Die Gartenlaube (1876)/Heft 25
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No. 25. | 1876. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten. |
Käthe machte eine Bewegung, als wolle sie in die Allee hineinfliehen, allein schon hatte Bruck ihre Hand gefaßt und hielt sie mit festem Drucke. „Ich sah das Mädchen leibhaftig vor mir stehen, das ich eben in Gedanken voll Sehnsucht in meinen Armen gehalten und an das Herz gedrückt hatte; ich war eben in dem letzten der Kämpfe, die ich monatelang durchlitten, Sieger geblieben, das heißt, ich hatte falsche Ansichten von mir geschüttelt und mir gesagt, daß ich ein Meineidiger sei, wenn ich, die unbezwingliche Leidenschaft im Herzen, eine verhaßte Ehe eingehe. Und da sah ich die Heimgekehrte stehen – und ich jauchzte, denn ihre weinenden Augen suchten nicht die Fenster der Tante –“ er schwieg und zog ihre Hand an seine Lippen, und sie lehnte an der nächsten Linde, unfähig, auch nur einen Laut herauszubringen.
„Ich darf der, die meine Braut gewesen ist, keinen Vorwurf machen; ich trage die Schuld, daß es zu einem solchen Eclat kommen mußte, ich, der ich, um der Welt willen, schwach genug war, nicht schon in dem Augenblicke zurückzutreten, wo ich unter tödtlicher Bestürzung erkannte, daß ich eine hinreißend schöne Form gewählt habe, deren vermeintlich reicher Inhalt unter den prüfenden Augen zu Nichtigkeiten zerbröckelte – und das geschah schon in den ersten Wochen nach meiner Verlobung.“
Nein, es waren keine Nichtigkeiten, welche „die hinreißend schöne Form“ umschloß, es war ein Frauencharakter voll teuflischer Bosheit. Flora, hatte um Bruck’s Liebe für sie gewußt, jedenfalls durch sein eigenes Geständniß – welch eine niederträchtige Intrigue! Die Betrogene hatte den Ring in der Tasche; sie hätte ihn um jeden Preis erkauft; sie hatte selbst jeden listigen Einwurf der ränkevollen Schwester bekämpft und ihr Wort verpfändet, sogar auf die Möglichkeit hin, daß Bruck ihre Hand begehren könne. Die Augen des jungen Mädchens irrten verzweiflungsvoll über den gestirnten Himmel. Sie wußte, Flora, gab ihr das Wort nicht zurück, und wenn sie sich in qualvoller Bitte zu ihren Füßen die Kniee wund rieb; sie wußte, daß sie und Bruck in den Augen Aller verfehmt sein würden; denn Niemand hatte einen vorurtheilslosen Einblick in die Sachlage. Es bedurfte nicht einmal Flora’s glänzender Beredsamkeit, die Welt zu überzeugen, daß sie die Hintergangene sei, der die jüngere Schwester den Verlobten weggelockt habe, und daß Flora diese Beleuchtung wählen werde, das stand fest, wie der Himmel da droben. Wie sie flimmerten, die kreisenden Sternbilder! Auf welchen dieser goldenen Himmelsfunken hatten die rosig durchhauchten Abendlüfte den erlösten Geist der Schwester getragen? Sah sie jetzt zurück? Sah sie, wie das Glück des geliebten Mannes in Trümmer ging?
„Sie sind so still, Käthe. In Ihrer Seelenhoheit weisen Sie mich schweigend in die Schranken; ich hätte heute nicht sprechen sollen,“ hob er wieder an. „So will ich auch jetzt nicht weiter in Sie dringen. Ich verhehle mir nicht, daß meine Bitten und Wünsche mit schweren Bedenken in Ihrer Seele kämpfen müssen; denn sonst wären Sie nicht die peinlich gerechte, die ehrliche Käthe, die Sie sind, aber ich werde mein ersehntes Ziel erreichen, ohne daß ich zur stürmischen Ueberredung greifen muß – das weiß ich auch. Ich lasse Ihnen Zeit zur Prüfung und zur Ueberwindung des tiefen Schmerzes, der Sie jetzt erfüllt und in Allem, was Sie denken und fühlen, mitspricht. Ich gehe jetzt unbeglückt, aber – ich komme wieder. Und nun wollen wir nach der Mühle gehen. Geben Sie mir getrost Ihren Arm! Ein Bruder kann seine Schwester nicht selbstloser führen, als ich in diesem Augenblicke an Ihrer Seite gehe. Sie könnten sich ebenso ruhig mir und meiner Tante anschließen, wenn wir unsere Reise nach L…g antreten.“
„Ich kehre nicht nach Sachsen zurück,“ sagte sie. Sie hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt, und nun durchschritten sie die Allee. Ein Gefühl von tödtlicher Erstarrung durchschlich die Glieder des Mädchens, und es war, als krieche es auch lähmend an das wildklopfende Herz und hauche die Stimme an, die so fremd, so hart und klanglos aus der Brust kam. „Ich habe schon bei meiner letzten Anwesenheit in Dresden gefühlt, daß mir, so wie es jetzt in meinem Innern aussieht, mit dem ausschließlichen Versenken in das Sprachstudium und die Musik, mit der Besorgung kleiner Hausgeschäfte und dergleichen nicht geholfen – ich muß einen Wirkungskreis haben, der tüchtige, anstrengende Arbeit, Tag für Tag, von mir fordert. Bis vor wenigen Tagen noch zögerte ich, dieses Vorhaben auszusprechen; denn ich wußte, daß das erste Wort eine Reihe von Kämpfen mit meinem Vormunde einleiten würde – der ‚Goldfisch‘ hatte ja bereits seinen Beruf, den, mit tadellosem Chic seine Revenuen zu verbrauchen. Das ist nun Alles aus. Der gefürchtete Geldschrank existirt nicht mehr, oder eigentlich, sein papierener Inhalt ist schon werthlos gewesen, ehe er zertrümmert in die Luft geschleudert wurde – das ist mir zur unumstößlichen Gewißheit geworden, seit mir Nanni heute Nachmittag zuflüsterte, daß man drunten versiegele. Nicht wahr, meine vielen Hunderttausende existiren nicht mehr?“
„Ich glaube schwerlich, daß sich etwas retten läßt –“
[410] „Aber meine Mühle habe ich noch – und da will ich bleiben. Vielleicht erregt es Ihre ernstliche Mißbilligung, wenn ich Ihnen sage, daß ich von nun an mein Eigenthum selbst verwalten will; denn es sieht nach Emancipation aus, wenn ein junges Mädchen als Inhaberin einer Firma selbstständig hervortritt.“
„So falsch urtheile ich nicht; ich befürworte sogar warm diese Art von Selbstständigkeit der Frauen; ich weiß auch, daß Sie mit Ihrer Kraft und Energie sofort im richtigen Fahrwasser sein würden – aber das ist ja nicht Ihre Bestimmung, Käthe. Sie sind berufen, ein Familienglück zu begründen, nicht aber, den Kopf voll Zahlen und Berechnungen, ‚Tag für Tag‘, einsam am Geschäftspulte zu stehen. Fangen Sie lieber gar nicht an! Denn eines Tages wird man Sie wegholen und nicht danach fragen, wo Sie in den Büchern gerade mit Ihrem Soll und Haben stehen, und das könnte eine schlimme Verwirrung heben.“
Wäre nur ein einziger intensiv beleuchtender Strahl des Sternenlichtes in das Dunkel der Allee gefallen, dann hätte der Sprechende schon von diesem Augenblicke an das Mädchen nicht mehr von seiner Seite gelassen – eine so trostlose Verzweiflung malte sich in ihren Zügen –, er würde sie in seine Hut genommen und nicht gezögert haben, der eigentlichen Spur nachzugehen, die den Widerstand erklärte. So aber deckte die Finsterniß den entsetzlichen Seelenkampf, der da neben ihm, ohne Laut, ohne auch nur einen verräterischen Seufzer, durchstritten wurde, und er führte die Entmuthigung und Niedergeschlagenheit, die ihre Stimme so dumpf und eintönig machten, auf das Trennungsweh, auf die tiefe Erschütterung zurück, die der Anblick eines Sterbenden hinterläßt.
Hier und da sprang ein Kiesel mit leichtem Rasseln unter den Füßen der Weiterschreitenden auf, und das Wellengeräusch des nahen Flusses scholl stark in das augenblickliche Schweigen hinein, das auf die letzten Worte des Doctors gefolgt war. Die Linden der Allee traten zurück; der Nachthimmel breitete sich droben wieder hin, und in sein Flimmern hinein stiegen dort die zwei schlanken italienischen Pappeln, welche die Holzbrücke flankirten.
Bei diesem Anblicke drückte der Doctor unwillkürlich den Arm des jungen Mädchens an sich. „Dort, Käthe!“ flüsterte er innig. „Dort haben Sie stets die ersten Veilchen gesucht; ich habe Ihnen versprochen, daß Sie das immer dürften, und ich kann Wort halten – ich werde meine Osterferien stets hier verleben.“
Käthe preßte die geballte Rechte auf die Brust; sie glaubte ersticken zu müssen an dem heftigen Schlagen ihres Herzens, und doch fragte sie nach einer kuzen Pause anscheinend gelassen: „Die Frau Diakonus wird Sie nach L…g begleiten?“
„Ja, sie will meinem Hauswesen vorstehen, so lange ich noch allein sein werde. Sie bringt mir ein großes Opfer und wird Gott danken, wenn sie den Staub der großen Stadt wieder von den Füßen schütteln und in ihr geliebtes grünes Heim hierher zurückkehren darf. Ich weiß, das edle, brave Herz, um das ich werbe, wird sie nicht allzu lange auf die Ablösung von ihrem Posten warten lassen,“ setzte er mit weicher, bittender Stimme hinzu.
Ein Licht in der Mühle tauchte vor ihnen auf. Dort hatten sie heute den Müller Franz hinausgetragen. Der Verunglückte hinterließ eine Wittwe und drei Waisen. Das Dach, das sie noch beschützte, gehörte ihnen nicht, und das, was der fleißige Mann erarbeitet und gespart hatte, genügte nicht zu ihrem Hinterhalte. Suse war heute für einen Moment in der Villa gewesen, um nach ihrer Herrin zu sehen. Sie hatte Käthe die Verzweiflung der Hinterlassenen als herzzerreißend geschildert und dabei den Wirrwarr bejammert, in den „das herrenlose Geschäft“ mit jeder Stunde tiefer gerathe.
Das Bogenfenster der Familienstube im Erdgeschoß, das nach dem Park hinausging, war dunkel. Schwarz und ungestalt ragte der Gebäudecomplex der Mühle in die Luft; sie lag so einsam, so weltverlassen da; das Gebell der Hofhunde, die beim Geräusch der näherkommenden Schritte anschlugen, klang verloren wie in eine öde, endlose Weite hinein. Die Räderarbeit schwieg, und der Mühlenraum stand so leer, so feierlich unbelebt, als hätte, seit dem Erkalten der freudig hier schaffenden Menschenhand, ein geschäftiges Heinzelmännchen nach dem andern die Kappe über das vergrämte Gesicht gezogen und sich davon geschlichen.
Der Doctor zog das junge Mädchen näher an sich, ehe er die Mauerpforte öffnete. „Mir ist, als führte ich Sie in die Verbannung,“ sagte er zögernd und gepreßt. „Sie sollten mir den Schmerz nicht machen, Sie gerade heute in diesen dunklen schweren Stunden allein zu wissen. Kommen Sie mit mir! Die Tante wäre überglücklich, Sie aufnehmen und mütterlich verpflegen zu dürfen.“
„Nein, nein!“ stieß sie hastig heraus. „Glauben Sie ja nicht, daß ich mich nutzlosem Jammer leidenschaftlich hingebe, wenn ich allein bin – ich habe nicht einmal Zeit dazu, und ich will auch nicht. Ich muß dort“ – sie zeigte nach dem Bogenfenster, wo jetzt hinter dem Kattunvorhange ein matter Lampenschein aufdämmerte – „sofort als Trösterin eintreten – die vier armen Menschen sind auf meine Kraft, meinen Beistand angewiesen.“
„Liebe, liebe Käthe!“ sagte er und zog mit beiden Händen ihre Rechte gegen seine Brust. „So gehen Sie denn in Gottes Namen! Ich würde es für eine schwere Sünde halten, Sie zu beirren, die Sie so tapfer den harten, aber unfehlbaren Weg zur Ueberwindung unfruchtbaren Schmerzes wählen. Seien Sie aber in der ersten Zeit nicht ebenso streng gegen sich als Reconvalescentin! Tragen Sie die schützende Binde noch einige Tage auf der verheilenden Wunde, dann fort damit! Und nun: zu Ostern, wenn die letzten Winternebel fliehen, wenn Schnee und Eis thauen, darin gehen auch die Menschenherzen auf; zu Ostern, da komme ich wieder. Bis dahin gedenken Sie eines Fernen, eines sehnsüchtig Harrenden, und lassen Sie Verleumdung und Mißtrauen nicht zwischen uns treten!“
„Nie!“ Dieses eine Wort brach fast wie ein Aufschrei aus ihrer Brust. Sie entzog ihm die Hand, die er an seine Lippen preßte; dann rasselte die Mauerthür hinter ihr zu. Sie that keinen Schritt vorwärts, an die kalte, feuchte Mauer gedrückt, und das Gesicht in den Händen vergraben, horchte sie athemlos auf seine verhallenden Tritte. Was war Henriette’s Sterben gewesen gegen die Qualen ihres wildschlagenden Herzens, das weiterleben mußte! Sie lauschte, bis die weiche Nachtluft lautlos an ihr vorüberstrich; dann ging sie starren, thränenlosen Auges in das Haus, um ihre Mission als Trösterin und Versorgerin zu beginnen.
Drei Tage später, sofort nach Henriettens Beerdigung verließen Doctor, Bruck und die Tante Diakonus die Residenz. Ihn hatte Käthe nicht wieder gesehen, aber die Tante war wiederholt stundenlang bei ihr gewesen. An demselben Tage reiste auch Flora in Begleitung der Präsidentin ab. Die alte Dame begab sich in ein stärkendes Bad, und Flora ging nach Zürich, wo sie, wie man sich in der Residenz erzählte, behufs medizinischer Studien eine Zeitlang leben wollte.
Mehr als ein Jahr war vergangen seit jenem Märztage, wo Käthe Mangold, die Enkelin und einzige Erbin des reichen Schloßmüllers, auf dem Fahrwege von der Stadt her geschritten war, um sich im Hause ihres Vormundes in ihrer neuen Eigenschaft als „Goldfisch“ vorzustellen.
Wer jetzt, von der mit eleganten Villen besetzten Chaussee abbiegend, diesen Weg betrat, der sah rechts, und zwar ebenfalls an der Chausseelinie hin, eine Reihe hübscher kleiner Häuser liegen; sie gehörte den Arbeitern der Spinnerei und stand im ehemaligen Mühlengarten, auf dem Grund und Boden, den Käthe ihrem Vormund für die Leute abgetrotzt hatte. Und die Bewohner der Residenz gingen so gern da vorüber. Früher hatte sich hier die alte, dicke, das Mühlengrundstück begrenzende Mauer aufgethürmt – in ihrem tiefen Schatten war der Fußsteig selten trocken geworden; er war als grundlos verrufen gewesen. Nun dehnte sich hier plötzlich eine anmuthige, mit Kugelakazien bepflanzte Promenade hin. Die kleinen Häuser sahen so nett und holländisch sauber aus mit ihrem fleckenlosen Oelanstriche, der luftigen Veranda neben der Hausthür und dem schmalen Vorgarten, der schon im Herbst mit allerlei Reisern schönblühender Gebüsche besetzt worden war.
[411] Die Schloßmühle lag hinter ihnen, altersdunkel, stolz in ihrer Ehrwürdigkeit, aber auch abgewendet mit ihren Fenstern, als zürne sie, daß man ihrem grünen Gartenmantel diesen modernen Saum angeflickt habe. Sie selbst hatte sich keiner Veränderung unterworfen; nur die alte, halbverwischte Sonnenuhr war aufgefrischt und die kleine Thür nach dem anstoßenden Parke zugemauert worden. Die Schloßmühle stand in keiner Beziehung mehr zu dem ehemaligen Besitz der verblichenen Ritter von Baumgarten, die ihr vor Zeiten den herrschaftlich klingenden Titel verliehen hatten. Aber der tosende Lärm, das klopfende Herz in dem ehrwürdigen Bau des Mittelalters klang in verjüngter, erhöhter Kraft, und der in den Mühlhof mündende Fuhrweg war befahrener als je; das „herrenlose Geschäft“ ruhte in starker, sicherer Hand und wurde mit klugem Blicke geleitet. Käthe hatte Glück gehabt bei ihrem Unternehmen. Sie hatte für die Mühle einen braven, sachkundigen Geschäftsführer gefunden, und in der Buchführung stand ihr der gänzlich verarmte Kaufmann Lenz zur Seite.
Als Lehrling war sie in dem Comptoir eingetreten, das sie in der Mühle geschaffen, aber bei ihren bedeutenden Schulkenntnissen, ihrem scharfen, klaren Urtheil und Ueberblick war sie ihrem Lehrer und Meister binnen Kurzem ebenbürtig geworden. Sie arbeitete in der That, „Tag für Tag“, wie ein Mann – das Geschäft wuchs und erweiterte sich in rapider Weise und zeigte sehr bald Erfolge, wie sie selbst der Schloßmüller nicht errungen hatte. Und das, was sie auf ihrem selbstgewählten rauhen Lebenswege stärkte und ermuthigte, waren die zufriedenen Gesichter um sie her; es war Jedes an seinem Platze. Sie hatte die Wittwe des verunglückten Franz mit ihren Kindern bei sich behalten und ihr ein Asyl in einem neuhergerichteten, kleinen Seitengebäude der Mühle für zeitlebens angewiesen. Die Frau besorgte mit Suse zusammen, nach wie vor, die kleine zur Mühle gehörige Oekonomie und das Hauswesen, und die Kinder erhielten eine Ausbildung, wie sie ihr verstorbener Vater, der mehr auf die materiellen Errungenschaften bedacht gewesen war, sicher nie bewerkstelligt hätte.
Von der großen Hinterlassenschaft des Schloßmüllers war Käthe in der That nichts verblieben, als die Mühle und einige Tausend Thaler, die sie mit dem Stück Gartenboden zugleich von ihrem Vormunde erbeten und erpreßt und den Arbeitern zu ihrem Häuserbau geliehen hatte. Die vielen Hunderttausende waren in den Flammen spurlos verschwunden, und das wenige Gold und Silber, das man geschmolzen später unter Schutt und Trümmern fand, rührte wohl eher von Eßgeräth und Trinkbechern her, als von Münzen. Bei dem auf die Explosion folgenden geschäftlichen Zusammensturze kamen viele Gläubiger, trotz der vorhandenen Liegenschaften und Werthobjecte, um ihr Geld; der Concurs erwies sich als einen der schlimmsten, hoffnungslosesten, die der große Krach hinter sich herschleppte. Villa und Park waren wieder in altadlige Hände gekommen, und der neue Besitzer ließ schleunigst die Thurmtrümmer forträumen, das Wasser in den Fluß zurückleiten und den Graben zufüllen; selbst der geborstene Hügel wurde der Erde gleichgemacht, auf daß der ehemals ritterliche Grund und Boden durch Nichts mehr an die Zeit erinnere, wo sich der Uebermuth eines Parvenü hier breit gemacht und ein schmachvolles Ende genommen habe. Auch der alte, ehrwürdige Holzbogen, der nach dem Hause am Flusse führte, war abgebrochen worden. Man ging jetzt über die der Spinnerei nahegelegene Steinbrücke und einen hübschen Fußweg am jenseitigen Ufer entlang, wenn man nach dem Doctorhaus kommen wollte.
Das Haus, das im Spätherbste noch vollständig restaurirt worden war, stand unbewohnt; die alte Freundin der Tante Diakonus war den Winter über in der ehemaligen Stadtwohnung des Doctors verblieben und wollte erst mit Beginn der schöneren Jahreszeit wieder hinausziehen. … Dorthin wanderte Käthe fast jeden Tag. Ob die Herbstnebel dampften, und Weg und Steg von Nässe triefen mochten, ob die Schneeflocken stöberten oder der Wind eisig von Norden herblies: sowie die Abenddämmerung hereinbrach, warf Käthe die Feder fort, hüllte sich warm ein und huschte hinaus in’s Freie. …
Da schüttelte sie die Zahlenlast, das starre, trockene Geschäftswesen, unter welchem sie ihr heißes, klagendes Herz geflissentlich vergrub, für eine halbe Stunde ab; dann war sie nicht die ernste, geschäftspünktliche Herrin, deren achtsamem Auge nicht die kleinste Unregelmäßigkeit entging, die an sich und ihre eigenen Leistungen die höchste Forderung stellte, und in weiser Vertheilung von Lob und Rüge dasselbe bei ihren Untergebenen zu erzielen wußte, ohne daß je ein hartes Wort von ihren Lippen, ein heftig zürnender Blick aus ihrem Auge kam – sie war in diesen Dämmerstunden nur das junge Mädchen, das seiner tiefen Sehnsucht Raum gab, das, bei aller Härte und Strenge gegen seine unbezwingliche Neigung, sich doch Momente der wehmüthigen Träumerei, der Hingabe an den Schmerz zugestand.
Dann trat sie durch die schmale, knarrende Stacketthür, die in’s Feld hinausführte und auf welche sie, Henriette auf den Armen, nach dem Attentat im Walde, todesermattet zugeschritten war. Im Vorübergehen strich sie stets mit schmeichelnder Hand über das grünangelaufene Steinpostament, inmitten des Rasengrundes, neben welchem sie einmal mit Bruck gestanden, und suchte dann die Stelle auf, wo der Gartentisch postirt gewesen – dort hatte Bruck um ihretwillen schwer gelitten – das wußte sie nun. Sie umging das einsame Haus mit seinen verrammelten Fensterläden, seinen neuen, ungeheizten Schlöten und schnarrenden Wetterfahnen und stieg die schlüpfrigen, winternassen Stufen hinauf, um das Ohr an das Schlüsselloch der Hausthür zu legen. Jenes schwache, scheinbare Seufzen, das der von dem geöffneten Bodenraum herabkommende Zugwind verursachte, schlich durch den weiten Flur; neben und über der Thur rasselten dürre Weinranken, und manchmal flog noch ein verspäteter Spatz unter den Dachvorsprung – das war alles Leben, welches sich in der Verlassenheit regte, und doch horchte das junge Mädchen begierig darauf; es war doch nicht Grabesstille, und das Recht, diese Thür wieder zu öffnen, lag ja noch in geliebten Händen, und eines Tages wurden auch wieder Schritte laut da drinnen, und liebe Gesichter sahen zu den Fenstern heraus – das war ja Alles festgestellt, wenn Käthe sich auch dabei sagen mußte, daß sie selbst dann stets verreisen werde, bis – Bruck einmal ein weibliches Wesen am Arme führte, in dessen Hand sie den Ring legen durfte.
Er mochte wohl vielumworben sein in L…g. Der Ruf seines Namens wuchs von Tag zu Tage; eine große, auserwählte Zuhörerschaft drängte sich zu seinen Vorlesungen, und die Nachricht von verschiedenen glücklichen Curen, denen er hervorragende Persönlichkeiten unterworfen hatte, machte die Runde durch die Welt. Die Briefe der Tante Diakonus an Käthe – sie schrieb ihr sehr oft – athmeten Glück und Seligkeit; sie waren für das junge Mädchen eine Quelle des Genusses, aber auch furchtbarer, neuaufgerüttelter Seelenkämpfe, und deshalb antwortete sie ziemlich sparsam und zurückhaltend. Der Doctor selbst schrieb nicht er hielt streng an seinem Versprechen fest, sie nie zu bestürmen – und begnügte sich stets mit einem Gruße, den sie freundlich und pünktlich erwiderte.
So verlief ihr junges, einsames Leben Tag für Tag. Sie ahnte nicht, daß man sich in der Stadt viel mit ihr beschäftigte, daß sie jetzt, nach ihrer energisch durchgesetzten Mündigsprechung, wo sie sich so resolut und willensstark an die Spitze ihres Etablissements gestellt, weit mehr das Interesse und die Beachtung herausfordere, als früher durch ihren unliebsamen Goldfisch-Titel. … Dieser ausgezeichnete Leumund führte denn auch sehr oft einen Besuch in die Schloßmühle, den sie das erste Mal mit unverhohlenem Erstaunen begrüßte. Die Frau Präsidentin Urach verschmähte es durchaus nicht mehr, auf ihren Spaziergängen mit der ihr treugebliebenen Jungfer in der Mühle einzukehren, um, „wie es ihre Pflicht gegen ihren verstorbenen theuren Schwiegersohn erheische, nach seiner Jüngsten zu sehen“.
Die alte Dame war schon wenige Wochen nach ihrer Abreise in die Residenz zurückgekehrt; sie hatte es draußen „nicht ausgehalten“. In einer engen Straße ein paar kleine, hochgelegene Zimmer bewohnend, lebte sie, ihren kargen Mitteln gemäß, zurückgezogen und halbvergessen von der Welt. Der Medicinalrath von Bär hatte sich ein Landgut gekauft und der Residenz grollend den Rücken gekehrt – er war für sie verschollen, und von den übrigen Freunden besuchten sie nur noch einige Altersgenossinnen und der pensionirte Oberst von Giese, die manchmal zu einem Spielchen bei ihr zusammenkamen.
Sie fühlte sich mit einem Male so wohl „in der großen, [412] weiten Schloßmühlenstube, in der man so recht aufathmen könne“; sie ließ sich, ermüdet von dem zurückgelegten Weg und behaglich in das altmodische, federngepolsterte Kanapee des seligen Schloßmüllers gedrückt, den delicaten Kaffee vortrefflich schmecken, den Käthe stets sofort auf der Maschine bereitete, und protestirte durchaus nicht, wenn Suse, auf den Wink ihrer jungen Herrin hin, einen schweren Korb voll frischer Butter, Eier und Schinken an den Arm der Jungfer hing.
Auf Flora war sie nicht gut zu sprechen. Die Enkelin, die im vollen Besitze ihres Vermögens geblieben, bezahlte zwar die Miethwohnung für ihre Großmama und trug auch die Kosten für die Bedienung; alles Uebrige verbrauchte sie aber für sich selbst und konnte kaum auskommen, wie sie wiederholt brieflich versicherte. Zürich hatte sie sehr bald wieder verlassen – das „grause“ ärztliche Studium irritirte ihr die Nerven „bis zum Wahnsinnigwerden“. Sie war ihm eine jener geistigen Koketten, die um jeden Preis eine Rolle spielen und Aufsehen machen wollen, die sich gern den Anschein grübelnden Denkens und tiefgehender Kenntnisse geben, vor Nichts aber mehr zurückschrecken, als vor der ernsten, harten Geistesarbeit.
Nun war die Osterzeit herangekommen. Schon seit mehreren Wochen wurde im Garten des Doctorhauses unermüdlich gearbeitet. Der Doctor hatte einen Gärtner aus L…g geschickt; der steckte neue Wege ab oder suchte vielmehr die Spuren des alten, sehr hübschen Gartenplanes wieder aus und gab den Anlagen die frühere Gestalt zurück. Viele Hände waren beschäftigt, zu graben und zu pflanzen, und Plätze wurden vorgerichtet, wo einige Statuen aufgestellt werden sollten, die aus L…g gekommen waren, und noch verpackt im Hausflur standen. Am Hause waren schon seit vierzehn Tagen alle Läden geöffnet; die Zimmer wurden tapezirt und mit neuem Firnißanstriche versehen, und auf den First war sogar eine Fahnenstange gekommen. Dann zog die Freundin der Tante wieder ein und brachte eine Schaar Tagelöhnerinnen mit, die das Haus vom Dachboden bis zum Keller hinab spiegelblank machten.
Käthe hatte ihre Spaziergänge nicht unterbrochen. Auch heute, am heiligen Abend vor dem Osterfeste, war sie in der Mittagsstunde noch einmal drüben gewesen. Im Garten wurde noch immer gepflanzt und angesä’t, aber die alten Taxusgruppen, die früher als undurchdringliche, buschige und struppige Wildniß das Terrain verunstaltet und verdüstert hatten, standen gesäubert und in die ehemaligen Schranken zurückgewiesen, und aus ihrem dunklen Grün traten leuchtend und anmuthig die neuen Sandsteinfiguren. Auf den Wegwindungen, welche die Hecken durchschnitten, lag in tadelloser Glätte heller Sand; an die Stelle der knarrenden Holzthür im Zaune war ein feines schwarzes Eisengitter getreten, die Laube der Tante Diakonus stand weiß angestrichen und hinter dem Hause umschloß ein Plankenzaun den neuen Hühnerhof.
Und auf dem wohlbekannten Steinpostamente vor dem Hause hob sich eine Terpsichore, die Arme in graciösem Schwünge emporgestreckt, auf der äußersten Spitze ihres zarten Füßchens, genau so, wie sich Käthe die längst zertrümmerte Gestalt auf dem schmalen Fußreste wieder aufgebaut hatte.
„Die Statue ist sehr hübsch!“ sagte der fremde Gärtner achselzuckend; „sie müßte nur auf einem eleganteren Grunde stehen. Der Rasen“ – er zeigte über den Grasplatz hin – „ist verwildert und nichts nutz, aber der Herr Professor hat mir streng verboten, den Spaten da anzusetzen.“ – Käthe bückte sich, helle Gluth auf den Wangen, und pflückte die ersten Veilchen, die sich im Schutze des Postamentes bereits voll und köstlich duftend entfaltet hatten. „Ja, der Rasen starrt von Unkraut,“ setzte der Gärtner über die Schulter hinzu und ging weiter.
Und das Haus – jetzt in der That ein Schlößchen – stand heute da, glänzend in Frische und Neuheit und so festlich und feierlich geschmückt, „als ob eine Braut einziehen sollte,“ sagte die alte Freundin ahnungslos lächelnd zu Käthe. Das schneeweiße Kätzchen kam über den neuen Mosaikfußboden des Flures leise gegangen; im Zimmer der Tante Diakonus, hinter den Filetgardinen und umringt von den in der Stadt überwinterten Lorbeer- und Gummibäumen, schmetterte der Canarienvogel aus voller, trillernder Kehle, und die Goldfischchen schwammen munter in der Glasschale – da war ja auch schon das gewohnte Leben und Treiben wieder eingekehrt, und die Tante Diakonus selbst sollte mit dem Nachmittagszuge eintreffen. Sie bringe auch einen Gast mit, hatte die alte Freundin, geheimnißvoll mit den Augen blinzelnd, gemeint; wen das wisse sie nicht; sie habe nur den Auftrag erhalten, das Fremdenzimmer mit hübschen, neuen Möbeln zu versehen. Und dabei hatte sie stolz die breite, weißglänzende Flügelthür zurückgeschlagen, und Käthe war in einen Thränenstrom ausgebrochen – sie mußte an ihre Henriette denken, die hier gelitten hatte, und doch noch einmal in ihrem armen Leben so glücklich, so stillselig gewesen war. Neben dieser schmerzvollen Erinnerung rang sich aber auch noch eine nie gekannte, heißaufquellende Eifersucht empor. Wer war sie, die sich an das Herz der Tante gedrängt und die alte Frau so sehr für sich eingenommen hatte, daß sie als Besuch mitkommen durfte?
Die rosenbestreuten Gardinen und die schaukelnden Blumenampeln waren an den Fenstern verblieben; die altmodische, mühsam zusammengesuchte Zimmereinrichtung dagegen hatte modernen, hübschen, wenn auch sehr einfachen Kirschbaummöbeln weichen müssen, und statt der verblichenen Bilder aus Voß’ „Luise“ hingen einige schöne Landschaften an den helltapezirten Wänden. Der, ach, so wohlbekannte Raum war in ein trauliches Wohnzimmer umgewandelt und ein anstoßendes, früher vollkommen leerstehendes Cabinet als Schlafgemach eingerichtet worden.
Geschichten aus der Geschichte.
Als mit Konradin von Schwaben der Stamm der Hohenstaufen in seiner schönsten Blüthe unterging, starben mit ihm auch zwei Grafen Gherardesca auf dem Blutgerüste in Neapel. Wie diese stand ihr ganzes Geschlecht treu im Lager der Ghibellinen, der Kaiserpartei. Reich begütert, im Besitze der Grafschaften Gherardesca, Donoratico und Montescudaio in den Maremmen zwischen Pisa und Piombino, schloß es sich in dem verheerenden italienischen Bürgerkriege der Ghibellinen und Guelphen der Republik Pisa an, wo es, an der Spitze der Conti (Grafen) die Visconti (Vicegrafen) sich gegenüber sah.
Die Visconti von Pisa dürfen nicht mit dem gleichnamigen Geschlechts von Mailand zusammengestellt werden, das die Herzogswürde erlangte und bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts blühte. Die Visconti von Pisa sahen sich genöthigt, sich dem Papste in die Arme zu werfen, um dessen Schutz gegen die übermächtigen Geschlechter Pisa’s zu genießen. Nur zu diesem Behufe gab Ubaldo Visconti den Kampf gegen die päpstlichen Ansprüche auf die Oberherrschaft über die von den Pisanern damals eroberte Insel Sardinien auf, heirathete eine Verwandte des Papstes Gregor des Neunten, Adelheid, Erbin von Gallura und Torre, und nahm diese Besitzungen vom Papste in Lehn. So wurden die Visconti Richter von Gallura und Häupter der guelphischen Partei, die jedoch in Pisa nur schwer Boden fand, da die Stadt eifrig und treu ghibellinisch war.
Um so auffälliger ist es, daß Ugolino della Gherardesca, der gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts an der Spitze der Ghibellinen in Pisa stand, es seinen Zwecken entsprechend finden konnte, sich den Guelphen dadurch zu nähern, daß er dem damaligen Haupte derselben, Giovanni Visconti, seine Schwester zur Gemahlin gab. Diese plötzliche Eintracht der feindlichen Parteien erregte das Mißtrauen der Pisaner so, daß sie beide Häupter aus ihrer Stadt verbannten. Beide zögerten jetzt keinen Augenblick, gegen ihre Vaterstadt als Feinde aufzutreten. In Verbindung mit den guelphischen Städten
[413][414] Toscanas zwangen sie Pisa im Jahre 1276 zu einem Frieden, dessen Hauptbedingung die Zurückberufung der Verbannten war. Giovanni war gestorben, dafür kehrte dessen Sohn, Nino Visconti, mit Ugolino in die Heimath zurück.
Während die Visconti ihrer Partei treu geblieben waren, hatte Ugolino das Vertrauen beider Parteien verloren und war für die Erreichung seiner Pläne fortan auf die Handhabung von List und Gewalt angewiesen. Die Gelegenheit zu beiden ließ nicht lange auf sich warten. Im Jahre 1282 brach zwischen Pisa und Genua ein Krieg aus, der nach zweijährigem Schwanken des Sieges für Pisa mit einer Niederlage endete, welche die Bedeutung der Stadt als Seemacht für immer zerstörte. Oberto Doria kam mit einhundertunddreißig genuesischen Galeeren gegen Pisa heran; dreißig Galeeren hatte er unter der Führung des Benedetto Zacharia bei der Insel Meloria in einen Hinterhalt gelegt. Die Pisaner hatten ihre einhundertunddrei Schiffe in drei Treffen aufgestellt, von denen das erste Oberto Morosini aus Venedig, Podesta von Pisa und General-Capitano des Kriegs, das zweite Andreotto Saracino, das dritte Graf Ugolino führte. Erschien es schon als ein schlimmes Zeichen, daß dem Erzbischof, der am Morgen des Kampftages, des 6. August 1284, vom Ponte vecchio aus die Flotte segnen, wollte, das Crucifix in’s Wasser fiel und der Uebermuth der Pisaner sich das Scherzwort erlaubte: „Mag Christus für die Genueser sein, wenn nur der Wind für uns ist“ – so war es noch schlimmer, daß die Pisaner die Uebermacht der Feinde erst erkannten, als es zu spät war, die Schlacht noch zu vermeiden. Der Angriff Zacharia’s aus seinem Hinterhalt bei der Insel Meloria war von erschütternder Wirkung auf die Pisaner, das Admiralsschiff, das Pisa’s Fahne und Führer, den Morosini trug, fiel zuerst in des Feindes Gewalt. Vielleicht wäre es aber dennoch der Tapferkeit der Pisaner gelungen, die Niederlage, wenn auch nicht, zu vermeiden, doch nicht so folgenschwer werden zu lassen, hätte nicht Ugolino mit seiner Flottenabtheilung die Flucht ergriffen. In der wahren Absicht dieser Flucht liegt nun die ihm vorgeworfene schwerste Schuld oder seine Unschuld. Seine Feinde behaupten, seine Absicht sei gewesen, das nun geschwächte Pisa mit Hülfe seiner guelphischen Freunde in Florenz und Lucca sich zu unterwerfen. Seine Freunde dagegen schieben ihm den guten Willen zu, seine Vaterstadt durch seinen guelphischen Einfluß gegen Genueser und andere Feinde derselben zu retten. Die schwere Anklage erhebt nun zwar kein gleichzeitiger Schriftsteller, sondern erst ein Chronist von Pisa aus dem sechszehnten Jahrhundert; dabei giebt derselbe noch an, daß er dies nach Dante erzähle, der jedoch bekanntlich kein Wort davon sagt. Dennoch spricht die Folge der Geschichte nicht gegen diese Behauptung; Ugolino selbst hat es seinen Freunden schwer gemacht, ihn zu vertheidigen.
Die Niederlage der Pisaner war so vollständig und so groß, daß man zu ihrer Erklärung die Rache Gottes citiren mußte: sie soll eine Strafe dafür gewesen sein, daß die Pisaner jene Bischöfe, welche auf genuesischen Schiffen zu dem gegen Kaiser Friedrich den Zweiten bestimmten Concilium nach Rom segeln wollten, auf derselben Stelle gefangen genommen hatten. Von ihren Galeeren hatten sie sechsunddreißig, von ihrer Mannschaft sechszehntausend an Todten und Gefangenen verloren. „Wer Pisa sehen will, muß nach Genua gehen“ – so höhnte der Spott der Sieger. Und welches Schicksal bestimmten sie für die etwa elftausend Gefangenen? Man müsse sie so lange wie möglich zurückbehalten, um die Frauen derselben an der Wiederverheirathung zu verhindern, dadurch manches mächtige Geschlecht aussterben zu lassen und Pisa auf das Nachhaltigste zu schwächen. Wirklich sind auch nach achtzehnjähriger Gefangenschaft nur etwa tausend Pisaner in ihre Vaterstadt zurückgekommen.
In Pisa erfolgte sofort, was Ugolino gewollt zu haben schien. Die Kunde von dem Schlage, der die ghibellinische Stadt und ihre edelsten Geschlechter getroffen hatte, rief die Rachegelüste aller guelphischen Nachbarn wach, und so sahen die Pisaner sich jetzt gezwungen, den Ugolino gerade wegen seiner guelphischen Verbindungen augenblicklich mit ihrer höchsten Macht zu bekleiden. Noch im Oktober 1284 ernannten sie ihn zum Capitano und Podesta erst auf ein Jahr, aber schon im Februar 1285 auf zehn Jahre. – Es hatte den Anschein, daß er mit Geschick und Glück das Beste der Stadt vertrete, denn den glücklichen Umstand, daß die Feinde Pisas ihre neuen Angriffe bis zum Frühling des nächsten Jahres verschoben, benutzte Ugolino, um den Bund der Gegner durch Unterhandlungen mit den Einzelnen zu trennen. Dies gelang ihm bei den Florentinern, freilich um den Preis der Vertreibung von zehn der angesehensten Ghibellinen aus Pisa und eines ansehnlichen Goldgeschenkes an besonders einflußreiche Häupter von Florenz. In Genua widersetzten die gefangenen Pisaner selbst sich Ugolino’s Vorschlag, ihre Befreiung um die Abtretung der wichtigen Veste Castro in Sardinien zu erkaufen; sie drohten vielmehr, nach ihrer Heimkehr einst Jeden als Feind zu behandeln, der sich solchen Verraths an der Vaterstadt schuldig gemacht habe. Nicht besser gelang die Unterhandlung mit den Lucchesen, denn diese ließen sich wohl im Februar 1285 die festen Schlösser Ripafratta und Liareggio abtreten, begannen aber trotzalledem im Verein mit den Genuesen den Krieg gegen Pisa von Neuem und eroberten die Vesten Cuosa und Avane an demselben 8. Juli, wo die Genuesen den Wachtthurm am Hafen von Pisa besetzten und damit der ehedem so mächtigen Seestadt die Kehle zuschnürten.
Jetzt zeigte Ugolino’s Vertrag mit Florenz sich erst in seinem ganzen Werth; nur der Umstand, daß die Florentiner Pisa nun in Ruhe ließen, rettete damals noch den Schein seiner Selbstständigkeit, freilich wiederum auf Kosten seines ghibellinischen Charakters. Gezwungen, sich fortan, wenn er seine Macht behaupten wollte, ganz auf die Guelphen zu stützen, berief er seinen Neffen Nino Visconti als Theilhaber seiner Amtsgewalten an seine Seite. Die Eintracht Beider war jedoch nicht von langer Dauer, da Jeder nach der Alleinherrschaft trachtete. Nino ergriff sogar das Mittel, sich plötzlich den Ghibellinen zuzuneigen und, als um diese Zeit ein Anhänger der Visconti von einem Enkel Ugolino’s, Brigata, ermordet worden war, durch die Straßen zu rufen: „Tod Allen, die keinen Frieden mit Genua wollen!“ Das Volk blieb jedoch ruhig; es erkannte zu gut, daß Nino’s einzige Absicht der Sturz seines Nebenbuhlers sei, und da die Pisaner Ursache genug hatten, dem Einen so wenig wie dem Andern zu trauen, so bewogen „die Consuln des Meeres“ und „die Vorsteher der Zünfte“ beide, ihre Aemter niederzulegen und die Amtspaläste zu verlassen. Ihr Nachfolger war ein gewisser Guidoccino di Bongi.
„Als sich beide Parteihäupter so das Heft aus den Händen, gerissen sahen, vereinigten sie sich schnell zur Wiedererlangung der früheren Macht.“ So erzählt Philalethes (König Johann von Sachsen) in einer seiner metrischen Uebersetzung von Dante’s „Göttlicher Komödie“, Bd. 1, S. 283 ff. eingefügten trefflichen „Historischen Skizze“, die wir dieser Darstellung zu Grunde gelegt haben. Ihr Unternehmen muß wohl den beiden Parteihäuptern bei der damaligen Verwirrung, Trauer und Ohnmacht in der Bürgerschaft nicht schwer gefallen sein, denn sie fanden ihren Vorgänger Guidoccino mit Geld ab, veranlaßten ihn, die Stadt zu verlassen, und bezogen Beide wieder die Amtspaläste, Ugolino den Palazzo del Popolo (den Volkspalast, das Stadthaus), Nino den Palazzo del Commune (den Gemeindepalast, das Gerichtshaus), also anscheinlich jener als Capitano, dieser als Podesta. Da aber letzteres Amt weniger Einfluß gewährte, so scheint Ugolino jetzt mehr als je im Vollgefühl seiner Macht geschwelgt zu haben, denn um diese Zeit war es, wo er bei einem Festgelage an einen der Gäste, Marco Lambardi, die herausfordernde Frage richtete: „Was sagst Du, Marco, zu meinem Staate?“ – Der aber antwortete: „Graf, Dir fehlt nichts als Gottes Zorn.“
Ob Marco eine Ahnung oder einen Wunsch ausgesprochen: die Erfüllung kam. Ugolino und Nino konnten nicht neben einander stehen, ohne sich zu vernichten. Als im April 1286 eine Botschaft der gefangenen Pisaner von Genua kam, um einen von ihnen selbst vermittelten Friedensabschluß in Pisa genehmigen zu lassen, erklärte sich Ugolino gegen, Nino für diesen Frieden; und als der Friede beschlossen wurde, suchte Ugolino ihn dadurch zu verhindern, daß er, im Mai, während der Frist des beiderseits eingegangenen Waffenstillstandes, Corsaren gegen die Genueser auslaufen ließ. Da er in den aus der Gefangenschaft heimkehrenden ghibellinischen Edlen seine erbittertsten [415] Feinde erkennen mußte, so kann über seine eigentliche Absicht bei diesem Gewaltstreiche kein Zweifel herrschen.
Während die Parteien Ugolino’s und Nino’s wie zwei sich bedrohende Flammen über Pisa aufloderten, erhob sich plötzlich dazwischen eine dritte, beide überragende in der endlich zur That erwachten Partei, der alten echten Ghibellinen. Zu ihr gehörten die Gualandi, Sismondi und Lanfranchi und an ihrer Spitze stand der schon genannte Erzbischof von Pisa, Roger degli Ubaldini, von einem ghibellinischen Hause aus der Gegend von Arezzo. Dieser neuen Macht suchte nun Ugolino sich sofort anzuschließen, um durch sie Nino zu stürzen. Mitten in die Unterhandlungen Ugolino’s und des Erzbischofs fiel folgendes Ereigniß. Eine Hungersnoth oder wenigstens außerordentliche Theuerung erregte die Erbitterung des Volkes in Pisa gegen die auf die ersten Lebensbedürfnisse gelegten Zölle und dadurch gegen Ugolino selbst. Als ihm einer seiner Enkel und ein anderer Verwandter, der zugleich ein Neffe des Erzbischofs war, Vorstellungen darüber zu machen wagten, gerieth er in so tobende Wuth, daß er seinen Enkel mit dem Vorwurfe: „Ha, Verräther, Du willst mir meine Macht rauben?“ mit dem Dolche am Arme verwundete und den Andern mit einem Schlage todt niederstreckte. Ghibellinen trugen die Leiche zum Erzbischof und sprachen: „Hier ist Dein Neffe, vom Grafen Ugolino erschlagen.“ Und der Priester: „Tragt ihn hinweg!“ rief er, „das ist mein Neffe nicht. Ich weiß nicht, daß der Graf irgend eine Ursache hätte, meinen Neffen zu tödten. Hat er ihn doch immer als einen Verwandten gut behandelt. Man rede mir kein Wort mehr davon!“
So bezähmte die Arglist den glühenden Haß, um die Rache desto kälter zu genießen. Wirklich hatten die Unterhandlungen zwischen dem Erzbischof und Ugolino ihren ruhigen Fortgang und führten zum geheimen Beschlusse einer gemeinsamen Unternehmung gegen Nino. Als Tag der Ausführung war der 30. Juni bestimmt. Jetzt fand die Doppelzüngigkeit ihren Fallstrick. Um es nicht mit den Guelphen ganz und gar zu verderben, blieb Ugolino am bestimmten Tage auf seinem Landgute Settimo, während die Ghibellinen schon am Morgen gegen Nino sich zusammenschaarten, und dieser, von Ugolino verlassen und von dessen Verrath gegen ihn überzeugt, verließ um Mittag mit seinem Anhang die Stadt und warf sich in seine festen Schlösser. Die Ghibellinen aber besetzten sofort den Palazzo del Commune und traten, als Ugolino endlich gegen Abend in die Stadt kam, nun vor ihn mit dem Anspruche, um in Pisa das ghibellinische Element wieder zu Ehren zu bringen: dem Erzbischof oder einem anderen ihrer Häupter an Nino’s Stelle neben sich den Platz einzuräumen. Ugolino wußte, daß dies die Oberherrschaft der Ghibellinen, die Heimkehr der Gefangenen und seinen Sturz bedeuten würde, und suchte Zeit dagegen zu gewinnen. Auf den nächsten Morgen war eine Besprechung darüber in der Kirche San Bastiano bestimmt. Während oder kurz nach derselben drang zu dem Erzbischof die Kunde, daß Ugolino’s Enkel Brigata mit einer Schaar von tausend Kriegern die Stadt bedrohe. Sofort ließ er die Sturmglocke des Palazzo del Commune ziehen und den Ruf: „Zu den Waffen!“ erschallen. Aber auch Ugolino’s Partei gehorchte dem Rufe der Sturmglocke des Palazzo del Popolo, und so entbrannte nun ein Kampf in den Straßen, der auf und ab wogte, bis der Palast die letzte Zuflucht Ugolino’s wurde, in welchem, nachdem man denselben in Brand gesteckt hatte, er mit seinen Söhnen Gaddo und Uguccione und seinen Enkeln Nino Brigata und Anselmuccio (Einige nennen noch einen dritten, Heinrich), in die Gefangenschaft seiner Feinde fiel.
Man brachte die Gefangenen zuerst in den Palazzo del Commune, wo sie zwanzig Tage verwahrt blieben; von da kamen sie in den Thurm der Gualandi, genannt alle Settevie, nach den „sieben Wegen“, welche dahin führten. Hier blieben sie bis zum März 1289. Dann geschah das Entsetzliche, das unsere Abbildung darzustellen sucht. Man verschloß plötzlich den Thurm, warf den Schlüssel in den Arno und übergab Vater, Söhne und Enkel dem Hungertode.
Dieses Ende der Unglücklichen ist es, was Dante im dreiunddreißigsten Gesange der „Hölle“ schildert. Nachdem Ugolino, – den er auf seiner Höllenfahrt mit Virgil im Zustande der Verdammniß und an des Erzbischofs Schädel nagend gefunden – ihm den Traum erzählt hat, der ihn und seine mitgefangenen Söhne und Enkel gepeinigt, als ihnen zum ersten Male der Kerkermeister die bisherige Kost nicht gebracht hatte, fährt er, nach der Uebersetzung des Königs Johann, fort:
Als ich vor Tagesanbruch d’rauf erwachte,
Hört’ ich die Söhnlein, die mit mir hier waren,
Im Schlafe weinen und nach Brod verlangen.
Wohl hart bist Du, wenn Du bei dem Gedanken
Deß, was mein Herz jetzt ahnte, nicht schon trauerst.
Und weinst Du nicht, weshalb pflegst Du zu weinen?
Wir waren wach jetzt, und die Stunde nahte,
Wo man uns Speise sonst zu bringen pflegte;
Doch Jeder zweifelte ob seines Traumes,
Als unter uns des grausen Thurmes Thor ich
Zuschließen hörte, drob ich meinen Söhnen
In’s Antlitz schaute, ohn’ ein Wort zu sprechen.
Nicht weint’ ich; so erstarrt war ich im Innern,
Doch Jene weinten, und mein Anselmuccio
Sprach: „Blickst mich ja so an, was hast Du, Vater?“
Doch keine Thrän’ entfiel mir, und nicht gab ich
Den ganzen Tag ihm, noch die Nacht d’rauf Antwort,
Bis sich der Welt zeigt’ eine neue Sonne.
Als nun ein schwacher Strahl in’s schmerzenvolle
Gefängniß drang und auf vier Angesichtern
Das Ausseh’n ich des eigenen gewahrte,
Biß ich vor Schmerz mich selbst in beide Hände;
Doch Jene, glaubend, daß ich’s aus Begierde
Nach Speise thät, erhoben sich behende
Und sprachen: „Vater, minder schmerzlich wär’s uns,
Wenn Du von uns jetzt äßest. Du umgabst uns
Mit diesem Jammerfleisch – nimm es uns wieder!“
Da ward ich still, sie mehr nicht zu betrüben,
Stumm blieben wir den Tag all’ und den nächsten.
O harte Erde, daß Du Dich nicht aufthatst!
Doch als wir bis zum vierten Tag’ nun kamen.
Fiel Gaddo ausgestreckt zu meinen Füßen
Und rief: „Mein Vater, ach, was hilfst Du mir nicht?“
Dort starb er, und wie Du mich hier erblickest.
Sah ich die Drei, Eins nach dem Andern, fallen
Vom fünften Tag’ zum sechsten, d’rauf ich blind schon
Begann herum zu tappen über Jeden
Und sie drei Tage rief nach ihrem Tode,
Bis Hunger that, was nicht der Schmerz vermochte.
Ein Pisamscher Commmtator des Dante, Francesco di Butt, erzählt, daß man des Jammergeschreis der Verhungernden so wenig geachtet habe, wie ihres Flehens um einen geistlichen Beistand. Acht Tage nach dem Verschlusse des Thurmes öffnete man ihn wieder und begrub die Verhungerten mit den Eisen, an ihren Füßen in dem Franziskanerkloster, wo Buti die Fußeisen, als man sie ausgrub, selbst noch gesehen haben will.
Dante ist von den „Frommen“ seines Landes, hart dafür getadelt worden, daß er diese Gräuelthat ohne Weiteres dem Erzbischof allein und nicht anderen gleichzeitigen Gewalthabern aufbürdet. Es ist aber nicht widerlegt, daß derselbe, als Haupt der herrschenden Partei, nicht den mächtigsten Einfluß gehabt habe. Ueberdies schreibt, nach König Johann, eine ältere „Cronika di Pisa“, welche wahrscheinlich gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts verfaßt und also fast den Zeitgenossen beizurechnen ist, den Tod des Grafen dem Erzbischof und den anderen Häuptern der Ghibellinen ausdrücklich zu; ja, Uberto Folietta, ein gründlicher, wenn auch ungleich späterer genuesischer Geschichtschreiber, berichtet, Roger habe jene schreckliche Todesart für Ugolino und die Seinen deshalb gewählt, um dem Buchstaben der Vorschrift nachzukommen, daß ein Geistlicher kein Blut vergießen dürfe.
Die Stätte dieser Unthat, jener Thurm von Gualandi, hieß seitdem „Torre di fame“, der Hungerthurm. Der Unterbau desselben ist noch bis heute erhalten, da auf ihm der Palast mit der Uhr errichtet ist, welcher neben dem Palaste der Ritter des heiligen Stephanus steht.
Den Kampf um das Dasein, den alle Creatur durchfechten muß, bedingt nicht immer den Kampf Aller gegen Alle und noch weniger die unmittelbare Ueberwältigung durch vorragende Macht. Feinere und gröbere Concurrenz ohne besondere Machtentfaltung spielt eine ebenso bedeutende Rolle in der Thierwelt, wie der kriegerische Angriff. Hier entzieht ein Thier dem anderen die Wohnung, dort die Nahrung, in einem anderen Verhältnisse die Mittel zur Athmung oder zur Fortpflanzung. Auch der Einzelkampf ist nicht die allgemeine Regel. Es giebt mehr oder minder zahlreiche Associationen und Gesellschaften zu bestimmten Zwecken, wie z. B. des Schutzes oder der Jagd, wie es Verbrüderungen giebt, welche für alle Lebensfunctionen gelten und bald nur für einige Zeit, bald für ewige Dauer geschlossen werden. Wir wissen, daß Vereinigungen dieser Art sich, bei gewissen Insecten namentlich, bis zu staatlichen Einrichtungen erheben können, welche ein Spiegelbild der menschlichen Verfassungen verschiedener Art darstellen. Aber diese Thierstaaten beruhen, so weit wir sie jetzt kennen, auf der unmittelbaren Geschlechtsfolge; die zu einem Staate gehörigen Individuen sind, wie die Stämme der alten Völker, alle Nachkommen derselben Eltern und miteinander blutsverwandt. Es kann uns also nicht Wunder nehmen, wenn unter ihnen freundschaftliche Beziehungen gepflegt werden, die gemeinsame Zwecke voraussetzen und die vor allen Dingen durch die gemeinsame Wohnung bedingt sind. Die Bienen-, Ameisen- und Termiten-Staaten mit ihren mannigfaltigen Gliederungen und den zahlreichen Formen ihrer Angehörigen beruhen auf gemeinschaftlicher Abstammung und gemeinsamer Wohnung – ohne die eine oder andere dieser Bedingungen sind sie überhaupt nicht denkbar.
Es sind nicht Verhältnisse dieser Art, welche ich hier in das Auge fasse. Wir begegnen im Thierreiche Freundschaften, welche weit über alle Verwandtschaftsgrade hinausgreifen und sich auch kaum auf Pflegung gemeinsamer Interessen erklären lassen. In vielen Fällen freilich liegen diese gemeinsamen Interessen offen da; man begreift leicht, weshalb das Rindvieh in Afrika den Madenhacker auf seinem Rücken umher spazieren und sogar mit dem scharfen Schnabel in das Fleisch einhacken läßt, ohne den Vogel mit seinem Schwanze zu scheuchen – er leistet dem unbehülflichen Vierfüßler den Dienst, die Larven der Biesfliegen, welche in den Schwären der Haut vom blutigen Eiter sich nähren, herauszugraben und so die Eiterbeulen zu heilen. Man begreift auch einseitige Verhältnisse, die bis zum Schmarotzerthume hinführen, in welchen der Mächtigere dem Schwächeren Wohnung und Nahrung gewährt, weil er in seiner Unbehülflichkeit Letzteren nicht abschütteln kann; ich werde wohl solche Verhältnisse in einem späteren Artikel zu berühren haben. Aber nur schwer läßt sich einsehen, warum der gefräßige Octopus, Dintenfisch oder Pulpe, der nach jedem Thiere, das ihm in die Nähe kommt, den mit hunderten von Saugnäpfen bewehrten Arm auswirft, warum dieser mit dem nicht minder räuberischen Meeraale (Conger) friedlich unter demselben Steine haust, ohne ihm etwas zu Leide zu thun, während jeder andere Fisch ihm als Beute gefällt. In einem unserer Aquarien zu Roscoff saßen zwei Pulpe, zwei Meeraale und etwa ein Dutzend Schleimfische (Blennius) zusammen – Letztere höchst lächerliche, naiv-dumme Bursche, mit weißen Schnurrbärten und steil abfallendem Schafbocksprofil, die auf ihren Brustflossen am Boden umherhüpften, wie Bachstelzen, und mit offenbarer Neugierde sich um jedes Neue in dem Aquarium sammelten. Die Pulpe saßen in zwei Ecken, pustend und wasserspeiend, indem ihre Kiemenhaut mit dem Trichter davor wie ein Blasbalg arbeitete; die goldgrünen Katzenaugen waren bis auf einen fast unsichtbaren Spalt zugekniffen, die acht langen mit Saugnäpfe besetzten Arme eingezogen. Die Schleimfische hüpften herbei, wie neugierig freche Sperlinge, sahen sich die lauernde Bestie an, stellten sich im Halbkreise auf und rückten mit einigen Sprüngen so lange näher, bis der Pulpe nach dem nächsten einen Arm auswarf. Entsetzt sprang dieser zurück, und der ganze Schwarm stob auseinander, um nach einiger Zeit das Spiel auf’s Neue zu beginnen. Bei Tage angelte der Pulpe vergebens; niemals erwischte er einen Schleimfisch. Aber bei Nacht mußte die Jagd erfolgreicher sein, denn an jedem Morgen constatirten wir eine Abnahme in der Zahl der Schleimfische. Während also hier offene Feindschaft herrschte, schwamm der Meeraal sorglos mit graziösen Schwingungen des Leibes heran und steckte seinen Kopf häufig unter den Leibessack oder sogar bis in die Athemhöhle des Pulpen hinein, ohne daß dieser die geringste Neigung gezeigt hätte, ihn festzuhalten und zu verspeisen. Während bei dem Annahen der Schleimfische der Pulpe sichtlich seine Farbe wechselte und die tückischen Augen in lebhafterem Glanze strahlten, brachte der Meeraal nicht die geringste Farbenveränderung hervor und die gefährlichen Arme wurden sogar in ihrer Stellung verrückt, wenn es dem Fische gefiel, den spitzen Kopf keilförmig unter sie einzudrängen. In der Nacht mußten ebenfalls unsere beiden Gesellen, der Fisch und das Weichthier, gute Freunde bleiben; die Schleimfische waren schon längst zu Grunde gegangen, als Pulpe und Meeraale noch friedlich beieinander hausten.
Aber es giebt noch engere Freundschaften zwischen noch weiter auseinanderstehenden Thieren, die, wie es scheint, nur auf einseitigem, materiellem Interesse beruhen, wo sogar der Stärkere den Schwächeren mit einer fast rührenden Sorgfalt pflegt und sich bemüht, ihm das Leben so viel wie möglich zu versüßen, obgleich dieser, so viel man ersehen kann, die vielfachen geleisteten Dienste in keiner Weise durch Gegendienste wett zu machen sucht. Ein solches Verhältniß will ich dem Leser vorführen.
Die Ebbe läßt bei dem Rückzuge der Gewässer zahlreiche Löcher, Tümpel und Gräben zurück, in welchen sich die Thiere sammeln, denen der Ausweg versperrt ist. Muscheln, Schnecken, Krabben, Ringelwürmer, Krebse treiben da ihr Wesen. Sobald der Tritt des Menschen aus der Ferne her sich empfinden läßt, wird Alles ruhig. Die Krebse huschen unter Tang und Steine; die Schnecken saugen sich fest; die Muscheln ziehen den Fuß ein; die Krabben wühlen sich in den Sand. Kommt man herzu, so liegen auf dem Boden nur einige scheinbar leere Schneckenschalen umher. Man bleibt still und bewegungslos am Rande des Tümpels stehen, scharf den Boden beobachtend. Da regt sich Etwas an einem Tritonshorn (Buccinum). Die Schale richtet sich auf und huscht mit einigen Schritten über den Boden hin. Eine zweite, eine dritte folgt mit gleichen Bewegungen, welche eher denen eines Laufkäfers, als einer träg hingleitenden Schnecke gleichen. Bald krabbelt es von allen Seiten, und nun sehen wir auch, daß aus den Schalen lange, fadenförmige Fühlhörner hervorstehen, daß zu beiden Seiten der Schalenöffnung mit spitzen Klauen bewaffnete Füße sich hervorstrecken und daß eine große Krebsscheere drohend vorgehalten wird, während die Schneckenschale sich weiter bewegt. Kein Zweifel mehr – unsere Schalen sind von den bekannten Eremitenkrebsen (Pagurus; französisch Bernard l’Ermite) bewohnt. Wir sammeln einige Dutzend, tragen sie nach Hause und setzen sie in ein Aquarium, um sie beobachten zu können. Bei recht reichlichem Wasserzufluß kann man sie lange am Leben erhalten. So lange man sie beunruhigt, bleiben sie in die Schale zurückgezogen, deren Oeffnung sie mit der einen vorgehaltenen Scheere vollständig verschließen – läßt man sie ruhig, so beginnen sie bald ihr emsiges Treiben.
Drollige, windschiefe, aber gewiß höchst intelligente Gesellen! Zuerst machen sie sich mit ihrem Gefängniß bekannt. Jede Ecke wird ausgekundschaftet, jeder Stein am Boden rundum mit den dunkelgrün glänzenden Stielaugen beguckt und mit den Fühlhörnern betastet. Unter keinen Umständen wird die nöthige Vorsicht außer Augen gelassen. Die Scheeren sind stets ungleich und verschieden groß; die kräftigere wird vorgehalten, zum Kneipen und Zwicken bereit, die kleinere zurückgebogen, um bei jeder drohenden Gefahr sogleich mit dem Kopfe und dem Vorderkörper in der Schale verschwinden zu können. Begegnen sich zwei Eremiten, so stutzen sie, springen zurück, setzen sich in Vertheidigungszustand, indem sie die Fühler zurückbiegen und die geöffnete Scheere vorhalten; meist zieht sich der Schwächere [417] zurück; oft weichen beide einander aus, zuweilen aber giebt es auch erbitterte Kämpfe, die mit der Flucht des einen oder selbst damit enden, daß der Stärkere den Schwächeren ergreift und ihn aus der Schale, die er bewohnt, herausreißt.
Papa Hesse in Brest, ein pensionirter Zollbeamter, der seine Mußestunden dem Studium der Meerthiere seiner Umgebung gewidmet hat, berichtet Wunderdinge über diese Kämpfe der Eremiten unter einander, über die Grausamkeit, mit welcher sie sich gegenseitig, besonders bei Nacht, aus den Schneckenschalen herauszureißen suchen. Es ist noch eine Streitfrage unter den Naturforschern, ob die Eremitenkrebse leere Schalen aufsuchen, deren Inhaber gestorben ist, oder ob sie den rechtmäßigen Besitzer noch beim Leben überfallen und fressen, um sich in seine Wohnung einzunisten. Denn eine Wohnung müssen sie haben, um den weichen, wurstförmigen Hinterleib darin zu bergen, der an dem gepanzerten, harten Vorderkörper fest sitzt. Es ist offenbar das Resultat einer langen, durch vielfache Generationsfolgen fortgesetzten Anpassung, daß dieser weiche Hinterleib, außer den fadenförmigen Eiträgern der Weibchen, auch noch einige umgewandelte Bauchfüße besitzt, womit sich der Krebs in der Schale festhält, und daß obenein der Hinterleib gekrümmt und unsymmetrisch ist, wie die Schneckenschale selbst. Papa Hesse hat beobachtet, wie ein Eremitenkrebs, der sein Gehäus verloren hatte, auf dasjenige eines anderen kletterte und, den günstigen Augenblick abpassend, seinen Hinterleib über den Körper des andern in die Oeffnung der Schale schob und so lange drängte und drückte, bis er den Vetter aus seiner Behausung hinausgeschoben hatte, mit der er dann triumphirend davon eilte, während der Exmittirte, offenbar in trübselige Gedanken versunken, auf dem Boden des Aquariums herumhumpelte und nach einer leer stehenden Wohnung suchte.
e. Mund der Adamsia, e1 geöffnet mit den entwickelten Fühlfäden, e2 geschlossen. f. Die Oeffnung der Schneckenschale.
Doch genug davon! Wenn ich diese Thatsachen anführte, so geschah es nur, um zu zeigen, daß die Eremiten durchaus nicht friedfertige, harmlose Gesellen sind, sondern Händelsucher und Ränkeschmiede, die einander grimmig befehden. Nichts desto weniger sind die Schneckengehäuse, in welchen sie wohnen und die sie beständig mit sich herumschleppen, meist dicht besetzt mit allerlei kleinem Gethier – zierlichen Polypen, niedlichen Moosthieren (Bryozoen), kleinen Meereicheln (Balanus), Schwämmen, die sich wahrscheinlich deshalb mit Vorliebe darauf ansiedeln, weil die beständige Unruhe der Eremiten, das Hin- und Herlaufen derselben lebhaftere Erneuerung des umspülenden Wassers und demnach größere Leichtigkeit der Ernährung und Athmung bedingt. Der Eremit kümmert sich aber wenig um diese Gäste, die auf seiner Behausung wachsen und gedeihen, etwa wie die Fettpflanzen auf dem Schindeldache der Sennhütte – er schleppt sie mit sich herum, ohne ihrer zu achten. Er ist sogar sehr nachsichtig gegen dieselben; es giebt eine Art gelber Schwämme, die zur Größe einer Faust heranwachsen und die Schneckenschale dergestalt umziehen, daß nur ein höchst kleines Loch für den Eremiten bleibt, von dem man kaum begreift, wie er die Last schleppen kann, die ihm so aufgebürdet wird – doch scheint er ganz zufrieden und niemals sieht man Beschädigungen, die er etwa dem Schwamme zugefügt haben könnte. So wenigstens bei denjenigen Eremitenkrebsen, welche am Strande und in geringer Tiefe leben. Aber es giebt besondere Arten, welche in Roscoff wenigstens das tiefe Wasser vorziehen und nur mit dem Schleppnetze heraufgebracht werden.
Wir haben einen Wurf gethan und kauern nun in Boote um den Haufen Sand, Trümmer und Schalen, den man aus dem Netze auf den Boden geleert hat.
„In diesem Gehäuse,“ sagt einer der jungen Leute, „sitzt ein Eremit; soll ich es nehmen?“
„Geben Sie!“
„Bitte um Erlaubniß – es ist etwas Schleimiges daran; ich will die Schale zuvor abputzen.“
„Warum nicht gar! Geben Sie das Ding mit dem Schleim her! Hier ist ein Glas.“
Der Student schüttelt den Kopf. Nach und nach fallen etwa ein Dutzend beschleimter, mit Eremiten besetzter Gehäuse in das Glas, das in den Korb gestellt und nicht weiter beachtet wird. Im Laboratorium angekommen, werden die Gläser unserem Freunde Lacaze-Duthiers, der an der Excursion nicht Theil genommen hat, vorgezeigt.
„Ah!“ ruft er, unsere beschleimten Gehäuse betrachtend, „ein schöner Fang! Lassen Sie das Glas ruhig stehen – nur bei vollkommener Ruhe entwickeln die Adamsien ihre Fühlfäden.“
„Wie,“ ruft der Student, „diese Schleimhaufen –“
„Sind eine schöne Actinie oder See-Anemone, lieber S., und wenn Sie sich Zeit gönnen wollen, so können Sie Zeuge von Freundschaftsäußerungen zwischen dem Eremiten und der Adamsia werden, die Sie gewiß nicht erwartet haben. Nehmen Sie aber gleich auch eine Lehre mit, junger Mann! Putzen Sie die aufgerafften Dinge erst ab, wenn sie stundenlang im Wasser gelegen haben. Was Ihnen im ersten Augenblicke als ein Schleimpfropf erscheint, entwickelt sich vielleicht zu einer niedlichen Nacktschnecke, einem prachtvollen Polypen oder einem seltenen Wurme. Vorsicht und Geduld lassen hundertmal mehr finden, als hastiges Gezappel.“
Man sehe sich die Figuren an! Fig. 1 und 2 stellen die Gesellschaft dar, während der Krebs umherläuft, von dem Rücken und von vorn her; in Fig. 3 sieht man die um das Schneckengehäuse zusammengezogene Adamsia, nachdem der Krebs entfernt worden ist.
Das Schneckengehäuse ist kaum noch sichtbar mit einzelnen [418] seiner Windungen. Auf seinem hinteren Ende haben sich Meereicheln angesiedelt, deren kegelförmige Gehäuse zum Theile leer, zum Theile aber mit den zwei Deckelstücken geschlossen sind, nachdem sich das Thier zurückgezogen hat. Nur eine Balane hat ihr Haus geöffnet und haut mit den rankenförmigen, feinen Füßen, die ziemlich hakenartig gebogen sind, heraus, um einen Strudel zu erregen und sich Wasser zuzuführen. Der Eremit streckt den schlanken, harten Vorderleib aus dem Gehäuse hervor; die haarförmigen Fühler weit vorgestreckt, die glänzenden Augen auf den Stielen nach vorn gerichtet, schreitet er hochbeinig wie auf Stelzen mittelst der Krallenfüße umher, die große rechte Scheere wie ein Schild vorhaltend, während die kleinere linke zurückgebogen ist und beim Gehen hilft. Von der Adamsia sieht man in der Rückenstellung (Fig. 1) nur die flügelförmigen Fußlappen, die um die letzte Windung des Schneckengehäuses herumgebogen sind und dasselbe fast gänzlich einhüllen. Betrachtet man aber den Krebs von vorn, so sieht man das weite, spaltförmige Maul der Adamsia unter der Brust des Eremiten weit geöffnet umgeben von einem Doppelkranze kurzer, milchweißer und halb durchsichtiger Fühlfäden, die langsam sich bewegen, eingezogen und wieder ausgestreckt werden. Der Körper der Adamsia, leicht orangegelb angehaucht, mit feinen, tief rosenrothen Tüpfeln, ist nur äußerst dünn – er scheint fast nur aus der weiten Magenhöhle zu bestehen und aus der platten Fußscheibe, die am Rande gekerbt ist und in zwei flügelförmige Lappen sich fortsetzt, welche die ganze Windung der Schnecke ringsum einhüllen, daß nach Entfernung des Krebses nur eine kleine, dreieckige Oeffnung bleibt (f). Berührt man die Adamsia mit einem Glasstabe, so zieht sie augenblicklich die Fühlfäden in den Mund hinein und schließt diesen fast vollkommen bis auf eine geringe Oeffnung (e2). Zugleich treten aus seinen Oeffnungen am Körper lange, herrlich violettblaue Fäden hervor, die von mikroskopischen Nesselkapseln starren und sich ringelnd, wie Würmchen, hin und her bewegen. Die Leibeshöhle der Adamsia scheint mit solchen Fäden gefüllt, die auch aus der Mundöffnung ausgespieen werden. Kurz, die Adamsia verräth das feinste Gefühl für fremde Berührung.
Wie ganz anders, wenn der Krebs mit seinen Scheeren oder Füßen die Adamsia berührt! Oft sieht es förmlich aus, als wolle er mit den langen, krummen Klauen ihr das Maul putzen; er gleitet damit auf und ab in der Mundöffnung, drückt mit der großen Scheere die Fühlfäden glatt, ohne daß die Adamsia nur daran dächte, dieselben einzuziehen oder das Maul zu schließen. Frißt der Krebs ein Stückchen Fleisch, so wird er nicht verfehlen, der Genossin ihr Theil anzubieten; verläßt er sein Gehäuse, das ihm zu eng geworden ist, um ein neues zu beziehen, so arbeitet er so lange am Fuße der Freundin herum, bis er diese losgelöst hat, worauf er das neue Haus herbeischleppt und schiebt und drängt, bis die Adamsia endlich ihre Stellung gefunden und sich in dieser befestigt hat. Diese Stellung ist aber unausweichlich dieselbe; noch nie hat man eine Adamsia auf der dem Rücken des Krebses entsprechenden Seite des Schneckenhauses gefunden, wo sich oft genug andere Meeranemonen (Actinien) ansiedeln; immer sitzt die Adamsia so, daß ihr bogenförmig geöffnetes Maul der Brustfläche des Krebses entspricht und direct unter dem Maule desselben sich hinzieht. Nähme sie eine andere Stellung ein, der Krebs würde nicht ruhen noch rasten, bis er sie an den gehörigen Platz gebracht hätte.
Gosse, ein ausgezeichneter englischer Beobachter, hat weitläufig die Art und Weise beschrieben, wie sich der Eremit beim Wohnungswechsel gegen seine Freundin benimmt. Ich habe diese Beobachtungen nicht wiederholen können; meine mit Adamsien copulirten Eremiten starben bald ab, wahrscheinlich, weil sie, aus großer Tiefe hervorgeholt, den veränderten Druck nicht zu erleiden vermochten, aber von der wirklich zärtlichen Sorgfalt, womit der Krebs seine Freundin behandelt, füttert und pflegt, von der Mühe, die er sich giebt, stelzbeinig einherzuschreiten, um sie nicht zu verletzen, kann sich Jeder leicht überzeugen, der die Thiere in einem Aquarium sieht. Von Gegendiensten, welche die Adamsia leisten könnte, läßt sich keine Spur entdecken – sie öffnet ihr Maul und schließt es, streckt die Fühlfäden aus und zieht sie ein, ganz wie andere Actinien auch thun, die nicht in dieser Weise gehätschelt und gepflegt werden.
So sind wir also im Unklaren über den Grund dieser Freundschaft, denn so intelligent die Einsiedlerkrebse auch sein mögen, so ist es doch kaum glaublich, daß sie bei Pflegung dieses Verhältnisses einzig dem dunkeln Drange der Zärtlichkeit, einem platonischen Bedürfnisse ihres liebenden Herzens Folge leisten. Ebenso wenig wissen wir über die Entstehung des Freundschaftsbundes. Noch Niemand hat eine Adamsia auf einem nicht von einen Eremiten bewohnten Schneckenhause gefunden; niemals hat man eine solche auf irgend einen andern Gegenstande gesehen; das Leben der Actinie scheint also gänzlich von demjenigen des Eremiten abzuhängen. Deshalb dürfte es aber auch kaum fraglich sein, daß das Bündniß in frühester Zeit geschlossen wird – vielleicht schon, wenn beide Genossen noch im Flügelkleide der ersten Jugend sich des Lebens und des freien Umherschwimmens im Wasser freuen. Wie dem auch sein mag (denn nur künftige Untersuchungen können darüber Aufschluß geben), so viel ist gewiß, daß Verhältnisse dieser und ähnlicher Art einen tiefen Einblick in das Geistesleben selbst niederer Thiere gewähren. Es läßt sich nicht leugnen, daß der Einsiedlerkrebs seiner Genossin herzlich zugethan ist, was ihr nützt, nach Kräften zu fördern, was ihr schadet, abzuwenden sucht – mögen auch die Gründe solchen Benehmens uns noch verborgen bleiben, die Thatsache selbst läßt sich nicht ableugnen.
Ebenso wenig läßt sich aber auch leugnen, daß die Eremitenkrebse zu der Zahl derjenigen vertrackten Gesellen gehören, die rauh, barsch und selbst grausam gegen ihres Gleichen, dagegen friedfertig, höflich, zuvorkommend und selbst liebevoll gegenüber Anderen sich benehmen. All’ das Gethier, das auf der Schneckenschale wohnt, welche der unrechtmäßige Besitzer hat, erfreut sich wenigstens seiner Duldung, von dem niederen Schwamme an, bis zu den höher organisirten Würmern und Meereicheln; mit dem eigenen Bruder oder Vetter dagegen lebt er stets auf dem Kriegsfuße und läßt keine Gelegenheit vorübergehen, ihn in Schaden zu bringen. Freilich mag es auch Augenblicke geben, wo die Liebe, nicht zu dem Nächsten, sondern zu der Nächsten die Oberhand gewinnt, aber gewiß sind diese nur kurz und schnell vorübergehend, da kein Beobachter sich rühmen kann, dieselben gesehen zu haben, wenn auch die Weibchen die Folgen solcher Liebesmomente nicht verbergen können.
„Die Mutter Gottes von Kevelaer trägt heute ihr bestes Kleid,“ sagte ich dem Dichter nach, als ich zum ersten Male die Straßen dieses kleinen, aber berühmten Ortes betrat, dessen Name durch das allbekannte rührende Gedichtchen Heine’s verherrlicht wird, und forschte vor Allem nach der Stätte des wunderthätigen Muttergottesbildes, das in meiner Phantasie als ein schönes Marmorbild in Goldbrocat und Edelsteingeschmeide auf reichgeschmücktem Altar glänzte. Daß sie gerade heute eines der schönsten Kleider ihrer Garderobe tragen würde, nahm ich als selbstverständlich an, da neben anderen zahlreichen Pilgerzügen auch die große Procession aus Amsterdam eingetroffen war mit ihrer alljährigen Spende der hundertpfündigen Riesenkerze und anderen werthvollen Gaben.
Ich ruderte mit dem Menschenstrome dessen Zielpunkte, dem Marktplatze, zu, wo die drei bis vier Kirchen, das Oratorianerkloster und die Capelle mit der Jungfrau sich befinden.
[419] Mein Herz klopfte in dem pietätvollen Bewußtsein, daß ich der durch den „Juden“ Heinrich Heine gefeierten Stätte, dem Mekka des niederrheinischen bigotten Katholicismus, nahe sei. Ich hegte vielleicht mehr Andacht in meinem evangelisch-lutherischen Herzen, als der Priester zeigte, welcher, nicht weit von mir eine Procession nach der Capelle am heiligen Baume ordnend, sich mit ein paar jungen Damen seiner Heerde freundlich scherzend unterhielt. So richtete ich denn meine Schritte nach der kleinen sechseckigen Capelle (Fig. 1) inmitten des Platzes, welche, umringt von inbrünstig betenden Gläubigen, mir offenbar als das Centrum des frommen Treibens, als die Kaaba der Pilgerkarawanen von Mekka-Kevelaer erschien.
Rings auf dem Marktplatze standen Buden, an welchen lebhafter Handel getrieben wurde. Namentlich ganz in der Nähe der kleinen Capelle bemerkte ich eine Anzahl niedriger Tische, hinter welchen meist bejahrte Händlerinnen Artikel von gelber Masse feilboten und vorzüglich mit den buntgekleideten Holländerinnen in ihren breitnäpfigen, weißen Hauben Geschäfte machten (Fig. 2 und 9). Ich trat herzu und erkannte in dem Waarenlager Lichte, Stäbe und andere eigenthümlich geformte Sächelchen von gelbem Wachs. Auf mein Befragen suchte mir die verwundert schauende Händlerin in plattdeutschem Kauderwelsch verständlich zu machen, daß diese Wachsartikel die kranken Körpertheile vorstellten, welche, von den Gebrechlichen der heiligen Jungfrau geopfert, sofort wunderbare Heilung erwirkten. – Denn:
„Wer eine Wachshand opfert,
Dem heilt an der Hand die Wund’;
Und wer einen Wachsfuß opfert,
Dem wird der Fuß gesund.“
Ich setzte mich in den Besitz eines Körpers für zehn Pfennige, von dem mir die Alte mit Wichtigkeit versicherte: „Dat’s vor’t janze Lichem“ (Das curirt den ganzen „Leichnam“). Mein Bemühen, an dem gelben Stäbchen, welches einer Miniaturfliegenklatsche glich, nur eine annähernde Aehnlichkeit mit dem menschlichen Körper zu entdecken, war vergeblich (Fig. 3).
Ich näherte mich nun dem offenen Eingange der schlichten Capelle mit rundem Kuppeldache und erblickte zunächst rechts der Thür im Innern einen – Kochapparat, bestehend aus einem Kessel mit flüssigem, dampfendem Wachs, auf einem Gestell, darinnen Kohlenfeuer knisterte. Dahinter stand ein kleiner, dicker, freundlicher Mann in schwarzer halbgeistlicher Kleidung, beschäftigt, den Wachsbrei zu rühren, von Dochtstückchen zu reinigen und von Zeit zu Zeit den Abraum an Händen, Beinen, Herzen und „janzen Lichem“, wie sie eben erst von den Hülfesuchenden drei Schritte weiter nach vorn auf der eisenbeschlagenen Fenstersohle vor dem Heiligenbilde, vertrauensvoll geopfert worden waren, zu sammeln und wieder zu profanem gelbem Wachs einzuschmelzen. Gewiß ein glattes, hübsches Geschäft: Production, Verkauf, Opferung, Einschmelzung, Wiederverkauf, Reproduction, Alles in Zeit von einem halben Tage zu ermöglichen.
Ich erfuhr später, daß dieses Wachsgeschäft, mit welchem das Kloster begnadet ist, ein sehr einträgliches sei. Es wird dies erklärlich, wenn man bedenkt, daß die alljährlich regelmäßig wiederkehrenden Wallfahrten Kerzen von zehn bis hundert Pfund darbringen. Diese Kerzen brennen nur sehr kurze Zeit in der dazu eingerichteten Kirche, nämlich während der Anwesenheit der wallfahrenden Gemeinde und ein paar Stunden am Allerseelen- oder Allerheiligentage, und fallen dann dem klösterlichen Siedekessel anheim, aus welchem sie theils als neue Kerzen und als zu opfernde Körpertheile auferstehen, um durch die Händlerinnen umgesetzt zu werden; anderntheils findet ihre Verwerthung als Rohmaterial statt.
Nachdem ich meine Betroffenheit über den Kochkessel an so geweihter Stelle überwunden, trat ich bescheidentlich ein, frug den Bruder Wachsschmelzer (Fig. 4), ob es erlaubt sei, das Muttergottesbild in der Nähe zu sehen, erhielt freundlich bejahende Antwort und schritt, seiner Handbewegung folgend, nach der dem Eingange entgegengesetzten Seite, den schreinartigen Kern der Capelle umgehend, um nun mit zwei Schritten dem gefeierten Muttergottesbilde mich gegenüber zu befinden. Zugleich trat ich in den Kreis der draußen vor der Fensteröffnung knieenden frommen Beter.
Ein eigenthümliches Gefühl beschlich mich, als ich mich vor das Idol schob und dieses in aufmerksamer Betrachtung wohl über eine Minute lang vor dem Anblick der Betenden deckte, gleich dem sonnenverfinsternden Monde. Wohl mögen sich in diesem Moment Verwünschungen auf mein langhaariges Ketzerhaupt unter die frommen Huldigungen gemischt haben. Ich hatte aber vorher meinen Pfennig in den großen Blechtrichter am Fenster rollen lassen und mir dadurch sicher Absolution für mein ketzerisches Beginnen erworben.
Der eben erwähnte Trichter von Kupferblech ist von innen und außen zugänglich; er nimmt in seiner weiten Mündung die Geldspenden der Gläubigen auf und führt sie hinab in den „Kasten“. Und sobald das Geld da „klingt“, weiht der Bruder Wachsschmelzer die ihm durch die Fensteröffnung von außen dargereichten Scapuliere und sonstigen Dinge, welche die Pilgrime ihren Angehörigen theils als Andenken, theils als Heilmittel mit in die Heimath nehmen, durch Berühren des Marienbildes und giebt sie dann dem Eigenthümer zurück.
Das Marienbild! – Wie hatte ich mir dieses ausgemalt, und wie fand ich es in Wirklichkeit!
„Unsere liebe Frau von Kevelaer“ ist keineswegs eine schöne Statuette, wie uns doch Paul Thumann’s reizendes Bild in der „Gartenlaube“ als Illustration zu dem Heine’schen Gedichte einreden wollte, sondern vielmehr ein kleiner, schlechter, altersbrauner Holzschnitt oder Kupferstich (Fig. 5) von kaum sechs Zoll in’s Geviert, in einfachem, wenn auch massivsilbernem, vergoldetem Rahmen; er ist an einem Heiligenhäuschen befestigt, welches von der kleinen, sechseckigen Capelle wie von einer Glocke oder einem Mantel überdeckt wird. Rings um das Bild hängt dessen Eingebrachtes an Ketten, Armbändern, Ringen, Uhren, Broschen, von Gold und Silber, neu und alt, schön und geschmacklos, schwer und leicht, wie es eben die Bittenden vermocht hatten, im Ganzen eine recht respectable Juwelier-Ausstellung repräsentirend, im bunten Durcheinander.
Das also war das berühmte Muttergottesbild, das seine Wohnung!? Dieses braune Papierchen mit der plumpen Zeichnung hatte sich das große Kloster, die drei bis vier schönen Kirchen gegründet, zog und zieht jährlich eine Völkerwanderung hülfe- (öfter auch abenteuer-) suchender Menschenkinder aus der nahen und fernen Umgegend herbei und bereichert den Säckel der Brüder Oratorianer in enormer Weise.
Etwas enttäuscht, zog ich mich zurück, dankte im Vorbeigehen dem freundlichen, rührenden Wachsbruder und enthob der Stätte frommen Wunderglaubens (Fig. 6) den ketzerischen Beobachter.
Ich wandte mich dem untrennbaren Zubehöre des Madonnenbildes, den Verkaufsbuden, zu, welche in großer Zahl die Capelle umgeben. Da waren zu haben allerhand kurze Waaren, Bildnisse und Backwerk, Schnupftabaksdosen und Kinderklappern, Rosenkränze und Scapuliere aller Gattungen, Medaillen und Kreuze von Gold und Blech, Alles mit dem Madonnenbilde, Madonnen von Metall und Holz, Wachs, Seife, Papier und – Pfefferkuchen, Madonnen für das Herz, für die Nase und für den Magen.
Unter unseren Abbildungen befindet sich ein Band mit zwei Tuchläppchen (Fig. 7). Es ist dies ein an dem Marienbilde geweihtes Scapulier, das gegen Alles hilft, wenn es so um den Hals getragen wird, daß das eine Läppchen in der Herzgrube, das andere zwischen den Schultern zu liegen kommt. Dabei sind aber täglich dreißig Rosenkränze und sechszig Ave abzubeten. Japanische Gebetableiermaschinen waren leider nicht zu bekommen.
Bald hatte ich die Taschen voller Firlefanz der auserlesensten Art und wandelte nun in der heitersten Stimmung dem Kloster zu, welches mit seiner stattlichen Fronte die eine Seite des Marktes begrenzt und den vollen Ueberblick über den Platz gestattet, als mich, wie ein Blitz aus hellem Himmel, der auf mich gerichtete bannstrahlende Blick zweier Ordensbrüder traf (Fig. 8), welche müßig in der Hausthür des Klosters lehnten und hinter dem harmlos lächelnden Ausdrucke meines Antlitzes wohl etwas wie Ketzerironie gewittert, mich wohl auch wer weiß wie lange schon beobachtet haben mochten. Es war dies wohl möglich, da mittlerweile sich die Pilgerschaaren auf dem Platze etwas gelichtet hatten. Jener Blick aber, eine schöne Mischung von Gift, Spott, Stolz und Verachtung, verdarb mir für einen Moment meine gute Laune und wird mir unvergeßlich bleiben.
Ich bemerkte noch, wie der eine der Mönche, mit dem Kopfe
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nach der Richtung deutend, wo ich stand, ein paar Jungen instruirte, welche später öfter in meiner Nähe sich befanden, und konnte nun neben dem Scharfblicke auch die Vorsicht der frommen Brüder bewundern. Vor diesem Beobachtungsposten glaubte ich mich vorerst nach einer anderen Himmelsrichtung zurückziehen zu dürfen und lenkte meine Schritte nach der „großen Capelle“, welche an der dem Kloster entgegengesetzten Seite des Marktes steht und hauptsächlich dazu dient, die großen und schweren Kerzen der wallfahrenden Gemeinden, von denen jede eine solche spendet, aufzunehmen. Rings an den Wänden des Schiffes sind sie da der Reihe nach an ihren bestimmten Plätzen befestigt, über jeder ein Täfelchen mit dem Namen der Gemeinde. Da brannte der hundertpfündige Koloß von Amsterdam; da waren Nymwegen, Arnheim, Roermonde, Cöln, Bonn, Düsseldorf, Crefeld, Geldern, Cleve, Goch, Moers, kurz, die ganze rheinische und holländische Nachbarschaft, auch zum Theil recht entfernte Orte vertreten, und schon manches Kilogramm des kostbaren Wachses, zu glänzend weißen Masten geformt, manche davon mit buntem Flitterwerk geziert, manche bis fünfzehn Centimeter stark und stockwerkhoch, prangte da in blendender Reinheit.
Sonst noch besonders Bemerkenswerthes fiel mir dort nicht auf; ich ermuthigte mich daher zu einem Besuche der von schönem rothem Sandstein in gothischem Stile neu erbauten Klosterkirche. Die Cerberusse waren augenblicklich außer Sicht, und ich fand unbehindert Eintritt. Eine Tafel an der einen Wand des Vorhauses meldete, daß der daneben befindliche Klingelzug den Pater Bonifacius oder Urban zur Beichte herbeirufe, für die Holländer mit den Worten: „hier beld men de biechtvaders“. „O rühre nicht daran!“ dachte ich im Vorbeigehen und trat in die geräumigen Hallen ein. Hier befremdete mich ein halblautes, dumpfes, eintöniges Murmeln, welches, wie ich wahrnahm, keineswegs von einem messelesenden Priester herrührte, sondern von den Beichtstühlen kam, die in großer Anzahl längs den Wänden standen. Im Nähertreten verdichtete sich mir das Murmeln zu Worten und Sätzen und namentlich aus dem einen Beichtstuhle, dessen Insassen sich einander jedenfalls schwer verständlich machen konnten, erschallten die abgebrochenen Sätze des Bekenntnisses in erschreckender Vernehmlichkeit.
An dem Sims der Stühle waren die Namen der zugehörigen „biechtvaders“ schwarz auf weiß zu lesen, und alle waren besetzt. Es gab heut viel zu thun.
Mir wurde es unheimlich zu Muthe. Zu discret, um mir wer weiß was für wichtige Geheimnisse aufdrängen zu lassen, suchte ich wieder blauen Himmel über mir und sah ihn im Heraustreten einer Procession zulächeln, welche sich soeben ordnete, nun nach dem Kruisboom (Kreuzbaum) vor dem Orte zu ziehen, einer Linde, wenn ich nicht irre, unter welcher ein großes Crucifix und neben welcher eine Capelle steht. Ich ließ den Zug, bestehend aus meist jüngeren Leuten beiderlei Geschlechts, unter Führung des zu Anfang dieser Zeilen erwähnten freundlichen Priesters, defiliren mit seinen Fahnen und Meßgewändern und folgte in einiger Entfernung demselben, der sich im Rhythmus einer ziemlich lebhaft gesungenen Hymne an die Maria, im zweiviertel Tact rasch fortbewegte (Figur 10).
„Da sollen Sie erst einmal sehen, in welcher Gangart die ‚Springer‘ dem Baume zuhüpfen, immer zwei Schritte vor, [422] einen zurück, und was für eigenthümliche Lieder die singen!“ sagte mir ein jovialer Mann, als ich im Vorübergehen in eine Restauration trat, um meine lechzende Zunge zu erfrischen, und dem zuvorkommend Grüßenden meine Verwunderung über das rasche Tempo der Wallenden aussprach.
Ich kam gerade noch am Kreuzbaum an, als die Procession zu wiederholtem Male die Capelle umzogen hatte und einige der Pilger sich halblaut darüber stritten, ob man zum zweiten oder dritten Male „herum“ sei.
Nach einem Gebete vor dem Crucifixe und in der Capelle zog die Schaar dann ihrer Heimath zu, ich aber begab mich auf den Rückweg zum Innern des Städtchens, welches übrigens, reinlich und sauber gebaut und gehalten, mit seinen meist kleinen, bunten Backsteinhäusern, deren oft verschnörkelte Giebelseiten der Straße zugewandt und deren Fenster von quadratischer Form sind, vollständig holländischen Typus zeigt.
Auf dem Markte wieder angelangt, fiel mir dort ein Verkaufsladen im Erdgeschosse eines Hauses in’s Auge, welcher wirklich künstlerisch schöne Christus-, Marien- und Heiligenbilder von Marmor, Gyps und anderem Materiale enthielt und durch seinen werthvollen Inhalt erfreulich abstach gegen den übrigen Krimskrams ringsumher. Lange fesselten mich und wenige andere Beschauer die schönen Statuen. Drüben aber drängte sich die fromme Schaar um die papierene Mutter Gottes.
Noch hatte ich eine Kirche zu besuchen, an welcher mich mein Weg nach dem Bahnhofe vorbeiführte und in welcher die Pilger ihr letztes Gebet vor dem Heimwege zu verrichten pflegen.
Auf dem Vorplatze steht imponirend über einem Altare eine Gruppe lebensgroßer, recht schön gearbeiteter Figuren, wenn ich mich recht erinnere, die Kreuzigung darstellend; vor ihr lagen Pilger in brünstiger Verehrung. Unter ihnen fiel mir eine Frau auf, welche knieend ihr Gebet verrichtete, jedoch nicht, wie die Anderen, mit gefalteten Händen, sondern mit emporgehobenen, ausgebreiteten Armen und ausgespreizten Fingern. (Figur 11.) Ich fand sie noch in derselben Stellung, als ich nach zehn Minuten wieder aus der Kirche heraustrat.
Letztere ist eine neue, freundliche geräumige Capelle mit zwei schön decorirten Altären, auf deren einem eine Marien-Statue steht, welche dem Thumann’schen Bildchen eher zum Originale gedient haben könnte, als das Idol in der sechseckigen kleinen Capelle.
Vor dem Orte setzten sich die großen, überdeckten zweiräderigen, aber stets nur einspännigen Karren (Figur 12) eines Wallfahrerzuges von einigen Hundert Personen in Bewegung, um den Rückweg anzutreten, die Männer alle baarhäuptig, die meisten in blauen Kitteln und schweren Holzschuhen.
Mich aber führte das Dampfroß von hinnen, nachdem ich noch Gelegenheit gehabt hatte, mich in den Besitz einer kleinen Broschüre zu setzen, betitelt: „Kurze Geschichte des Herzogthums Geldern für Schule und Haus“, aus welcher ich folgende Zeilen excerpire, weil sie einige historische Data enthalten über unsere liebe Frau von Kevelaer:
„Im Jahre 1641 lebte zu Geldern ein unbemittelter Bürger, Namens Heinrich Buschmann, der sich und seine Frau durch einen kleinen Handel nährte und dabei fromm und tugendhaft war. Dieser baute, einer höheren Eingebung folgend, von seinen geringen Ersparnissen ein Heiligenhäuschen zu Kevelaer, in das er am 1. Juni 1642 in aller Stille ein unscheinbares Bildchen der heiligen Jungfrau Maria stellte. Dieses war eine Abbildung eines zu Luxemburg verehrten Muttergottesbildes, welches durch einen Soldaten nach Geldern gebracht und der Frau H. Buschmann geschenkt worden war. – Gott wählt nun oft das Kleine und Unscheinbare, um Großes zu vollbringen; denn schon am selben Tage strömte eine Menge Menschen aus Geldern und der Umgegend herbei, um in dem kleinen und unscheinbaren Bilde die Mutter des Heilandes zu verehren und von ihr Gnade und Hülfe zu erflehen. Bald war der Zudrang so groß, daß bei dem Heiligenhäuschen eine größere Kirche gebaut werden mußte; schon am 22. October 1643 ward der Grundstein gelegt und die Kirche innerhalb zweier Jahre vollendet. Die Sorge für die Pilger ward denn Oratorium aus der Congregation des H. Philipp Neri übertragen und das Kloster von ihnen am 15. Juni 1647 bezogen. Um das Heiligenhäuschen bauten 1654 die Oratorianer die jetzige sechseckige Capelle, und 1664 ließen zwei fromme Männer das Bildchen in einen silbernen, vergoldeten Rahmen einfassen, wozu später noch der Reichsgraf von Oettingen eine große silberne, vergoldete Platte schenkte.
Mit der Zeit wurde die Menge der herbeiströmenden Pilger immer größer, und mochte wohl kein Jahr vergangen sein, wo die Zahl derselben nicht 100,000 überstieg. Auch Personen von hohem und erhabenem Stande kamen nach Kevelaer. So besuchte 1714 König Friedrich Wilhelm der Erste unerwartet diesen Wallfahrtsort; er durchwanderte die Capelle, betrachtete mit Ehrfurcht das Gnadenbild, erkundigte sich nach den geschehenen Wundern, begehrte Rosenkränze und opferte eine Wachskerze; auch forderte er den Superior der Oratorianer auf, daß er eine Gnade erbitten möge. Dieser sprach den Wunsch aus, Se. Majestät möge geruhen, die Verehrung der allerseligsten Jungfrau und alle katholischen Religionsübungen zu schützen und zu begünstigen. Der König versprach dieses sogleich mit den Worten: ‚Ich werde sie schützen, begünstigen, erhalten.‘ – Der König schickte auch 1728 eine Wachskerze von fünfzig Pfund und besuchte 1738 wiederholt Kevelaer.
Gott verherrlichte Kevelaer durch viele Wunder. Bis auf den heutigen Tag ist es ein Ort der Gnade nicht nur für die Umgegend, sondern für weitere Kreise.“ – Namentlich für die Herren Oratorianer, welche sich dort ansiedelten, wollen wir hinzusetzen.
„Meine Nerven, meine Nerven! Ach, wenn ich doch keine Nerven hätte!“ Wie oft hört man diese Klage und diesen Wunsch aussprechen, der sich jedoch glücklicher Weise nie erfüllt, denn besser schlechte Nerven als keine – man müßte denn ganz und gar auf seine Existenz verzichten. All unser Denken, Fühlen und Wollen kommt nur vermittelst der Thätigkeit des Gehirns zu Stande, und diese gelangt zu selbstständiger Entwickelung nur durch die Nerven, welche die Vermittelung zwischen dem Gehirne und der Außenwelt bilden und ihm die zur Erweckung seiner Thätigkeit nöthigen Reize zuführen. Ohne Nerven wären wir gedanken- und gefühllose Materie. Leider aber functionirt der wunderbare Apparat, den wir Nervensystem nennen, in Folge krankhafter Vorgänge bisweilen sehr unregelmäßig, und es tritt dann u. A. auch jener Leidenszustand ein, für welchen man noch keinen besseren Namen, als krankhafte Nervosität, Nervenschwäche und dergleichen gefunden hat. Wir beabsichtigen, hier die Erscheinungen, die Ursachen und die Mittel zur Heilung dieses Leidens zu besprechen. Es dürfte dies um so mehr an der Zeit sein, als die Nervosität zu den großen Plagen unseres Zeitalters gehört, in zunehmender Häufigkeit auftritt, das Glück nicht nur der Kranken, sondern auch ihrer Familien dauernd und empfindlich stört und leider nur selten mit den richtigen Mitteln energisch bekämpft wird.
Die an Nervosität Leidenden gehören zu denjenigen Kranken, welche der größten Theilnahme bedürftig sind und doch leider dieselbe meist in viel geringerem Maße finden als andere Kranke. Die meisten Menschen, welche sich eines gesunden Nervensystems erfreuen, wollen dem Leiden des nervösen Patienten gar nicht die Berechtigung einer eigentlichen Krankheit zugestehen; sie halten seine Klagen für Uebertreibung kleiner Uebel und meinen wohl gar, der Kranke finde eine Art von Vergnügen darin, seine Umgebung damit zu langweilen und zu quälen, während doch die Leiden, über welche er klagt, wirkliche und oft recht schwer zu tragende sind, wenn auch Uebertreibung und Mangel an Geduld oft mit unterläuft.
In der bei weitem großen Mehrzahl der hierher gehörigen Fälle sind die Leidenden weiblichen Geschlechts, weshalb in diesen Zeilen von Patientinnen die Rede sein soll. Freilich giebt es [423] auch nicht wenig nervöse Männer, für die das Meiste gleichfalls gilt, was hier von der Nervosität gesagt werden wird.
Die Erscheinungen, in welchen sich die krankhafte Nervosität ausspricht, sind so mannigfaltig, daß auch auf die allernervöseste Dame nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil derselben kommt, aber jede nervöse Patientin kann in der nachfolgenden Darstellung ihren Theil herausfinden.
Fast alle nervöse Kranken leiden an gesteigerter Empfindlichkeit und an Schmerzen der verschiedensten Art. Am häufigsten sind Kopf- und Rückenschmerzen. Auch kolikartige Leibschmerzen sowie Schmerzen in den Gelenken, besonders im Hüft- und Kniegelenk, sind nicht selten. Die Sinnesnerven, und zwar am häufigsten die des Gehörorgans, nehmen sehr oft Theil an der erhöhten Reizbarkeit der übrigen Nerven und entwickeln dann manchmal eine erstaunliche Schärfe der Wahrnehmung, die stets für die Kranke peinlich ist.
Sehr mannigfaltig sind auch die Krankheitserscheinungen im Bereiche der Bewegungsnerven, und zwar nach beiden Extremen hin. Einerseits findet man oft einen wahren Widerwillen gegen alle Bewegung, welcher schließlich so weit geht, daß die Kranken das Bett nicht verlassen, ja nicht einmal die Hand zum Munde führen mögen, so daß sie gefüttert werden müssen. Es ist dies die Folge der bei Nervösen so häufig vorkommenden Hemmung des Willenseinflusses auf die Bewegungsnerven. Wird durch einen starken psychischen Einfluß, wie Schreck oder Furcht, der Wille plötzlich gewaltsam angeregt, so können die scheinbar ganz gelähmten Kranken oft alle Bewegungen, zu denen sie vorher unfähig waren, ungehindert ausführen. Es fehlt nicht an Beispielen, daß solche Kranke, die monate- und jahrelang gelähmt im Bette lagen, durch eine plötzlich eintretende Gefahr, z. B. bei einer Feuersbrunst, für den Augenblick so schnell von ihrer Lähmung befreit wurden, daß sie behende aus dem Bette sprangen und auf und davon liefen. Man würde diesen Kranken sehr unrecht thun, wenn man ihre Lähmung für Verstellung hielte. – Andererseits kommen die verschiedenartigsten Krampfzufälle vor. Am häufigsten sind Convulsionen der Arme und Beine, Zittern der Glieder und des ganzen Körpers, Schluchzen, krampfhaftes, unzähliges Wiederholen einzelner Worte und dergleichen mehr. Diese Symptome tretet bald ohne bemerkbare Veranlassung, bald auf den unbedeutendsten Anlaß hin ein; oft genügt dazu schon die leichteste ärgerliche Erregung, das Hören eines unangehmen Geräusches.
In der Verdauungssphäre kommen gleichfalls mancherlei Störungen vor, die theils auf krampfhaften Zusammenziehungen der Muskelfasern in der Speiseröhre und im Darmcanal beruhen, theils auf fehlerhafter Function der Darm- und Magendrüsen. In ersterer Beziehung ist die Empfindung eines im Halse steckenden Pflockes (globus hystericus) zu erwähnen, in letzterer Appetitlosigkeit, unregelmäßige Ausleerung und namentlich Ansammlung von Gasen, die oft einen sehr hohen Grad erreicht.
Die Theilnahme der Athmungsorgane an dem allgemeinen Leiden zeigt sich durch beschleunigtes Athmen, Erstickungsgefühl, Lach- und Weinkrämpfe, peinlichen nervösen Husten und ähnliche Zufälle.
Wir schließen unsere des beschränkten Raumes wegen nicht bis in alle Einzelheiten ausgeführte Darstellung des Krankheitsbildes, indem wir die wichtigste Symptomengruppe der Nervosität, nämlich die Beeinträchtigung der psychischen Functionen, etwas näher besprechen. Fast ausnahmslos leidet das Willensvermögen. Mehr als andere Kranke sind die nervös Kranken geneigt, sich widerstandslos ihrem Kranksein hinzugeben. Die wenigen noch vorhandenen Willensäußerungen sind fast nur negativer Art. Selten heißt es: „ich will“, um so öfter: „ich will nicht“. „Raffe dich auf, nimm dich zusammen!“ mahnt die Umgebung, mahnt der Arzt. Doch. „Ich möchte ja so gern, aber ich kann nicht!“ ist die Antwort. Aber nicht nur der Wille in seiner allgemeinen psychischen (moralischen) Beziehung ist geschwächt, sondern auch sein Einfluß auf die der willkürlichen Bewegung dienenden Nerven. Daher jene Abneigung der Nervösen gegen alle körperliche Bewegung und gegen jede mit letzterer verbundene Beschäftigung.
Die Intelligenz wird durch das nervöse Kranksein selten direct gestört. Mittelbar aber leidet sie insofern sehr oft, als die Patientin aufhört, außer dem, was ihren Zustand betrifft, noch geistige Interessen zu hegen, um so unerschöpflicher sind die Kranken im Grübeln über ihre Leiden und in der Beschreibung derselben. Bewegen sich die Gedanken lange Zeit ausschließlich in einem so eng beschränkten Kreise, so ist eine gewisse geistige Verödung die natürliche Folge. Kommen dagegen wieder andere Interessen zum Vorschein, so ist dies eines der willkommensten Zeichen eintretender Genesung.
Ebenso regelmäßig wie das Willensvermögen der Nervösen leidet auch das Gemüth. Das ist in so hohem Grade der Fall, daß oft eine durch die Krankheit bedingte völlige Auswechselung der Persönlichkeit vorzuliegen scheint. Diese Auswechselung erfolgt, wie bekannt, nie nach der vortheilhaften Seite hin. Im Anfang der Krankheit zeigt sich Reizbarkeit, Neigung zu übler Laune, unmotivirter und rascher Wechsel zwischen trauriger und heiterer Stimmung, Abneigung gegen die gewohnten Beschäftigungen. Die Reizbarkeit nimmt mehr und mehr zu; die üble Laune wird vorherrschend und geht in tiefen Mißmuth über. Die Kranke beschäftigt sich fast ausschließlich mit ihrer Krankheit und giebt sich in Bezug auf dieselbe den trübsten hoffnungslosen Gedanken hin. Das Bedürfniß, der peinlichen, gedrückten Stimmung Luft zu machen durch Aussprechen gegen Andere und bei ihnen Theilnahme und Trost zu finden, ist fast allezeit vorhanden. Leider aber werden die Angehörigen der Kranken gegen die immer wiederkehrenden Klagen mit der Zeit gewöhnlich gleichgültig und selbst ungeduldig, und so tritt zu den wirklichen Leiden der Nervöskranken auch noch das bitter verletzende Gefühl, bei ihrer Umgebung keine Theilnahme zu finden, und regt die Kranke immer zu neuen Klagen an, womit sie das Interesse ihrer Umgebung zu gewinnen wünscht, und hier finden wir auch das leicht erklärliche und entschuldbare Motiv zu den Uebertreibungen, denen sich manche Kranke schuldig machen. Aus dem brennenden Wunsche, Mitleid und Interesse zu erwecken, gehen bisweilen die wunderlichsten Ausschreitungen hervor. Man hat hochnervöse Kranke beobachtet, welche sich insgeheim schmerzhafte Verwundungen beigebracht haben, lediglich aus dem genannten Motiv.
Zu jener tiefen, oft an wahre Melancholie grenzenden Verstimmung gesellen sich oft noch andere Symptome, aus denen auf Störung der Gehirnthätigkeit zu schließen ist. Dazu gehören Schwindelanfälle, Schlaflosigkeit, Schlafsucht und Hallucinationen (Sinnestäuschungen). Der Kranke glaubt Dinge wahrzunehmen, welche nicht existiren; er empfindet Gerüche, sieht Gestalten, hört Geräusche, die für andere Menschen nicht wahrnehmbar sind. Auch dürfen wir nicht unerwähnt lassen, daß Nervöskranke bisweilen äußerst lebhaft und zusammenhängend träumen, im Schlaf aufstehen, gewohnte Verrichtungen ausführen und laut sprechen. Man nennt diesen Zustand bekanntlich Somnambulismus. Die Somnambulen kann man in ehrliche und unehrliche eintheilen. Die ersteren sagen und thun nichts weiter, als wozu sie im wachen Zustande auch befähigt sind. Die letzteren dagegen produciren sich als „hellsehende“, mit besonderen Fähigkeiten extra begabte Wesen, die im Schlaf Anschauung und Kenntniß von Dingen haben, welche im wachen Zustande ihrer Erkenntniß nicht zugängig sind. Diese Kategorie der Somnambulen, ohne alle Abnahme, geht auf bewußte Täuschung aus, und zwar in der Regel aus dem stillen, aber dringenden Wunsche, sich interessant zu machen. Bis jetzt ist es noch in jedem Falle solcher wunderbaren schlafkünstlerischen Productionen, wo eine sachverständige und scharfsinnige Kritik die Sache näher untersuchte, gelungen, die geplante Täuschung nachzuweisen.
Die mit der Nervosität verbundene Schädigung der psychischen Functionen bildet die wichtigste und bedenklichste Seite der Krankheit. Alle andern Symptome derselben, so peinlich sie sein mögen, bringen sehr selten eine unmittelbare Gefahr mit sich. Wohl aber liegt in weit entwickelten Krankheitsfällen die Möglichkeit vor, daß das psychische Leiden sich zu einem selbständigen, zu einer eigentlichen Gemüthskrankheit entwickeln werde.
So mannigfache Leiden, wie die der eben beschriebenen Krankheit zu schildern, erfordert etwas reichlichen Aufwand von dunkeln Farben. Dafür aber sollen diejenigen Leser, die im Vorstehenden das Spiegelbild ihrer Leiden erblickt haben, am Schluß dieser Mittheilungen das finden, wonach ihr Herz sich so sehr sehnt: Trost und Hoffnung, Hoffnung darauf, den rechten [424] Weg zu finden aus dem Labyrinth ihres vielgestaltigen Leidens. Doch bevor wir die Mittel zur Bekämpfung der Krankheit besprechen, ist es in der Ordnung, die Ursachen derselben kennen zu lernen.
Noch vor wenigen Decennien pflegte die Heilwissenschaft die krankhafte Nervosität schlechthin als das Product einer allgemeinen Functionsstörung der Nerven zu betrachten, womit genau dasselbe gesagt ist, als wenn man die Functionsstörung der Nerven als das Product der krankhaften Nervosität ansieht. Dieser vagen Anschauung entsprach die Behandlung. Man hatte ein reiches Arsenal von „Nervenmitteln“, wie Baldrian Asa fötida, Kampher, Castoreum etc. Diese Mittel vermögen allerdings einzelne nervöse Beschwerden vorübergehend zu mildern, aber eine Heilung der Krankheit selbst ist durch sie wohl schwerlich jemals herbeigeführt worden. Die naturwissenschaftliche Methode, welcher die neuere Medicin folgt, begnügt sich nicht mit allgemeinen Begriffen und Phrasen, sie sucht auf dem Wege der exacten Untersuchung dem Wesen der Krankheit zu Leibe zu gehen. Nicht nur unsere Erkenntniß der Krankheiten ist dadurch wesentlich gefördert worden, sondern auch unsere Fähigkeit, dieselben zu heilen, wenn auch der weiteren Forschung und Erfahrung noch sehr viel zu thun übrig bleibt. Gewiß ist, daß der krankhaften Nervosität stets eine materielle Veränderung in der Substanz der Nerven oder des Gehirns oder des Rückenmarks – oft bei allen dreien zugleich – zu Grunde liegt. Wie diese krankhaften Veränderungen zu Stande kommen, ist noch nicht genügend erforscht worden.
Ohne Zweifel haben wir es am häufigsten mit Störungen in der Ernährung der Nervensubstanz zu thun. Die Nerven, das Hirn und das Rückenmark bedürfen, um gehörig functioniren zu können, des ununterbrochenen gesunden Stoffwechsels ebenso sehr wie alle anderen Organe. Besitzt das Blut nicht seine normalen Mischungsverhältnisse, wie z. B. in der Bleichsucht, so wird der normale Stoffwechsel im Gehirne und in den Nerven und hiermit die Function dieser Organe beeinträchtigt. Wir sehen daher die krankhafte Nervosität entstehen in Folge der verschiedensten Momente, welche eine Verschlechterung des Blutes bedingen, z. B. durch Mangel an Bewegung im Freien, längeren Aufenthalt in (besonders durch Kohlensäure) verdorbener Luft, fehlerhafte Diät und dergleichen mehr. Andererseits werden Erkrankungen der Nerven durch Ursachen erzeugt, die ohne Zweifel gleichfalls krankhafte Verändernden in den stofflichen Verhältnissen der Nerven bewirken, während das Zustandekommen dieser Veränderungen weit schwieriger zu erklären ist, als bei den einfachen Ernährungsstörungen. Dahin gehören die nervösen Ueberreizungen und gewisse psychische Einflüsse. Von ersteren sind die sexuellen Ueberreizungen als sehr häufige und gefährliche Ursachen der Nervosität zu nennen; ferner zu große geistige Anstrengungen, besonders im Kindesalter, und der häufige Genuß aufregender Vergnügungen, namentlich wenn diese bis spät in die Nacht hinein dauern. Auch übermäßig betriebene Clavierübungen, wie sie große und kleine Wunderkinder, und die es werden wollen, sich auferlegen, sind hier zu nennen. Die musikalischen Conservatorien zu X. und Y. haben dem Verfasser schon manchen Patienten mit recht schweren Formen der Nervosität geliefert. Die krankmachenden psychischen Einflüsse werden wir näher besprechen.
Erwähnen wir jedoch hier, abgesondert von den anderen Ursachen, einen oft vorkommenden Krankheitszustand, der in der Regel mit beträchtlichen nervösen Störungen verbunden ist. Wir meinen die bei so vielen Patientinnen vorkommenden Lage- und Texturveränderungen gewisser Unterleibsorgane. In allen Fällen, wo eine Vermuthung hierfür vorliegt, säume man nicht, den Rath eines tüchtigen Facharztes (Gynäkologen) in Anspruch zu nehmen, was an dieser Stelle gesagt sein möge, um im weiteren Verlaufe dieser Mittheilungen eine unliebsame Wiederholung zu vermeiden.
Von der größten Bedeutung sind die mannigfachen ursächlichen Momente, welche schon in der Kindheit den Keim zur Entstehung der Nervosität legen. Es ist kaum glaublich, wie so manche Eltern geradezu darauf auszugehen scheinen, ihre geliebten Sprößlinge nach Möglichkeit reif und empfänglich für den Complex von Plagen, den wir Nervosität nennen, zu machen und sie einem an den besten Freuden armen Leben entgegen zu führen. Hier setzt ein unverständiger Vater sein achtjähriges Töchterchen, das soeben mit müdem Rücken von dreistündigem Sitzen auf der harten Schulbank und in der kohlensäurereichen Luft der Schulstube nach Hause kommt, noch eine volle Stunde an das siebenoctavige Marterholz, statt den armen Wurm hinaus in Gottes freie Luft zu schicken, damit die steif gesessenen Glieder sich wieder rühren und die kleine Brust wieder den frischen Lebensbalsam einathmen könne. Dort sehen wir eine thörichte Mutter, welche ihrem Kinde bei Zeiten maßlose Ansprüche einimpft, welche das Leben nie erfüllen wird. Wenn irgend möglich, wird jedem noch so unvernünftigen Wunsche des Kindes gefröhnt, und wo dies nicht möglich ist, wird es bedauert und vertröstet. Das arme Kind wird blasirt, noch ehe es die Kinderschuhe ausgezogen hat, und den Blüthen und Früchten, welche ihm das Leben bieten wird, im Voraus der Duft und Geschmack genommen. Während der oben genannte strafwürdige Vater sich ein bleichsüchtiges, energieloses Wesen großzieht, ist es hier die unvernünftige Mutter, welche ihr Kind verhindert, entsagen zu lernen und seine Willenskraft zu üben. Denn der Eigensinn, welchen sie ihrem Kinde anerzieht, ist von Willenskraft so verschieden, wie die Verneinung von der Bejahung, wie das Mundverziehen des von Leibweh geplagten Säuglings von dem glücklichen Lächeln des sich freuenden gesunden Kindes. Wir haben oben die Schwächung des Willens als ein wichtiges und charakteristisches Symptom der Nervosität angegeben. Es leuchtet ein, wie sehr dieser Krankheit durch eine verweichlichende und verwöhnende Erziehung vorgearbeitet wird, welche schon an und für sich, ohne Zuthun der Krankheit, die Ausbildung eines energischen Willensvermögens verhindert.
Nicht bloß in der fehlerhaften Erziehung, sondern auch in der „höheren Töchterschule“ werden die Keime des späteren Siechthums gelegt. Das tägliche fünf- bis sechsstündige Sitzen in der Schulstube möchte noch angehen, vorausgesetzt, daß dieselbe der Schülerzahl entsprechend geräumig und gut ventilirt ist, und daß zwischen zwei Stunden zehn freie Minuten sind. Aber wenn das Kind, statt nach der Schule sich reichlich Bewegung im Freien zu machen, eine Menge Aufgaben mit nach Hause bringt, zu deren Bewältigung kaum die Zeit ausreicht, so entsteht aus dieser Ueberanstrengung eine Ueberreizung und darauf folgende Ermüdung des Gehirns, welche oft aus munteren, Geist und Leben sprühenden Kindern für lange Zeit traurige, schlaffe Schlafmützen macht oder sie den hundertfachen Plagen der Nervosität überliefert. Und ist denn das, was durchschnittlich erreicht wird, der an Gesundheit und jugendlichem Frohsinn gebrachten Opfer werth? Es ist unvernünftig, das Gehirn der jungen Mädchen mit Kenntnißbrocken aus einer Menge wissenschaftlicher Disciplinen zu bestürmen. Es gehört ein sehr starker geistiger Magen dazu, um diese Fülle von Lernstoffen zu verdauen und nützlich zu verarbeiten. Bedenkt man dazu, daß in der Regel diese didaktische Nudelung mit dem sechszehnten oder siebenzehnten Lebensjahre plötzlich aufhört, und daß an ihre Stelle das Lesen von Romanen, Conversation über Bälle und Theater und dergleichen tritt, so braucht man sich nicht zu wundern, wenn von den mühsam erworbenen ästhetischen, culturgeschichtlichen, chemischen und anderen Eroberungen bald nur noch einzelne dürftige Bruchstücke von zweifelhaftem Werthe vorhanden sind.
In den späteren Lebensperioden machen mehrfache psychische Einwirkungen sich bei Hervorbringung oder Beförderung der krankhaften Nervosität geltend. Es ist eine interessante Thatsache, daß keineswegs die deprimirenden Gemüthsaffecte im Allgemeinen diese Wirkung haben, sondern nur eine ziemlich beschränkte Kategorie derselben. Getäuschte Hoffnungen, Gefühle vermeintlicher oder wirklicher Zurücksetzung, Kummer über verfehlten Lebenszweck – das ist der fruchtbare Boden, auf welchem die Nervosität vortrefflich gedeiht.
- ↑ Im Hinblicke auf die durch die Zeitungen gehende Mittheilung, daß 26. Mai d. J. die Ausweisung der sämmtlichen Geistlichen und der geistlichen Dienerschaft aus dem Kloster zu Kevelaer vollzogen wurde, dürfte dieser Artikel jetzt besonders zeitgemäß kommen.D. Red.