Die Gartenlaube (1876)/Heft 4

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 4.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


4.

Auf der Spinnerei schlug es Fünf, als Käthe in Doctor Bruck’s Begleitung wieder in den Hof trat. Es war kälter geworden, und die uralte halbverwischte Sonnenuhr am Giebel, die heute, im goldenen Frühlingslicht neu auflebend, mit scharfem Finger die Stunden bezeichnet hatte, sah wieder trübselig verlassen und verwittert aus.

Das helle Geklingel der Thürschelle lockte Franz wieder heraus auf die kleine Freitreppe, und auch seine Frau folgte ihm neugierig mit langem Halse, um die heimgekehrte junge Herrin zu begucken. Käthe bat sie, während ihrer Abwesenheit fleißig nach der Kranken zu sehen, was auch heilig und theuer versprochen wurde. In diesem Augenblick rauschte es in den Lüften, und gleich darauf stürzte eine schöne Taube herab und blieb hülflos aus dem Steinpflaster liegen.

„Schwerenoth, nehmen denn die Bubenstreiche kein Ende?“ fluchte Franz, indem er die Treppe herabsprang und das Thierchen aufhob – es war flügellahm geschossen. „Da guck’ her, Frau!“ sagte er zu der Müllerin. „’s ist keine von unseren – ich dachte mir’s gleich. ’s ist ein gottheilloses Volk da drüben. Die schießen der armen Dame ihre Prachttauben nur so vor der Nase weg. Na, ich sollte nur der Herr Commerzienrath sein!“ Er schüttelte die Faust.

„Wer ist denn die arme Dame, Franz? Und wer schießt nach ihren Tauben?“ fragte Käthe mit großen Augen.

„Er meint Henriette,“ sagte Doctor Bruck.

„Und drüben aus der Spinnerei wird geschossen,“ platzte Franz ingrimmig heraus.

„Wie, die Fabrikarbeiter meines Schwagers?“

„Ja, ja, die sein Brod essen, Fräulein. ’s ist eine Sünde und Schande. Da haben Sie die Bescheerung, Herr Doctor! Da sehen Sie ja nun, was das für eine Brut ist. Sie wollen bei denen Alles mit Liebe und Güte durchsetzen – ja, da werden Sie weit kommen. Was haben denn solche brave Leute, wie Sie, von der Gutheit? Lange Nasen macht Ihnen die Gesellschaft. … Die Faust auf’s Auge! ’runter müssen sie. Das ist meine Meinung – sonst ist kein Aushaltens.“

„Strikt man hier auch? fragte Käthe den Doctor, dem ein so schönes, ernstes Lächeln um die Lippen schwebte, daß sie das Auge nicht von ihm wenden konnte.

„Nein, die Sache liegt anders,“ sagte er, den Kopf schüttelnd. Seine ruhige Stimme klang imponirend neben Franzens heftigem Gepolter. „Mehrere der ersten Arbeiter im Besitz einiger Capitalien, hatten Moritz gebeten, ihnen beim Zerschlagen des Rittergutes zu einem Stück Land zu verhelfen, das, an sich öde und von geringem Ackerwerth, ziemlich nahe der Fabrik unbenutzt liegt. Sie wollten Häuser bauen mit Miethwohnungen auch für die ärmeren Arbeiterfamilien, die den theuren Miethzins in der Stadt fast nicht mehr erschwingen können. Der Commerzienrath hat ihnen auch Versprechungen gemacht; er konnte das um so eher, als der begehrte Streifen Landes noch zu seinem Park gehört –“

„Verzeihen Sie, Herr Doctor, daß ich Sie unterbreche!“ fiel Franz ein; „gerade deshalb durfte er’s nicht. Ich hab’ mir’s gleich gedacht, daß das die Frau Präsidentin nicht zugiebt. Wer läßt sich denn auch eine solche Nachbarschaft gefallen, wenn er nicht muß? Und richtig – die Damen drüben sind furchtbar böse geworden, und haben’s ein- für allemal nicht gelitten, daß die Bauplätze abgegeben worden sind, ‚es sollten neue Anpflanzungen gemacht werden‘, hat’s geheißen, und damit war die Sache abgemacht. Nun sind sie wüthend in der Fabrik und thun Schabernak und rächen sich, wo sie können.“

„Freilich eine erbärmliche Rache! – Du armes Ding!“ sagte Käthe und nahm die Taube aus Franzens Hand.

„Das Beklagenswerthe dabei ist, daß diese Rohheit Einzelner auf einen ganzen Stand strafend zurückwirkt. Man wird der Präsidentin keinen Vorwurf mehr daraus machen dürfen, daß sie solche Elemente nicht in ihrer Nähe dulden will,“ sprach Doctor Bruck mit verfinstertem Gesicht.

„Das sehe ich nicht ein. Es giebt Boshafte und Rachsüchtige in allen Ständen,“ versetzte das junge Mädchen rasch und lebhaft. „Ich verkehre oft in den unteren Classen; mein Pflegevater hat viele arme Patienten, und wo außer seinen Medicamenten auch kräftige Suppen und sonstige Nachhülfe in der Pflege noththun, da unterstützt ihn meine liebe Doctorin nach Möglichkeit, und ich gehe selbstverständlich auch mit. Man stößt auf viel Undank und Rohheit, das ist wahr, oft aber auch auf brave und edle Gesinnungen, Noth und Elend aber sind meist so herzerschütternd –“

„Ist nicht so schlimm, wie Sie denken, Fräulein – das Volk verstellt sich,“ unterbrach sie Franz mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Käthe maß ihn einen Augenblick schweigend von unten herauf mit einem sprechenden Blick. „Sieh, sieh, was für ein vornehmer [58] Herr der Franz geworden ist!“ sagte sie mit unverkennbarer Ironie. „Von wem sprechen Sie denn? Sind Sie nicht selbst aus dem Volke? Und was waren Sie denn früher in der Schloßmühle? Ein Arbeiter, wie die Leute dort in der Spinnerei auch, ein Arbeiter, der schweigend manches Unrecht leiden mußte, wie ich sehr genau weiß.“

Dem Müller schoß das Blut in das bestäubte Gesicht. Er stand in sprachloser Verblüfftheit vor der jungen Dame, die ihm so kurz und bündig, so schlagend seinen Standpunkt bezeichnete. „Na, Fräulein, nichts für ungut! Es war nicht so böse gemeint,“ sagte er endlich und streckte ihr in unbeholfener Verlegenheit seine breite Hand hin.

„In Wirklichkeit sind Sie auch nicht so schlimm, aber Sie haben Glück gehabt und kehren nun den Schloßmühlenpächter heraus, der Geld in der Tasche hat,“ entgegnete sie und legte einen Augenblick ihre schlanke Hand in die seine, aber die kleine Falte des Unwillens auf ihrer Stirn glättete sich nicht so rasch wieder. Sie zog ein weißes Tuch aus der Tasche, schlug es um die Taube und knüpfte die vier Enden zusammen. „Ich werde Henrietten den kleinen Invaliden mitbringen,“ sagte sie, das Tuch wie ein Körbchen vorsichtig in die Hand nehmend – es sah aus, wie ein armseliges Reisebündelchen.

Der Doctor öffnete eine kleine Seitenthür in der Hofmauer, welche direct in den Park führte, und ließ die junge Dame voranschreiten. Draußen blieb sie wie eingewurzelt stehen. „Ich finde mich nicht zurecht,“ rief sie fast bestürzt und wandte sich wie hülflos nach ihm um. „Sieht es doch fast aus, als ob Riesenhände den Park durcheinander geschüttelt hätten. Was thun die Leute dort?“ Sie zeigte weit hinüber nach einer Erdvertiefung von gewaltigem Umfang, aus der die Köpfe zahlloser Arbeiter auftauchten.

„Sie graben einen Teich; die Frau Präsidentin liebt die Schwäne auf breitem Wasserspiegel.“

„Und was baut man da drüben, nach Süden hin?“

„Ein Palmenhaus.“

Sie sah nachdenklich vor sich hin. „Moritz muß sehr reich sein.“

„Man sagt es.“ Das klang so kühl und objectiv, als vermeide er absichtlich, seinen Antworten auch nur den leisesten Mitklang eigenen Urtheils zu geben. … Er war ein auffallender Mann, dieser Doctor Bruck; das sah sie jetzt so recht, wie er im rothfluthenden Abendlichte neben ihr stand. Es lag etwas von militärischer Strenge und Straffheit in seiner Haltung, während sein schönes, luftgebräuntes Gesicht mit dem weichgelockten Vollbarte nur die Züge sanftgemilderten Ernstes zeigte. Von Gedrücktsein oder Niedergeschlagenheit, die ein Mißgeschick wie das über ihn verhängte meist zur Folge hat, war in der ganzen Erscheinung nicht eine Spur zu finden. „Ich werde Sie führen,“ sagte er, als sie unschlüssig ihre Augen über das total veränderte Terrain schweifen ließ. Er reichte ihr seinen Arm, und sie legte unbedenklich ihre Hand darauf. So schritt Schwester Flora neben ihm. … wunderlich! Erst jetzt fiel ihr der Gedanke, daß sie in wenigen Minuten der ihr geistig so weit überlegenen Schwester gegenübertreten sollte, unbeschreiblich bang und schwer auf das Herz.

Sie blieb stehen und sagte nach einem tiefen Athemholen befangen lächelnd: „O ich Hasenfuß! Ich glaube gar, ich fürchte mich. – Ob ich wohl Flora gleich beim Eintreten begegnen werde?“

Sie sah, wie ihm das Blut jäh und dunkel in das Gesicht stieg. „So viel ich weiß, ist sie ausgefahren,“ antwortete er mit bedeckter Stimme, und gleich darauf setzte er, jeder neuen Frage vorbeugend, hinzu: „Sie werden das ganze Haus heute noch in einer gewissen Aufregung finden – der Fürst hat Moritz vor wenigen Tagen den Adel verliehen.“

Und das sagte er jetzt erst. „Wofür denn?“ stieß sie überrascht heraus.“

„Nun, er hat bedeutende Verdienste um die Hebung der Industrie im Lande,“ versetzte er so rasch und ernstlich, als gelte es, ein ungünstiges Urtheil abzuwenden. Dabei ist Moritz ein Mensch von großer Herzensgüte – er thut sehr viel für die Armen.“

Käthe schüttelte den Kopf. „Sein Glück macht mir Angst.“

„Sein Glück?“ wiederholte er betonend. „Es kommt darauf an, wie er selbst diese Wechselfälle ansieht.“

„O, ganz gewiß als etwas Beseligendes,“ antwortete sie entschieden. „Ich weiß aus seinen Briefen, daß ihm die Erwerbung weltlicher Güter Hauptlebenszweck ist. Seine letzte Zuschrift z. B. war eine geradezu verzückte, weil – mein Erbe sich über alles Erwarten reich herausgestellt hat.“

Er ging schweigend neben ihr her; dann fragte er mit einem Seitenblicke: „Und Sie – bleiben denn Sie kalt diesem Reichthume gegenüber?“

Käthe bog den Kopf mit graziösem Muthwillen vor und sah ihm unter das Gesicht. „Sie erwarten wahrscheinlich eine sehr gesetzte Antwort von mir großem Mädchen, so ein recht ernstes Ja, aber das kann ich mit dem besten Willen nicht herausbringen. Ich finde es nämlich über die Maßen hübsch, reich zu sein.“

Er lachte leise in sich hinein und fragte nicht weiter. Sie gingen rasch vorwärts und erreichten bald die Lindenallee. Sie war verschont geblieben; man hatte die lange Bahn bereits mit frischem Kiese bestreut. „Ach, dort die liebe, altmodische Bekannte steht auch noch,“ rief das junge Mädchen, nach einer fernen Holzbrücke zeigend, die ihren schmucklosen, morschen Bogen über den Fluß schlug.

„Sie führt zu dem Grundstücke am jenseitigen Ufer –“

„Ja, nach dem Gras- und Obstgarten. Ein hübsches, altes Haus steht drin. Es hat als Wirthschaftsgebäude zu dem ehemaligen Schlosse gehört, ist ganz von Wein umsponnen und hat breite Steinstufen vor der Thür. … Köstlich anheimelnd und still ist’s dort. Suse hatte ihren Bleichplatz im Garten; im Frühlinge war er ganz blau von Veilchen; dort habe ich stets die ersten gesucht.“

„Das dürfen Sie auch jetzt noch – die kleine Besitzung ist seit heute Morgen mein Eigenthum.“ Er warf einen warmen Blick hinüber.

Käthe dankte ihm, sah aber zerstreut und nachdenklich auf die Kiesel nieder, über die sie hinschritten. … Sollte ihre schöne Schwester als junge Frau in dem Hause wohnen? Flora mit ihren stolzen Geberden, ihren majestätisch nachfließenden Schleppen, Flora Mangold, die Anspruchsvolle, der kein Salon hoch und weit, keine Ausschmückung reich genug sein konnte, in dem einsamen Hause mit den großen, grünen Kachelöfen und den ausgetretenen Dielen? Wie mußte sie sich geändert haben – um seinetwillen!

Ein fernes Geräusch schreckte sie auf. Sie sah die Villa bereits so nahe vor sich, daß sie die Prachtmuster der Spitzengardinen erkennen konnte. Hinter den Scheiben rührte und regte sich nichts, aber von der Promenade her, die sich vor der jenseitigen, der Hauptfaçade des eleganten Hauses hinzog, kam das Getöse einer heranrollenden Equipage immer näher. Es waren zwei prächtige Pferde, die gleich darauf um die nördliche Hausecke jagten. Geschirr und Wagen funkelten in Silberschmuck und im Glanze der Neuheit. Eine Dame hielt die Zügel in fester Hand; ihre Gestalt, um die sich dunkelfarbener, pelzverbrämter Sammet schmiegte, saß so leicht und sylphenhaft dort, als schwebe sie über den Polstern. Von ihrer Stirn zurück wehten weiße Federn, und um das classische Gesicht, den unbedeckten Hals, der sich glänzend weiß aus der dunklen Pelzeinfassung hob, flatterten krause, blonde Locken.

„Flora! Ach, wie wunderschön ist meine Schwester!“ rief Käthe enthusiastisch und streckte unwillkürlich die Rechte nach der Vorüberfliegenden aus, aber weder Flora, noch der Commerzienrath, der mit verschränkten Armen neben ihr saß, hörten den Zuruf. Die Equipage bog um die entgegengesetzte Ecke, dann hörte man sie drüben vor dem Portale halten.

Ein kleiner Kiesel tanzte vorbei – die Stockspitze des Doctors hatte ihn wie im Spiele fortgeschleudert. Jetzt erst fiel es Käthe auf, daß er nicht mehr an ihrer Seite ging; sie war freilich unter dem hinreißenden Eindrucke vorwärts geeilt. Mit einer lebhaften Geberde wandte sie sich um. Er schritt unbeirrt, noch genau in dem Tempo, wie vorher auch, aber in seiner Haltung erschien er noch stolzer emporgereckt, noch strenger reservirt. Er mußte sie eben beobachtet haben, denn er wandte rasch und fast verlegen seine Augen weg. Mit Mühe verbiß sie ein satirisches Lächeln. Sie wußte, daß sie ihn bei einem vergleichenden Gedanken ertappt hatte, der ungefähr lauten mochte: „Gott, was für eine vierschrötige Jungfrau neben meiner Elfe!“

[59] „Ich bin erstaunt über den sicheren Muth, mit welchem Flora fährt,“ sagte sie, als er wieder neben ihr ging.

„Weit mehr zu bewundern ist die Todesverachtung ihres Begleiters. Es war eine Probefahrt, und der Commerzienrath hat die jungen Pferde gestern erst gekauft.“ Er war bitter gereizt. Sie hörte das plötzlich in seiner Stimme und schwieg ganz erschrocken.




5.


Es fiel kein Wort mehr von beiden Seiten. Sie erreichten bald das Haus und traten durch eine Seitenthür ein, während drüben die Equipage vom Portale wegfuhr. Ein Bedienter berichtete ihnen, daß die Damen und „der gnädige Herr“ im Wintergarten seien, also in den Appartements der Frau Präsidentin.

Käthe hatte ihre ganze heitere Ruhe und Sicherheit wiedergefunden. Sie nahm eine Visitenkarte aus der Brieftasche und reichte sie dem Manne hin. „Für den Herrn Commerzienrath,“ sagte sie.

„So steif?“ fragte Doctor Bruck lächelnd, während der Lakai geräuschlos über den dicken persischen Corridor-Teppich hinschlüpfte und hinter einer Thür verschwand.

So steif!“ bestätigte sie ernsthaft. „Da ist die weiteste Distance die beste. Ein biederes Hereinpoltern würde mir jedenfalls sehr schlecht bekommen. Ich fürchte nun selbst, ‚den gnädigen Herrn‘ mit meiner unceremoniellen Ankunft sehr in Verlegenheit zu bringen.“

Sie hatte sich nicht geirrt. Der Commerzienrath kam im förmlichen Sturmschritte aus den Gemächern, mit dem bestürzten Ausrufe: „Mein Gott, Käthe!“ stolperte er über die Schwelle.

Die Richtung seines Blickes war geradezu lächerlich – er suchte den Kopf der wie vom Himmel fallenden Mündel offenbar um zwei Fuß zu tief – und nun trat sie so hochgewachsen und festen Schrittes auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem fast frauenhaft stolzen Kopfneigen:

„Lieber Moritz, sei nicht böse, daß ich der Abrede zuwider handle! Aber um mich abholen zu lassen, dazu bin ich nun doch schon ein wenig zu groß.“

Er stand wie versteinert vor ihr. „Recht hast Du, Käthe. Die Zeit, wo ich Dich an der Hand führte, ist vorüber,“ sagte er langsam, gleichsam in dem Anblicke ihres mit Rosengluth überhauchten Gesichts verloren. „Nun, sei mir tausendmal willkommen!“ Jetzt erst reichte er auch Bruck begrüßend die Hand. „Ein Zusammenfinden im Corridor – da muß ich wohl gleich hier vorstellen –“

„Bemühe Dich nicht, Moritz! Das habe ich bereits selber besorgt,“ unterbrach ihn das junge Mädchen. „Der Herr Doctor machte gerade Krankenbesuch bei Suse, als ich in die Mühle kam.“

Das Gesicht des Commerzienraths verlängerte sich. „Die Mühle war Dein Absteigequartier?“ fragte er betreten. „Aber liebes Kind, die Großmama Urach hat mit der liebenswürdigsten Bereitwilligkeit erklärt, sich Deiner anzunehmen; mithin verstand es sich von selbst, daß Du Dich ihr sofort vorstelltest; statt dessen gehst Du zu Deiner alten Flamme, der Jungfer Suse! Ich bitte Dich, sage das d’rin lieber nicht!“ setzte er hastig flüsternd hinzu.

„Verlangst Du das ernstlich von mir?“ Die fest klingende Mädchenstimme stach seltsam ab von seinem scheuen Flüstertone. „Ich kann doch nicht leugnen, wenn die Sache zur Sprache kommen sollte… Auf das Verheimlichen verstehe ich mich wirklich nicht, Moritz“ – sie verstummte für einen Moment, erschrocken über die Feuergluth, die ihm in das Gesicht schoß, dann aber sagte sie resolut: „Habe ich einen Fehler begangen, so will ich mich auch dazu bekennen; es wird ja nicht gleich meinen Kopf kosten.“

„Wenn Du einen gutgemeinten Wink so tragisch nehmen willst, dann habe ich allerdings nichts mehr zu sagen,“ entgegnete er verlegen und ärgerlich zugleich. „Den Kopf wird es freilich nicht kosten, aber Deine Stellung in meinem Hause erschwerst Du Dir. Uebrigens ganz wie Du willst! Sieh Du selbst, wie Du Dich mit diesem herben ‚Geradedurch‘ in unseren hochfeinen Gesellschaftskreisen zurecht findest!“

Schon bei den letzten Worten hatte sein Ton mehr scherzhaft als pikirt geklungen. Er ließ sich nun einmal nicht gern die behagliche Stimmung verderben. Er bot ihr galant den Arm und führte sie nach dem ehemaligen Speisezimmer, das neben dem Wintergarten lag und dessen Thür er aufstieß.

Das war aber nicht mehr der traute Eßsalon mit seinen altmodischen, behäbigen, rothen Saffianmöbeln. Die Wand, die ihn einst vom Wintergarten getrennt, war verschwunden; an ihrer Stelle trugen schlanke, oben in Rundbogen auslaufende Säulen den Plafond, den der köstlichste Farbenschmuck in maurischem Stil bedeckte. Drunten lief ein niedriges, spitzenklares, vergoldetes Bronzegitter von einer Säule zur anderen – es schied den steingetäfelten Fußboden des maurischen Zimmers von dem weißen Wegsand, dem grünen Flaum kleiner Rasenflecke im Wintergarten. Hinter diesem Gitter grünte und blühte es wonnig; da dufteten Maiblumen und köstliche Bouquets von Parmaveilchen zu Füßen der mächtigen Drachenbäume, des dunklen Lorbeer und der prachtvollen Decoration von silbergestreiften, metallisch glänzenden Blattpflanzen. Dieses herrliche Pflanzenbild wurde umrahmt und gleichsam in einzelne Felder getheilt durch eine Art von Blumenornamentik. Um die Säulen rankte sich die Clematis und behing die schlanken Schäfte bis hinauf in das feingebogene Rund mit weißen und lilablauen Blüthen.

Zwischen den zwei Säulen, die einen Mittelweg in das Zimmer freiließen, stand Flora. Sie war noch in der Straßentoilette und augenscheinlich im Begriff, das Zimmer zu verlassen. Hoch hinter ihrem federgeschmückten Haupt wölbte der Springbrunnen des Wintergartens seine glitzernde Kuppel. Mit der behandschuhten Rechten hob die schöne Dame das schwere kastanienbraune Sammetkleid, dem das schräg hereinfallende Abendlicht schwachgoldige Reflexe entlockte, ein wenig über den Fuß, die unbedeckte Linke aber legte sich anmuthig stützend an die Säule, weiß und zart wie die danebenhängende Clematisblüthe.

Beim Eintreten des hochgewachsenen Mädchens öffnete sie zuerst ihre graublauen Augen weit vor Erstaunen, aber auch ebenso rasch kniff sie die Lider zu einem blinzelnd prüfenden Blick zusammen, wobei ein sarkastisches Lächeln um ihre Lippen huschte.

„Nun rathe, Flora, wen ich da bringe!“ rief der Commerzienrath.

„Da brauche ich mir nicht lange den Kopf zu zerbrechen – das ist Käthe, die sich allein auf den Weg gemacht hat,“ versetzte sie in ihrer eigenthümlich nachlässigen und doch so überaus bestimmten Art und Weise. „Wer die alte Sommer gekannt hat, der weiß, daß das stämmige Mädchen da mit dem weiß und rothen Apfelgesicht ihre Enkelin sein muß, Augen und Haar aber hat sie frappant wie Clotilde, Deine verstorbene Frau, Moritz.“

Mit einer geschmeidigen Bewegung löste sie sich gleichsam aus dem Blumenrahmen, trat auf die Schwester zu, und den Kopf in den Nacken zurückbiegend, bot sie ihr die Lippen zum Kuß. Ja, das war noch immer die unvergleichlich schöne Flora, aber das langjährige Herrscherthum über die Herzen hatte die weibliche Grazie von ihrer Ausdrucksweise genommen. Ebenso nachlässig wie bei dem kühlen Begrüßungskuß nach sechsjähriger Trennung, war ihr Wesen dem mit eingetretenen Doctor gegenüber. „Grüß Gott, Bruck!“ sagte sie und reichte ihm die Rechte, aber nicht wie eine Braut, sondern wie ein College dem anderen. Er erfaßte die Hand mit leichtem Druck und ließ es ruhig geschehen, daß sie sofort wieder zurückgezogen wurde.

Diese äußere Zurückhaltung zwischen dem Brautpaar schien sich von selbst zu verstehen. Flora wandte unbefangen den Kopf nach dem Wintergarten zurück. „Großmama,“ rief sie mit lächelndem Spott in ihren geistreichen Zügen, „unser Goldfisch macht Dir und Deinen Bekannten die Freude, sich vier Wochen früher anstaunen zu lassen.“

Die Präsidentin war bereits bei Flora’s ersten Worten hinter einer Camelliengruppe hervorgetreten. Ohne daß sie es vielleicht selbst wußte, hatte sie die Angekommene mit jener Spannung gemustert, welche die meisten Menschen einem sogenannten Glückskind gegenüber an den Tag legen. Flora’s boshaft übermüthiger Zuruf machte diesen Ausdruck sofort verschwinden. Die alte Dame zog unwillig die Brauen zusammen, und ein feines Roth der Verlegenheit flog über ihr bleiches Gesicht hin. „Ich erinnere mich nicht, ein so auffälliges Interesse gerade für jene Eigenschaft Deiner Schwester gezeigt zu haben,“ sagte sie kühl und mit einem streng verweisenden Blick. „Wenn ich [60] mich über Käthe’s Kommen freue und sie freundlich willkommen heiße, so geschieht das, weil sie meines lieben verstorbenen Mangold Kind und Eure Schwester ist.“

Sie ging mit gehobenen Händen auf Käthe zu, als beabsichtige sie eine Umarmung; allein diese verbeugte sich so tief und ceremoniell, als stehe sie zum ersten Mal in ihrem Leben vor der stolzen Schwiegermutter ihres Vaters. Ein scharfer Blick hätte in dieser einen Geberde leicht das scheue Zurückweichen vor jeglicher Berührung erkannt, die Präsidentin aber sah darin offenbar nur das Anzeichen eines tiefen Respectes. Sie zog die Hände zurück und hauchte einen Kuß auf die Stirn des jungen Mädchens. „Bist Du wirklich allein gekommen?“ fragte sie, ihre Augen suchten unruhig forschend die Thür, als müsse noch irgend eine nicht gerade willkommene Reisebegleitung eintreten.

„Ganz allein. Ich wollte auch einmal selbstständig meine Flügel probiren, und das hat meine Doctorin gern erlaubt.“ Sie strich noch einmal wie unbewußt mit den schlanken Fingern über die Stelle, welche die alte Dame mit ihren kalten Lippen berührt hatte.

„Ei, das glaube ich Dir gern; das ist ja ganz im Sinne der alten Lukas,“ sagte die Präsidentin mit einem ganz leisen, ironischen Lächeln. „Sie war ja auch stets sehr selbstständig … Dein guter Papa hatte sie ein ganz klein wenig verzogen, mein Kind. Sie that, was ihr gefiel; selbstverständlich immer nur das Rechte –“

„Und das Verständige; aus dem Grunde mag ihr wohl auch der Papa seine jüngste wilde Hummel anvertraut haben,“ setzte Käthe mit jener heiteren Unbefangenheit hinzu, die ihr ganzes Wesen charakterisirte. Aber gerade dieser Freimuth, diese Leichtigkeit und Sicherheit schienen unangenehm zu berühren.

Die Präsidentin zog die Schultern leicht empor. „Dein Papa hat sicher Dein Bestes gewollt, liebe Käthe, und meine Sache ist es nie gewesen, irgend eine seiner Maßregeln zu bemäkeln. Aber er war eine vornehme Natur und hielt streng auf das Decorum – ob es ihn nun doch nicht einigermaßen in Verlegenheit gebracht hätte, wenn ihm sein heiteres Töchterchen plötzlich so sans gêne, so frank und frei in das Haus geflattert wäre?“

„Wer weiß?“ versetzte Käthe. „Der Papa würde doch wissen, weß Geistes Kind diese Tochter ist“ – ein muthwilliger Strahl blitzte aus ihren braunen Augen – „Müllerblut, das schlägt sich tapfer und wohlgemuth durch die Welt, Frau Präsidentin.“

Der Commerzienrath räusperte sich und strich eifrig seinen schönen Lippenbart, während die Präsidentin so betreten aussah, als habe unvermuthet ein allzukräftiger Luftzug ihr vornehmes Gesicht angeblasen, Flora aber brach in ein helles Gelächter aus. „Kind Gottes, Du bist kostbar naiv,“ rief sie, die Hände zusammenschlagend. „Ja, ja: ‚Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern,‘“ recitirte sie. „Mit einer solchen Aeußerung müßte unser Jüngstes nächstens in Moritzens großer Soirée debütiren, Großmama; da würden sie die Ohren spitzen!“ Sie blinzelte die alte Dame schadenfroh an, die jedoch ihr Gleichgewicht schon wieder gefunden hatte.

„Ich vertraue dem angeborenen Tact Deiner Schwester, mein Kind,“ sagte sie, ihre Hand nebenbei nun auch dem Doctor zur Begrüßung hinstreckend. Dazu lächelte sie mit jenem feinen Zusammenziehen der Lippen, das nur einen Schein der Zahnspitzen sehen ließ und von welchem man nie wußte, ob es süß oder sauer war.

„Tact, Tact – der wird viel helfen,“ wiederholte Flora, den Kopf spöttisch wiegend. „Die Müllerreminiscenz ist ihr genau ebenso angeboren. Die gute Lukas hat es eben nicht verstanden, ihr ein wenig Weltklugheit einzupauken – da fehlt’s. Uebrigens bin ich wirklich froh, daß Du allein gekommen bist, Käthe; ich hoffe, es wird sich so besser mit Dir leben lassen, als wenn Du am Rock Deiner alten hausbackenen Gouvernante hängst.“

Käthe hatte das Barett abgenommen; die schwüle Blumenluft trieb ihr das Blut heiß in die Wangen. Jetzt, mit der dicken, goldbraunen Haarflechte über der Stirn, sah sie noch größer aus.

„Hausbacken? Meine Doctorin?“ rief sie lebhaft. „Eine poesievollere Frau läßt sich nicht denken.“

„Ei, was Du sagst! Sie schwärmt wohl den Mond an, schreibt empfindsame Verse ab, etc. Oder dichtet sie gar selbst? Wie?“

Das junge Mädchen richtete die glänzenden Augen mit klugem Blicke auf das Gesicht der Spötterin. „Verse nicht, aber die Manuscripte ihres Mannes schreibt sie ab, weil die Setzer der medicinischen Zeitschrift seine wunderlichen Krakelfüße absolut nicht entziffern können,“ sagte sie nach einem kurzen Moment schweigender Prüfung. „Sie schreibt auch keine eigenen Verse oder Novellen – dazu fehlt ihr die Zeit, und doch dichtet sie. … Ach, Du lächelst noch genau so wie früher, Flora, so tief und so scharf in den Mundwinkeln, aber das Spottlächeln scheucht mich nicht mehr in die Ecken; ich habe eine streitbare Ader und behaupte weiter: Sie dichtet doch in der Art und Weise, wie sie das Leben nimmt und ihm stets eine Seite abzugewinnen weiß, von der ein verklärendes Licht ausgeht, wie sie ihr einfaches Heim ausschmückt – aus jedem Eckchen guckt ein schöner Gedanke – und wie sie es unsäglich gemüthlich und doch ästhetisch anregend für ihren braven Mann und mich alten Kindskopf und die wenigen auserwählten Freunde des Hauses zu erhalten versteht.“

In diesem Augenblicke flog ein ganzer Regen von frischen Veilchen gegen die Brust des jungen Mädchens und rieselte auf den Fußboden nieder,

„Bravo, Käthe!“ rief Henriette. Sie stand im Wintergarten, dicht am Gitter, und preßte die bleichen Hände auf ihre heftig athmende Brust. „Ich möchte Dir gleich um den Hals fliegen, aber – sieh mich doch an! – müßte das nicht zum Todtlachen sein? Du, so kerngesund an Leib und Seele, und ich –“ ihre Stimme versagte.

Käthe warf das Barett, das sie noch in der Linken hielt, von sich und flog zu ihr. Sie umschlang zärtlich die schwache Gestalt, aber die Thränen des Erbarmens und die Betroffenheit darüber, daß das Gesicht der Schwester „so entsetzlich abgemagert“, wurden weislich unterdrückt.

Flora biß sich auf die Lippen. „Das Jüngste“ war nicht nur imposant an Leibesgestalt geworden, es hatte auch in den hellen Augen und auf den Lippen den seltenen Freimuth innerer Unabhängigkeit, der manchmal so unbequem werden kann. Ihr kam plötzlich die dunkle Ahnung, als trete mit dem kraftvollen Mädchen dort eine schattenwerfende Gestalt in ihr Leben. … Sie nahm hastig den Hut ab und fuhr mit beiden Händen auflockernd durch die zerdrückten Scheitellöckchen. „Hast Du das poetische Reisebündelchen da wirklich von Dresden mitgebracht?“ fragte sie trocken, mit einem blinzelnden Seitenblicke nach dem zusammengeknüpften weißen Tuche am Arme der Angekommenen.

Das junge Mädchen löste die verschlungenen Enden und reichte Henriette die Taube hin. „Ein kleiner Patient, der Dir gehört,“ sagte sie. „Das arme Ding ist flügellahm geschossen. Es fiel im Schloßmühlenhofe auf das Pflaster.

Da war bereits die Einkehr in der Mühle verrathen, allein die Präsidentin schien die letzten Worte ganz zu überhören; sie zeigte tief empört auf das verwundete Thierchen und sagte, nach dem Commerzienrathe zurückgewendet, mit strafendem Vorwurfe: „Das ist nun die vierte, Moritz.“

„Und noch dazu mein Liebling, mein Silberköpfchen!“ rief Henriette und wischte sich eine Thräne des Schmerzes und der Erbitterung von den Wimpern.

Der Commerzienrath war ganz blaß vor Schreck und Aerger. „Liebe Großmama, ich bitte Sie dringend, machen Sie mir daraus keinen Vorwurf mehr!“ rief er fast heftig. „Ich thue, was möglich ist, um diesen bodenlosen Nichtswürdigkeiten auf die Spur zu kommen und sie zu verhindern, aber der Thäter versteckt sich hinter der Phalanx von zweihundert erbitterten Menschen“ – er zuckte die Achseln – „da läßt sich gar nichts thun. Ich habe auch deshalb Henriette wiederholt gebeten, ihre Tauben einzuschließen, bis die Aufregung vorüber ist.“

„Also wir werden in der That die Nachgebenden sein müssen? Es wird immer besser,“ sagte die alte Dame sehr anzüglich; sie zog und rückte an der Schleierwolke, die ihr um Gesicht und Hals lag, als ob ihr die innere Aufwallung unerträglich warm mache. „Sagst Du Dir nicht selbst, Moritz, daß eine solche Gleichgültigkeit die Verwegenheit geradezu herausfordert? Man wird das geduldete Taubenschießen nachgerade langweilig finden und sich edleres Wild aussuchen.“


(Fortsetzung folgt.)


[61]

„Die heiligen drei Könige mit ihrem Stern.“
Originalzeichnung von W. Grote.

[62]

Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Das rothe Quartal.


(März–Mai 1871.)


Von Johannes Scherr.


2. Wie die Blauen demonstriren – Und die Rothen remonstriren.


Es ist überflüssig, mittels Herzählung der Versöhnungs- und Ausgleichungsversuche, welche während der Nacht von seiten der Regierungsmitglieder Favre und Picard und von seiten gemäßigter Demokraten wie Tolain, Langlois und Lockroy angestrengt wurden, Papier und Druckerschwärze zu vernutzen. Alle diese Versuche scheiterten und mußten scheitern, weil von vornherein doch kein rechter Ernst und Eifer dabei war. Auf seiten der Regierung nicht, weil Monsieur Thiers, sobald er den Umfang der Katastrophe erfahren, ein- für allemal seinen Entschluß gefaßt haben mochte, einen Entschluß, welchen ein von ihm gesprochenes oder auch ihm in den Mund gelegtes Wort – so ein „mot“, womit ja die Franzosen gleich bei der Hand sind – bündig formulirte: – „Hat Paris uns verlassen, so verlassen wir Paris.“ Auf seiten der Insurgenten nicht, weil diese, sobald sie sich im Hôtel de Ville festgesetzt hatten, ihre wahre Natur herauskehrten, das von der Regierung gemachte Zugeständniß der demnächstigen Vornahme von Municipalwahlen spottlächelnd ablehnten und endlich geradeheraus erklärten, sie anerkännten die Autorität von Thiers nicht mehr und würden alle in Paris nöthigen Wahlgeschäfte selber besorgen.

Das war Fraktursprache, von dem gescheiden und thatkräftigen Minister Picard ganz richtig also verstanden, daß er bei sothanen Umständen gutthäte, von dem Regierungsapparat alles nur Erraffbare auf die Eisenbahn und nach Versailles zu schaffen. That so, der Mann, rettete Kassen, Akten, Register, Material aller Art, soviel er eben zusammenraffen und wegschicken konnte, das Verwaltungspersonal der verschiedenen Ministerien und anderen Behörden inbegriffen. Die Bank von Frankreich hat er freilich nicht aufzupacken vermocht, auch die Generaleinnahmestelle des städtischen Octroi nicht. Die Zeit war zu kurz. Denn am Abend des 19. März war die Räumung der Hauptstadt seitens der Regierung von Frankreich vollendet. Eine tröstliche Episode in der traurigen Geschichte dieses Abzuges war die feste, fahnentreue Haltung der Linienregimenter 43 und 69, welche erst am 20. März vom Luxemburgpalast weg durch die Porte Maillot nach Versailles marschirten, nachdem sie auf die Aufforderung des „Centralkomité“, die Waffen zu strecken, die Antwort gegeben hatten: „Kommt und holt sie!“ Keiner der neuen Stadthausherren hatte für gut gefunden, dieser soldatischen Einladung Folge zu leisten.

Also wären denn doch noch solide Mittel zum Widerstand in Paris vorhanden gewesen? Etliche gewiß. Ob aber ausreichende? Schwerlich. Der am 19. März von der Regierung vor ihrem Abzug an die Nationalgarde gerichtete Hilferuf verscholl wirkungslos. „Wer sind“ – so hieß es darin – „die Männer des Centralkomité? Niemand kennt sie; ihre Namen sind neu; niemand weiß, was für einer Partei sie angehören. Sind es Kommunisten, Bonapartisten, Preußen? Sind es Agenten dieser dreifachen Koalition? Jedenfalls sind es Feinde von Paris, das sie der Plünderung, Feinde Frankreichs, das sie den Preußen, Feinde der Republik, die sie dem Despotismus ausliefern. Die von ihnen verübten abscheulichen Verbrechen entziehen allen, welche mit ihnen gemeinsame Sache machen oder auch nur sie ertragen, jegliche Entschuldigung. Wollt ihr die Verantwortlichkeit für ihre Mordthaten und für die Ruinen, welche sie zu häufen im Begriffe sind, mitübernehmen? In diesem Falle bleibt ruhig zu Hause! Wenn ihr aber auf eure Ehre, auf eure heiligsten Güter etwas haltet, so schart euch um die Regierung der Republik und um die Nationalversammlung.“

Und siehe, sie blieben ruhig zu Hause, die Herren Philister von Paris. Sie bleiben ja allezeit und überall ruhig zu Hause an Tagen der Entscheidung, die Herren Philister von Europa, und so werden sie auch an dem Entscheidungstage, wann die europäische Kommune ausgerufen wird, ruhig zu Hause bleiben!

Es gab Quartiere in Paris, wo man sich am 19. März nicht nur keine Sorge machte um das am Tage zuvor Geschehene, sondern wo man nicht einmal etwas Bestimmtes wußte. Catulle Mendès begegnete in der Rue de la Grange-Batelière, also mitten in der Stadt, einem Bekannten und fragte ihn: „Was giebt es Neues?“

„Neues? Wüßte nicht, was. Doch warten Sie! Man sagt, es habe gestern auf dem Montmartre etwas abgesetzt.“

Wohl, es hatte etwas abgesetzt, etwas, das den sorglosen Parisern eine zweite Belagerung zu kosten geben sollte. Zu Mittag erfuhren sie auch, wem sie fortan zu gehorchen und was sie zu thun hätten. Es finden sich immer Leute, welche sich mit der Mühsal beladen, ihren lieben Mitleuten das zu sagen.

Die rothe Republik proklamirte sich mittels weißer Maueranschläge, deren einer an die Bürger im allgemeinen und deren anderer an die Bürgerwehr im besonderen gerichtet war. Der erste Anschlag lautete: „Französische Republik. Freiheit, Gleichheit, Bruderschaft. Bürger! Das Volk von Paris hat das Joch abgeschüttelt, welches man ihm auflegen wollte. (Hm, wie kann man denn etwas abschütteln, was einem noch gar nicht aufgelegt ist? Logik und Arbeit gehörten und gehören allzeit zu den richtigen Katilinariern verhaßtesten Dingen.) Ruhig und in seinem Kraftbewußtsein unerschütterlich hat es wie ohne Herausforderung so auch ohne Furcht den Angriff der schamentblößten Thoren erwartet, welche Hand an die Republik legen wollten. (Wo so? Waren denn die Frankreich gehörenden Kanonen, welche die rechtmäßige Regierung der Republik den Händen einer aufrührerischen Secte entziehen wollte, identisch mit der „Republik“? Gewiß nicht, aber auf eine dumme Lüge mehr oder weniger kommt es in derartigen auf die „Volksmündigkeit“ berechneten Kundgebungen bekanntlich nicht an.) Diesmal haben unsere Brüder von der Armee mit Entrüstung sich geweigert, die Bundeslade unserer Freiheiten antasten zu lassen. (Jetzt machen diese Konfusionarii Konfusionariorum die Kanonen vollends zur Bundeslade! Recht hübsch nimmt sich übrigens dieses biblische Bild im Munde eingestanden atheistischer Kommunarden aus.) Dank allen! Mögen Paris und Frankreich jetzt mit vereinten Kräften den festen Grund zu einer echten Republik (nämlich was WIR darunter zu verstehen geruhen) legen, als zu der Staatsform, welche einzig und allein im Stande, die Aera der feindlichen Einbrüche und der Bürgerkriege auf immer abzuschließen. (Vom Aufhören der Bürgerkriege faseln in derselben Stunde, wo man selber die Fackel des Bürgerkrieges erhebt, das geht sogar über pfäffische Heuchelei noch hinaus.) Der Belagerungsstand ist aufgehoben. (Für wie lange?) Die Bevölkerung von Paris wird in ihren Bezirken zusammenberufen zur Vornahme der Gemeindewahlen. Schutz und Sicherheit aller Bürger durch die Bürgerwehr wird gewährleistet. (Wir werden diesen Schutz und diese Sicherheit kennen lernen.) Hôtel de Ville von Paris, 19. März 1871. Das Centralkomité der föderirten Nationalgarde: Assi, Billioray, Ferrat, Babick, Moreau, Dupont, Varlin, Boursier, Mortier, Gouhier, Lavallette, Jourde, Rousseau, Lullier, Blanchet, Groslard, Barrout, Geresme, Fabre, Pougeret.“[1]

In einer zweiten Proklamation benachrichtigen die nämlichen Herren Citoyens die Nationalgarde, das Centralkomité habe die „Mission“, die Vertheidigung von Paris und der Volksrechte zu organisiren, erfüllt und eine Regierung, „die uns verrathen hat“, verjagt. In einem dritten weißen Anschlag waren die hochmögenden Herren vom Centralkomité so gütig, die Wahl einer „Kommune“ für Paris auf den 22. März anzusetzen.

Wir werden also die welterlösende Heilandin, die weltbeglückende Messiasin Kommune endlich haben. Unser biederes Centralkomité wird uns binnen drei Tagen geben, was eine [63] „verrätherische Regierung“ uns seit sechs Monaten vorenthalten hat. Glückauf!

So lautete die öffentliche Meinung in Montmartre, Villette, Belleville „und der Enden“ – (wie die Schweizer sagen). Und das übrige Paris? Schwieg still und ließ mit sich machen, was man wollte. Tausende blieben vor den drei signalisirten Straßenplakaten stehen, lasen Inhalt und Unterschriften, begnügten sich aber, zu fragen: „Wer sind diese Leute?“ und gingen theilnahmelos weiter.

Nun, „diese Leute“ waren allerdings lauter „viri obscuri“, obscurissimi, aber sie gaben, mit rothen Schärpen umgürtet, Befehle, und man gehorchte ihnen. Nicht etwa nur der Ouvrier, sondern mit ganz besonderer Beeiferung auch der richtige Epicier von Paris, wie nicht weniger der Kleingewerbemeister, unter welchen Bevölkerungsklassen die thörichte Verordnung der Regierung, alle während der deutschen Belagerung der Hauptstadt gestundeten Wechsel müßten sofort eingelöst werden, großen und gerechten Zorn erregt hatte. Noch ein ähnlicher harter Regierungserlaß, demzufolge alle seit den Belagerungsmonaten rückständig gebliebenen Miethen alsbald bezahlt werden sollten, traf die sogenannte kleine Bourgeoisie schwer. Es wäre nicht nur billig gewesen, es war schlechthin nothwendig, gerade den Leuten vom Mittelstande, welcher ja seit dem September von 1870 in Paris am schwersten gelitten hatte, die nöthigen Fristen zur Erfüllung von Befindlichkeiten zu geben, die ein Theil des Nationalunglücks waren.

Ueberhaupt muß man sagen, daß die Regierung vor wie nach dem Ausbruch der Insurrektion übel berathen war. Die ganze Art und Weise, wie sie durch die Maires von Paris und die Abgeordneten der Hauptstadt zur Nationalversammlung die Vermittelungsverhandlungen mit dem Centralkomité führen ließ, beweis’t dies. Einen weiteren Beweis giebt die Ernennung des Admirals Saisset zum Oberkommandanten der Pariser Nationalgarde ab; denn der Ernannte hat sich ja ganz unfähig erwiesen, die Situation auch nur zu verstehen, geschweige sie zu beherrschen. Der gute Seemann that, als hätte er es mit angeheiterten, aber im Grund gutmüthigen Matrosen zu thun, während er es doch mit „diesen Leuten“ zu thun hatte. Da konnte nur ein schmähliches Fiasko herauskommen.

Wenn man vollends erwägt, daß sich die besitzenden Klassen in Paris denn doch allmälig ermannten, daß die Nationalgarden der mittleren und westlichen Quartiere, nahezu 30,000 Mann, eine Abordnung an Thiers nach Versailles schickten, um ihm sagen zu lassen, daß sie acht Arrondissements besetzt hielten und, so er ihnen Officiere, Geschütze und Munition schickte, bereit wären, gegen die Insurgenten zu marschiren, und wenn man dem gegenüber die kühle Ablehnung von seiten des Herrn Thiers erwägt, der zurücksagen ließ, er könnte ihnen nicht helfen und riethe ihnen, mit Kind und Kegel Paris zu verlassen, so dürfte man mittels dieser Erwägungen unschwer zu der Schlußfolgerung gelangen, das Haupt der Exekutivgewalt müßte von vornherein dahin sich entschieden haben, keine „zertheilende“ Salbe aufzustreichen, sondern vielmehr das Kommunegeschwür reifwerden zu lassen, um es aufzuschneiden und auszubrennen. Er hat dann wirklich so gethan. Aber wer könnte so thöricht sein, zu wähnen, die Eisen- und Feuerkur habe geholfen? Sie war nur ein Palliativmittel, nichts weiter. Das Krebsgeschwür wird wieder kommen, da oder dort. Die Krankheit steckt ja der Gesellschaft im Blute.

Was die Herren Citoyens vom Stadthause betrifft, so konnte es ihnen nur recht sein, die Regierung mit Unterhandlungen zu „amüsiren“, bis sie sich allseitig in der Macht festgesetzt hatten. Sobald dies geschehen, ließen sie die Unterhändler barsch abfahren.

Die „Ordnungspartei“ raffte sich am 21. und 22. März zu einer „Friedensdemonstration“ auf, die ja recht wohlgemeint war, aber sehr übel verlief. Am erstgenannten Tage sammelte sich um halb zwei Uhr ein Häuflein von zwanzig Männern auf dem Platze vor der neuen Oper. Einer, und zwar ein Liniensoldat, trug der sich in Bewegung setzenden Gruppe eine Fahne vor mit der Inschrift „Union des amis de l’ordre“. In ihrem Vorschreiten durch verschiedene Straßen und Quartiere vergrößerte sich die Procession der Ordnungsfreunde rasch. Die Boulevards entlang wurden sie allenthalben aus den aufgerissenen Fenstern mit den Rufen: „Es lebe die Ordnung! Hoch die Nationalversammlung! Nieder mit der Kommune!“ empfangen. Widerstand fanden sie keinen. Da und dort präsentirten sogar Abtheilungen der Nationalgarde, an deren Aufstellungen sie vorüberkamen, vor ihnen das Gewehr. So in der Rue Drouot und in der Rue de la Paix. Auch den Zutritt zum Platz Vendôme, der von „föderirten“ Bataillonen strotzte, wehrte man ihnen nicht. Als sie unter den Fenstern des Generalstabsgebäudes angelangt waren, trat oben ein junger, rothbeschärpter Mann auf den Balkon heraus und rief herunter: „Bürger, im Namen des Centralkomité. …“ „Alsbald jedoch“ – so berichtet ein Theilnehmer an der Friedenskundgebung – „alsbald wurde er von unserer Seite durch ein vielstimmiges Pfeifen und durch die Rufe unterbrochen: ‚Hoch die Ordnung! Hoch die Nationalversammlung! Hoch die Republik!‘ Dessenungeachtet wurden wir in keiner Weise angegriffen, nicht einmal bedroht. Wir umzogen die Napoleonssäule und marschirten wieder auf die Boulevards hinaus nach dem Eintrachtsplatze.“ Die Procession kam schließlich zu ihrem Ausgangspunkte auf dem Opernplatze zurück. Sie zählte jetzt wohl an viertausend Köpfe, und vor dem Auseinandergehen traf man die Verabredung, am folgenden Tage zur selben Stunde die heute so gelungene Kundgebung zu wiederholen.

Diese Verabredung ist eingehalten worden, und zur bestimmten Stunde setzte sich demnach am 22. März eine unbewaffnete, aber theilweise mit der Uniform der Nationalgarde angethane Schaar von Ordnungsfreunden, nach etlichen Angaben nicht weniger als zehntausend Männer, jedenfalls aber mehrere tausende, von der neuen Oper aus in Bewegung. Neben den schon gestern erschollenen Friedens- und Ordnungsrufen vernahm man aus den Reihen ab und zu auch diesen: „Man muß dem Centralkomité seine angemaßte Gewalt abfordern und abnehmen.“ Dieser Ruf deutete offenbar darauf hin, daß nicht alle Theilnehmer an dem Zuge lediglich friedlich demonstriren wollten. Auch das vorhin gebrauchte „unbewaffnet“ kann nicht von allen gelten. Denn es untersteht keinem Zweifel, daß etliche der Ordnungsfreunde mit Revolvern und Stiletstöcken bewaffnet gewesen sein müssen.

Es ist möglich, daß von keiner der beiden Parteien ein gewaltsamer Zusammenstoß vorhergesehen, gewollt oder gar geplant war. Aber nicht weniger möglich ist, daß ein solcher Zusammenstoß von beiden Seiten gewünscht war. Denn beide Parteien konnten es ganz wohl in ihrem Interesse finden, einen Bruch herbeizuführen. Wenigstens einzelne Personen hüben und drüben konnten die Sache so ansehen. Gewißheit zu erlangen, wird wohl nie möglich sein.

Eine große Trikolore wird dem Zuge vorangetragen, in welchen auch der Admiral Saisset sich eingereiht hat. Man erblickt neben der Uniform der Bürgerwehr auch die der Linie und der Marine, viele Fräcke und Paletots, keine Bluse. Als Erkennungszeichen haben die Ordnungsfreunde ein blaues Band in’s Knopfloch geknüpft. Durch die Straße Neuve St. Augustin, dann durch die Straße de la Paix. Aber beim Ausmünden auf den Vendômeplatz, allwo Kanonen und Mitrailleusen aufgefahren und die Föderirten unter den Waffen sind, stockt die Procession.

Wenn man dem Abbé Lamazou, welcher als Diener der bekannten „Religion der Liebe“ seine Erlebnisse während der Kommune-Zeit erzählt hat, glauben wollte, so hätten, was jetzt geschah, einzig und allein die Rothen auf dem Gewissen. Wir wollen den Zeugen abhören, weil es bei dem ungeheuren Beifall, welchen sein Buch „La place Vendôme et la Roquette,“ 12. édit. 1873, in Frankreich gefunden, immerhin von Interesse sein dürfte, eine Stimme aus der schwarzen Internationale über die rothe zu vernehmen. „Beim Eingang zum Vendômeplatz stieß die Marschkolonne, ermuthigt durch die Quartierinsassen, auf ein Insurgentenkorps, welches Bergeret kommandirte. Dieser ließ seine Leute in Schlachtordnung treten und die Bajonnette kreuzen. Einige Augenblicke später konnte ich mit eigenen Augen bemerken, daß diese Insurgenten fast durchweg Leute von vorgerücktem Alter waren. Betrunken und abgerissen, wie sie waren, stellten sie sich so recht dar als die wüsten Gesellen, welche der Aufruhr auf die Gassen speit und welche das letzte Aufgebot des knechtischen Hundepacks bilden (qui forment le dernier ban de la canaille servile). Es gab darunter eine nicht geringe [64] Anzahl jener Greise, welche, durch Faulheit und Laster heruntergekommen, nichts mehr zu verlieren haben und demzufolge die zuverlässigen Rekruten für jeden Aufruhr sind, mag derselbe kommen, von welcher Seite er will. Die Ordnungsmänner schwenkten ihre weißen Taschentücher und erklärten laut, daß ihre Absicht eine durchaus friedfertige. In dem Augenblick aber, wo etliche der Insurgenten ihre Gewehrkolben aufwärts kehrten, um mit dem gesunden Bevölkerungstheile von Paris zu fraternisiren, ließ Bergeret die Trommeln rühren und nahm eine drohende Haltung an. Ein Flintenschuß wurde auf die dreifarbige (der Friedensprocession vorangetragene) Fahne abgefeuert, und fast in demselben Moment krachte eine mörderische Salve in die Ordnungsleute hinein, welche nach allen Seiten auseinanderstoben. Die Mörder waren so aufgeregt, viele darunter so toll vor Angst, daß sie ihre vor ihnen stehenden Kameraden rücklings niederschossen. Ueber jeden Zweifel erhaben ist, daß weder eine Flinte noch ein Revolver aus den Reihen der Ordnungsleute abgefeuert wurde.“

Doch nicht so ganz über jeden Zweifel erhaben, Euer Hochwürden! Es ist bei solchen Gelegenheiten in der Regel hüben und drüben etwas nicht in der Ordnung. Wenn die Bestie im Menschen sich aufrichtet und an ihrer Kette rasselt, pflegt ihr der boshafte Leibzwerg der Weltgeschichte, der Zufall, gar gern zu Diensten zu sein. Er richtet dann rasch eine jener Teufeleien an, welche man Mißverständnisse zu nennen pflegt. So eine Teufelei, so ein Mißverständniß, wie z. B. eins in der neunten Abendstunde vom 23. Februar 1848 vor dem Hôtel des Capucines in Paris und ein anderes in der dritten Nachmittagsstunde vom 18. März auf dem Schloßplatz in Berlin gespukt, ja so eins hat allem nach auch auf dem Vendômeplatz zu Paris am 22. März von 1871 seinen diabolischen Spuk getrieben. In solchen Stunden erweist sich namentlich das weise Warnungswort: „Spiele nicht mit Schießgewehren!“ als sehr begründet. Denn Schießgewehre scheinen da eine unwiderstehliche Neigung zum Losgehen zu haben.

Die Blauen – so will ich, falls es meinen Lesern und hoffentlich auch Leserinnen genehm, fortan kurzweg die Pariser Ordnungspartei nicht nur, sondern auch die rechtmäßige, vorderhand in Versailles kampirende Regierung der Republik sammt allen ihren Anhängern bezeichnen – die Blauen also kamen durch die Rue de la Paix zum Vendômeplatze gezogen. Dort angelangt, sahen sie sich den von dem Bürger Platzkommandanten Bergeret befehligten Rothen gegenüber, welche den Zugang zu dem Platze sperrten. Aus den blauen Reihen kamen die Rufe: „Hoch Frankreich! Hoch die Ordnung!“ aber auch einzelne Schreie: „Nieder mit dem Centralkomité! Nieder mit den Mördern!“ Warum hätten sich denn unter den Ordnungsleuten nicht etliche, sogar mehrere Schreihälse sollen befinden können, welche wähnten, da man einmal am Demonstriren wäre, könnte und müßte man die Rothen zu Boden demonstriren, niederschreien? Vielleicht verlangten die Demonstranten weiter nichts als den freien Durchpaß, aber, alles zusammengehalten, scheint es ausgemacht, daß erstens dieses Verlangen eine drohende Form angenommen habe und zweitens die Rothen von vornherein entschlossen waren, die Blauen nicht auf den Vendômeplatz hereinzulassen. Der Bürger Platzkommandant ließ demnach seine Leute ein Viereck formiren, die Gewehre laden, die Bajonnette aufpflanzen, und so sperrte diese lebende Barrikade den Zugang von der[WS 1] Friedensstraße her.

Jetzt fällt der in solchen Sachlagen nicht mehr ungewöhnliche Mißverständnißschuß. Wer hat ihn abgefeuert? Natürlich ein Rother, sagen die Blauen. Wogegen die Rothen: „Der Schuß, ein Pistolenschuß, kam aus den Reihen der Blauen und hat den Bürger Maljournal, Mitglied unseres Centralkomité, am Schenkel verwundet. Das wird uns ein gewiß unverdächtiger und kompetenter Zeuge, der berühmte amerikanische General Sheridan, der aus einem Fenster der Rue de la Paix den Vorfall mitansah, bezeugen.“ Und was sagt der General? Der General sagte „Ja“ – aber er fügt hinzu: „Wie die Elenden ihr Land entehren!“ und unter den „Elenden“ will er die Rothen verstanden wissen, welche den sinnlos herausfordernden Schuß – wenn es wirklich ein solcher war – mit einer mörderischen Salve beantworten. Zwar behaupten sie, es sei, als die Blauen den Durchpaß mit Gewalt hätten erzwingen wollen, der warnende Trommelwirbel geschlagen und erst nach Nichtbeachtung des Signals sei Feuer kommandirt worden. Aber Thatsache ist, daß Feuer kommandirt und in die dichtgestauten Reihen der Blauen hinein die Salve gefeuert wurde, bevor es möglich gewesen, das Warnungssignal zu beachten und demselben Folge zu leisten.

Die Wirkung dieser Salve, womit der Bürgerkrieg eröffnet wurde, war, wie sie sein mußte. Die blaue Demonstration zerstob in alle Winde. Zahlreiche Verwundete trugen den Schrecken in die benachbarten Quartiere. Zwanzig Todte, darunter ein Oberst, ein Leutnant, ein Vicomte, ein Bankier, ein Wechselagent, ein Ingenieur, rötheten mit ihrem Blute das Pflaster. Die Rothen scheinen doch selbst über die Schlächterei erschrocken zu sein. Wenigstens ist festgestellt, daß ihre Officiere sie am Weiterschießen hinderten. Auch sie zählten übrigens zwei Todte und acht Verwundete. Muß man annehmen, daß nach Abfeuern der rothen Salve auch aus den Reihen der Blauen geschossen worden sei? Oder ist die oben angeführte Behauptung des Abbé Lamazou, die Rothen hätten in der Verwirrung selber auf einander gefeuert, als Erklärung dieser Tödtungen und Verwundungen zulässig?

Gewiß ist, daß die Herren Bürger vom Centralkomité das auf dem Vendômeplatze Geschehene ausdrücklich guthießen und nach empfangenem Bericht darüber zweierlei beschlossen. Erstens, daß sich die auf dem Vendômeplatze kommandirenden Officiere „um das Vaterland verdient gemacht hätten“, und zweitens, daß keine blauen Kundgebungen mehr stattfinden dürfen. Denn Freiheit muß sein, d. h. jeder muß nach unserer Façon frei sein.

Der rothe Schrecken, welcher am Abend des 22. März vom Vendômeplatz ausging, unterwarf thatsächlich ganz Paris dem Machtgebote des Centralkomité. Fast unglaublich klingt es, daß der Admiral Saisset auch jetzt noch an die Möglichkeit einer friedlichen Ausgleichung glaubte und mit den Herren vom Stadthause in Unterhandlungen blieb. Am Morgen des 24. März ließ er sogar, freilich ohne die Ermächtigung der Regierung eingeholt zu haben, eine Proklamation anschlagen, worin er folgende Zugeständnisse von seiten der Regierung und der Nationalversammlung verhieß: „Volle Anerkennung der Gemeindefreiheiten, Wahl der Officiere aller Grade durch die Nationalgarde selber, Aenderung des Wechselgesetzes, Milderung des Miethzinsengesetzes.“

Von der passiven Bevölkerung der Hauptstadt, aber auch nur von der passiven, wurde dieser Erlaß, der eben doch nur ein Apokryphon, eine gutgemeinte Täuschung war, mit freudiger Zustimmung begrüßt. Im Stadthause lachte man darüber. „Die Blauen sind ebenso dumm wie schwach,“ meinte der Bürger Assi. Indessen wurde für gut befunden, die Unterhandlungskomödie, in welcher sich ja auch die Deputirten von Paris, sowie die Maires und ihre Adjunkten zu Dupes-Rollen hergaben, noch 24 Stunden weiterzuspielen. Alle die Herren Unterhändler von blauer Seite waren in Wahrheit „ebenso dumm wie schwach“. Sie merkten gar nicht, daß den Leitern der Insurrektion ungeheuer viel, alles daran lag, die Wahl einer Kommune als den Wunsch und die That der Gesammtbevölkerung von Paris hinzustellen und erscheinen zu lassen, und bewilligten eine der darauf abzielenden Forderungen des Centralkomité nach der andern. So kam die „Vereinbarung“ zu stande, daß Sonntags den 26. März von Morgens 8 Uhr bis Nachts 12 Uhr Paris seine „Kommune“ wählen sollte.

Damit hatten die Stadthausherren, was sie wollten. Der gute Admiral Saisset trieb die Kindlichkeit so weit, daß er als nach bestverrichtetem Werke die Bataillone der Bürgerwehr, welche noch bis zum 25. März unter seinem Kommando verharrt waren, entließ und am Abend des Tages mit dem frohen Bewußtsein, den Bürgerkrieg im Keime erstickt zu haben, nach Versailles hinausfuhr. Wie er dort empfangen wurde und bis zu welchem Grade der Verlängerung dieser Empfang sein Gesicht brachte, ist nicht genau bekannt.

Im Hôtel de Ville war man an diesem Abend siegesgewiß. Die Blauen hatten sich dumm und schwach erwiesen, die Rothen schlau und stark. Die Massen aber fallen überall und allzeit dahin, wo die größere Kraftentwickelung stattfindet.




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Die Farbenblindheit,


eine Gefahr für das öffentliche Leben.


Der leider der Wissenschaft und wir dürfen ohne Uebertreibung sagen der Menschheit so früh entrissene Sprachforscher und Philosoph, der große Denker Lazarus Geiger, bewies in der überwältigenden Rede, durch die er einige Jahre vor seinem Tode auf der Naturforscherversammlung zu Frankfurt am Main die gesammte Hörerschaft entzückte, daß die menschlichen Sinnesorgane vor Jahrtausenden noch nicht zu so exacten Sinneswahrnehmungen sich herangebildet hatten, wie solche die heutige Beobachtung[WS 2] erweist. Er nahm die Geschichte des Farbensinnes in Bezug auf die Gesammtentwickelung des Empfindens zum Thema seines Vortrags und wies aus den ältesten uns erhaltenen Geisteswerken der Urvölker nach, daß der Eindruck, den die Farbe auf die menschliche Gesellschaft der Vorzeit gemacht hat, auf eine merkwürdige Verschiedenheit von unseren heutigen Farbenempfindungen schließen läßt. Besonders auffallend ist, daß in den ältesten uns überkommenen Erzeugnissen der Literatur des Alterthums der blauen Farbe durchaus keine Erwähnung geschieht.

Weder die alten hochpoetischen indischen Offenbarungsbücher, die „Veda“, die in ihrer Gesammtheit mit Schilderungen des Himmels angefüllt sind, noch der „Zendavesta“, jene wunderbare Sammlung altpersischer Religionsschriften des Zoroaster, erwähnen die blaue Farbe des Himmels, den sie schwarz nennen. Auch Bibel und Koran finden keine Gelegenheit des blauen Himmels zu gedenken. Die Wörter, welche in den Sprachen des grauen Alterthums für blau gebraucht werden, bedeuten zum kleineren Theil ursprünglich grün; der größte Theil derselben hat in früherer Zeit schwarz bedeutet. Weder Homer noch das ganze classische Alterthum haben ein Wort für das reine Blau gekannt, indem das lateinische Wort „caeruleus“ in seiner Bedeutung eine zeitliche Entwickelung von schwarz über grau bis gegen blau hin durchläuft, und so kam es, daß die romanischen Sprachen in der That kein verwendbares Wort für blau in der römischen Grundsprache vorfanden und es zum Theil von den Deutschen geborgt haben (blau, bleu, blue).

Geiger weist weiter nach, daß die grüne Farbe um eine Stufe weiter als die blaue in das Alterthum zurückgeht, um dann ebenfalls abzubrechen, und schließlich tritt der Dualismus von schwarz und roth in sehr scharfen Zügen als eine erste und primitivste Epoche alles Farbensinnes hervor. Geiger stellt die Frage auf: „Besteht der Gegensatz gegen uns nur in der Benennung oder in der Perception?“ (Das heißt in dem Bewußtsein des Farbeneindruckes). Wir glauben an der Hand der neuesten wissenschaftlichen Forschungen die Frage Geiger’s in der Richtung beantworten zu können, daß wohl ein allgemeiner Mangel an Perception für gewisse Farben im Alterthum stattgefunden haben dürfte, indem die für alle Farben des Regenbogens herangebildete Empfindung der Netzhaut unseres Auges auf das Darwin’sche Gesetz der im Laufe der Jahrtausende entstandenen Verbesserung aller Wesen und alles Seins in kaum anzugreifender Weise sich zurückführen läßt. Ebenso wie im Thier- und Pflanzenreiche heute noch Abarten vorkommen, bei welchen in mangelhafter Weise gewisse Organe ausgebildet sind, welche im „Kampfe um’s Dasein“ der Weiterentwickelung getrotzt haben, ebenso finden sich heute noch Menschen, bei welchen der Farbensinn des Auges nur partiell entwickelt oder in seiner Totalität gar nicht vorhanden ist, ein Bildungsfehler, welcher in gewissen Familien durch Generationen als Familienerbstück nachgewiesen werden kann. Man nennt diese Zustände partielle und totale Farbenblindheit.

Es braucht wohl hier auf die Organisation des Auges nicht eingegangen zu werden, da die Leser der Gartenlaube mit derselben schon zu verschiedenen Malen bekannt gemacht wurden.

Alles was zu dem Sehorgane als licht- und bildempfindendem Apparate gehört, das Auffassen der Bilder und der Farben, wird durch seine feinen Gebilde percipirt, das heißt empfangen und durch die Sehnervenfasern, als die leitenden Apparate, dem Gehirne als Empfindung zugeführt.

Nun giebt es eine große Anzahl von Menschen, von welchen gewisse Farben nicht empfunden werden, oder mit anderen Worten, bei welchen die Endorgane der Sehnerven entweder nicht geeigenschaftet erscheinen, die Bewegung gewisser Lichtwellen zur Gehirnempfindung zu vermitteln, oder solche überhaupt mangelhaft ausgebildet, vielleicht gar nicht vorhanden sind.

Es entsteht aus diesem Mangel die sogenannte Farbenblindheit, ein vielfach angeborener, ja sogar meistentheils ererbter Bildungsfehler des menschlichen Auges. Es giebt unter den Farbenblinden solche, welche überhaupt keinen Begriff von Farbe haben und die ganze Welt wie eine Tuschzeichnung grau in grau schattirt sehen. Bei anderen ist die Auffassung der Farben getheilt – sie sind nur partiell farbenblind; das heißt für gewisse Farben ist ihre Netzhaut empfindlich, für andere nicht. Am verbreitetsten unter den Menschen ist die Rothblindheit, Anerythropsie oder Daltonismus, und kommt solche namentlich in England vor, woselbst das Uebel nach dem bekannten Physiker Dalton, welcher zu den Rothblinden gehörte und zuerst eine genauere Untersuchung dieses Zustandes bewirkte, seine Benennung erhalten hat.

Wer kein Roth sieht, dem fehlt auch der Eindruck der durch das Grün hervorgerufenen Lichtwellen, wie schon der große Philosoph Arthur Schopenhauer in seinem Werke über „das Sehen und die Farben“ ganz positiv und mit Recht behauptet hat – mithin ist jeder Rothblinde auch grünblind. Er sieht in Wirklichkeit Alles gelb und blau. Andererseits giebt es Menschen, welche das Blau nicht zu erkennen vermögen, welchen demnach diejenigen Nervenapparate im Auge fehlen, welche durch die blauen Lichtwellen erregt werden. Der Mangel der sicheren Auffassung des Blau wird Akyanoblepsie genannt, und ist solchen Menschen ebenfalls die Gabe, die sogenannte complementäre Farbe, den Gegensatz von Blau, das Gelb, unterscheiden zu können, entzogen.

Wenn es andererseits vorkommt, daß Manche verschiedene Farben miteinander verwechseln, z. B. nicht Blau und Roth oder Grün und Braun von einander sicher zu unterscheiden vermögen, Andere zwar Gelb, Roth und Blau zu erkennen im Stande sind, dagegen häufig in der Beurtheilung untergeordneter Nüancen oder Farbenmischungen irren, so ist immer anzunehmen, daß solche Menschen zwei Farben ganz sicher durchaus nicht erkennen, z. B. die Einen nicht Roth und nicht Grün, die Anderen nicht Blau und nicht Gelb, daß aber ihre Angaben bestimmter vermeintlicher Farben, die sie eigentlich gar nicht sehen, auf einer anerzogenen Bezeichnung beruhen; eine gewisse Schattirung, die das normale Auge z. B. blau sieht, hat der Blaublinde in bestimmter Lichtabstufung immer blau bezeichnen hören, die betreffende Lichtabstufung, von der er durchaus keinen Farbenbegriff nach der Auffassung eines Blausehenden hat, nennt er eben blau, weil er es so gelernt und sein ganzes Leben hindurch so gehört hat. – Anderen erscheint Roth und Grün als Gelb oder Blau, und sie werfen sämmtliche Ausdrücke für die Farben in bunter und regelloser Weise durcheinander; solche Menschen befinden sich in der peinlichen Lage, drei- bis viermal so viele Ausdrücke für nur zwei von einander verschiedene Empfindungen, in unserem Falle für Gelb und Blau zu besitzen, da ihnen dieselben von Kindheit an ebenso gut eingeprägt worden, wie solchen, welche mit den Farbenbenennungen auch die entsprechenden Vorstellungen zu verbinden im Stande sind.

Karl Vogt erzählt, daß ihm unter seinen Bekannten Landschaftsmaler begegnet seien, die den Unterschied zwischen Roth und Grün nicht empfanden, die Abstufungen dieser Farben nur nach den Nüancen des Grau beurtheilten, das sie wirklich sahen, und dennoch in ihren Bildern keine Verstöße gegen die Harmonie und Stimmung der Farbe machten. In Deutschland soll es einer sehr hohen Persönlichkeit begegnet sein, daß sie bei einer zu Ehren eines fremden Potentaten abgehaltenen großen Revue in Folge partieller Farbenblindheit statt in dunkelgrüner in grellrother Generalsuniform erschienen, und in England ist es hohen Officieren mehrfach vorgekommen, daß sie in grasgrünen Röcken statt in der bekannten rothen Bekleidung auf die Parade kamen.

Goethe schildert einen Zustand von Akyanoblepsie oder Blaublindheit, den er an zwei jungen Menschen beobachtete; [66] diesen Menschen erschien der Himmel stets rosenfarben und alles Uebrige grün in Tönen vom Gelben bis zum Braunrothen. „Wenn man,“ sagt Goethe, „die Unterhaltung mit ihnen dem Zufalle überläßt und sie blos über vorliegende Gegenstände befragt, so geräth man in die größte Verwirrung und fürchtet, wahnsinnig zu werden. Mit einiger Methode hingegen kommt man dem Gesetze dieser Gesetzwidrigkeit schon um Vieles näher.“

Die Untersuchungsmethoden, welche man bisher zur Erkennung der Farbenblindheit anwandte, waren zeitraubend und unsicher. Die gebräuchlichste Methode beruhte darauf, eine große Anzahl farbiger Muster sortiren zu lassen. Der Umstand, daß Farbenblinde durch große Uebung den Mangel an Farbenempfindung verdecken können, indem sie die Lichtabstufungen als Farben bezeichnen, läßt obige Methode als eine unsichere erscheinen. Ich kenne einen total Farbenblinden, einen sehr scharfen Beobachter, der mir erzählte, daß er zwar keinen Begriff davon habe, was wir unter Farben verständen, daß er aber „mit dem Verstande“ die Farbentöne, die er durchaus empfinde, dennoch erkennen könne.

Heutzutage haben wir ein ganz vorzügliches Mittel, die Verirrungen und Verwechselungen Farbenblinder auf ihren wahren Werth zurückzuführen. Es beruht in der Anwendung der Spectralanalyse zur Erkennung der Farbenblindheit. Bekanntlich zeichnet das Sonnenlicht, das man in Form eines Strahlenbündels durch eine runde kleine Oeffnung eines dunkeln Zimmers direct einfallen läßt, einen hellen Kreis auf die der Oeffnung gegenüberliegende dunkele Wand. Hat man dagegen ein Glasprisma zwischen die Wand und die Oeffnung gesetzt, so werden die Strahlen abgelenkt. Der helle Kreis ist elliptisch in die Länge gezogen und zeigt die ungleich lichtstarken Hauptfarben des Regenbogens, das sogenannte Spectrum, bestehend aus Roth, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Dunkelblau und Violett; wenn wir die zarten Uebergänge von einer Farbe in die andere außer Acht lassen, zeigen sich vier Hauptfarben, Roth, Gelb, Grün und Blau.

Es sind dies ganz dieselben Erscheinungen, welche uns in unserer Kindheit bei den Spielen mit geschliffenen Glasstücken oder herabgefallenen Kronleuchterprismen so sehr erfreut haben. Wer erinnert sich nicht gerne der frohen Jugendzeit, da wir im Lichte eines erhaschten Stückchens facettirten Krystallglases in dem prachtvollsten Regenbogenfarbenglanze unser Auge minutenlang schwelgen ließen!

Diese Regenbogenfarben werden, wenn das Licht durch einen recht engen Spalt in das Zimmer eingelassen wurde, von einer Anzahl feiner dunkler Parallellinien durchsetzt, die auf dem Längendurchmesser des Spectrum senkrecht stehen, und nach ihrem ersten Beobachter, dem berühmten Münchener Optiker, Frauenhofer’sche Linien genannt werden.

Die Bedeutung dieser Linien hatte man bis zum Jahre 1859 nicht gekannt. Nachdem der geniale Physiker Kirchhoff nachgewiesen hatte, daß jedes Metall im glühenden Zustande sein eigenes System von Streifen ausstrahle, das ebenso charakteristisch für dasselbe ist, wie alle seine anderen physikalischen und chemischen Eigenschaften, wurde plötzlich auch die in dem Sonnenspectrum sich findende dunkele Streifung erklärlich. Jede solche Linie bedeutet ein auf der Oberfläche der Sonne brennendes Metall. Professor Kirchhoff hat den Satz aufgestellt, daß ein Gas oder ein Dampf alle diejenigen farbigen Strahlen absorbirt, das heißt nicht durchpassiren läßt, die es selbst ausstrahlen kann. Die Körper, welche mit rother Farbe verbrennen, werden einen Dunstkreis um sich verbreiten, der kein rothes Licht durchläßt; die gelb verbrennenden Körper lassen kein gelbes, die grün verbrennenden kein grünes und die blau verbrennenden Körper kein blaues Licht passiren. Die dunkeln Linien im Sonnenspectrum, das heißt in der aus dem Sonnenlichte mittelst eines eigenthümlichen Apparates dargestellten regenbogenartigen Farbenscala, sind demnach ausgelöschte Lichtpartien, bedingt durch das Passiren der Lichtstrahlen durch die Sonnenumgebung, die sogenannte Photosphäre, welche aus glühenden Metallgasen besteht.

Läßt man nun einen theilweise Farbenblinden durch einen Spectralapparat die sich bildenden Regenbogenfarben des Spectrums, die dem normalen Auge in der oben bezeichneten Reihenfolge roth, gelb, grün, blau, violett erscheinen, betrachten, und ist er z. B. rothblind, so wird er das rothe Ende des regenbogenfarbigen Spectrums gar nicht sehen. Es existirt gar nicht für ihn, und es wird ihm die Breitenausdehnung des Spectrums oder eines Regenbogens um die Strecke, welche auf ein normales Auge den Eindruck von Roth macht, verkürzt erscheinen. Er sieht alsdann nur zwei Farbennüancen, Gelb und Blau, indem sein Regenbogeneindruck mit Gelb anfängt und dieses Gelb, mit Auslassung des Grün, allmählich in Blau übergeht. Ebenso erscheint dem Blaublinden auf der entgegengesetzten Seite im Apparate der künstlich erzeugte Regenbogen, das Spectrum, verkürzt, da ihm der Eindruck des anderen Endes, das Blau und Violett, fehlt; bei ihm geht Roth allmählich in Grün über, und mit Grün hören seine Farbeneindrücke auf, während die Totalfarbenblinden im Apparate gar keine Farben wahrnehmen, sondern nur eine Anzahl von in den einzelnen Partieen mäßig differenzirten Helligkeitsstreifen erblicken. Um bei der Erkennung der Farbenblindheit ganz sicher zu gehen, läßt man den Farbenblinden durch ein Spectroskop nach verschiedenen Flammen sehen, deren Licht durch brennende chemische Stoffe gefärbt wird. Im Momente, wo das brennende Metall, z. B. Natrium, in die Flamme gebracht wird, blitzt im Spectrum eine helle Linie auf, bei unserem Beispiele eine hellgelbe; sieht der Farbenblinde diese plötzliche Linie nicht gelb, so ist er gelbblind; verbrennt man etwas Kalium und Strontium in der betreffenden Flamme und sieht der Beschauer die verschiedenen plötzlich auftretenden rothen Linien nicht, so ist er rothblind, und ist auf diese Weise das sicherste Erkennungsmittel für dessen Farbenblindheit gegeben.

In jüngster Zeit hat der bekannte Augenarzt Dr. J. Stilling in Kassel eine vorzügliche Methode,[WS 3] die Farbenblindheit rasch zu erkennen, angegeben. Stellt man zwischen eine brennende Lampe und eine weiße Fläche eine rothe Glasplatte, so erscheint der Schatten eines Stiftes, den man zwischen die Glasplatte und die Fläche hält, jedesmal in der Complementärfarbe des Roth, als grüner Schattenstrich, und umgekehrt durch eine grüne Glasscheibe als rother Schattenstrich, durch eine blaue Scheibe als gelber Schattenstrich, durch eine gelbe Scheibe als blauer Schattenstrich. Ist nun Jemand farbenblind, so erkennt er die entsprechende Farbe des Schattens nicht und sieht ihn einfach grau oder dunkel.

Die Farbenblindheit, jene eigenthümliche Anomalie unseres Auges, welche eine Curiosität für den Laien ist und dem Naturforscher ein hochwissenschaftliches Interesse darzubieten scheint, greift – man sollte es kaum glauben – recht tief in das praktische Leben ein. Bei sehr vielen Eisenbahnunfällen, von denen wir in neuerer Zeit so erschreckend viel lesen und hören, kommt es nicht selten vor, daß bei Zeugenvernehmungen in Bezug auf die Angaben der beobachteten farbigen Lichter die größten Widersprüche zu Tage treten. Leicht kommen dadurch ganz unbescholtene, brave Menschen in den Verdacht eines falschen Eides; wie leicht wandert unter solchen Umständen ein bedauernswerther Locomotivführer oder Weichensteller, der in Folge von Farbenblindheit die Farbe einer Drehscheibe verkannte, unschuldig in das Gefängniß! Und was war denn der Grund jenes Unglückes? Kein falscher Eid, keine Fahrlässigkeit, sondern die Farbenblindheit, eine unter den Menschen so sehr verbreitete und Jahrhunderte hindurch ungeahnte Abart des Sehvermögens. Als man vor mehreren Jahrzehnten anfing, von dieser Anomalie des Auges zu sprechen, hielt man die ganze Sache einfach für lächerlich, und viele Leute, welchen der Mangel des Farbensinnes nachgewiesen wurde, wollten gar nicht glauben, daß ihnen der Farbensinn abgehe. Das schwache Bewußtsein der Schattirungsdifferenzen der Lichteindrücke war für sie der Begriff „Farbe“. Und doch ist das Uebel sehr verbreitet.

In England kommt, so viel bis jetzt bekannt, die in Rede stehende Anomalie am häufigsten vor, indem unter achtzehn Menschen schon Einer damit behaftet ist. Nach Mittheilungen in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin haben verschiedene Eisenbahnärzte in Frankreich in jener Beziehung das Beamtenpersonal nur oberflächlich untersucht, und es fanden sich unter den Beamten acht Fälle von Farbenblindheit. Dr. Faure prüfte hierauf siebenhundertachtundzwanzig Eisenbahnbeamte im Alter von achtzehn bis sechszig Jahren sorgfältiger und fand zweiundvierzig an Farbenblindheit Leidende. Neun unter denselben konnten nur die rothe Farbe nicht unterscheiden. [67] Da durch deren ferneren Dienst Gefahren unvermeidlich waren, wurden dieselben pensionirt. Ein anderer Arzt fand unter zweihundert deutschen Eisenbahnbediensteten die Farbenblindheit sieben Mal. Professor Dor in Bern hat bei einer speciell auf Farbenblindheit gerichteten statistischen Untersuchung unter achthundert Personen gegen fünfzig Farbenblinde gefunden, wonach etwa der sechszehnte Mensch betroffen wäre.

Die heutige medicinische Wissenschaft steht auf dem einzig richtigen Standpunkte der Verhütung der Krankheiten. Die Aerzte halten sich zum größten Theile – so denken wir – nicht mehr für lebensrettende Götter, sondern sie sind auf Grund der großartigen Errungenschaften der Chemie und Physik zu vorsorglichen Hütern der Gesundheit ihrer Pflegebefohlenen geworden, und so wurde die öffentliche Gesundheitspflege geschaffen, eine Wissenschaft, die, obwohl noch in ihrer Kindheit, schon jetzt großen Segen über die Menschen gebracht hat. – Wenn Menschen durch irgend ein Leiden bei Ausübung ihres Berufes materielle Interessen des Publicums zu schädigen im Stande sind und die Gesundheit und das Leben der Staatsbürger zu gefährden oder gar zu vernichten Veranlassung geben können, so ist die öffentliche Gesundheitspflege verpflichtet, dieses wichtige Thema in den Kreis ihrer Behandlung zu ziehen.

Es hat zwar der preußische Handelsminister in einer Rede über eine Eisenbahnfrage die Behauptung ausgesprochen, daß die Zahl der Unglücksfälle auf den deutschen Bahnen sich vermindert habe, jedoch ist dies immer noch nicht in dem Grade der Fall, daß die Aufmerksamkeit der Behörde nicht unausgesetzt auf diesen Gegenstand gerichtet sein müßte. Der oben auseinandergesetzte Krankheitszustand des menschlichen Auges kann, wie geschildert, für Locomotivführer, Heizer, Weichensteller und Stationsvorsteher in Ausübung ihres Berufs sehr bedenklich werden. Solche Beamte müssen Signale, die sich durch verschiedenartige Farben kenntlich machen, genau unterscheiden können, und auf den meisten Bahnen sind die rothen Signalscheiben und rothen und grünen Lichter ganz besonders im Gebrauche. Wie leicht bei theilweiser Farbenblindheit eines solchen Beamten Unglücksfälle von weittragender Bedeutung sich ereignen können, ist begreiflich, und sind auch derartige Fälle leider schon vorgekommen. Ebenso wie das Eisenbahnpersonal müssen Seeleute, Schiffscapitaine und Lootsen, welchen Personen die gewissenhafte Unterscheidung farbiger Signale obliegt, auf die geschilderten Verhältnisse aufmerksam gemacht werden. In dem Gesundheitszeugnisse des Eisenbahn- und Schiffspersonals ist demnach ein Passus über die Güte des Gesichtssinnes in Bezug auf Farbenunterscheidung, durch speciellen Vermerk, nach sorgfältiger Prüfung mittelst des Spectroskops, unvermeidlich einzutragen. Jeder Eisenbahnarzt und jeder Schiffsarzt müssen verpflichtet werden, sich die optischen Kenntnisse, welche zu den bezüglichen Untersuchungen unumgänglich nothwendig sind, anzueignen. Eine Spirituslampe, einige Metallsalze und ein kleines Taschen-Spectroskop, wie solches für den billigen Preis von circa zehn Thalern zu haben ist, würde zur Untersuchung vollkommen genügen. Solche Instrumente liefert der berühmte Optiker Steg zu Homburg im Taunus in vorzüglicher Güte. Man nimmt diesen netten kleinen Apparat, der im Ganzen nur circa drei Zoll lang und etwa sieben Linien breit ist, wie ein Fernglas zur Hand; es bietet dessen Benutzung nicht nur für wissenschaftliche Untersuchungszwecke, sondern auch zur Selbstbelehrung eine willkommene Gelegenheit.

Durch eifriges Vorgehen der Staats- und Privatbahn-Directionen sollte nun recht bald dafür Sorge getragen werden, daß alle Personen, welche sich dem bezüglichen Dienste zu widmen beabsichtigen, sowie alle schon im Dienste stehenden auf die Farbenunterscheidung untersucht werden; solche Untersuchungen sind, da das Erkennen der Farbenunterschiede manchmal bei übermäßigem Spirituosengenuß, nach gewissen Krankheiten, und besonders nach heftigen Gehirnerschütterungen Einbuße erleidet, alljährlich zu wiederholen; nach Verletzungen ist, sofort nach der Reconvalescenz, der Betroffene auf Farbenempfindung zu prüfen. Bis jetzt ist in Deutschland unseres Wissens nur eine Eisenbahndirection, die der Bergisch-Märkischen Bahn, auf die Gemeingefährlichkeit möglicher Farbenblindheit unter ihren Beamten aufmerksam geworden und hat an die in ihrem Bezirke angestellten Bahnärzte das Ansuchen gestellt, sich über die in Rede stehenden Verhältnisse zu äußern und über die Methode sich auszusprechen, nach welcher am schnellsten und sichersten die Farbenblindheit beim Eisenbahnpersonal erkennbar sei; ein Congreß der Bergisch-Märkischen Eisenbahnärzte soll zu diesem Zwecke demnächst stattfinden.

Möge durch obige Auseinandersetzungen nach mancher Seite hin Anregung zur Erledigung dieser wichtigen, mit dem Wohl und Wehe der Menschheit so innig verknüpften Frage gegeben sein, damit durch die Lehren vom Lichte immer mehr und mehr Aufklärung und Erleuchtung in alle Verhältnisse des bürgerlichen und socialen Lebens eindringe! – Durch das Licht zur Wahrheit, durch die Wahrheit zur Erkenntniß, durch die Erkenntniß zu Gesundheit und Volkswohlfahrt!

Frankfurt a. M.

Dr. med. S. Th. Stein.




Im Reiche der Mitte.


Von F. Deichmüller.


Es war am Morgen des 10. October; blutroth entstieg eben die Sonne dem Meere, und ihre ersten Strahlen beleuchteten die nordöstlich am Horizonte auftauchenden Rocks, die, in immer größeren Gruppen sichtbar werdend, uns die Nähe des Festlandes verkündeten. Freudiger denn je begrüßten wir heute die ersten Spitzen des Landes, denn hinter uns lagen die weiten tropischen Länder, durcheilt waren die endlosen Meere; der letzte Hafenplatz vor Erreichung chinesischer Gewässer, das auf der Südspitze von Malakka gelegene, von herrlicher tropischer Vegetation rings umgebene Singapore, war längst verlassen, und vor uns lag das Ziel unserer Reise, der deutschen Reichsexpedition[2] nach China.

War auch unser Stationsort in einem nördlicheren Theile Chinas gelegen, so sollte uns doch heute der erste Blick gestattet sein in das der Welt so lange verschlossen gebliebene, erst unserer Generation zugänglich gemachte Land des Orients, mit seinen conservativen, sich den Einflüssen moderner Cultur scheu entziehenden Bewohnern. – Die noch vor wenigen Tagen von der Gewalt eines mit seltener Heftigkeit tobenden Typhoon (Wirbelsturmes) wild durcheinander gepeitschten Wassermassen boten jetzt das Urbild majestätischer Ruhe, und mit normaler Geschwindigkeit eilte unser Dampfer durch die von der höher steigenden Sonne glänzend beleuchtete, spiegelglatte Ebene dem nahen Hafen entgegen.

„Hongkong!“ ertönte da von mehreren Seiten gleichzeitig der freudige Ruf, und umschauend gewahrten wir uns bereits inmitten eines Felsenarchipels, dessen größte östliche Insel, Hongkong mit der englischen Colonie „Queentown“, einen herrlichen Anblick bot. Die immer intensiver wirkenden Strahlen der tropischen Sonne verliehen den hohen kahlen Felsenbergen hellen Glanz und ruhten brennend auf den blendend weißen Häusern der Colonie, die, neben den Wohnungen der Eingeborenen terrassenförmig an dem steil abfallenden Bergeshang hingestreut, sich bis dicht an den Strand des Meeres erstrecken. Durch einen schmalen Meeresarm vom asiatischen Continent getrennt, birgt die kleine Insel einen der bedeutendsten Handelsplätze des Orients, und der von der Natur herrlich angelegte Hafen, in den wir eben einfuhren, zählt zu den ersten der Welt.

Plötzlich verstummte das einförmige Getöse der Schraube, und bald darauf rauschte der Anker hinab in die Tiefe des Meeres, vom Gerassel der nachfolgenden Ketten begleitet. – Jetzt tönte das Geräusch einer Unzahl beschleunigter Ruderschläge zu uns herüber, und bald darauf war unser Schiff auch schon rings von Dschonken (chinesischen Booten) umlagert, deren Insassen eifrig bemüht waren, Passagiere für ihre Fahrzeuge zu werben. Die längere, durch Sturm und andauernde ungünstige Witterung etwas aufreibende Seereise machte uns einen kurzen Aufenthalt an Land doppelt wünschenswerth, und versehen mit [68] den nöthigsten Utensilien stiegen wir in eines der nach chinesischem Geschmacke bunt bemalten Fahrzeuge, das uns an Land bringen sollte. Das Innere der Dschonke nahm sogleich unser Interesse in Anspruch, und zwar schien es ein charakteristisches Bild chinesischen Volkslebens zu repräsentiren. Während der vordere Raum des Fahrzeuges, mit bequemen Bänken versehen, zur Aufnahme der Passagiere bestimmt schien, bot die andere Hälfte den Anblick einer originellen chinesischen Behausung dar. Nothdürftig geschützt gegen die Einflüsse der tropischen Witterung durch ein aus Bambusrohr und Schilf geflochtenes Dach, befanden sich in dem engen Raume die jüngeren Glieder der Familie, ein bereits bezopfter Knabe und ein Mädchen im Alter von drei bis sieben Jahren, die, mit Muscheln und bunten Steinen spielend, hin und wider von dem über flackerndem Feuer kochenden Reis oder von den in großer Quantität vorhandenen Seefischen naschten, unbekümmert um das anhaltende Geschrei eines Säuglings, der, dürftig in ein Tuch gehüllt, hülflos in einer Ecke lag. Einige Kochgeschirre der primitivsten Art und mehrere Tabakspfeifchen bildeten das gesammte Inventar dieser seltsamen Behausung, deren Vorsteherin und Familienmutter, unbesorgt um die kleine Familie, am Ruder saß und gemächlich unser Fahrzeug dem nahen Hafen entgegen führte.

Endlich ertönte ein lautes „Stop“. Die einförmigen Ruderschläge verstummten; wir hatten das Land erreicht. Nachdem wir die dem Hafen zunächst gelegenen Stadttheile, die hauptsächlich größere europäische Handlungshäuser enthalten und leider noch manches Schreckensbild von den Verheerungen des letzten Typhoon aufzuweisen hatten, durchwandert, gelangten wir zu den Wohnungen der Eingeborenen. Der plötzliche Eintritt aus dem fast ausschließlich europäischen Stadttheile in das bunte Gewühl eines mit eisernem Conservatismus die eigenen Sitten und Gebräuche hegenden chinesischen Platzes mochte den gewaltigen Effect, den der erste Anblick einer Stadt dieses eigenthümlichsten aller Länder des weiten Orients auf den Fremdling nie verfehlt, noch bedeutend erhöhen. Unschlüssig zuerst, welchem der unzähligen wunderbaren Dinge wohl die größte Aufmerksamkeit zu schenken sei, waren es bald die bunt bemalten Häuschen in ihrer originellen Einrichtung, bald deren Bewohner selbst, die unser Interesse in Anspruch nahmen.

Die schmalen einstöckigen Wohnhäuser, welche dichtgedrängt die engen Straßen begrenzen, gewähren durch die meist fehlenden Thüren und Wände nach der Straßenfront dem Vorübergehenden einen freien Blick in das Innere der Behausung, eine Einrichtung, die wohl auf das tropische Klima zurückzuführen ist. Vollständig gleich gekleidet, alle bis auf den Schopf, wo der Zopf entspringt, das Haupt kahl geschoren, alle den gleichlangen schwarzen Zopf tragend, jeder eine kurze Tabakspfeife im Mund, gewähren die unzähligen Individuen kaum ein unterscheidendes Merkmal. Auch überall zeigt uns der Blick in das Innere der Behausung ein Bild emsiger Gewerbsthätigkeit; überall liest man Zufriedenheit auf den sonst kein bestimmtes Gepräge tragenden Gesichtern, aber auch überall macht man die Bemerkung, daß große Reinlichkeit nicht zu den Eigenschaften der Bürger des „himmlischen Reiches“ zählt. – So klein und eng aber auch die Wohnungen und Straßen in einer chinesischen Stadt sind, so überfüllt sind sie beide, und bald genug erfährt der Fremde, mit wie viel Schwierigkeiten er beim Durchwandern der letzteren zu kämpfen hat. Ist es schon ohnehin schwierig, sich durch die dichtgedrängte Menge, die in den engen Räumen wogt, hindurchzuarbeiten, so gehört noch eine besondere Umsicht dazu, nicht mit den fortwährend passirenden lasttragenden Kulis zu caramboliren, die, ihre Lasten an beiden Enden einer über die Schulter gelegten langen Bambusstange aufgehängt, mit dem ununterbrochenem Rufe: „ho ho!“ um Platz anrufen.

Eine nicht geringe Zahl der Passanten besteht ferner aus solchen Gewerbetreibenden, die ihre Thätigkeit an den öffentlichen Plätzen und Straßen entfalten und dadurch nicht wenig zur Hemmung des Verkehrs beitragen. Es sind dies die wandernden Friseure. Aehnlich den Kulis, tragen sie an einem Bambusrohr ein Kohlenbecken mit warmem Wasser und einen Geräthschaftskasten, womit sie durch die belebtesten Plätze ziehen indem sie sich durch das unangenehme Geräusch der „Gongs“ (das lebhaft an den Lärm vor den Schaubuden auf unseren heimathlichen Messen und Jahrmärkten erinnert) dem Publicum bemerklich machen. Der Chinese muß wohl großen Werth auf ein glattrasirtes Haupt legen, denn nur selten brauchen diese Friseure lange auf Kundschaft zu warten. Der Kunde setzt sich dann einfach auf den Geräthschaftskasten, und nun kann man die Thätigkeit des Haarkünstlers unter freiem Himmel und gerade an den belebtesten Plätzen bewundern. Nach Beendigung derselben packt er seine Geräthschaften zusammen und zieht mit dem betäubenden „Gongs“geräusch weiter.

Einen weniger primitiven Anblick gewähren die nett eingerichteten Verkaufslocale, die fast den ganzen Raum der Häuschen zu beiden Seiten der engen Straßen einnehmen. Ueber den Eingängen der Läden finden sich Bretter angebracht, auf denen in meist vergoldeten Schriftzeichen der Name des Ladenbesitzers nebst seinem Wahlspruche verzeichnet ist. Auch hier übersehen wir von der Straße aus das ganze Innere des Ladens, der, häufig der einzige größere Raum des Wohnhauses, zugleich als Wohnung der Familie dient. Sehen wir uns die ausgelegten Waaren an, so haben wir Gelegenheit, hier die kunstvollsten Elfenbeinschnitzereien, dort Geräthschaften aus reinstem Porcellan mit prächtigen Malereien, dann wieder die schwersten Seidenstoffe zu bewundern, kurz, wir finden hier Alles, was uns in Europa als chinesische Industrieproducte angepriesen wird.

Tritt man in eines dieser besseren Verkaufslocale ein, so wird man von allen Bewohnern desselben auf’s Freundlichste begrüßt, und während uns von verschiedenen Seiten ein zutrauliches „Tschin-tschin“ zugerufen wird, kommt ein intelligenter Chinese, der in verständlichem Englisch nach unseren Wünschen fragt. Er legt uns dann eine große Auswahl seiner besten Waaren vor und preist sie unermüdlich an, aber auch die übrigen Hausbewohner suchen uns durch Gesten von der Vorzüglichkeit der Waaren zu überzeugen. Ein Diener des Hauses bringt ein Theegefäß nebst einigen Täßchen vom reinsten chinesischen Porcellan, und gleich ist die kindliche Zutraulichkeit der Bewohner verschwunden, wenn man das angebotene Schälchen Thee ablehnt. Originell ist eine von uns wiederholt beobachtete Gewohnheit der Chinesen. Während wir mit der Besichtigung der Waaren beschäftigt sind, machen sich die Bewohner des Ladens daran, die Qualität unserer Kleiderstoffe zu prüfen und geben uns, wenn wir sie darum verwundert anschauen, naiv das Resultat ihrer Untersuchung zu verstehen. Soll man dies als kindliche Neugierde oder allzu eifrigen Gewerbesinn bezeichnen?

Ist der Laden zugleich der bessere oder einzige Wohnungsraum des Besitzers, so haben wir bei unserem Besuche Gelegenheit den Stolz seines Hauses kennen zu lernen. In einem besonders gepflegten Theile des Gemaches befindet sich ein Porcellanpostament, worauf, von einer immer brennend erhaltenen Lampe matt erleuchtet, der Hausgötze thront, eine aus Speckstein, Porcellan oder künstlichem Material gefertigte wunderliche Figur, zu welcher der Bewohner nur mit heiliger Scheu aufschaut. Mitten unter all’ den chinesischen Kunstartikeln passirt es wohl hier und da dem Fremden, daß er ahnungslos auch nach dem Preise dieser wunderlichen Figur fragt; wir überlassen es unseren Lesern, sich die Entrüstung des dadurch in seinen heiligsten Gefühlen gekränkten Chinesen vorzustellen.

So geräuschvoll und betäubend für den Fremdling das Leben und Treiben auf den Straßen und öffentlichen Plätzen einer chinesischen Stadt bei Tage ist, so still und ausgestorben finden wir diese Orte nach Sonnenuntergang. Streng verlangen die chinesischen Gesetze, daß der Bürger seine Wohnung bei Nacht nicht verläßt, es sei denn, daß es die Nothwendigkeit gebietet. Ist er zu einem nächtlichen Ausgange genöthigt, so trägt er vor sich her eine Laterne, auf deren papiernen Wänden sein Name in großen Schriftzeichen zu lesen ist. – –

Nur eine Nacht war uns vergönnt auf festem Grund und Boden zu verbringen. Der nächste Abend fand uns schon wieder an Bord des Dampfers. Mit Tagesanbruch wurden die Anker gelichtet, und bald war die reizende Landschaft, die im Glanze der aufgehenden Sonne einen malerischen Anblick bot, am Horizont verschwunden.

So selten man in anderen Gewässern ein chinesisches Fahrzeug findet, so überfüllt sind die nächst der Küste gelegenen Theile der ostchinesischen See von Handelsdschonken aller Gattungen, hier und da mit einem Geschwader chinesischer

[69]

Kriegs- und Civil-Mandarin nebst einer Mandarinen-Frau.
Photographisch nach der Natur aufgenommen bei Gelegenheit der Venus Expedition, im December 1874.

[70] Kriegsschiffe abwechselnd. Die Chinesen beschränken sich auf den nächsten Küstenhandel, während der Waarentransport vom nördlichen China nach den südlichen Provinzen und umgekehrt fast ausschließlich von englischen und deutschen Schiffen besorgt wird. Selten nur wagen sich größere chinesische Fahrzeuge etwas weiter in die offene See, und wenn man schon im Lande die Erfahrung macht, daß Muth und Kühnheit nicht zu den hervorragenden Eigenschaften der Unterthanen der „himmlischen Majestät“ zählen, so spricht sich dieser Mangel zur See noch entschiedener aus. Unsere Route nach Shanghai durchkreuzte fast genau den größten Tummelplatz der chinesischen Fahrzeuge, und beinahe ununterbrochen bot sich Gelegenheit, die unzähligen Variationen eigenthümlicher Bauart dieser schwimmenden Wohnungen (denn auch hier bilden die Dschonken das Asyl einer oder mehrerer Familien) zu bewundern. Eine sehr verbreitete Gestalt größerer Schiffe ist die fabelhafter Seeungeheuer, die, in den grellsten Farben schimmernd, einen komischen Anblick gewähren.

Da wir nun auch an den Kriegsschiffen eine ähnliche eigenthümliche Bauart zu bemerken gewohnt waren, war es um so überraschender, als wir in der Nähe von Shanghai (an der Mündung des Yantse-Kiang, die wir am 16. October erreichten) einer größeren Zahl chinesischer Kriegsschiffe nach europäischer Bauart begegneten.

Ein etwas längerer Aufenthalt in Shanghai ließ uns überhaupt die Bemerkung machen, daß eine Classe dieser Herren des „himmlischen Reiches“ nicht ausschließlich den durch Jahrtausende sanctionirten Culturzuständen huldigt und sich so der übrigen Welt ganz entzieht, vielmehr alle Fortschritte der Europäer, speciell in der Kriegskunst, beobachtet. Wir meinen die Staatsbeamten, die Mandarinen. Nicht ohne Grund sahen diese Herren ängstlich die rasche Entwickelung der Staatsformen im Westen von einem unwürdigen Despotismus zum Ideal einer constitutionellen Monarchie vorschreiten, eine Wandelung, die auch ihrem Reiche, dessen Regierungsform noch das Urbild despotischer Unterjochung bietet, bevorstehen dürfte. Daß aber in einem übervölkerten Lande wie China eine Gleichstellung der Bewohner das materielle Wohl dieser herrschenden Classe stark beschränken muß, weiß vielleicht Niemand besser als diese Herren selbst. Es liegt daher wohl in ihrem Interesse, alle Factoren, die eine solche Umwälzung bedingen, energisch zu unterdrücken, und man muß Achtung gewinnen vor dem Scharfsinne, mit dem sie ihre Aufgabe erfüllen, wenn man bedenkt, daß es der dritte Theil der gesammten Bevölkerung der Erde ist, den sie beherrschen. Gar stolz und imponirend für ihre Untergebenen schauen diese Machthaber aus, wenn sie im reichen Amtsschmucke erscheinen, wie unser Bild (Seite 69) uns dies in gelungener Weise vergegenwärtigt.

Endlich, am 27. October, hatten wir unseren Stationsort, das südlich von Peking auf Cap Shantung gelegene Tschi-fu, erreicht. Einerseits von kahlen Bergen umgeben, im Osten von den Wellen des gelben Meeres bespült, ist es, scheinbar abgeschlossen vom Verkehr, doch ein nicht unbedeutender Hafen für den chinesischen Küstenhandel. Nur wenige Europäer (Engländer und Norddeutsche) haben hier eine Colonie gebildet, die sich jedoch während der Sommermonate – Tschi-fu ist beliebter Seebadeort – eines regen Besuches europäischer Kaufleute aus Shanghai und Hong-kong erfreut. Bedeutender und ungleich bevölkerter ist hingegen die chinesische Stadt Yen-Tai, die, sich an die Colonie anschließend, sich weiter in’s Land hinein erstreckt. Die Anwesenheit der Expedition und speciell ihre astronomische Thätigkeit hatte für beide Theile nicht geringes Interesse, das noch durch die dauernde Anwesenheit unseres deutschen Kriegsschiffes, der kaiserlichen Corvette „Arcona“, die der Expedition zum Beistand zugetheilt war, erhöht wurde. Ein im Norden der Stadt auf einer Anhöhe gelegenes Plateau war als Observationsplatz ausersehen, woselbst auch sogleich der Aufbau der von Deutschland mitgebrachten eisernen Beobachtungshäuser begonnen wurde. Der Bau, sowie die Aufstellung der Instrumente war bald beendet, und die astronomischen Beobachtungen nahmen ihren Anfang. Jetzt erreichte aber auch die Neugierde der über astronomische Thätigkeit gänzlich begriffslosen Chinesen ihren Gipfel. Sobald am Vormittag die Sonnenbeobachtungen begonnen hatten, war unser Observationsplatz schon rings von bezopften Neugierigen umstellt; das unvermeidliche Tabakspfeifchen im Mund, die auf ihren Lorbeeren ausruhenden Hände in den Falten der weiten, lang herabhängenden Aermel des Gewandes verborgen, schauten sie unverwandt bald nach der Sonne, bald auf die nach dieser gerichteten Instrumente herüber. Das Interesse, das uns die Herren Chinesen so in stummer Weise zollten, schien ein immer allgemeineres zu werden, denn von Tag zu Tag mehrte sich die Zahl dieser überzähligen Beobachter, ja es fanden sich auch bald hie und da Beobachterinnen ein. Und welch’ unsägliche Mühe und Anstrengung mußte es den Töchtern des „himmlischen Reiches“, die ihre Füße nach dortiger Sitte gänzlich verkrüppelt und so zum Gebrauche fast untauglich gemacht hatten, kosten, die Anhöhe, wenn auch mit Hülfe ihrer Eheherren, zu ersteigen! Gänzlich unmöglich gemacht war es den unverheiratheten jungen Chinesinnen, ihre etwaige Neugierde zu befriedigen, da die Töchter dieses Landes bis zu ihrer Vermählung zu Hause eingesperrt bleiben und sich nie öffentlich zeigen. – Doch nicht allein das Volk bekundete eine unbegrenzte Neugierde, auch der bereits erwähnten Classe der Mandarinen mußte die astronomische Thätigkeit von Interesse sein, denn bald ließ sich der Towtei, der höchstgestellte Mandarine der Provinz, zu einem Besuch auf dem Observatorium anmelden.

Es war ein warmer Novembernachmittag. Wir hatten einige Vorbereitungen zum Empfange des hohen Besuchs getroffen, den wir nun erwarteten. Die immer intensiver werdenden Töne kräftig geschlagener „Gongs“ erregten unsere Aufmerksamkeit, und umschauend gewahrten wir am Fuße des Berges, die Straße heraufziehend, einen langen Mandarinenzug. Voraus ein Trupp niederer Beamten im Festgewande, die, vermittelst ihrer Bambusstäbe das Volk auseinandertreibend, Platz für den festlichen Zug machten, Andere von Zeit zu Zeit die Gongs schlagend, und Solche, die, als Symbol der Macht des hohen Herrn, Ehrenzeichen vor ihm hertrugen. Hierauf folgten einige Mandarinen von niederem Range auf Ponies und nach diesen unmittelbar die von vier buntbekleideten Dienern getragene, mit seidenen Vorhängen umgebene Sänfte des Towtei, über die noch ein Ehrensonnenschirm von scharlachrothem Atlas ausgespannt war. Zu beiden Seiten ritten wieder je vier Mandarinen im Amtsschmucke, und den Zug beschloß eine gleiche Anzahl dieser seltsamen Reiter. Eine unzählige Volksmenge folgte in stummer Ehrfurcht dem Zuge ihres Gebieters, der, eben am Observatorium angelangt, Halt machte. Die Mandarinen sprangen von ihren Pferdchen und beeilten sich, ihrem Vorgesetzten beim Aussteigen behülflich zu sein, während einige Andere zu uns hereinliefen und jedem Einzelnen einen langen rothen Zettel überreichten, auf dem in Hieroglyphen für uns der Name des hohen Herrn verzeichnet stand. Bald darauf trat der Träger des Namens selbst ein, gefolgt von der Schaar Mandarinen, die sich bemühten, die Bewegungen ihres Gebieter genau nachzuahmen. Der Herr Towtei ging nämlich zu jedem Einzelnen von uns und brachte ihm nach chinesischem Gebrauch eine Unzahl stummer Höflichkeitsbezeigungen dar, eine Situation, die einen noch viel komischeren Anblick dadurch gewähren mußte, daß wir uns bemühten, die Gesten in gleicher Weise zu erwidern. Der hohe Besuch geruhte, nur chinesisch zu sprechen und hatte daher einen Dolmetscher bei sich, der die englische und chinesische Conversation vermittelte.

Die Besichtigung des Observatoriums, das Beobachten einiger himmlischen Objecte, das nun erfolgte, hatte für unsern hohen Gast sowie für die übrigen Mandarinen ein steigendes Interesse und nahm geraume Zeit in Anspruch, aber auch uns war es nicht minder interessant, die Herren Chinesen zu beobachten, wie sie mit schlauen Mienen die Instrumente von allen Seiten betrachteten und sich dann verständnißinnige Blicke zuwarfen. Nach Schluß der Besichtigung nöthigten wir den hohen Besuch an einer im Freien aufgeschlagenen Tafel sich niederzulassen und bewirtheten ihn mit einem Glase Wein. Seine Untergebenen stellten sich hinter ihm auf, und viele davon waren beschäftigt, ihrem Gebieter die kunstvolle Tabakspfeife anzubrennen und, da der Herr geruhte, etwas nachlässig zu rauchen, dieses Manöver immer von Neuem zu wiederholen, wobei Jeder sein eigenes Amt zu erfüllen hatte. Nachdem uns so der hohe Gast eine halbe Stunde stumm gegenüber gesessen hatte, stand er auf und empfahl sich durch dieselben komischen Gesten, wie zu Anfang, [71] die aber jetzt unsererseits schon bedeutend exacter erwidert wurden. Der Zug entfernte sich nun wieder unter gleichem Ceremoniell, und die Volksmasse verlief sich allmählich. Am Tage des Phänomens aber, am 9. December Morgens, als wir erwartungsvoll dem Ereignisse entgegensahen, hatte sich unser Towtei nach dem höchsten Gipfel des Berges tragen lassen und dort, auf die Kniee sinkend, die strahlende Sonne um Gelingen unserer Beobachtungen angebetet, die ja auch vollständig glückten.




Louise.


Zur hundertjährigen Geburtstagsfeier der Mutter unseres Kaisers.


(Schluß.)


Bekanntlich gestalteten sich die Verhältnisse noch weit trauriger, als die Königin gefürchtet hatte. Napoleon kannte keine Schonung mit dem besiegten Preußen und legte dem bereits erschöpften Lande neue, unerschwingliche Lasten auf, taub für alle Bitten und gerechten Vorstellungen. Zu allem Unglück mußte auch durch Unvorsichtigkeit ein vertraulicher Brief des Ministers Stein über die Nothwendigkeit eines gemeinsamen Widerstandes der beiden deutschen Hauptmächte und die dazu nöthigen Hülfsmittel in die Hände der französischen Behörden fallen. Napoleon benutzte sogleich die Gelegenheit, um durch seine Drohungen eine Erläuterung zu dem Frieden von Tilsit zu erpressen, wodurch er die ohnmächtige Regierung fast zur Verzweiflung trieb. Außer den geleisteten Contributionen forderte er noch hundertvierzig Millionen Franken und als Unterpfand für diese Schuld die Festungen Glogau, Küstrin und Stettin mit einer Besatzung von zehntausend Franzosen und deren Unterhalt; außerdem mußte sich Preußen verpflichten, ihm sieben Militärstraßen frei zu geben, nie mehr als zweiundvierzigtausend Mann eigene Truppen zu halten, die Bildung der Landwehr und der Volksbewaffnung einzustellen und für den drohenden Krieg mit Oesterreich ein Hülfscorps ihm abzugeben.

Das Traurigste aber war, daß die Friedenspartei am Hofe wieder das Uebergewicht erhielt und die von Stein und Scharnhorst angebahnten Reformen in’s Stocken geriethen oder ganz unterblieben. Stein selbst mußte entlassen werden und flüchtete, von Napoleon geächtet und für vogelfrei erklärt, nach Oesterreich. Das ihn ersetzende Ministerium Altenstein war in keiner Weise seiner Aufgabe gewachsen; ohne Einheit, ohne Kraft und Energie verfolgte es wieder jene alte, unselige Politik des Abwartens. Als Oesterreich sich zum schweren Kampfe rüstete, die tapferen Tiroler und Spanier in ihren freien Bergen zu den Waffen gegen den Tyrannen griffen, die Flammen des Aufstandes hoch emporloderten und der große Augenblick zum vereinten Handeln gekommen war, verharrte die preußische Regierung in unbegreiflicher Unthätigkeit. Nur die Königin erkannte wiederum mit ihrem prophetischen Blick die Bedeutung dieser Volksbewegung, zu der Friedrich Wilhelm der Dritte nicht eher Vertrauen faßte, bis er 1813 von der allgemeinen Begeisterung mit fortgerissen wurde.

Noch einmal siegte jedoch Napoleon über das erschöpfte Oesterreich trotz tapferer Gegenwehr; Kaiser Franz sah sich gezwungen, einen schimpflichen Frieden zu schließen und diesen durch die Hand seiner eigenen Tochter, einer stolzen Habsburgerin, zu besiegeln. Die Hoffnungen der deutschen Patrioten wurden vernichtet und machten einer dumpfen Verzweiflung Platz. Besonders war die preußische Kriegspartei über diesen durch die Regierung mit heraufbeschworenen Ausgang des Kampfes empört. Der alte Blücher forderte seinen Abschied, den er jedoch zum Glück nicht erhielt. Die besten und talentvollsten Männer zogen sich grollend zurück oder traten, wie der alte Hartmann, in fremde Dienste, um gegen den fränkischen Tyrannen zu kämpfen. Andreas Hofer, der todesmuthige Schill, Dörnberg, der kühne Herzog von Braunschweig, welche zu früh aufgestanden, büßten mit ihrem Tode oder mit Verbannung ihre Liebe zu dem bedrückten Vaterlande. Damals stand Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht und vermaß sich, der ganzen Welt Gesetze vorzuschreiben. Das gedemüthigte, ausgesogene Preußen schmachtete in seinen Banden und erlag fast unter dem ihm aufgezwungenen Joch. Unfähig, die geforderten Summen abzuzahlen, sah sich die königliche Familie zu den peinlichsten Einschränkungen und Entbehrungen gezwungen. Eine beabsichtigte Anleihe mißlang und rücksichtslos drohte der Sieger mit einer französischen Executionsarmee, sodaß der damalige Finanzminister ganz ernstlich die Abtretung Schlesiens als das einzige Mittel zur Befriedigung des ungestümen Gläubigers vorzuschlagen wagte. Das war selbst für den geduldigen König zu viel; er entließ den unfähigen Altenstein und berief an dessen Stelle den bereits früher erprobten Grafen Hardenberg, um die von Stein bereits eingeleiteten Reformen zum Heile des Staates durchzuführen. – Alle diese politischen Ereignisse und Bestrebungen wurden von der Königin mit Begeisterung begrüßt und nach Kräften gefördert.

„Haben Sie schon gehört?“ schrieb sie bereits im September 1808, „der König hat befohlen, daß in den Kirchen Gedächtnißtafeln der um das Vaterland verdienten Krieger aufgestellt werden zur Ehre der Todten, zur Auszeichnung der Ueberlebenden und zur Nacheiferung der Anderen. Das ist ein Funken mehr, aus dem vielleicht noch die Flamme Gottes schlagen kann, welche die Geißel der Völker verzehrt. Hat es denn nicht wie in Spanien auch in Tirol schon gezündet? ‚Auf den Bergen ist die Freiheit.‘ Klingt diese Stelle, die ich jetzt erst verstehe, nicht wie eine Prophezeiung, wenn Sie auf das Hochgebirge blicken, das sich auf den Ruf seines Hofer’s erhoben hat? Welch ein Mann dieser Andreas Hofer! Ein Bauer wird ein Feldherr, und was für einer! Seine Waffen – Gebet; sein Bundesgenosse – Gott! Er kämpft mit gefalteten Händen, kämpft mit gebeugten Knieen und schlägt wie mit dem Flammenschwerte des Cherubs. Und dieses treue Schweizervolk,[WS 4] das meine Seele schon aus Pestalozzi angeheimelt hat! Ein Kind an Gemüth, kämpft es wie die Titanen mit Felsstücken, die es von seinen Bergen niederrollt. Spanien! Gott, wenn die Zeit der Jungfrau wiederkäme und wenn der Feind, der böse Feind doch endlich überwunden würde, überwunden durch die nämliche Gewalt, durch die einst die Franken, das Mädchen von Orleans an der Spitze, ihren Erbfeind aus dem Lande schlugen! – Ach, auch in meinem Schiller hab’ ich wieder und wieder gelesen! Warum ließ er sich nicht nach Berlin bewegen? Warum mußte er sterben? Ob der Dichter des Tell auch verblendet worden, wie der Geschichtsschreiber der Eidgenossen (Johannes von Müller, der in französische Dienste trat)? Nein, nein! Lesen Sie nur die Stelle: ‚Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles setzt an ihre Ehre‘! Kann diese Stelle trügen? Und ich frage noch: warum er sterben mußte? Wen Gott lieb hat in dieser Zeit, den nimmt er zu sich.“

Endlich kam die heiß ersehnte Stunde der Rückkehr nach Berlin, nachdem das Königspaar noch zuvor einer Einladung des Kaisers Alexander zu einem Besuch in Petersburg gefolgt war, wo es mit verschwenderischer Pracht und wirklicher Verehrung aufgenommen wurde. Obgleich die Königin mit Beweisen der zartesten Aufmerksamkeit und Freundschaft von ihrem kaiserlichen Wirth überhäuft wurde, schrieb sie: „Ich bin gekommen, wie ich gegangen. Nichts blendet mich mehr, und ich sage noch einmal: Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ – Mehr als alle die großartigen Festlichkeiten, Revuen und Aufführungen, die ihr zu Ehren in Petersburg veranstaltet wurden, erfreute und befriedigte sie die Liebe ihres Volkes und das rührende Wiedersehen mit ihrer Familie, besonders der Anblick ihres theuren Vaters, der sie in Berlin erwartete. So groß aber auch ihre Freude war, so hatten die vorangegangenen Leiden ihre ohnehin zarte Gesundheit doch erschüttert und einen dunklen Schleier über ihren sonst so hellen Geist, gleichsam eine Ahnung ihres frühen Todes über ihre Seele gebreitet. Als sie ihren Geburtstag im Kreise ihrer Angehörigen beging, sagte sie wehmüthig: „Ich denke, es wird wohl das letzte Mal sein, daß ich meinen Geburtstag hier feiere.“

[72] Mit der milderen Jahreszeit fühlte sie sich jedoch so gekräftigt, daß sie ihren längst gehegten Wunsch, eine Reise zu ihren Verwandten nach Mecklenburg zu machen, ausführen durfte. Von tiefer Sehnsucht getrieben, konnte sie den Tag kaum erwarten. Als sie ihren Vater, der sie auf dem Wege überraschte, sah, rief sie unter Thränen: „Ach, da ist mein Vater.“

Am Eingange des Schlosses wurde sie von ihrer Großmutter, der achtundachtzigjährigen Landgräfin von Hessen-Darmstadt, begrüßt. Tief bewegt stürzte Louise in die Arme der würdigen Matrone, welche einst die liebevolle Pflegerin ihrer Kindheit war. Nie war die Königin liebenswürdiger, nie hingebender, aber nie auch ernster und resignirter als in ihrer Heimath. Wie die Sonne vor ihrem Scheiden erschien auch sie gleichsam im Lichte der Verklärung. Bei der ihr zu Ehren gegebenen Cour bewunderten einige Damen ihren Perlenschmuck, den einzigen Schmuck, welchen sie damals trug. „Ich liebe sie auch sehr,“ sagte sie, auf die Perlen deutend, „und habe sie zurückbehalten, als es darauf ankam, meine Brillanten hinzugeben. Sie passen besser für mich, denn sie bedeuten Thränen, und ich habe deren so viel vergossen.“

Drei Tage später kam ihr der König nachgereist; sie empfing ihn mit der größten Freude und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit so glücklich, daß sie in ihrer Seligkeit ihrem Bruder, als sie mit ihm allein war, zurief: „Georg, nun erst bin ich ganz glücklich.“ Es drängte sie dieses Gefühl auszusprechen und festzuhalten; deshalb setzte sie sich an den Schreibtisch ihres Vaters und schrieb auf ein Blatt Papier folgende Zeilen: „Mon cher papa! Je suis bien heureuse aujourd’hui, comme votre fille et comme l’épouse du meilleur des époux. Louise. Neu-Strelitz, le 28 Juin 1810. Es war dies ihr letzter Brief, eine heilige Reliquie für ihre Familie, das herrlichste Zeugniß eines von Liebe überströmenden Herzens.

An demselben Abend fuhr sie mit den Ihrigen nach dem Lustschloß Hohen-Zieritz, wo sie plötzlich über heftige Kopfschmerzen und Brustbeklemmungen klagte. Da sie sich aber bald wieder besser fühlte, so nahm sie im Kreise ihrer Lieben den Thee im Freien ein. In der Nacht jedoch kehrte ihr Unwohlsein heftiger zurück, weshalb der hinzugerufene Hofarzt Hieronymi einen Aderlaß verordnete, der ihr am Tage Erleichterung verschaffte, sodaß der König unbesorgt nach Berlin zurückfahren konnte, wohin ihn dringende Staatsgeschäfte riefen. In der nächsten Woche verschlimmerte sich wiederum der Zustand der Patientin; sie fieberte heftig und schlief wenig oder gar nicht. Da der König, der täglich von dem Befinden der Kranken Nachrichten empfing, selbst leidend war, so schickte er in Abwesenheit seines Leibarztes Hufeland den berühmten Doctor Heim. Dieser fand das Leiden zwar bedenklich, aber nicht gefährlich. Kaum aber war er abgereist, so zeigten sich beunruhigende Symptome, besonders heftige Brustkrämpfe, welche das Leben der Königin ernstlich zu bedrohen schienen.

Nach dem einstimmigen Zeugniß ihrer Umgebung ertrug sie ihre Leiden mit bewunderungswürdiger Ruhe und Geduld. Die gleichzeitige Erkrankung des Königs beschäftigte sie weit mehr als die eigene Gefahr; es war ihr peinlich, daß sie nicht bei ihm sein konnte, um ihn zu pflegen. Ein Brief, den sie von ihm erhielt, rührte sie zu Thränen; sie trug ihn auf ihrem Herzen und konnte sich nicht davon trennen. „Ach, welch ein Brief!“ rief sie, ihn immer von Neuem lesend, „wie glücklich ist man, wenn man solch einen Brief erhält!“

Hauptsächlich beschäftigte sie sich mit ihren Kindern und nächsten Angehörigen. „Ach!“ klagte sie, „wenn nur die Angst um mich nicht auch die gute Großmutter und meinen Vater krank macht!“ Sonst war sie heiter, ihr Geist frei von allen Besorgnissen, sodaß sie und ihre Umgebung sich täuschen ließen und keine Gefahr befürchteten.

Am Morgen des 16. Juli trat beim Verlesen der Zeitung ein so heftiger Erstickungsanfall ein, daß man ihr Ende nahe glaubte. Sie überwand zwar durch Anwendung der geeigneten Mittel den Anfall, aber da sich derselbe im Laufe des Tages, wenn auch schwächer, wiederholte, so begab sich der bereits genannte Heim in Begleitung der Generalärzte Wiebel und Görke aus Berlin auf Befehl des Königs zu der Kranken. Leider war all ihre Mühe vergeblich; sie wurde immer schwächer und matter. „Ich bin Königin,“ klagte sie, „aber meinen Arm kann ich nicht bewegen.“ – Je näher sie sich ihrem Tode fühlte, desto mehr sehnte sie sich nach ihrem Gatten und den Kindern. In der Nacht des neunzehnten Juli traten neue Brustbeklemmungen ein; man hörte sie jetzt öfters stöhnen: „Luft, Luft!“ – Zu ihrem Arzte, der an ihrem Lager wachte, sagte sie, nur für die Ihrigen besorgt: „Aber bedenken Sie, wenn ich jetzt dem König und meinen Kindern stürbe!“

Erst gegen Morgen traf der König mit den beiden ältesten Prinzen ein. Bei seinem Eintritte röthete noch einmal die Freude ihre bleichen Wangen; sie streckte ihm die abgezehrten Arme entgegen und küßte ihn mit den blutlosen Lippen. Er aber konnte seine Thränen nicht zurückhalten und weinte bitterlich. Um ihr seine Erschütterung zu verbergen, trat er einen Augenblick in das Nebenzimmer, wo er sich unbeachtet seinem Schmerze überließ. „Der König,“ bemerkte die Kranke, „thut, als ob er von mir Abschied nehmen will; sagt ihm, er solle das nicht – ich sterbe sonst gleich.“ Zurückgerufen, suchte er sie zu beruhigen und ihr einzureden, daß er selbst die beste Hoffnung habe. Aber in seinem Innern tobte die düsterste Verzweiflung, und als ihn die greise Großmutter tröstete, erwiderte er mit der Bitterkeit des Unglücks: „Ach! wenn sie nicht mein wäre, würde sie leben, aber da sie meine Frau ist, stirbt sie gewiß.“ –

So nahte die schwere Todesstunde der herrlichen Frau. Der König saß auf dem Rande ihres Bettes und hielt ihre erkaltende Hand in der seinigen; zu ihren Füßen knieten ihre herbeigeeilte Schwester und die Oberhofmeisterin Voß, während ihr Haupt an der Brust ihrer treuen Freundin, der Frau von Berg ruhte. Die drei Aerzte standen rathlos vor dem Lager der Sterbenden. Es war gegen neun Uhr des Morgens; die Königin hatte ihren Kopf sanft auf die Seite geneigt und die Blicke fest zum Himmel gerichtet. Ihre großen Augen weit geöffnet und aufwärts schauend, rief sie noch mit vernehmlicher Stimme: „Ich sterbe – o Jesu, mach’ es leicht!“ Das waren ihre letzten Worte; nur noch einmal seufzte sie tief und hatte ausgelitten. Der König brach, vom Schmerze überwältigt, zusammen, doch raffte er sich auf, um seine Söhne zu holen; sie knieten vor der todten Mutter nieder und benetzten ihre kalten Hände mit heißen Thränen. Nur mit Mühe konnte sich der König von der geliebten Leiche trennen, zu der er immer wieder zurückkehrte. Seine Kinder allein, zu denen später noch der Prinz Karl und die Prinzessin Charlotte von Berlin hinzukamen, vermochten ihn einigermaßen zu trösten; er schlief in ihrer Mitte und ließ sie nicht von seiner Seite.

Die Leiche wurde nach Berlin gebracht. Groß war der Schmerz des ganzen Volkes, dem der berühmte Schleiermacher in seiner Trauerrede den tiefsten und wahrsten Ausdruck lieh. „Wir wissen,“ sagte er, „wie innig sie, ohne jemals die Grenzen zu überschreiten, die auch für jene königlichen Höhen der Unterschied des Geschlechts feststellt, Antheil genommen hat an allen großen Begebenheiten, wie sie eben durch ihre Liebe zu ihrem königlichen Gemahl, durch die mütterliche Sorge für die theuren Kinder sich Alles angeeignet hat, was das Vaterland betraf, wie lebendig sie immer erfüllt war von den ewig herrlichen Bildern des Rechtes und der Ehre, wie begeisternd ihr Bild und Name, eine köstlichere Fahne, als welche die königlichen Hände verfertigt hatten, den Heeren im Kampfe voranging.“

So war Louise, so lange sie lebte, die reinste deutsche Frau, die liebevollste Gattin und Mutter, der Genius der Familie, nach ihrem Tode aber war sie der Schutzgeist ihres Volkes, das sie noch immer wie eine Heilige verehrt und dem sie als das Ideal der reinsten Weiblichkeit unvergeßlich bleibt.

Max Ring.




[73]
Der Doppelgänger.
Erzählung von Levin Schücking.
(Schluß.)


Am späten Abend fuhr noch die Equipage des aus der Präfecturstadt rückkehrenden Fürsten an Haus Wilstorp vor – doch stiegen die Herrschaften, da sie sehr ermüdet waren, nicht aus, sondern der Fürst ließ Herrn von Mansdorf herausrufen, und er und Prinzessin Elisabeth theilten ihm rasch den Kern alles dessen mit, was nothwendig zu berichten war. Es war das Todesurtheil Fäustelmann’s, was durch diese Mittheilungen besiegelt wurde. Herr von Mansdorf gerieth außer sich vor zorniger Entrüstung und verschwor sich hoch und theuer, daß er den Menschen keinen Tag länger in seinen Diensten halten werde. Was aber Herrn von

Alexander Rost’s Grab auf dem Friedhof in Weimar.

Uffeln anging, so wußte er über ihn nicht das Geringste zu sagen. Herr von Uffeln war, nachdem er gestern Abend bis zu einer späteren Stunde geblieben und alle wünschenswerthe Auskunft über sich gegeben, geschieden und hatte sich heute den ganzen Tag über nicht blicken lassen. So mußte man darauf verzichten, ihn auf der Stelle zu warnen, und die Herrschaften eilten, nach Idar und zu der wohlverdienten Ruhe nach ihrer anstrengenden Fahrt zu kommen.

In Prinzessin Elisabeth war auf’s Neue die Sorge um den wunderlichen Mann erwacht, der nun heute wieder ganz verschollen geblieben. Als sie auf dem Schlosse zu Idar angekommen und wieder in ihrem Zimmer war, warf sie die Warnung, welche sie ihm senden wollte, hastig in einigen Worten auf’s Papier und wollte sie dem Meyer Jochmaring senden, daß er sie ihm zukommen lasse. Dann aber, im Begriff das Billet abzusenden, konnte sie es nicht über sich gewinnen – sandte sie es ihm, so würde er vor Tagesgrauen vielleicht noch die Flucht ergreifen. Sie sah ihn dann nicht wieder, vielleicht niemals – und bei dem Gedanken brach all der Muth zusammen, den sie am Morgen ihrem Vater gezeigt, all der Heroismus des Entsagens, all die Macht der Vernunft, vor der sie sich gebeugt. Auch hatte ja Alles jetzt, wo sich herausgestellt, daß dieser Mann seinen Namen mit Recht trug, eine andere Wendung genommen – er war kein Abenteurer mehr; es lag nicht mehr die weite Kluft zwischen ihm und ihr.

Und so beschloß sie, es kühn zu wagen, noch einmal ihm selbst entgegenzutreten, und wenn dann geschieden sein mußte, doch erst zu scheiden, nachdem sie sich völlige Klarheit über die Motive seines Handelns und Verhaltens verschafft, in dem doch noch so vieles Räthselhafte war. Und darüber sinnend, innerlich auf’s Tiefste erregt, aber auch wieder mit dem festen Selbstvertrauen, daß sie ihm werde die Hand zum Abschiede reichen können, ohne ihm zu verrathen, wie furchtbar sie dabei litt, ging sie am andern Morgen zum Hofe des Meyers; der Meyer sollte ihn aus seinem Aufenthaltsort herbeischaffen und zu ihr holen. Sie wollte diesen Gang rasch machen, noch bevor ihr Vater sichtbar wurde. Niemand sollte etwas davon erfahren. Nach einer kurzen Zwiesprache wollte sie heimkehren.

Sie sollte den, den sie suchte, eher sehen, als sie vermuthet. Wie sie durch den Wald ging, ihre getreue Marianne neben sich – es war ein von einem feinen Nebel verschleierter Morgen; im Walde herrschte Todtenstille, und an den Spitzen der Farrnkräuter hingen kleine Tropfen zusammengerieselter Feuchtigkeit, während aus den Baumwipfeln ein welkes Blatt nach dem andern wie ein großer gelber Falter niederschwirrte – während sie durch diesen heute so herbstlich angethanen Wald ging, vernahm sie Schritte, die ihr entgegenkamen, und sah bei der nächsten Wendung des Fußpfades Uffeln sich entgegenschreiten.

An dem Drehkreuze, an dem sie ihn zuerst gesehen, begegneten sie sich.

„Ich danke Ihnen, meine Fürstin,“ sagte er, „daß Sie mir auf meinem Wege entgegenkommen; ich bedarf auf diesem Wege ein wenig Ihres Entgegenkommens.“

„Ich verstehe Sie nicht,“ versetzte sie, ihn überrascht anschauend, „wer in aller Welt sagt Ihnen, daß ich Ihnen entgegen zu gehen beabsichtigte?“

„Daß Sie es beabsichtigt, behauptete ich nicht. Aber Sie kommen doch mir zu sagen, daß Sie gestern meinetwegen die lange Fahrt in die Präfecturstadt gemacht haben, Sie und Ihr Herr Vater?“

„Das wissen Sie?“

„Ich habe vom Meyer erfahren, daß Sie in großer Hast dahin gereist, und ich war anmaßend genug, zu glauben, es geschehe nicht um meines Doppelgängers willen, den man verhaftet hat; ich weiß nicht weshalb, denn ein Emissär ist dieser arme Teufel so wenig wie ich, aber Sie reisten in der Sorge, ich könne der Verhaftete sein …“

„Ich sehe, Sie wissen Alles,“ fiel die Prinzessin ein; „nun wohl denn, ich leugne es nicht, ich sprach mit meinem Vater, und dieser entschloß sich im Interesse einer patriotischen Sache zu der Fahrt, um Sie durch seinen Einfluß bei dem Präfecten zu retten. Wir waren sehr überrascht, in dem Verhafteten nicht Sie zu erkennen, aber wir erfuhren auch, daß Sie auf’s Schleunigste sich retten müssen, um nicht dasselbe Schicksal zu erleiden.“

„Mich retten? Aber ich bin ja kein Emissär, was Sie so gütig waren immer vorauszusetzen; auch wird meine Flucht nicht so dringend sein, daß Sie mir nicht erlauben dürften, Sie zu Ihrem Schlosse heimzubegleiten.“

„Nein, nein, das dürfen Sie nicht,“ fiel die Prinzessin lebhaft ein, „mein Vater würde es unpassend finden; ich wollte ja nur mit einem Worte Ihnen rasch sagen, welche Gefahr über Ihnen schwebt.“

„So lassen Sie wenigstens bis zur Margarethenlinde mich an Ihrer Seite bleiben – wenn Sie für Ihren weiteren Weg, zum Schlosse – wie durch’s Leben, es mir nicht gestatten wollen!“

„Ich will Ihnen nichts gestatten,“ antwortete sie, lebhaft bei diesen Worten erröthend, „als mich aufzuklären, weshalb Sie [74] mit den Menschen hier ein so seltsames, verdecktes Spiel trieben, weshalb Sie nicht gleich als der auftraten, der Sie sind.“

Dabei schritt sie doch auf ihrem Rückwege vorwärts, und während er an ihrer Seite blieb, schritt ihre Begleiterin, die sich bei dieser Unterredung für überflüssig halten mochte, ihnen weit vorauf.

Er antwortete: „Wie hätt’ ich das sollen? Ich habe meinen Namen nicht verheimlicht. Habe ich Sie darüber getäuscht? Nein. Aber wer mir nicht glaubte, mit dem konnte ich mich in keine Debatte einlassen. Ich hatte nichts, ihn zu überzeugen. Einen Paß, den ich mir in der Hafenstadt, wo ich landete, auf fremden Namen verschaffen konnte, den allerdings. Sonst aber nicht das Mindeste. Durfte ich vor irgend eine Behörde treten und mein Anrecht auf das Mansdorf’sche Gut geltend machen wollen? Nein, ich mußte warten, bis es einem Anwalte in Stockheim, an den ich mich gewendet habe, gelungen war, aus meiner Heimath alle die Papiere neu zu beschaffen, deren ich bedurfte, um gegen den Mann auftreten zu können, der sich meines Erbes bemächtigt hatte. So hielt ich mich verborgen – um so mehr, als ich fürchten mußte, daß, wenn bei einer Behörde, einem Gerichte hier der Name Uffeln zu früh laut werde, mein spanisches Erlebniß mich in ominöse Beziehungen zu der Polizei verwickeln könne. Ich weiß ja nicht, ob mein damaliges Entkommen als eine indifferente Thatsache hingenommen und vergessen ist, oder Veranlassung geboten hat zu weiteren Verfolgungen und Meldungen der unter sich in Verbindung stehenden und halb Europa mit ihren Fäden überspinnenden kaiserlichen Polizei.“

„Es scheint,“ unterbrach ihn die Prinzessin, „das letztere nach einer Aeußerung des Präfecten in der That der Fall zu sein.“

„Sehen Sie, so hatte ich allen Grund, mich nicht vorzudrängen. Als ich in England beschloß, hierher zu reisen, um die Lehnsherrlichkeit, die mich hier erwartete, in Anspruch zu nehmen, hoffte ich eine weit raschere Entwickelung der Dinge auf dem Kriegsschauplatze; ich habe gesehen, wie mürbe und gebrochen die französische Macht in Spanien ist, und deshalb erwartete ich nicht, daß sie hier in Deutschland einen so zähen und langathmigen Widerstand gegen die sie bedrängende furchtbare Uebermacht leisten würde. So hoffte ich hier nicht viel früher einzutreffen als die Vortruppen der Alliirten. Das aber hat mich getäuscht, und deshalb nahm ich meine Zuflucht zu der stillen Kötterbehausung, die mich barg, vernahm dann mit großer Ueberraschung, daß sich bereits ein Mitbewerber um mein Erbe eingefunden habe, ließ mich aber dadurch nicht anfechten, sondern wartete zunächst des Anwalts Benachrichtigung ab, daß er neue Papiere zu meiner Legitimation beschafft. Nun wissen Sie Alles.“

„Alles bis auf das, was Sie bewog, so plötzlich vorgestern eine Katastrophe herbeizuführen.“

„Das fragen Sie? Und doch waren nur Sie es, die mich dazu bewog. Hatten Sie mir nicht das Liebesleid des Fräuleins von Mansdorf und ihres jungen Aesculap geschildert? Konnte ich unempfindlich dagegen bleiben? Ich wäre ein Barbar gewesen. Und so leicht war es, hier Hülfe und Rettung zu bringen. Ich brauchte nur mit offenem Visire unter diese Familie von Mansdorf zu treten und dem falschen Demetrius dort die Stirn zu bieten. Ich konnte nichts beweisen, aber ich konnte sprechen. Und das, was ich zu sagen hatte, das mußte wenigstens das junge Mädchen retten; man mußte wenigstens erschrecken und alles Weitere aufschieben bis zu dem Tage, an welchem ich versprach, meine Beweise vorbringen zu können. Daher das, was Sie eine Katastrophe nennen; sie nahm für mich eine unerwartet gute Wendung. Man glaubte mir und erkannte die Wahrheit dessen, was ich sagte, um so eher, weil sie keinen Widerspruch fand; mein Doppelgänger nämlich löste sich wie ein richtiger Doppelgänger in Luft auf – er war verschwunden, ehe man sich’s versah.“

„Ja,“ fiel hier die Prinzessin ein, „und über die Motive bei diesem Verschwinden kann ich Ihnen Aufklärung geben.“ Und sie erzählte jetzt, was Alles Falstner ihr gestern eingestanden hatte.

„Wer hätte einen so starken Drang, ein begangenes Unrecht wieder gut zu machen, in einem so schwachen Menschen erwartet!“ sagte Uffeln. „Ich bedauere ihn jetzt von Herzen. Und weil er durch seine Angaben vor der Behörde mich nur so lange schützen will, bis ich Zeit, das Weite zu suchen, gewonnen, soll ich jetzt die Flucht ergreifen?“

„Sie müssen das augenblicklich.“

„Nehmen wir einen Augenblick hier Platz!“ versetzte er, sich den Bänken unter der Margarethenlinde, neben der sie angekommen, zuwendend. Prinzeß Elisabeth folgte ihm, und Beide setzten sich auf eine dieser Bänke.

„Ich kann nicht von hier gehen, ohne Ihnen den Grund meines Herzens auszuschütten,“ fuhr Uffeln hier mit einem offenen Blick in ihre Züge und einem merkwürdig festen Tone fort. „Ich bin ein einfacher Edelmann, aber ich habe Vermögen genug, um Herrn von Mansdorf, dessen Familie sich ja von hier fortsehnt, auszukaufen und der alleinige Besitzer von Wilstorp zu sein. Die kleine Burg ist ein Juwel von Romantik. Genügt sie Ihnen, um als Hausfrau darin zu schalten, kann sie Ihnen Ihr stolzes Fürstenschloß ersetzen, wenn Sie darin an der Seite eines Mannes leben, der Sie liebt, wahrhaft und aus voller Seele liebt – dann nehmen Sie meine Werbung um Ihre Hand an, Fürstin!“

Prinzeß Elisabeth wechselte die Farbe. So klar ihr auch ihre eigene Neigung für diesen Mann geworden, so empörte sich doch ihr jungfräulicher Stolz gegen diese Sprache. Durfte man so um sie werben? Durfte man voraussetzen, daß sie so von einem fremden Manne durch ein paar Worte einer kühnen Erklärung gewonnen werden könne? Erst[WS 5] erbleichend antwortete sie mit hochgeröthetem Gesichte:

„Ihre Werbung um meine Hand ist sehr kühn, Herr von Uffeln. Ich möchte wissen, was Ihnen zu einer solchen – leichtfertigen Werbung den Muth giebt?“

„Eine Werbung um Ihre Hand ist immer kühn, Prinzessin,“ antwortete er ruhig, „denn ich glaube nicht, daß ein Bewerber mit dem Bewußtsein, Ihrer würdig zu sein, sich für Sie finden kann. Den Muth giebt mir die Ueberzeugung, daß niemals ein Anderer Sie so lieben kann, wie ich es thue. Wären Sie ein junges Mädchen wie ein anderes, so hätte ich mit einer leidenschaftlichen und feurigen Schilderung dieser Liebe begonnen und Sie dadurch zu rühren, zu erobern, im Sturme zu nehmen gesucht. Sie stehen mir zu hoch zu solch einem Werben à la Papua-Indianer, die ihre Frauen als Jagdbeute gewinnen und betrachten. Vor Sie trete ich als vor die Göttin meines Lebensschicksals und will bescheiden mein Loos aus Ihrer Hand empfangen. Ich bin auch voll Zuversicht, daß dieses Loos ein gnädiges sein wird. Denn sehen Sie, Fürstin Elisabeth, Sie fühlen selbst, daß für Sie kein anderer Mann taugt, als einer, der ein träumerischer Mensch ist und dessen Vorsehung Ihr kluger wacher Geist sein wird, bei dem Sie in jedem Augenblicke die Ueberzeugung haben, daß Sie ihm nöthig sind, daß er Ihrer bedarf, ohne Sie zu Grunde ginge. Und das wäre bei mir der Fall. Ich versiechte ohne Sie in diesen Wäldern hier, wie eine Pflanze ohne Licht und Sonne. Daß Sie mir wohlwollen, weiß ich; darum reichen Sie mir groß und hochherzig die Hand!“

„Mein Gott, ich kenne Sie ja gar nicht,“ versetzte Prinzeß Elisabeth, die trotz allem, was er sagte, ihren Zorn nur zunehmen und doch ein Gefühl von Angst und Hülflosigkeit sich hineinmischen fühlte.

„Das ist wahr. Seit ich Sie kenne, kenne ich mich selbst nicht mehr. Wie sollten Sie es?“

„Und deshalb,“ fuhr sie mit Thränen in den Augen fort, „ist es doch eine unerhörte Vermessenheit, der beleidigendste Hochmuth von Ihnen, mir zuzumuthen, ich solle mein Schicksal ohne weiteres Besinnen an den ersten Mann weggeben, der die Kühnheit hat, es zu verlangen.“

„Wir Menschen ringen alle um unser Glück. Ich sehe das meine vor mir und – vermessener Hochmuth oder nicht – ich suche es zu erfassen.“

Elisabeth schwieg. Sie war in diesem Augenblicke noch viel zu empört, um ihm ein gütiges Wort sagen zu können. Sie hätte es trotz des heften Kampfes, den sie in sich fühlte, nicht über die Lippen gebracht, und doch – auch ein für immer abweisendes konnte sie nicht sprechen, und so blieb sie stumm und antwortete nur durch die Thränen, die in ihre Wimpern traten.

„Ich habe Ihnen Schmerz gebracht,“ sagte er leise. „Das wollte ich nicht. Soll ich gehen – gehen für ewig?“

[75] Sie blieb noch immer stumm. Dann sprang sie auf. „Ich will gehen,“ sagte sie stolz.

Und rasch schritt sie davon, während er, mit dem Ausdrucke der Bestürzung in jeder Miene ihr nachstarrend, auf seiner Bank zurückblieb.

Als sie von der die Linde umgebenden Lichtung auf den Fußpfad trat, der weiter durch den Wald führte, hielt sie erschrocken inne; sie sah mit seiner ganzen derben Gestalt, die Arme untergeschlagen, den Meyer Jochmaring zwischen den ersten Bäumen dastehen. Er heftete seine Blicke mit düsteren Zornrunzeln auf sie.

Der Meyer mußte auf dem Wege nach Idar sein und schien bereits eine Weile beobachtend, so dagestanden zu haben.

Prinzessin Elisabeth blieb vor ihm stehen, trotz der inneren Erregung und Erschütterung doch betroffen durch die Erscheinung des alten Mannes, der, ohne sich zu regen, so starr und zornig auf sie niederblickte.

„Ihr, Meyer Jochmaring?“ sagte sie, als er nicht die geringste Miene machte, ihr den Pfad frei zu lassen. „Habt Ihr mit mir zu reden?“

„Ja, Prinzessin,“ versetzte er, „ich denke, zu reden hätt’ ich mit Euch. Denn es ist nicht lange her, daß Ihr selber mir gesagt habt, daß Euer fürstliches Haus – von den Tagen Wittekind’s her, mein’ ich, sagtet Ihr – zusammengehalten hätte mit dem Meyer, der auf dem Jochmaring-Hofe sitzt, und daß Einer zum Andern gestanden hätte in guten und in bösen Tagen. Und darum, denk’ ich, wäre heute der Meyer kein aufrichtiger und getreulicher Mann, wenn er nicht zum Fürsten ging und ihn wahrschaute, wenn er ihm nicht sagte: ‚Herr Fürst, unter der Margarethen-Linde im einsamen Walde, in der Morgenstunde, da hat hinter Eurem Rücken Eure Tochter eine Zusammenkunft mit dem fremden Manne, und sie sprechen heimlich da von Liebessachen. Kein Mensch hätt’s geglaubt von Eurer Tochter, der Prinzeß Elisabeth, daß sie sich so wegwürfe und einem fremden Manne ein Stelldichein im Walde gäbe.‘“

Prinzessin Elisabeth war bei dieser überraschenden Anrede des Meyer’s in einen ganz merkwürdigen Anfall von Fassungslosigkeit gerathen. Sie starrte ihn bei seinen ersten Worten wie versteinert an; dann hatte sie, dunkelroth werdend vor Zorn, mit ihrem Fuße den Boden gestampft, und jetzt, mit zitternden Händen an ihrem Taschentuche zupfend, als ob sie es in lauter kleine Stücke zerreißen wolle, rief sie:

„O mein Gott, was denkt Ihr, Meyer – was denkt Ihr? Ihr habt kein Recht, so zu mir zu reden – Ihr habt kein Recht, denn das mögt Ihr wissen, daß –“ sie stockte einen kurzen Augenblick und fuhr dann, wie mit einer heroischen Anstrengung der Selbstbeherrschung gefaßt und stolz sich aufrichtend, fort: „Elisabeth von Idar giebt keinem Manne ein Stelldichein, wenn dieser Mann nicht ihr Mann ist, wenn sie ihm nicht gehört für immer. Wißt Ihr, Meyer Jochmaring, dieser fremde Mann hat ehrlich um mich geworben, und ich bin seine Braut. Nun geht und sagt es, wem Ihr wollt!“

„Ah,“ sagte der Meyer, „wenn es so steht, so nehmt’s nicht für ungut. Ich sagte Euch, was ich glaubte Euch sagen zu müssen, damit Ihr später nicht reden könntet, Meyer Jochmaring habe hinter Euerm Rücken den heimlichen Angeber gemacht. Aber wenn es so steht, so wünsche ich Euch Glück von ganzem Herzen, und weiter lästig will ich Euch auch nicht sein; denn bei Dem, was Ihr alsdann hier auszumachen habt, ist ein Dritter nicht vonnöthen. Ich wünsche Euch Glück, Prinzessin – und dem Herrn da ebenfalls.“

Und damit faßte der Meyer an seinen Hut, nickte ernsthaft mit dem Kopfe und ging schweren Schrittes weiter in den Wald hinein.

Uffeln war währenddessen rasch herangekommen und stand neben Elisabeth. Als sie das Wort „Ich bin seine Braut“ laut und entschlossen ausgesprochen, hatte er, elektrisch auffahrend, ihre Hand ergriffen und festgehalten – jetzt ließ er sie wieder sinken und sagte mit einem ängstlichen Blicke in ihre Züge:

„Meine Braut – um Ihres Stolzes willen, damit Niemand der Fürstin nachsage …“

Elisabeth wandte sich heftig, leidenschaftlich, tief aufathmend zu ihm.

„Ja, ja, deshalb!“ rief sie aus, „und auch weil dieser Mann mir wies, was das Rechte, das allein Würdige für ein Weib sei, das liebt. Sie haben nun einmal mein Herz, meine Seele – nehmen Sie denn auch mich!“

Sie umschlang mit beiden Armen seinen Nacken, um ihre furchtbare Erschütterung an seiner Brust auszuweinen.




„Nehmen Sie denn auch mich!“ hatte sie im Sturme ihres Gefühls ausgerufen. Sie hatte dabei vergessen, daß eine Prinzessin doch nicht so ohne Weiteres ihre Hand verschenken kann. Der Fürst von Idar hatte für seine Lieblingstochter ein glänzenderes Lebensloos in Aussicht genommen, und seinen anfänglichen Widerstand gegen eine Verbindung dieser Tochter mit einem einfachen Edelmanne zu besiegen, war nichts Leichtes. Elisabeth war zu stolz, ihrem Vater die Einwilligung abzuschmeicheln. Während Uffeln seiner Sicherheit willen sich entfernt hatte und in einer andern Gegend in Verborgenheit lebte, suchte sie durch ruhige Erörterungen auf ihren Vater zu wirken. Anfangs ohne Erfolg – bis endlich mit den vordringenden Alliirten Uffeln zurückkam und der Fürst sich erweichen ließ, gewonnen von der Persönlichkeit Uffeln’s und dem den Ausschlag gebenden Gedanken, daß er Elisabeth so ganz in seiner Nähe behalten werde. Und so kam es, daß im folgenden Lenze, nachdem die Familie von Mansdorf ihren Wunsch, der sie gen Süden trieb, hatte erfüllt sehen können – Herr von Uffeln hatte die Mansdorf’sche Gutshälfte von dem Letztern unter günstigen Bedingungen übernommen –, in das neu eingerichtete Haus Wilstorp zwei glückliche junge Gatten ihren Einzug hielten.

Auf Adelheid Mansdorf’s Gesundheit hatte der Aufenthalt am Genfer See und das Gefühl des Glücks bald den heilsamsten Einfluß geübt. Im nächsten Sommer brach der Doctor Günther, der ein weiteres und lohnenderes Feld für seine Thätigkeit ersehnte, als eine kleine Landstadt es ihm gewähren konnte, von Idar auf, um in der Stadt am Rhein, wo Mansdorf sich bleibend zu fixiren gedachte, Adelheid heimzuführen und dort für immer zu bleiben. –

Was Herrn Fäustelmann angeht, so schied er nicht ohne einen chicanösen Proceß wegen allerlei Entschädigungsforderungen und Ansprüchen an die Herrschaft auf Wilstorp anzufangen. In diesem Proceß bekam er Dank der energischen Abwehr des Justitiars Plümer gründlich Unrecht; worin er aber Recht bekam, das war in seiner Prophezeiung, daß preußische Bataillone durch Idar rücken würden. Das war Gottlob wirklich und wahrhaftig schon nach weniger Wochen Verlauf, bald schon nach der Schlacht vom 18. October 1813, geschehen. Herrn Fäustelmann selber konnte das nun freilich nicht viel verschlagen – er hatte sich in seiner Angst vor den Verfolgungen des patriotischen Apothekers Widmer längst in eine andere Gegend verzogen.

Von dem armen Falstner ist nie wieder gehört worden. Man hatte ihn von der Festung entlassen, weil sich im Lauf der Untersuchung allerdings durchaus keine Beweise gegen ihn herausgestellt hatten. Wohin er sich dann jedoch gewendet, und wie seine Lebensschicksale sich gestaltet – darüber hat sich bis heute auch nicht die leiseste Tradition oder nur Vermuthung erhalten. –




Blätter und Blüthen.


Von Weimars Friedhof. (Mit Abbildung, S. 73.) Es war der Tag der Todtenfeier. Arm und Reich, Groß und Klein zog hinaus, die Gräber der todten Lieben zu schmücken. Keiner von all den Festtagen des Jahres hat für mich eine so tief ergreifende, so rein menschlich-schöne Bedeutung wie diese Feier. So wanderte auch ich hinaus auf Weimars „classischste“ Stätte, auf den Friedhof. Manche jener Gräber, in denen die großen Männer, die schönen geistreichen Frauen der Glanzzeit Weimars ruhen, waren von liebender Hand bekränzt, andere von Gestrüpp überwuchert. Ueberall war die Liebe thätig, den Dahingeschiedenen, den in heißem Schmerze Verlorenen, die der Tod hier außen so still und tief gebettet hat, in Kränzen und Guirlanden einen wehmüthigen Gruß der Treue und des Andenkens zu bringen, und manche heiße Thräne fiel auf die Blumen herab. Der Tod ist fleißig; er ist es auch in unserer kleinen Stadt an der Ilm: mit Goethe können wir sagen:

Unter schon verlosch’nen Siegeln
Tausend Väter hingestreckt,
Ach, von neuen, frischen Hügeln
Freund an Freunden überdeckt!

[76] Wir wandeln zwischen den Reihen hin nach der Höhe der neuen Abtheilung des Friedhofes. Dort fällt uns ein neues, schönes Grabmal in die Augen; wir stehen am Grabe eines lieben Freundes, eines wackeren, deutschen Mannes, eines echten deutschen Künstlers, am Dichtergrabe Alexander Rost’s. Wenige Monate, nachdem die „Gartenlaube“ (1874, Nr. 39) in dem Artikel „Ein Thüringer Dichter“ durch die Feder Albert Traeger’s der gesammten gebildeten Welt ein treues, warmes Bild vom Leben und Wirken Rost’s gegeben, wenige Monate, nachdem sein letzterschienenes Werk, das Charaktergemälde „Der ungläubige Thomas“ unter lebhaftem Beifalle über die deutschen Bühnen gegangen, schloß der Dichter die Augen für immer. In der Mitte des Monats, in welchem er sonst im Weimarischen Parke unter jugendfrischem Grün und Blumenduft auf stiller abgelegener Bank zu ruhen und zu dichten pflegte, am 18. Mai 1875, wurde er hier unten zur ewigen Ruhe bestattet.

Die „Gartenlaube“ brachte ihren Lesern in Nr. 22 des Jahrgangs 1875 die Nachricht von dem Verluste, welchen durch seinen Tod die deutsche, vaterländische Kunst erlitten, und schloß mit der Mahnung: „Ihn, unsern Alexander Rost, ehre die Bühne und das Volk durch treue Pflege und Verbreitung seiner Werke! Namentlich das Letztere würden wir als die würdigste Liebesgabe für den Dichter preisen, weit höher, als den Denkmalstein, mit welchem nur allzuoft die Theilnahme für den Todten sich für immer abfindet.“ Doch nein, die Geschichte jenes Grabmals selbst beweist, wie warm die Sympathieen sind, welche sich der Verewigte in allen Ständen und Kreisen durch seine kernigen dramatischen Dichtungen erworben hat. Der Verleger der letzteren, Dr. Panse in Weimar, hat das Verdienst, die schöne Idee in’s Leben gerufen zu haben, indem er den Ertrag eines namhaften Theils jenes Verlags diesem Zwecke widmete; das Publicum hat diesen Act der Verehrung für den volksthümlichen talentvollen Dichter theilnehmend unterstützt, und schon im Sommer 1875 konnte sich das Denkmal, vom Bildhauer Linsenbarth geschmackvoll ausgeführt, auf Weimars Friedhofe erheben. Der Platz, welchen die letzte Ruhestätte unseres Rost und sein Denkmal einnimmt, entspricht ganz dem Wesen des Mannes, der still hier schlummert. Links drüben ruht in der Fürstengruft der Altmeister Goethe, dessen Werke die Grundlage seiner Bildung und seines poetischen Strebens geworden, – ruht auch der große Mann, den er sich allezeit zum Muster und Vorbild genommen, der unsterbliche Schiller. Von rechts her schauen die bewaldeten Höhen des Ettersbergs herüber, und weithin schweift das Auge über ein anmuthiges Thal des Thüringer Landes, des Landes, von dem Dingelstedt singt:

Thüringen, Deutschlands ewig junges Herz,
Hat stets, in guten und in bösen Tagen,
Nicht für die Kunst allein in Spiel und Scherz,
Nein, auch im Ernst für Licht und Recht geschlagen.

Und unser Rost war ein echter, wahrer Thüringer, und war es nicht nur im ganzen Leben, sondern ist es auch in jeder Zeile aller seiner herzerquickenden Dichtungen. So wußte er, ein treuer Freund seiner Freunde, klar und tiefgemüthlich, bieder und heiter den geselligen Kreis geistig zu beleben; zur Erinnerung an jene Stunden schaut in der Restauration neben dem Theater über dem Platze, den er einst einzunehmen pflegte, sein lebenswahres Bild, von Freundeshand gestiftet, herab, als wollte er sich noch an der geselligen Unterhaltung mit anregendem Gespräche, mit derbem, aber immer harmlosem Witze, mit kernigem Worte betheiligen. Es ist das vortreffliche, lebenswahre Portrait, mit welchem Adolf Neumann in der Gartenlaube (1874, Nr. 39) alle Freunde und Verehrer des Dichters zu Dank verpflichtet hat. Und allezeit hat sein Herz „für Licht und Recht geschlagen“. Er kämpfte und rang dafür in den trübsten Zeiten unseres deutschen Vaterlandes; er jubelte aus vollem Herzen auf, als endlich das große Kriegs- und Siegesjahr die langersehnte Verwirklichung seiner heißen patriotischen Wünsche brachte; er blieb bis zum letzten Athemzuge von edler Vaterlands- und Freiheitsbegeisterung und von glühendem Hasse gegen pfäffische Verdummung des Volkes erfüllt.

Wie frische Waldluft vom Gebirge her weht diese Gesinnung durch seine Dramen, vom Volksschauspiel „Kaiser Rudolph in Worms“ an bis zum „Ungläubigen Thomas“. Von denselben Ideen ist auch sein letztes Drama getragen, vor dessen gänzlicher Vollendung ihn der Tod abgerufen hat. Den Heldenkampf Tirols zum Gegenstand, doch nicht Hofer selbst, sondern eine Verwandte desselben zum eigentlichen Helden nehmend, sollte es den Titel führen: „Das Weib vom Land Tirol“. Nach den Mittheilungen, welche mir der Dichter über die handelnden Personen und die dramatische Entwickelung der Handlung mündlich machte, versprach das Stück die vollendetste aller seiner Arbeiten zu werden; unzweifelhaft reiht es sich in poetischem Schwung und edler patriotischer Gesinnung seinen früheren Dramen würdig an. Auf einzelne Blätter geschrieben, bedarf diese seine letzte dramatische Arbeit noch der Ordnung und Vollendung. Möge sie ihr durch begabte Hand zu Theil werden und damit ein neuer edler Schatz für unser Volk gewonnen sein! – Gab und giebt es doch in der gesammten deutschen Literatur nur wenige dramatische Dichter, welche so in Schiller’s Geist, so kernig, markig und dabei so volksthümlich gedichtet haben, wie unser talentvoller Alexander Rost.

Mögen seine Dramen immer mehr Eingang im Volke, immer mehr Pflege bei den deutschen Bühnen finden! Dann wird nicht nur der Wittwe des Dichters die Hülfe, welche ihr das deutsche Volk als Dank schuldet, zu Theil, sondern auch dem verewigten Dichter selbst im Herzen und Andenken des gesammten Volkes ein noch edleres Denkmal geschaffen werden, als das sinnige Grabmal, welches Freundschaft und Verehrung ihm auf dem Friedhofe Weimars errichtet hat.

Robert Keil.




Geschichtskarten, die uns den Wandel der politischen Gestaltung der Reiche und Völker in der Vergangenheit in Landkartenbildern vor Augen führen, sind nicht nur ein wesentliches Hülfsmittel des Geschichtsunterrichts, sondern können, zur rechten Zeit dem Volke vorgehalten, auch sehr warm zu Herzen reden. Wir schlagen von dem uns vorliegenden neuesten historischen Atlas die Karte von „Mittel-Europa zur Zeit der höchsten Machtentfaltung Frankreichs im Jahre 1812“ auf. Wo ist da Deutschland? Verschwunden und verloren! Frankreich reicht von den Pyrenäen bis Lübeck im Norden und bis Terracina und Cattaro im Süden; zwischen ihm und den zerstückelten, im Kartenbilde kaum wiederzuerkennenden Preußen und Oesterreich breitet der „Rheinbund“ sich aus von der Ostseeküste Mecklenburgs bis zur italienischen Grenze Bayerns. Wie nahe stand damals unser Vaterland dem Schicksale Polens! Ja, solche Karten sprechen. Jede Landkarte wird durch die Zeit in eine Geschichtskarte verwandelt; unsere Karten von Deutschland vor 1866 und 1870 sind jetzt Geschichtskarten geworden. Da aber die Kartographie nach heutigen Ansprüchen nur bis 1790 und nach Mercator’s Projection bis etwa 1550 zurückreicht, so muß für alle Zeiten, aus welchen keine Karten des ehemaligen Landesbestandes vorhanden sind, von den Geschichtskundigen dieser Mangel ergänzt werden. Neuerdings zeichnet sich der Dietrich Reimer’sche Verlag durch seine historischen Atlanten aus, indem er dem bekannten „Atlas antiquus“ von Heinrich Kiepert einen neuen „Historischen Atlas zur mittleren und neueren Geschichte“ von Dr. Karl Wolff in Hildesheim folgen läßt. Der ersten Lieferung dieser gediegenen Arbeit gehört die oben genannte Karte an. Deutschland, dem Wolff schon 1872 seine große kartographische Darstellung der „geschichtlichen Bestandtheile des ehemaligen römisch-deutschen Kaiserreichs“ gewidmet, findet auch in dem neuen Atlas von achtzehn Karten besondere Berücksichtigung.




 Die heiligen drei Könige.

 (Mit Abbildung. S. 61.)[WS 6]

Zur stillen Zeit geht’s in der Ruh’
Der Kölner Domgruft seltsam zu.
Wo sie die Heiligenleiber verbergen,
Da regt es sich fröhlich in den Särgen:
Da steiget singend Herr Melchior
Mit dem frisch geputzten Stern hervor;
Der junge Herr Balthasar geigt wie zur Mette;
Herr Kaspar bläst die Clarinette.

„Das weiß in Köln ein jedes Kind,
Daß wir die heil’gen drei Könige sind.
Zur stillen Zeit wir auferstehen,
Von Dorf zu Dorf wallfahren gehen.
Macht auf die Thür, macht auf das Thor,
Die heil’gen drei Könige stehen davor!
Der Stern glänzt in Ehren, hell schallen die Weisen;
Nun gebt uns zu zehren, zu trinken und speisen!

Wir heil’gen drei Könige mit dem Stern,
Wir essen und trinken, bezahlen nicht gern.
Wir sind willkommen in frommen Landen
Als Könige und als Musikanten.
Doch weh’ uns Armen – kein Gottserbarm
Beschützt uns vor dem Herrn Gensd’arm,
Und die Ketzer rufen in allen Gassen:
Wir könnten uns wieder begraben lassen.

Es ist halt eine schlimme Zeit
Für uns’re Drei-Königs-Heiligkeit.
Sonst glaubten selbst die ältesten Weiber
An die drei heiligen Königsleiber:
Jetzt mag, mit verbotenem Heiligenschein,
Der Teufel ein heil’ger Drei-König sein!“ –
Das ist – o neue Reichsbeschwerde! –
Das Loos des Schönen auf der Erde!

 Fr. Hfm.




Ludwig Würkert. „Wenn der Leser diese Zeilen liest, sitzt Ludwig Würkert in seiner Gefängnißzelle auf Schloß Mildenstein bei Leisnig.“ So steht in Nr. 3 der „Gartenlaube“. Wir hatten die Absicht, dieses Blatt dem greisen Dulder zur Herzerfreuung in’s Gefängniß zu senden, das er am 11. Januar beziehen wollte. Da sprach, noch in der letzten Nacht vorher, um 11 Uhr, der Tod ihn von der Strafe frei. Ein Schlaganfall hatte rasch seinem prüfungsreichen Leben ein schmerzloses Ende gemacht. Das für ihn bestimmte Blatt der „Gartenlaube“ ist ihm in den Sarg gelegt worden. Nun ehrt der treue, tapfere Alte, der am 16. December seinen fünfundsiebenzigsten Geburtstag gefeiert hatte, anstatt das Gefängniß, den Gottesacker von Leisnig.



Kleiner Briefkasten.


O. v. M. in D. Sie bezweifeln die Wahrheit der in dem Artikel „Auf den Diensteid“ (Nr. 45 vorigen Jahrgangs: „Die Schäden der modernen Cultur“) berichteten Thatsache. Daß solche Ueberschreitungen noch immer vorkommen, wollen Sie aus einer Correspondenz des „Mainzer Anzeigers“ – in einer der ersten Nummern dieses Jahres – ersehen. Es heißt dort: „Eine Reihe von Mißhandlungen unglaublicher Art, verübt durch Agenten unserer Polizei, wird uns von den Opfern derselben mitgetheilt. Dieselben wurden wegen eines unbedeutenden Straßenlärms arretirt und in das Depot abgeliefert. Dort angelangt, wurden sie einem summarischen Verfahren unterworfen, welches sie, wie folgt, schildern: Nachdem wir ruhig hineingegangen waren, empfing man uns drinnen mit Faustschlägen, riß uns bei den Haaren, und schließlich regalirte uns der wachhabende Sergeant mit der Hundepeitsche.“ – Dies schließt übrigens nicht aus, daß von Seiten des Publicums oft ebenso rücksichtslos gegen die Beamten der Polizei vorgegangen wird.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Außer diesen trugen spätere Kundgebungen des Centralkomité auch die Unterschriften Arnaud, Arnold, Bouit, Fortuné und Viard. Sodann werden noch andere wie Avoine, Castioni, Grelier, Josselin, Lisbonne, Maljournal als frühere oder spätere Mitglieder des Komité genannt.
  2. Zur Beobachtung des Venusdurchganges am 9. December 1874.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: den
  2. Vorlage: Beobachtumg
  3. Vorlage: Metthode
  4. Vorlage: Schweizeroolk
  5. Vorlage: Fast, Berichtigung nach Heft 7, S. 123
  6. Vorlage: S. 69