einflusses und der Macht, die mit diesem Amte verbunden ist, als hinreichenden Grund zur Aufhebung desselben ansehen. Die Gemäßigteren und wohl auch Weiseren wollen die Wiederwahl desselben Mannes zum Präsidentenamte durch einen Zusatz zur Constitution verbieten, was freilich den Intriguen des zeitweiligen Präsidenten zum Zweck einer nochmaligen Erwählung die Spitze abbrechen und die unerlaubte Benutzung der Beamten zu Wahlzwecken unnöthig machen würde. Ein dritter Vorschlag ist, die Dienstzeit sowohl eines gewählten wie eines ernannten Beamten nicht festzusetzen oder gar von politischen Parteifragen abhängig zu machen, sondern einzig und allein von dem Verhalten eines öffentlichen Dieners, von seiner Unbescholtenheit und Fähigkeit in der Führung seines Amtes, also keinen Wechsel vorzunehmen, wenn nicht ein Amtsvergehen einen solchen gebietet. Es würde dies zu gewissenhafter Amtsführung anspornen und namentlich die Ursache so vieler Veruntreuungen wegräumen, welche in dem Bewußtsein liegt, daß man schon nach einem oder zwei Jahren vielleicht einem Andern Platz machen muß und deshalb die kurze Zeit zur Selbstbereicherung bestmöglichst zu benutzen sucht. Aber auch dies kann zu keinem Erfolge führen, wenn nicht das Volk eine scharfe Controlle über seine Diener ausübt, und eine unnachsichtliche Bestrafung jedes Amtsvergehens durch die Gesetze verlangt.

Gerade hier liegt die Grundursache des ganzen Uebels. Der rechte moralische Ernst ist dem Volke verloren gegangen; das Volksgewissen ist stumpf geworden. Das Verbrechen, und namentlich das Verbrechen des Betruges, wird kaum mehr als ein solches angesehen, und den Verbrecher trifft häufig kaum die Verachtung des Volkes, geschweige denn die gebührende Strafe. Man ist in der Beziehung beinahe zum spartanischen Princip zurückgekehrt, nur den ertappten Dieb zu bestrafen, den geschickten, erfolgreichen aber zu belohnen. Der Bankerotteur, der Cassendieb, der Schwindler, der feile Beamte hat von der öffentlichen Meinung nur wenig zu fürchten, wenn er sich nur durch Pfiffigkeit und Advocatenkniffe dem Gesetze und dem Zuchthause zu entziehen weiß und durch sein Verbrechen reich wird. Er ist dann kein Dieb, sondern nur ein geriebener Mann, vor dem man achtungsvoll den Hut zieht, und sollte es vorkommen, daß ein solcher einmal den Fehltritt beginge, sich fangen zu lassen, so wächst auch über Zuchthaus und Staatsgefängniß Gras, und der Gewitzigte kann recht wohl wieder zu Ehren kommen, ohne daß von ihm verlangt würde, daß er auch ein Gebesserter sein müßte. Der Schreiber kennt einen Mann persönlich, der wegen großartigen Unterschleifs und Diebstahls während des Bürgerkrieges in’s Gefängniß wandern mußte, und der jetzt als vom Volke erwählter Polizeirichter in einer nicht unbedeutenden Stadt der Union in vollem Glanze richterlicher Würde thront. Freilich, es ist ein feiner, gebildeter und sehr gescheiter Mann von guter Familie, glatter Zunge und einnehmendem Wesen, wenngleich um kein Haar besser, als er vor seiner Gefängnißzeit war. Solche Fälle sind nicht allzu seltene Ausnahmen; daß sie überhaupt möglich sind, beweist, auf welch niedrigem Grade das öffentliche Sittlichkeitsgefühl steht. In dieser Abstumpfung des Volksgewissens liegt das Trostlose der Lage; wäre diese nicht so groß, dann würden Reform-Ideen bald Eingang finden und energisch zur Ausführung gebracht werden.

Es thun unserer Zeit Männer noth, die, von selbstloser Liebe zum Vaterlande beseelt, durch die Macht ihrer Rede und durch die Reinheit ihrer Thaten im Stande sind, das Volk aus seinem Schlafe aufzuwecken, anstatt es mit hohlen Phrasen immer tiefer in eine heillose Selbstüberhebung hineinzulügen, Männer von der Tugend eines Washington, von der Weisheit eines Franklin und von der Beredsamkeit eines Webster, Männer, die, zu Leitern großer Bewegungen geboren, das Volk aus seiner Gleichgültigkeit herausreißen, die guten Elemente fest um sich schaaren und so eine durchgreifende Reform in’s Dasein rufen. Bis jetzt sind diese Reformatoren noch nicht erschienen. Stimmen genug, die darnach verlangen, sind laut geworden; redliche Patrioten haben Versuche gemacht, dem Uebel Einhalt zu thun, aber ihre Kraft war der Aufgabe nicht gewachsen; an der Macht der Parteien, welcher der politische Einfluß und das allvermögende Geld fast unbeschränkt zu Gebote steht, ist alles gescheitert. Als in Rom Alles für Geld feil war, als das Partei-Interesse die Liebe zum Vaterlande erstickt hatte, da waren die Tage der Republik gezählt; ihr Glanz erlosch und sie sank endlich in Trümmer.




Bühnen-Erinnerungen.
6. Herzog Karl von Braunschweig als Bühnen-Tyrann.
Von einem alten Musiker.


Trotz der trefflichen Leitung Klingemann’s und der theilweise vorzüglichen Kräfte, welche in Schauspiel und Oper wirkten, mußte das Braunschweiger Nationaltheater am 19. März 1826 nach achtjährigem Bestehen geschlossen werden. Es war eben nicht möglich, bei den damaligen Bevölkerungsverhältnissen der Stadt eine solche Bühne ohne bedeutenden Zuschuß zu erhalten, und den Betheiligten blieb ein Deficit von etwas über siebenzehntausend Thalern zu decken. Am genannten Tage fiel der Vorhang, nachdem Mozart’s „Zauberflöte“ noch einmal Alles, was Sinn für die Kunst besaß, vollzählig versammelt hatte.

Aber nur zwei Monate blieben die Pforten geschlossen, um nach dieser Frist dem Publicum zum Eintritte in das Herzogliche Hoftheater wieder geöffnet zu werden, welches seine Vorstellungen mit der Zauberoper „Die Prinzessin von Trapezunt“ begann. Klingemann behielt die Oberleitung. Was er, unterstützt durch den umsichtigen Regisseur Haake, während seiner Thätigkeit bis zum Jahre 1831 leistete, ist hinlänglich gewürdigt und in den Annalen des deutschen Theaters verzeichnet worden. Er war es zum Beispiel, der am 19. Januar 1829 den Goethe’schen „Faust“ zum erste Male auf die Bühne brachte. Bedeutende Gäste traten unter seiner Directionsführung auf und ihm gelang es auch, den damals auf dem Höhepunkte seines Ruhmes stehenden Heldenspieler Wilhelm Kunst ein halbes Jahr hindurch zu fesseln, eine lange Zeit für den Mann, welcher nirgends auszudauern vermochte. Manche Bewohner Braunschweigs erinnern sich noch, wie der Künstler, der später in tiefster Armuth starb, auf der Straße von Hannover her seinen Einzug in eigener sechsspänniger Equipage mit vollzähliger Dienerschaft hielt. Der regierende Herzog Karl verehrte ihn sehr und unterstützte den stets des Geldes Bedürftigen in außerordentlicher Weise dadurch, daß er sich hinter den Coulissen häufig neben ihn stellte und ihm eine Rolle mit Gold in die Tasche steckte.

Aber auch im Uebrigen, wo es galt, die Kunst zu fördern und die Künstler entsprechend zu honoriren, knauserte der Herzog nicht. Freilich trat auch hier sein Eigenwille – um nicht das Wort Despotismus zu gebrauchen – welcher ihm später den Thron kostete, zu Tage, oft in ernster, oft aber auch in humoristischer Weise. Daß er dabei zuweilen den Kürzeren zog, versteht sich von selbst. In einem solchen Falle fügte er sich indeß ohne Murren in die erlittene Niederlage und machte keinen Versuch, seine Gewalt zu rächender Vergeltung in Anwendung zu bringen. Um ganz gerecht zu sein, muß man bei Allem, was er that, im Auge behalten, daß er kaum dem Jünglingsalter entwachsen war.

Im Allgemeinen war der Herzog der Oper mehr zugethan als dem recitirenden Drama. Er selbst besaß keine unbedeutende musikalische Bildung, spielte gut Clavier und meinte im Besitze einer schönen Tenorstimme zu sein und auch als Sänger glänzen zu können. Zu verwundern ist es deshalb nicht, daß besonders die Mitglieder der Oper und des Orchesters unter seinen Launen [391] zu leiden hatten. Letztere namentlich waren in jedem Augenblicke so wenig sicher, daß sie sich nach gethaner Arbeit nicht einmal der zweifellosen Aussicht auf eine ungestörte Nachtruhe hinzugeben vermochten.

Im Residenzschlosse befand sich ein genaues Verzeichniß der Namen und Wohnungen der Musiker. Verspürte Seine Durchlaucht Neigung, Musik zu hören, oder aber mit Orchesterbegleitung zu singen, so wurden Eilboten ausgesandt, um die Capelle in’s Schloß zu befehlen, ja dieselbe aus den Betten zu holen, wenn die Nacht bereits vorgeschritten war. Waren die Wünsche Seiner Durchlaucht erfüllt, so ward den Versammelten ein Soupé servirt, nach dessen Beendigung sie nach Hause gehen und weiter schlafen durften.

Auch im Theater empfand der Herzog oft Neigung, nach Beendigung der Vorstellung noch irgend ein Musikstück zu hören, oder irgend eine Nummer zu singen, wie z. B. die Barcarole aus der „Stummen von Portici“, die ihm besonders zusagte. In diesem Falle ward nach dem Niederlassen des Vorhanges den Capellisten durch den Orchesterdiener mitgetheilt, daß sie noch zu bleiben und das Haus nicht zu verlassen hätten. Das gelang aber nicht immer. Die Musiker waren auf ihrer Hut, und zeigte sich etwas Verdächtiges, so sah ihr Aufbruch einer wilden Flucht ähnlich. So schnell wie möglich packten sie ihre Instrumente zusammen und verschwanden, ehe die Botschaft sie zu erreichen vermochte. Wer aber nicht rasch genug entweichen konnte und gefaßt wurde, der mußte seine Sehnsucht nach dem häuslichen Herde und nach dem Abendessen zurückdrängen und auf seinem Platze verharren.

Dann hob sich der Vorhang wieder; der Herzog trat aus seiner Loge auf die Bühne, gab dem Capellmeister die nöthige Weisung und hörte oder sang, wie es ihm gerade Vergnügen machte, wobei er manchmal die Manieren seiner Opernmitglieder geschickt copirte und travestirte. Kam er, wenn die Theaterarbeiter aufräumten, mit einer Coulisse oder einem Versatzstücke in unsanfte Berührung, so nahm er solches nicht übel und fügte sich in das Unvermeidliche. Ja, er blieb sogar guter Laune, als ein auf Rädern ruhender Nachen, in den er sich gestellt hatte, plötzlich – ob absichtlich, ist nicht enthüllt worden – fortgezogen wurde und er so sehr das Gleichgewicht verlor, daß er sich auf dem Podium liegend wiederfand.

An einem anderen Abend macht sich der Herzog Karl ein Vergnügen daraus, das musikalische Gehör des Capellmeisters auf die Probe zu stellen. Er tritt vor, singt irgend einen Ton und fragt, welcher es gewesen sei. Böseke nennt den Ton und schlägt ihn zur Bestätigung auf dem Claviere an. Mehrere Male wiederholt der Herzog dieses Manöver. Da wird Böseke ungeduldig und poltert: „Ach was, Durchlaucht, nun ist’s genug – ich habe keine Zeit mehr.“ – Der Herzog dreht sich um und äußerte lächelnd gegen seinen Begleiter: „Böseke ist ein grober Kerl, aber ein guter Capellmeister.“

Weniger harmlos sind andere Vorgänge, bei denen sich ein Zug von Schadenfreude und Lust am Quälen zeigt, besonders solchen Künstlern gegenüber, die sich aus irgend einem Grunde seiner Zuneigung und seines Beifalls nicht zu erfreuen hatten.

Aber auch in dieser Beziehung mußte der Herzog zuweilen den Rückzug antreten. Als Held und Liebhaber war Eduard Schütz engagirt, derselbe, welcher späterhin Director des Braunschweiger Hoftheaters wurde und als solcher erst vor wenigen Jahren starb. Auf diesen hatte es der Herzog mit einer kleinen Malice abgesehen. Er tritt eines Abends während der Vorstellung an ihn heran und fragt kurz: „Wer ist der beste Schauspieler, Schütz?“

Der Angeredete, bestürzt über die plötzliche und sonderbare Frage, deren Zweck er nicht zu begreifen vermag, antwortet verlegen: „Durchlaucht, das vermag ich nicht zu beurtheilen.“

Kunst, Kunst ist der beste Schauspieler,“ erwidert der Herzog und dreht sich um.

Schütz, welcher jetzt weiß, um was es sich handelt, verschluckt seinen Aerger und beherrscht sich auch dann noch, als sich derselbe Vorfall einige Tage später wiederholt. Als aber, wiederum nach einigen Tagen, der Herzog abermals jene Frage an Schütz richtet, antwortet dieser entschlossen. „Ich, Durchlaucht, bin der beste Schauspieler.“

Der Herzog sah ihn erstaunt an und entfernte sich schweigend. –

Am 6. September 1830 fand jene für Braunschweig denkwürdige Aufführung des „Othello“ statt, während welcher in der Stadt die Revolution ausbrach, die mit dem Schloßbrande und der Flucht des Herzogs endete. Nur mit größter Gefahr vermochte Herzog Karl zu Wagen aus dem Theater in das Schloß zu gelangen, während Fräulein Dermer, des Herzogs Geliebte, welche die Desdemona sang, noch halb im Costüme ihrer Rolle, im Hause einer Bekannten Schutz suchen mußte und von da erst später ihre Wohnung erreichen konnte, wo sie die Fenster bereits zertrümmert fand. Ob sie ernstlich zu fürchten gehabt haben würde, steht dahin. So viel aber ist sicher, daß sie Niemandem etwas zu Leide gethan, sondern im Gegentheile manches Gute gestiftet und Vielen Wohlthaten erwiesen hat. Noch in späteren Jahren, als sie bereits in Wien lebte, schenkte sie der Pensionscasse des Braunschweiger Hoftheaters eine namhafte Summe, welche heute noch unter dem Namen Dermer-Fonds besonders registrirt wird. Sie war schön und eine tüchtige Sängerin und Darstellerin. Besonders hatte sie schöne Hände, für welche Herzog Karl schwärmte. Mit Beziehung darauf erzählt man sich, daß die Mutter der Künstlerin jedesmal, wenn der Herzog in seine Loge getreten sei, ihrer in der gegenüberliegenden Theaterloge neben ihr sitzenden Tochter zugeflüstert habe: Leg’s Patscherl ’raus! Der Herr schaut auf Di.“

Zum Schlusse dieser kleinen Erinnerungen aus einer interessanten Epoche des Braunschweiger Theaters muß übrigens noch einmal hervorgehoben werden, wie dieses Theater unter Herzog Karl eine in jeder Beziehung würdige und bedeutungsvolle Stelle einnahm. Auch später wurde kein Opfer gescheut, tüchtige Kräfte heranzuziehen. Der jetzt regierende Herzog Wilhelm läßt es an namhaften Zuschüssen, der Intendant von Rudolphi an umsichtiger Verwaltung nicht fehlen, und in Folge des Wachsthums der Stadt sowohl wie des reichen Repertoires und trefflicher Einzelleistungen bei tadellosem Ensemble und glänzender Ausstattung hat sich der Besuch des Theaters so gesteigert, daß das neue, schöne und zweckmäßige Haus regelmäßig bis auf den letzten Platz gefüllt ist, sowohl bei der unter Franz Abt’s und C. Zabel’s Leitung stehenden Oper wie bei dem unter der Oberregie A. Hiltl’s mit Fleiß und echt künstlerischer Weihe gepflegten recitirenden Drama.




Blätter und Blüthen.

Ein Meister dreier Künste. (Mit Portrait S. 389.) Des Reiches alter Schmuckkasten hat Trauer anzulegen. Wir sehen mit doppelter Klage nach der einst geliebtesten deutschen Stadt hin, zu welcher Jeder mit Ehrfurcht im Herzen wallfahrtete, wenn er das treueste Bild alter deutscher Städteherrlichkeit vor Augen haben wollte. Dieser unvergleichlichen Zierde geschichtlicher Einzigkeit beraubt Nürnberg sich selbst, um dafür das gleichgültige Ansehen von hunderten anderer Städte modernen Styls einzutauschen, und im Innern hat abermals der Tod ihm den Schmuck eines über Viele hervorragenden Mannes und Künstlers entführt.

August von Kreling, der Regenerator und vieljährige Vorstand der Nürnberger Kunstgewerbeschule, ist am dreiundzwanzigsten April, achtundfünfzig Jahre alt, gestorben. Er war ein Osnabrücker Kind, hatte in der Vaterstadt die ersten Stufen wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung erreicht und in früher Jugend (erst siebenzehn Jahre alt) in Baiern seine zweite Heimath und 1853 in Nürnberg die Stätte seines vielseitigen Kunstwirkens gefunden. Kreling gehörte zu den wenigen Meistern der Gegenwart, welche in allen drei bildenden Künsten zugleich thätig waren; denn er war ebenso bedeutend als Bildhauer wie als Maler und decorativer Architekt. Dahin gelangte er ebenso durch seine Begabung und inneren Drang, wie durch den äußeren Bildungsgang. Sein erster Schritt in München führte ihn in Schwanthaler’s Atelier. Schloß er sich dem romantischen Zuge desselben und der, wie Pecht sagt, „am liebsten skizzirend spielenden Behandlung der Dinge“ mit dem Eifer der Jugend an, so bewährte er doch schon eine Selbstständigkeit, die ihn befähigte, die eigenen Wege nach dem erkannten Bedürfniß zu suchen. Nachdem er sich in der Beherrschung des Technischen der Bildhauerkunst fest fühlte, sah er sich nach „reicherem Inhalt, als ihn Schwanthaler bieten konnte“, um und ging, den Meißel mit der Palette vertauschend, zu Cornelius, und als dieser im Jahre 1841 München verließ, schlug er abermals seinen eigenen Weg ein, indem er „das plastische Formgefühl ebenso in seine Malerei, wie die malerische Behandlung in die Plastik trug“. Und als damals als Drittes von Belgien und Frankreich her der Realismus in [392] der Kunst sich Eingang erzwang, öffnete er sich auch diesem und „so spielen denn Cornelianischer Classicismus, Schwanthaler’sche Romantik und moderner Realismus in Kreling’s sämmtlichen Werken oft wunderlich, aber immer anziehend und meistens gefällig durch einander“. Auch ward er zugleich das Haupt einer ganzen Schule, umringt von zahlreichen, zum Theil hochbegabten Schülern.

Nachdem Kreling viele plastische Arbeiten, namentlich reich verzierte Pokale, und ebenso viele Oelbilder meist romantischen Inhalts geliefert und bereits großen Ruf erworben hatte, lenkte seine erste große Arbeit, der Freskenschmuck an der Decke des neuen Theaters in Hannover, die Aufmerksamkeit auf ihn, als nach Reindel’s Tod die Nürnberger Kunstgewerbeschule ein neues, mit organisatorischer Kraft ausgerüstetes Haupt bedurfte. Unter seiner Leitung erhob diese Anstalt, nach dem kaiserl. königl. österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien, sich zum Range der zweiten in Deutschland, deren auf der Pariser Weltausstellung von 1867 ausgestellte Arbeiten sich eine goldene Medaille verdienen konnten.

Von eigenen größeren Arbeiten Kreling’s seit dieser Zeit sind besonders hervorzuheben die Historienbilder, welche die Geschichte Karl’s des Großen für den Speisesaal eines reichen Hamburger Kaufmanns darstellen; ferner begann er die Restauration und Möblirung der alten Burg von Nürnberg, für welche er als Wandschmuck des großen Saales die überlebensgroßen Standbilder all der deutschen Kaiser, welche in der Burg gewohnt, componirte, die aber leider unausgeführt geblieben sind, weil nach dem Tode des Königs Max die Weiterarbeiten in der Burg eingestellt wurden. An plastischen Arbeiten vollendete er unter Anderem das Standbild des Heinrich Posthumus in Gera und den großen figurenreichen Brunnen für Cincinnati, in Erz gegossen von Miller’s Söhnen in München. Sein letztes großes Werk war die bei Bruckmann in München erschienene illustrirte Prachtausgabe von Goethes „Faust“.

Die wahrhaft glänzende, anmuthende und fesselnde Persönlichkeit Kreling’s und, nachdem er Kaulbach’s schöne Tochter als Gattin heimgeführt, sein häusliches Glück werden Allen, die dem Künstler wie dem Manne näher getreten sind, lebenslang in Erinnerung bleiben.


Pfingst-Erinnerungen aus Thüringen. „Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen.“ Der Frühling trieb die ersten Blätter und Blüthen. Da überkam mich eine unwiderstehliche Sehnsucht, der glänzenden Kaiserstadt zu entfliehen, wie sie den Zugvogel aus seinem Winterquartiere treiben mag. Es litt mich nicht mehr

„In des Hauses dumpfen Gemächern,
Unter dem Druck von Giebeln und Dächern,
In der Straßen quetschender Enge,
In der Menschen buntem Gedränge.“

Hinaus in’s frische Waldesgrün! – So lockte mich’s, je staubiger es „Unter den Linden“ wurde, wie ferner Elfengesang. Aber wohin? – Ich überlegte hin und her, bis mir ein guter Genius den Gedanken eingab: In den Thüringer Wald, der ja alljährlich so viele Berliner anlockt, daß man fast meinen könnte, im „Thiergarten“ zu wandeln, wenn der Baumschlag nicht so jugendlich frisch und die Luft, die über Berge und Thäler streicht, nicht so aromatisch erquickend wäre.

Und es geschah also.

Arnstadt war die Pforte, durch die ich in die grünen Hallen des Gebirges trat. Dort stand ich sinnend vor dem Hause, „an der Lindeneck“, worin Wilibald Alexis, der deutsche Walter Scott, die Augen schloß, und wanderte sodann durch die prächtigen Lindenalleen, die das liebliche Städtchen umkränzen, um der gefeierten Dichterin, welche die „Gartenlaube“ mit den reizenden Bildern ihres Geistes und Herzens schmückt, aus bescheidener Ferne einen dankbaren Gruß zu weihen.

So war ich der Villa Marlitt, die einen sorgfältig gepflegten Berggarten überragt, nahe gekommen und rastete nun auf einer Steinbank, die eine so liebliche Aussicht gewährt, daß ich unwillkürlich Luther’s gedachte, der Arnstadt mit einer Schüssel voll gesottener Krebse verglich, die mit Petersilie garnirt sei.

Horch! da tönte mir ein heller Jubel entgegen, den eine Schaar halbwüchsiger Mädchen anstimmte, die soeben aus dem Marlitt’schen Berggarten kamen. Es waren, wie ich bald vernahm, die von einer Lehrerin geleiteten Zöglinge eines vielbesuchten thüringischen Mädchen-Instituts. Sie waren auf der „Pfingstreise“ begriffen, die – wie sie plaudernd mir erzählten – ein jährlich wiederkehrender Glanzpunkt ihres Pensionslebens sei, und hatten im „Schwarzburger Hofe“, einem bescheidenen Gasthause, Wohnung genommen, lediglich deshalb, weil dieses das ehemalige Hellwig’sche Haus ist, worin „Das Geheimniß der alten Mamsell“ spielt. Dort hatte eines der jungen Mädchen ein paar Stegreifsverse entworfen und sie, im Namen ihrer Mitschwestern, als herzlichen Gruß jugendlicher Begeisterung der Marlitt zugeschickt. Und siehe da! die junge Schaar war von der Dichterin in ihre Wohnung eingeladen und dort freundlichst empfangen worden. Durften sie nicht stolz auf diese Ehre sein? Und sie waren es. Wie glänzten ihre Blicke, wie rühmten sie in buntem Durcheinander, was sie gehört und gesehen!

Als jedoch der Wirth des „Schwarzburger Hofes“, der sich den Gästen seines Hauses als Führer angeboten hatte und selbst auf die seltene Auszeichnung stolz zu sein schien, daß gerade diesen seinen Gästen die Villa Marlitt sich geöffnet habe, in seiner schlichten Weise von der Jugend der Dichterin erzählte, von ihrem edeln Gemüthe und von der Spannkraft ihres Geistes, die sich durch alle Kämpfe siegreich hindurchgerungen und selbst unter schweren Leiden nicht gelähmt worden sei: da waren die Lippen der Mädchen verstummt, und in manchem Auge perlte eine stille Thräne, in welcher der Wunsch sich spiegelte, daß dem Leben der Gefeierten, wie ein an ehrenvollster Anerkennung reicher, so auch ein freundlicher, schmerzloser Spätsommer beschieden sei.

Indeß schlug diese theilnehmende Wehmuth alsbald wieder in lauten Jubel um, als Fräulein Sch., die begleitende Lehrerin, ein Prachtexemplar der „Goldelse“ zeigte, welches von der Verfasserin mit eigenhändiger Widmung „den liebenswürdigen Vorsteherinnen des Sch…’schen Instituts in dankbarer Erinnerung an den 23. Mai 1875“ verehrt worden war. Und dieser Jubel schlug noch lange an mein Ohr, als die fröhliche Schaar fast zögernd von dannen zog und immer und immer mit Händen und Tüchern dem schmucken Hause zuwinkte, das sie wie ein Heiligthum betreten und verlassen hatte. Ich aber freute mich mit den Fröhlichen, insonderheit auch darüber, daß die kranke Dichterin sich ein so kindliches, jugendfrisches Herz bewahrt hat, um an der Liebe und Verehrung jener Backfische vielleicht ein größeres Wohlgefallen zu finden, als an manchen glänzenden Huldigungen, die ihr dargebracht werden.

Mein Weg führte mich von Arnstadt nach Elgersburg und Ilmenau. Da und dort traten mir die klassischen Erinnerungen an unsere Dichterfürsten Goethe und Schiller entgegen, sodaß ich der Marlitt und jenes Institutes beinahe vergessen hätte. „Ueber allen Gipfeln ist Ruh’.“ Dies unsterbliche Lied summte mir fort und fort durch die Seele, als ich an einem der nächsten Abende zur „Schmücke“ emporstieg, jener stattlichen Herberge auf dem Rücken des Gebirges, die den Wanderer wie eine großartige Sennwirthschaft anheimelt.

Es war ein prachtvoller Abend. Kein Lüftchen regte sich in dem einsamen Hochwalde, durch den ich stundenlang schritt. Bald umhüllten die Schleier der einbrechen Nacht meinen Pfad, und der Vollmond glitzerte fast gespensterhaft durch die hochragenden Bäume, welche die Straße umsäumten. Ich war allmählich recht müde geworden und sehnte mich nach einem gastlichen Obdache.

Endlich lichtete sich der Wald, und aus der Ferne blitzte mir zum freundlichen Willkomm ein Licht entgegen. – Was aber war das? – Wunderbare Töne drangen zu mir herüber wie geisterhafte Sphärenharmonie. Unwillkürlich rastete mein Fuß. Da verstummte auch die geheimnißvolle Musik. Als ich aber wieder vorwärts schritt und das ersehnte Gasthaus aus dem Schatten der Nacht allmählich hervortrat, da erschallte näher und näher eine lustige Melodie, und weiße Gestalten drehten sich auf dem mondbeleuchteten Plane, als ob lustige Elfen einen ihrer nächtlichen Reigen aufführten.

Ohne gerade furchtsam oder schreckhaft zu sein, dachte ich doch unwillkürlich an den grauenvollen Spuk, der nach dem alten Volksglauben vorzugsweise am Schneekopf, und zumal in Vollmondnächten, sein gespenstisches Wesen treiben soll. Doch nein, dies war kein Spuk. Bald hörte ich lachende Menschenstimmen, und als ich näher kam, tönten mir die Anfangsworte des Liedes entgegen, womit die Sch…’schen Pensionsschwestern, die Marlitt angesungen hatten:

„Es drängt uns, Dich zu grüßen in heit’rer Jugendlust;
Ein Fünklein Deines Geistes glimmt auch in uns’rer Brust.“

Und wirklich, es waren jene fröhlichen Mädchen, die zu den Tönen einer Ziehharmonika, welche eine derselben nicht ungeschickt handhabte, im lustigen Tanze, aber nicht ohne anmuthige Sittsamkeit, sich vergnügten. Auf dem rauhen Gipfel des Gebirges, beinahe dreitausend Fuß über dem Meere, in mondheller Nacht ein sylphidenartiger Tanz holder, fast kindlicher Mädchen unter freiem Sternenzelte und rings vom düsteren Wald umsäumt: ich werde das originelle Bild, das eines Rembrandt’schen Pinsels würdig war, nicht leicht wieder vergessen.


Erklärung. Mit Bezug auf unsere der „Allgemeinen Schweizer Zeitung“ ertheilte Rüge (Nr. 19, Blätter und Blüthen) erfahren wir nachträglich, daß der Redaction des genannten Blattes das begangene Plagiat nicht zur Last fällt, da derselben die Erzählung „Das Weib eines Juden“ von einem eigens hierfür honorirten Feuilletonisten im Manuscript als Originalbeitrag angeboten und von ihr in gutem Glauben als solcher acceptirt worden ist. Somit trifft die Schuld des Plagiats lediglich den Verfasser jener betrügerischen Arbeit.



Kleiner Briefkasten.

A. St. in Grfswd.: In Greifswalde werden die Staare nicht anders sich verhalten, als hier zu Lande, wo ich sie alljährlich mit Schnäbeln voll glatter Raupen die Jungen füttern sehe. Daß die Schnecken die Lieblingsnahrung des Staares sind, bezweifelt kein Eingeweihter. Einer Ueberhandnahme der Raupen kann der Staar nicht vorbeugen, wie überhaupt kein Thier. Abnorme Jahre sind nicht maßgebend. Uebrigens kann es sehr leicht geschehen, daß bei Ueberfluß von Raupen der Abwechselung halber schließlich vom Staare diese Nahrung hintenangesetzt wird. Mit meinen genauen Beobachtungen stimmen diejenigen der zuverlässigsten Forscher obendrein überein. K. M.

B. G. T. Ihre Novelle ist nicht verwendbar und steht zu Ihrer Verfügung.

H. in Crefeld. Der Verfasser ist eine Verfasserin.

L. D. in F. Die gewünschte Adresse lautet: Berliner Frauen-Schutz, Friedrichstaße 243, geleitet von Frau Justizräthin Helene Martius.

Z. Z. Zur Beurtheilung eingesandter Arbeiten fehlt es uns durchaus an Zeit. Verfügen Sie gütigst über Ihr Manuscript!

Ch. D. in L. Unter den Charakteristiken und Biographien Anastasius Grün’s glauben wir Ihnen eine in jedem Sinne befriedigendere nicht empfehlen zu können, als die höchst licht- und geistvolle, welche der österreichische Reichstagsabgeordnete Dr. Adolf Promber unter dem Titel: „Anton Alexander Graf Auersperg, sein Leben und Wirken. Aus Anlaß seines siebenzigjährigen Geburtstages dem Volke geschildert“ (Linz, Ewert) soeben herausgegeben hat.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.