Die Gartenlaube (1877)/Heft 18

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 18.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Eine schwarze Kugel.
Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Als Hermann's heiße, überwachte Augen den nächsten Morgen aufdämmern sahen, fühlte er sich nicht weniger betäubt als in der Stunde, wo er sich auf sein Lager geworfen. Ein Grauen vor dem Dasein, vor der Menschheit lag über ihm wie ein Alpdruck, und dazwischen lachte es bitter in ihm auf. Dieser Mann, für alle Welt das Ideal von Ritterlichkeit und Rechtlichkeit, seinem eigenen Geiste ein Vorbild, dieser Mann, dem die erste Jugend – er zählte einundfünfzig Jahre – längst Valet gesagt – er war der Verführer eines jungen, dem Schutze seiner Familie anvertrauten Mädchens. Und dieses Mädchen selbst – Paula selbst! Wäre ein Engel vom Himmel herniedergestiegen, sie der Sünde zu zeihen, Hermann hätte der Anklage keinen Glauben geschenkt. Mit dem letzten Blutstropfen hätte er Paula's Reinheit vertheidigt jeder noch so leisen Verdächtigung gegenüber. Womit sollte er sie jetzt vertheidigen gegen das unselige Zeugniß seiner eigenen Sinne?

Ihm war, als habe nichts mehr Bestand auf Erden, als laufe Alles Gefahr, aus den Fugen zu gehen. Das Leben kam ihm vor wie eine Brücke ohne Geländer, von der sich Schurken taumelnd in den Pfuhl stürzen und die Willenlosen, Schuldlosen mit sich reißen. Sogar in seiner eigenen Seele fühlte er sich nicht mehr heimisch; sie war ja so übervoll gewesen von dem lieben Bilde, dessen entstellte Züge dort nun keinen Raum mehr fanden.

Wie im Taumel erhob er sich von seinem Lager. Alles war so unheimlich um ihn her; selbst das Ticken der Uhr schien ihm nicht mehr das trauliche zu sein, wie ehedem. Und doch war er froh, als ihn das Zusammenläuten der Glocken daran erinnerte, daß es Sonntag war und keine Dienstpflicht ihn nöthigte, seine vier Wände zu verlassen. Bald durfte er ja überhaupt diesem Orte den Rücken wenden, nach Hause zurückkehren und von all den schweren Träumen ausruhen im Lichte der treuesten Augen, der Augen seiner Mutter. Aber nur für die Dauer eines Moments ward ihm leichter bei diesem Gedanken an die theure Pflegerin seiner Kindheit; mit ihrem Bilde zugleich stieg das ihrer so schmählich verrathenen Freundin vor ihm auf. Clara Kettler's liebenswerthes Wesen, die harmonische Häuslichkeit jener Familie warf auf das Unbegreifliche ein so crasses Licht, daß er, um sich aus der qualvollen Wirrniß zu retten, einer milderen Lösung des Räthsels nachzugrübeln begann. Wie ungeheuerlich seiner Jugend solche Leidenschaft des alternden Mannes auch erschien, war es dem Liebenden doch wieder erklärlich, daß Paula's Anmuth Einen, der sie täglich vor Augen sah, überwältigen konnte. Nur begriff sein strenges Jünglingsherz nicht, daß ein Mann so die innere Ehre verkaufen könne – wie groß auch das Gut, der Preis war zu hoch, und bei der Vorstellung alles Dessen, was vorausgegangen sein mußte, bis eine Natur, wie Paula's, sich zur Mitschuld an solcher Unehre und Sünde hinreißen ließ, glühte Haß gegen den Verführer von Neuem in ihm auf.

Lange mochte er so gebrütet haben, als ein Pochen an der Thür ihn aufschreckte. In der nächsten Minute stand er aufrecht und starrte den Eingetretenen sprachlos an. Oberst Kettler grüßte schweigend, that einige rasche Schritte vorwärts und richtete, die Hand auf den Tisch gestützt, einen forschenden, durchbohrenden Blick auf den jungen Mann.

Als ihn Hermann so vor sich sah, mit der gewohnten würdevollen Haltung, dem ritterlichen Ausdrucke der hohen Erscheinung, kam ihm plötzlich alles Erlebte vor wie ein wahnwitziger Traum. Und doch empfand er zugleich mit voller Schärfe, daß der Oberst kam, eine Erklärung zu geben, vielleicht eine solche von ihm zu fordern. Er nahm sich zusammen, um Dem, was zunächst kommen sollte, wovon er sich kaum einen klaren Begriff machen konnte, seinerseits würdig entgegenzutreten. Dennoch trafen ihn die ersten Worte Kettler's wie ein Blitz.

„Sie werden erwartet haben von mir zu hören, Herr Lieutenant,“ sagte Jener kalt. „Wie die Dinge stehen, ziehe ich vor, unsere Angelegenheit persönlich zu ordnen. Sie werden mir Genugthuung dafür geben, daß Sie Zeuge eines Moments geblieben, der keinen Zeugen vertrug.“

Hermann erblaßte bis in die Lippen hinein, doch klang seine Stimme ruhig und gemessen, als er nach kaum merklicher Pause antwortete:

„Sie finden mich zu jeder Genugthuung bereit, Herr Oberst, und ich bitte, es nicht als Widerspruch gegen Ihre Forderung zu betrachten, wenn ich Sie ersuche, zuvor mein Ehrenwort anzunehmen, daß ich ein höchst unfreiwilliger Zeuge gewesen. Die Localität ist Ihnen bekannt – mehr bedarf es nicht, um Sie darüber zu orientiren, daß der zuerst Anwesende seinen Platz nicht verlassen konnte, ohne sich in indiscreter Weise bemerklich zu machen.“

Der Oberst, dessen Augen sich gesenkt hatten, während der junge Mann sprach, erhob sich nach kurzer Pause wieder und sagte düster. „Wort gegen Wort! Empfangen Sie das meine, daß ich gestern mit – jener Dame zum ersten Male ohne Zeugen gesprochen – in dem Sinne – wir verstehen uns.“

[294] Hermann machte eine unwillkürliche Bewegung. Der Oberst warf einen schnellen Blick auf das erregte Gesicht seines Gegenüber, kreuzte die Arme fest, beinahe gewaltsam über die Brust und durchmaß wiederholt das Zimmer mit schweren Schritten.

„Sie tragen keine Schuld, Barner – zugegeben!“ sagte er und stand zögernd vor Hermann; „aber nur wo der Tod Schildwache steht, ist ein Geheimniß sicher vor Verrath. Es muß sein. Mein Wunsch wäre ein amerikanisches Duell –“

„Ein amerikanisches Duell?!“ unterbrach ihn Hermann überrascht, und der Blick, welchen er auf Kettler heftete, sprach noch lebhaftere Einwendung aus, als das Wort.

„Mein Vorschlag fällt Ihnen auf?“ fragte der Oberst, indem er ihn scharf fixirte, mit gelassenem Tone. „Bei Berücksichtigung der Umstände werden Sie mir aber beipflichten. Wir sind Officiere; ein Duell ohne Zeugen ist für uns unmöglich, und entschließen wir uns, Zeugen zu wählen, dann steht das Geheimniß auf dem Spiele, um dessen willen wir Gegner geworden. Mag fallen wer da wolle, den Räthseln und Fragen wäre Thür und Thor geöffnet, und – für Eine gäbe es dann überhaupt kein Räthsel mehr. Mein Vorschlag hilft über alle diese Schwierigkeiten hinweg; er ist einfach und führt uns zum Ziele. Verabreden wir dreimonatliche Frist! Zeit genug, sein Haus zu bestellen. Der, welcher das schwarze Loos ziehen wird, fällt innerhalb dieser Zeit. Für den entscheidenden Zug fordere ich für mich die Vorhand. Einverstanden?“

Als Hermann seine Hand erhob, um die gegen ihn ausgestreckte Rechte Kettler’s zu berühren, schob sich plötzlich gleich einem Schemen die Gestalt seiner Mutter zwischen ihn und den Andern. Sein Gewissen schlug, aber das Ehrbewußtsein in ihm war stärker. Was der alte, bewährte Officier als Nothwendigkeit bezeichnete, vermochte der jüngere nicht zu verweigern. Die kalten Hände Beider schlossen sich in einander zum Bunde des Todes, um sich nach kurzem Druck wieder zu lösen.

Der Oberst griff nach seinem Hute. „Unten im Clublocal giebt es Ballotage-Kugeln,“ sagte er flüchtig. „Ich bin im Augenblicke wieder hier.“

Während sein schwerer Tritt auf der Treppe verklang, blieb Hermann wie an die Stelle gewurzelt. Ein sonderbares Hellsehen führte seinen Geist in die Heimath; wie ein Bild im Rahmen stand dort seine Mutter im Trauerkleide, das sie seit dem Tode ihres Gatten nie abgelegt, und ihr verzweifelter Blick drang dem Sohne bis in das Innerste. Durfte, mußte er, ihr letztes Gut, sein Leben frevelnd auf einen Wurf setzen, nur weil ein Zweiter es so begehrte? Was war der Einsatz bei diesem schaurigen Spiele? Nicht eigene, nicht fremde Ehre – deshalb gab es auch, wie keinen Streit, so keinen Kampf, nichts als den Tod. Wie hatte doch dieser Mann, den er nach wie vor hassen mußte, aber nicht mehr verachten konnte, seit er ihm in die stolzen Augen geschaut, wie hatte er gesprochen? Ein Geheimniß sei nur da behütet, wo der Tod Schildwache stehe?

Heiße Lohe flammte über die blassen Wangen Hermann’s; ein Zittern rieselte ihm durch alle Glieder. Der Oberst zweifelte also an seiner Ehre, seiner Discretion? Ja, wahrlich, es mußte sein. Unerträglich die Vorstellung, daß ein Mensch auf Erden, daß gar dieser so gering von ihm denken durfte, um den Tod als Wacht nöthig zu erachten, wo die Ehre einer Dame in Frage kam. Alle Bande traten zurück, dieser Wallung gegenüber, unter deren brennender Gluth sich im tiefsten Grunde der Stachel jüngst erlittener Qualen barg – ein um so schärferer Stachel, als sein Bewußtsein ihn doch nicht völlig von Schuld freisprach. Der Oberst hatte ihn gefordert, weil er Zeuge jener Scene geblieben, nicht weil er es gewesen. War auch der Anfang seines qualvollen Lauschens unfreiwillig, das Ende durfte er nicht mehr so nennen. Und darin hatte der Oberst Recht: ein Duell in der regelmäßigen Form stellte nicht nur das Geheimniß in Frage; es ließ auch den Familien beider Gegner ein schmerzliches, nie zu lösendes Räthsel zurück; es belud, wer auch fallen mochte, die Einzige, welche dessen Ursache ahnen würde, mit furchtbarem Bewußtsein. Wohlan denn! Ein Fatum war es, das ihn zur bösen Stunde an jenen Ort geführt – und weil er so empfand, fühlte er sich auch vom Fatum beherrscht. So mochte denn der Würfel fallen, gleichviel wie.

Noch wirbelten in ihm die Gedanken in wilder Jagd, als der Oberst zurückkehrte. Sein scharfes Auge überflog das Zimmer; er näherte sich einem Seitentische, streckte die Hand nach dem dort stehenden Aschenbecher aus, und trat damit zu Hermann. Während er ruhig eine schwarze Kugel auf dessen Grund gleiten ließ, bot er dem jungen Manne die weiße Kugel: „Für Sie!“

Ehe Dieser das Symbol des Lebens gleichfalls in den Becher warf, blickte er seinen Gegner einen Moment an. Auf Kettler’s Zügen lag ein Ausdruck, den der Jüngere nie wieder vergaß. Der Oberst bewegte leicht den Becher, welchen er nicht aus der Hand gelassen; leise klang es darin, während er ihn hob und langsam sprach: „Drei Monate Frist. Bei meiner Ehre!“

„Bei meiner Ehre!“ wiederholte der jüngere Mann. Jeder Blutstropfen drängte sich ihm gegen das Herz, als er die Finger des Obersten in die Höhlung tauchen sah. Gleich darauf öffnete dieser seine Handfläche. Eine schwarze Kugel lag darin. Während er sie betrachtete und in seine Brusttasche gleiten ließ, brach es wie ein Blitz aus seinen Augen. Er reichte Hermann schweigend die Hand. Auch dieser blieb stumm; sein Blick traf den des Andern mit unaussprechlicher Gewalt.

„Wünschen Sie mir Glück!“ sagte Kettler mit energischem Ton, indem er Hermann’s Hand nach starkem Drucke frei ließ. „Es kam, wie es mußte. Nicht immer ist das Schicksal sinnlos. Leben Sie wohl und – glücklich, wenn das möglich, ist!“

Er war fort. Hermann erfaßte mechanisch den Becher, in dem über Leben und Tod gewürfelt worden. Als er die weiße Kugel, welche darin für ihn zurückgeblieben, an sich nehmen wollte, der erschütternden Stunde zum Gedächtniß, schrak er zusammen. Auf dem Grunde des Bechers lagen zwei Kugeln; noch jetzt blieb der Weißen eine schwarze gesellt.

Der Fordernde in diesem verhängnißvollen Spiele hatte sich doppelte Chance gegeben.




2.

An diesem wie am nächsten Tage hing die Zeit wie Blei über Hermann. Was er auch beginnen mochte, die drückende Last der Gedanken wenigstens zu lüften, er konnte, sich auch nicht für die Dauer eines Augenblicks davon frei machen. Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Von Anfang an war seine Rolle in all dieser Tragik eine passive gewesen und sollte so bleiben. Das Leben, bisher für ihn ein reiches Gut, erschien ihm jetzt kaum als willkommenes Geschenk – der Kummer um die Räthsel der Welt und des menschlichen Daseins überwog in ihm jede andere Empfindung. Ein schmerzliches Geheimniß läßt sich nur dann ertragen, wenn das Dunkel, worin es sich hüllt, heiliger Art ist. Nur eine Sehnsucht war noch in ihm lebendig: nach Hause! eine melancholische Sehnsucht nach Ruhe und Licht. Noch zwei Tage waren durchzuleben – dann durfte er seinem Heimweh folgen.

Es war spät Abends, gegen neun Uhr, als der junge Mann, nachdem er einmal wieder zehn Gassen durchlaufen hatte, damit er die Stille seines Zimmers ertrüge, sich dort niedersetzte, um ein Wort über die Stunde seiner Ankunft nach Hause zu schreiben. In dem Club-Local unter ihm ging es lebhaft zu; es war heute Gesellschaftsabend; das Gesumme der Stimmen, die Stöße der Billardkugeln drangen herauf, und so überhörte er das Geräusch der sich leise öffnenden Thür – er hatte einen Gesellschafter bekommen.

Ein Begrüßungswort des Eingetretenen ließ Hermann aufblicken, und mit Befremden sah er Oberst Kettler vor sich. Schweigend erhob er sich und erwiderte den Gruß; er hatte nichts weniger erwartet als mit diesem Manne nochmals an dieser Stelle zusammenzutreffen. Seine Miene mochte dies unverhohlen genug ausdrücken, denn ein bitteres Lächeln zuckte um Kettler’s Lippen, als er mit einem Blicke auf das halbgefüllte Briefblatt sagte:

„Ich störe Sie – lassen Sie sich das aber gefallen! Es wird Sie nicht gereuen.“

Der bedeckte Ton, in dem diese Worte erklangen, berührte Hermann eigenthümlich und entwaffnete augenblicklich seine Mißstimmung. Im Begriffe, seinem Gaste nach dem Sopha zu folgen, auf das Jener niedergesunken war wie ein Todmüder, nahm er die Lampe vom Schreibtische, um sie dem Oberst näher zu rücken.

„Lassen Sie das Licht!“ sagte Kettler, „kommen Sie zu mir! Ich muß Ihnen so Manches –“

Obgleich Hermann ihm schon minutenlang gegenüber gesessen, nahm der Oberst doch das Wort nicht wieder auf. Die Augen [295] mit der Hand beschattet, schien er in sich hinein zu sinnen, bis er endlich in etwas bewegtem Tone sagte. „Ich habe mir überlegt: nicht Alles ist damit gethan, wenn ich eines Tages – von der Jagd nicht heimkehre. Erfahren Sie nicht, wie der Augenblick möglich wurde, dessen Zeuge Sie gewesen, so bleibt an ihr ein Makel haften; Sie würden lebenslang gering von ihr denken. Das darf nicht sein. Ich will versuchen – sie selbst weiß ja kaum –“

Er schwieg von Neuem; seine Finger rollten ein leeres Briefcouvert, das vor ihm auf dem Tische lag, mechanisch auf und zu. Plötzlich richtete er sich straff in die Höhe.

„Als ich vor etwa sechs Jahren den Abschied nahm,“ begann er, „und wir uns hier ankauften, entstand gleich in den ersten Monaten eine Schulfreundschaft zwischen den beiden Mädchen und Paula kam häufig zu Ida auf Besuch. Meine Frau gewann das Kind lieb und knüpfte eine Bekanntschaft mit der schon damals kränklichen Mutter an. Bald wurden die Mädchen unzertrennlich. Paula galt uns, je länger je mehr, als zur Familie gehörig. Alle waren ihr gut; jeder Dienstbote freute sich, sobald sie erschien. Welch ein Kind! Wie ein Thautropfen, in dem die Sonne sich spiegelt – Licht, Klarheit, Freude blitzte aus jeder Regung, und dabei zeigte sie, damals schon, im Alter der Selbstsucht, die rührendste Pflichttreue. Als Sie, Barner, vor zwei Jahren Paula kennen lernten, war sie in Wirklichkeit noch ein Kind, nur die Erscheinung voll aufgeblüht, das ganze Wesen aber noch in der Entwickelung begriffen. Sie gehörte zu unserm Leben, unseren Tagen wie ein Theil von uns selbst.

Damals fing der Zustand ihrer Mutter an sich zu verschlimmern, nur die Abendstunden blieben dem Mädchen frei; ohne daß man es sich sagte, wartete Jeder im Hause auf den Abend. Ich hatte Paula lieb wie meine Ida; sie war mir eine Augenweide, doch dachte ich kaum an sie, wenn ich sie nicht vor mir sah. Oft schalt ich sie auch, weil sie sich im Verkehr mit den jungen Männern unseres Kreises zuweilen allzu scheu, fast herbe gab. Oft auch habe ich sie spät aus unserm Hause oder aus Gesellschaften heimgeleitet; da hing sie kindlich an meinem Arme und beichtete in harmloser Fröhlichkeit Alles, was ihr begegnet war. Aber Sie wissen, wie es mitunter im Frühlinge geht, wo alle Pracht mit einem Male unaufhaltsam vordringt – so brach seit dem letzten Winter diese herrliche Natur voll aus der Knospe. Sie sahen es ja selbst, aber nur ihre Nächsten kennen sie ganz. Ihre Anmuth besiegte Jedermann – wir waren stolz auf sie. Da begann es, daß ich zuweilen, wenn ich arbeitete oder mit Anderen zusammen war, die Stimme der Abwesenden dicht neben mir zu hören meinte, deutlich, lebendig, wie wenn man liebe Stimmen im Traume sprechen hört – gleichgültige Worte, aber in herzergreifendem Tone. Und dann – eines Tages –“

Er brach ab und sah mit jenem Blicke in's Weite, der nicht sieht, der nur in's Bodenlose hinein denkt.

„Eines Nachts,“ sagte er in Hast, „eines Nachts fuhren wir vom Mittfastenballe nach Hause. Meine Frau und Ida stiegen bei unserem Hause aus; ich fuhr mit Paula weiter, um sie sicher in ihre Wohnung zu bringen. Als ich dort den Wagen verlassen hatte und ihr die Hand reichte, sie herauszuheben, glitt ihr Fuß auf dem Trittbrette aus und während des Fallens – ich fing sie im Arme auf – streifte ihr Gesicht das meine. Ich fühlte ihre Lippen auf meiner Wange, eine Secunde nur, ihr unbewußt, denn sie war erschrocken und lachte dann, als sie auf den Füßen stand, über ihr Ungeschick. Seitdem – seitdem hat es mich erfaßt und weicht nicht mehr. Was ich auch beginne, welche Gewalt ich übe – es ist umsonst. – Sie werden das nicht begreifen, gewiß aber begreifen Sie, was es heißt: ein Mann sein, sich aus allen Kräften wehren und beständig unterliegen. Ich wurde irre an mir selbst.

Noch hatte ich zu Anfang Besinnung genug, neben der Schuld auch die Lächerlichkeit meiner Leidenschaft zu empfinden. Vor Andern lächerlich erscheinen, ist eine nicht unüberwindliche Probe. Ein fester Wille, ein mächtiges Gefühl besteht sie, ihr Stachel lockert aber viel, das zuvor fest gestanden. Wie Einer, der sich gebunden fühlt und los sein will um jeden Preis, rang ich Tag und Nacht gegen die dämonische Gewalt. O, furchtbar ist es, wenn ein Mensch Macht über den Andern gewinnt – Gesundheit, Stimmung, Leistungskraft, Alles verschlungen von einem Gedanken, abhängig vom Augenblick, von der ahnungslosen Willkür des Andern; wenn da in lichten Momenten Näheres, Lieberes vor uns aufsteigt, dem all unsere Freuden und Leiden gehören müßten, und man schaudernd fühlt, wie das Alles zu Nichts wird vor der elementaren Macht, die uns zwingt, dann lebt man Momente, wo man an seinen eigenen gesunden Sinnen zweifelt, voll Entsetzen an der Grenze des Wahnsinns zu irren glaubt.“

Er sprang auf. Jeder Nerv der mächtigen Gestalt schien zu zucken. Mit zwei Schritten war er am Fenster, stieß einen Flügel auf und ließ die kühle Herbstluft hereinströmen.

„Dort unten am Brunnen,“ sagte er dumpf, „habe ich solch einen Augenblick verlebt. Es war nicht lange nach jener Nacht; wir waren Alle im Casino. Was ich schon oft gesehen: daß sich der Arm eines Tänzers um sie schlang, ich konnte es nicht ertragen; ich verließ das Local; es trieb mich in die Nacht hinaus. Ja, dort am Brunnen stand ich auf dem öden Platze und drückte die hämmernde Schläfe gegen den Schaft und preßte die Hände ineinander, um nicht vor Qual aufzuschreien, wie ein angeschossenes Thier, und dicht neben mir stand der Wahnsinn –“

Hermann erbebte. Nicht ein Wort hätte er stammeln können, und wenn er sich damit vom Tode loskaufen sollte. Seine Kehle war wie zugeschnürt; sein heißes Auge hatte sich an der Gestalt des Obersten gleichsam festgesogen und irrte ihm beständig nach, während dieser auf und nieder schritt. Drunten im Club war es still geworden. Die Gesellschaft mochte sich in den Speisesaal begeben haben. Und hier oben klang zu dem schweren Tritte im Tacte das fast unnatürlich laute Ticken der Wanduhr.

„Was habe ich nicht Alles versucht!“ sagte Kettler, ohne sein Wandern zu unterbrechen, nach langer, schwüler Pause. „Reisen, Arbeit, Zerstreuung – was man so nennt. Aber kein Segen ruht mehr auf Allem, was ich thun oder lassen mag. Nehme ich ein Buch, so lese ich nicht, was da steht, sondern das, was in mir tobt. O, was sind wir! Was nützt die Ernte eines ganzen Lebens, wenn Erfahrung zu Trümmern wird, Sammlung zur unbändigen Leidenschaft!“ Er blieb einen Moment vor Hermann stehen und sah ihm tiefsinnig in die Augen. „Barner, ich liebe ja mein Weib und mein Kind – nicht um ein Atom weniger liebe ich sie als je. Wenn Clara mich ansieht mit den guten, bangen Augen, wenn ich fühle, wie sie grübelt, was mich so rastlos macht, wenn meine Antwort auf ihre sorgenvollen Fragen sie nicht befriedigt, wenn sie sich tausend Möglichkeiten ersinnt und sich abängstigt, ohne zu ahnen – wie könnte sie auch ahnen nach so vielen Jahren herzlicher Treue! – nicht sie, Niemand erwartet von mir solches Verlorensein.“

Wieder begann das rastlose Wandern. „Ich war jung wie Andere, habe meine Jugend empfunden und genossen, habe geliebt oder meinte es wenigstens. In den Sinnen war es still geworden; ich glaubte mit Allem fertig zu sein, was man Leidenschaft nennt. Leidenschaft! Wie man das so hinsagt und daran glaubt, wenn nur einmal die Pulse rascher schlagen! – Wo sie heimsucht, gilt es mehr als Wallungen – und Sträuben ist vergebens. Seit Monaten gehe ich den Menschen, den Meinen aus dem Wege – nicht aus Schuldgefühl; der Sturm bittet auch nicht um Verzeihung – aber ihre Nähe beängstigt mich. Nicht mehr durfte ich meinem Kinde in die klaren Augen schauen, nicht mehr konnte ich des Nachts den ruhigen Athemzug meiner Frau ertragen; ich bettete mich allein, um wenigstens die Hände ringen und aufstöhnen zu dürfen wenn die Marter zu unerträglich wurde. Sie starren mich an, als spräche wirklich Wahnsinn aus mir? O, nur einmal laßt mich die Qual hinausschreien! Ich durfte es ja Keinem, Keinem sagen.“

Der Unglückliche stürzte um Hermann's Hals und schluchzte convulsivisch auf, doch währte diese Zuckung des Schmerzes nur einen Moment. Im nächsten schon richtete er sich auf, verhüllte seine Augen und sagte dann, indem er sich schwer auf das Sopha warf, mit gewaltsam ruhigem Tone:

„Nach alle dem wissen Sie immer noch nicht, wie das Letzte kam. Während längerer Zeit war ich durch das Ordnen einer Erbschaftsangelegenheit meiner Frau hier gebunden; sobald die Geschäfte mich frei ließen, unternahm ich die Pariser Reise – ein Experiment, das mißlang wie alle vorigen. Trotzdem kehrte ich ruhiger zurück, mit dem Entschluß, nach Ida's Verheirathung mit meiner Frau von hier fort in deren Heimath zu ziehen. Ich [296] hatte den Tag meines Eintreffens nicht gemeldet, und war, eben angelangt, im Begriff, aus der Stadt nach Hause zu gehen. Etwas wie Freude regte sich in mir, Freude über das Stillesein meiner Noth und ein Vorempfinden des Wiedersehens von Frau und Kind. So ist Einem zu Muthe, wenn man aus schwerem Traum aufwacht und sich glücklich dünkt, daß es doch nur ein Traum gewesen. Da, auf dem Wege zwischen den beiden Wohnungen, kam sie mir entgegen – Paula. So dämmerig es war, erkannte ich sie schon, als ihr Umriß noch wie ein Nebel erschien; jede Fiber in mir stürzte sich widerstandslos nach ihr hin. Fragen Sie mich nicht – denn ich weiß es nicht, wie es zuging – was ich sprach, warum sie mir folgte, wohl nur wie ein armes Vögelchen, das sich nicht zu helfen weiß, wenn es gescheucht wird – aber sie folgte. Des Uebrigen waren Sie Zeuge. Und nun verdammen Sie den Schuldigen! Für die Schuldlose fordere ich Ihre Achtung bis in Ihr geheimstes Denken hinein.“

Er stand hochaufgerichtet; seine Rechte ruhte auf Hermanns Schulter; seine gebietenden Augen flammten in die des Jüngeren.

„Hören Sie nun auch mich!“ stammelte Hermann. „Ich danke Ihnen, und ich beschwöre Sie: nehmen Sie von mir Ihr Ehrenwort zurück, Oberst! Sie müssen, müssen leben. Offen will ich es bekennen, daß ich Ihrer in tiefem Groll gedacht, seit gestern in doppeltem Groll. Als ich entdeckte, daß Sie sich zweifache Chance des Todes gegeben, empörte sich mein Innerstes gegen Sie, und mein erster Impuls war, Sie darüber zur Rede zu stellen. Ein Duell auf Leben und Tod ist kein Kinderspiel, welcher Form es auch sei. So ungewöhnlich ist aber Alles gestaltet, was Sie zu meinem Gegner gemacht, Schuld und Nichtschuld mischen sich so seltsam in meinem eigenen Bewußtsein, daß ich auch das auf sich beruhen ließ. Nun kann ich es nicht mehr – tief verstehe ich, was Sie in solcher Weise handeln ließ, weder Ihnen noch mir selbst gestehe ich aber fortan das Recht zu, das Todesloos, welches Sie fast willkürlich ergriffen, als gültig zu betrachten. Nehmen Sie Ihr Wort zurück! Sie sollen mich niederschießen, wo Sie mich finden, wenn Sie erfahren, daß von alledem je ein Hauch über meine Lippen kommt. Ausgelöscht sei das Gedächtniß! Ja, ziehen Sie weit, weit von hier! Dann wird noch Alles gut. Denken Sie an die Ihrigen!“

„Weil’ ich daran denke, muß ein Ende werden. Gesetzt, es würde Alles gut, wie Sie sagen, glauben Sie, ich könnte jemals wieder der Vorige sein? Ein Mann, dem der Glaube an seine eigene Kraft abhanden gekommen ist, hat auf der Welt nichts mehr zu schaffen. Was hätte ich überhaupt hier zu thun? Ein Krüppel trotz dieser Hünenglieder! Die Waffe hängt an der Wand. Ob ich Abhandlungen über Kriegswissenschaft schreibe oder ein Anderer – kein Staubkorn hat es zu bedeuten. Meine Familie bedarf meiner nicht. Zu ersetzen ist Jeder; ich bin es mehr als Andere. Ehe ich gehe, werde ich meiner Tochter Heim aufbauen, dann kann die Mutter folgen und sich des jungen Glückes freuen. Versuchen Sie nicht, mich aufzuhalten, Barner, sonst dürften die Meinen Thränen um den Lebenden vergießen, die all ihr Glück und Heil aufzehren.“

„Und – Paula?“ fragte Hermann mit gesenktem Auge.

Der Oberst machte eine jähe Bewegung.

„Sie wird überwinden, was – – Sie ist sehr jung. Wer weiß auch, ob es bei ihr überhaupt etwas zu überwinden giebt!? Es handelt sich da mehr um den Augenblick. Sie ahnt wohl, daß wir damals einen Zeugen gehabt, aber sie weiß nicht und darf nie erfahren, wer –“ Er brach ab; ein bitteres Lächeln irrte um seine Lippen. „Laßt nur erst Gras darüber wachsen, über Gräber und Alles, dann – wer weiß?“

Sein Blick sprang wie ein elektrischer Funke auf Hermann, so leidenschaftlich beredt, daß der junge Mann heiß erröthete und eine unwillkürlich abwehrende Handbewegung der stummen Frage Antwort gab.

Der Oberst griff nach seinem Hut. „Wann reisen Sie ab?“ fragte er schnell.

„Morgen Abend, Herr Oberst.“

„Dann sehen wir uns nicht mehr. Ich werde morgen nicht hier sein und vielleicht auch übermorgen noch nicht. Herr von Grieben hat mich zur Jagd geladen. Leben Sie wohl!“

Zum letzten Male hielten sich die Hände beider Männer gefaßt. Der Druck, womit sie sich ließen, war ein Abschied auf Nimmerwiedersehen.

(Fortsetzung folgt.)




Auf Wilhelmshöhe im Jahre 1870.
Erinnerungen eines Artilleristen.


Wer das schöne, park- und fontainenreiche Wilhelmshöhe bei Kassel kennt, der wird sich eines militärischen Gebäudes erinnern, das sich inmitten der jenseits des Schlosses gelegenen Rasenfläche erhebt. Es ist die Caserne.

Der Krieg 1870 hatte die streitbaren Insassen auch dieses Gebäudes über den Rhein geführt, dafür aber war eine andere Truppe eingezogen: die reitende Ersatzbatterie des in Kassel garnisonirenden Artillerie-Regiments. Zuerst war das nur der „Stamm“ gewesen, das heißt die von den verschiedenen mobil gemachten Batterien zu jener abgegebenen Unterofficiere, Mannschaften und Pferde, dabei aber Stiefvater und Stiefmutter der neuen Truppe nicht zu vergessen: der Batterie-Commandeur und der Wachtmeister. Aber mit jedem Tage war Zuschuß an Menschen und Pferden eingetroffen. Da kamen die alten Landwehren, die Weib und Kind daheim gelassen hatten, aber dennoch lieber „draußen“ mitgethan hätten, als daß sie, vorläufig wenigstens, beim „Schwamm“ ein verhältnißmäßig gemüthliches Leben führten. Es waren kernige Männer, die da unter dem Gesang der „Wacht am Rhein“ und des Preußenliedes in die Caserne einzogen, und die meisten von ihnen hatten schon Missunde oder Düppel, oder doch wenigstens die böhmischen oder süddeutschen Schlachtfelder oder Langensalza gesehen. So manche waren unter ihnen, deren ich noch heute in cameradschaftlicher Zuneigung gedenke. Da war der dicke, stets heitere und launige Bierbrauer aus Pyrmont, ehemals ein flotter Bonner Husar, dem es ein Hauptvergnügen war – natürlich wenn kein Vorgesetzter es hören konnte – beim Geschützexerciren sein „Gradaus mit Carvenaden geladen, nach dem Hercules, dreimalhunderttausend Schritt“ zu commandiren. Da war – auch ein früherer Husar, obendrein Einjährig-Freiwilliger – ein Dampfschifffahrts-Agent vom Mittelrhein, der sich jetzt einen alten Kanoniersrock und Nachmittags Schreiberdienste beim Wachtmeister gefallen lassen mußte. Freilich hat ihn das Hôtel Schombarth öfter gesehen als die Caserne, und er ist vom Dienst nicht magerer geworden. Wie lachten wir, als er bei einer späteren abermaligen Einziehung mit dem Cylinder auf dem Kopfe und im Mantel eines Trainsoldaten erschien, da man ihn in der Eile gar unter diese hatte stecken wollen. O, wenn ich sie hier alle aufzählen könnte, die braven Leute! Sie Alle waren seit Jahren des Kriegswerks ungewöhnt, aber doch muß es ihnen Allen zum Lobe nachgesagt werden: waren sie erst mit Helm, Säbel und Bandelier wieder ganze Soldaten, so ritt, fuhr und exercirte Jeder auch sogleich wieder, daß es eine wahre Lust war, dem zuzuschauen.

Schon waren einige Wochen in’s Land gegangen; die allgemeinen Siegesfeiern hatten auf Wilhelmshöhe einen kräftigen Wiederhall gefunden – da traf auf einmal, wie eine Granate in ein friedliches Manöverbivouac, mit der Nachricht von Sedan zugleich der Befehl in unsere Caserne, diese auf’s Schleunigste zu räumen, um für des gefürchteten Napoleon gesammten Marstall Platz zu schaffen. Napoleon, der siegreiche Kaiser, sollte, auf seinem Siegeszuge nach Berlin unliebsam aufgehalten, auf Wilhelmshöhe ständige Wohnung beziehen.

Groß war der Jubel, denn nun war ja auf einmal der Friede wieder gesichert – so rechneten wir –, und groß die Eile, mit der wir zogen. So ging es denn vom schönen Wilhelmshöhe fort nach zwei kleinen Dörfern, Ober- und Nieder-Zwehren unweit Kassel, in Bauernquartiere. Man denke sich ein kleines Haus, unten mit einem Zimmer und dieses mit einem Bett im Alkoven und einer an der Wand emporzuklappenden Bank, auf der dem einquartierten Vaterlandsvertheidiger Gelegenheit

[297]

Kaiser Napoleon, auf Wilhelmshöhe eine Batterie im Casernenhofe inspicirend. Nach einer Photographie.
Gefolge des Kaisers. Der Kaiser. Graf Monts.

[298] gegeben werden sollte, angenehmen Träumen nachzuhängen, endlich eine Getreidekammer, in der sich für Geld und gute Worte noch ein strohgefülltes Bett vorfand, dazu im Uebrigen den besten Willen von Seiten der Wirthin – so war ein Quartier, und sicher nicht viel besser waren die meisten anderen. Bald jedoch wurden wir schon wieder umquartiert, nach dem Flecken Waldau bei Kassel, in welchem die ganze Batterie bequem untergebracht werden konnte und wo es sogar ein „Hôtel“ gab, das einem auch in der That sogleich ansah, wem es wirklich ganz hôtelmäßige Preise und wem geringere anzurechnen habe.

Und wieder waren vierzehn Tage dahin, als der Befehl anlangte, daß die Batterie auf’s Neue in Wilhelmshöhe Quartier zu nehmen habe. Napoleon hatte bald nach seiner Ankunft daselbst nahezu seine sämmtlichen Pferde verkaufen lassen und sein Marstallpersonal dem entsprechend bedeutend verringert: so konnte die wieder leer gewordene Caserne abermals durch eine Truppe belegt werden. Gegen Ende September also räumte die Batterie Waldau und marschirte durch Kassel die herrlich schattige Allee entlang, zurück nach ihrer alten Behausung.

Vor der Hauptwache war diesmal eine starke Infanteriewache unter dem Gewehr, an der vorübermarschirend wir mit dem bekannten „hörbaren“ Ruck die Augen rechts „nahmen“. Vor dem Hôtel Schombarth stand der Kellner neugierige Schaar, und aus einigen Fenstern der Caserne beschauten einige ebenso neugierige, uns völlig fremde Gesichter unsern Einmarsch. „Batterie geschlossen! Links marschirt auf!“ hieß es, „Abgesessen! Abgespannt!“ während das „siebente Geschütz“ munter von seinem Leiterwagen herabkletterte, auf dem es, das heißt die mit der edlen Reitkunst noch nicht genügend vertraute junge Mannschaft, einige ehemals „kurfürstlich hessische Nichtstreiter“ und einige Schreiberseelen, den Weg von Waldau bis hierher lachend und singend durchzogen hatte. Die vorausgesandten Quartiermacher wiesen die Ställe an, demnächst die Mannschaftsstuben. Bald kochte es in der Küche in den großen Kesseln, an denen eben jene absonderliche species militaris, die weiland kurfürstlich hessischen Nichtstreiter, unblutige Lorbeeren zu pflücken befehligt waren, und endlich konnte auch Jedermann seinen „Spatz“ (das Stückchen Fleisch) und seine Suppe im irdenen Teller fassen und sich’s schmecken lassen.

Der erste Nachmittag ging natürlich hin mit dem Reinigen und Instandsetzen der Wohnräume, mit dem Einräumen der Armatur- und Kleidungsstücke und dessen, was man sonst von „Muttern“ etwa vorsorglich mitgebracht hatte. Auch die Cantine auf dem andern Flügel der Caserne wurde aufgesucht und schön Mariechen, Cantinen-Wirths Töchterlein, begrüßt, welche Spirituosen, Bier und von der Mutter in großen Massen bereiteten heißen braunen Trank unter dem Namen Kaffee credenzte. Da fand sich nun auch, was es mit den neuen Mitbewohnern der Caserne auf sich hatte. Das waren die Stallknechte Napoleon’s und der in seiner Gesellschaft verbliebenen französischen Generale sowie Bedienstete aus dem königlich preußischen Marstall, von dem eine kleine Zahl prachtvoller Rappen dem kaiserlichen Gefangenen zur Verfügung gestellt worden war. Die königlichen Bedienten suchten natürlich sogleich als Berliner und hochstehende, aber dennoch leutselig sich herablassende Männer von Bildung uns zu imponiren. Mit den Franzosen dagegen knüpften wir die Bekanntschaft an, um unsere von der Schulbank stammenden französischen Brocken an den Mann zu bringen und als Hochgelahrte im einfachen Kriegerkleide vor ihnen zu glänzen. So war denn bald zwischen allen, Franzosen und Deutschen, Marstalldienern und Artilleristen, ein Einvernehmen hergestellt, welches ich mich nicht erinnern kann, je gestört gesehen zu haben.

Wir waren über ein Dutzend Freiwilliger bei der Batterie, von denen damals wohl die meisten vom Marschallstab in der – Packtasche träumten, und fanden uns zu zehn unter einem Sergeanten (der in England gewesen war, aber bei Ausbruch des Krieges sich wieder eingestellt hatte) in einer großen Stube wieder, die uns glücklicherweise den Ueberfluß besonderer Schlafzimmer gewährte, welche letzteren sich rechts und links an das Mittelzimmer anschlossen. Man stelle sich nun zehn an Handarbeit und häusliche Verrichtungen meist gar nicht gewöhnte junge Leute vor, die sich und das Ihrige völlig selbstständig zu besorgen und nach Casernengebrauch sich tageweise in der Reinerhaltung der Stube abzulösen, jeden Sonnabend aber gemeinsam eine große Reinigung derselben, mit Einschluß der Tische etc. vorzunehmen hatten. War es ein Wunder, daß von solchem Dienste Jeder sich zurückhielt, soviel er vermochte, daß beinahe jeden Mittag bei Uebernahme des „Stuben-du-jour-Dienstes“ vom Vorgänger die lächerlichsten Scenen und Zänkereien vorkamen, denen stets erst ein Donnerwetter des Sergeanten das Ziel setzte? – Junges Blut, gleicher Bildungsgrad, gleiche Absichten und leidliche Zulage von Hause brachte uns aber rasch näher, woher denn im Uebrigen das lustigste, einträchtigste Leben auf unserer Stube herrschte.

Am Morgen krochen und voltigirten wir von unserem Strohlager (je nachdem wir ebener Erde, oder erste oder zweite Etage des dreifach aufeinander gethürmten Bettengebirges schliefen), um uns alsbald unter die Zucht unseres gestrengen Herrn Lehrmeisters, Papa Lemecke, zu begeben. Dies war ein wackerer Sergeant, mit größter Unparteilichkeit seine Grobheiten an uns Alle gleichmäßig verschwendend, unermüdlich im Dienst wie gemüthlich und umgänglich und doch durchaus unbestechlich außerhalb desselben, ein braver Soldat, ein tüchtiger Reiter und – ein gelehrter Artillerist. „Wißt Ihr denn auch, was die Flugbahn so einer Granate eigentlich ist?“ fragte er in einer der ersten Vortragsstunden. „Nein, Ihr wißt es nicht; nun, ich will es Euch aber sagen: es ist eine Parabel.“ Und Staunen erfaßte uns Alle. Unser Lehrmeister ließ uns reiten, exerciren zu Fuß und am Geschütz, daß es eine Freude war, trotz Hitze oder Kälte, ob Regen, Schnee oder Trockenheit, und es muß anerkannt werden, seine Schüler sämmtlich dürften ihm viel verdanken, denn stramme militärische Erziehung, zumal die allererste, bringt immer gute Früchte, selbst bis wieder hinein in’s bürgerliche Leben.

Natürlich wurde die erste freie Zeit dazu benutzt, von Napoleon zu sehen, was zu sehen war. Aber man hatte das Schloß mit einem Ringe von Posten umzogen, ebensowohl, um dem Kaiser täglich vor Augen zu führen, daß er Gefangener sei, wie um den hohen Gast seinem Range entsprechend damit zu ehren und allzu Neugierige von ihm gebührend abzuhalten. – So sind auch wir nie in’s Schloß gelangt. Oft aber fuhr der Kaiser in dem königlichen Wagen mit königlichen Livree-Bedienten spazieren, und dann haben wir ihn auch zu sehen bekommen. Aber wer sich ihn etwa vorgestellt hatte, wie ihn der „Kladderadatsch“ wohl abzubilden pflegte, wohlgenährt, gesund, mit glänzend schwarzem, steif abstehendem Knebelbarte, schlau und heiter dreinschauend, der würde sich arg enttäuscht finden. Der Napoleon war das nicht. Das war für gewöhnlich ein in sich zusammengesunkener, kleiner, kranker Mann (übrigens mit blonden, stark schon in’s Graue spielenden Haaren), dem schwere Sorgen oder Schmerzen nur zu deutlich auf das Gesicht geschrieben standen und dessen Anblick schwerlich etwas anderes, als lebhaftes Mitgefühl erwecken konnte. Und er, dem noch vor Kurzem seine Pariser, seine Truppen zugejauchzt hatten, er saß, in Ueberzieher oder Militärmantel eingehüllt, im Wagen, still und wie ängstlich durch die neugierig gaffende Menge fahrend und höflich nach allen Seiten grüßend, oft auch, wenn Niemand ihm das Gleiche gethan hatte. Zuweilen auch ging er in den dem Schlosse zunächst belegenen Anlagen spazieren, er, der kleine Mann, geführt von zwei auffallend großen Männern, die uns als der Prinz Murat und General Graf Pajol genannt wurden, und von denen ersterer seine Länge noch durch einen, hohen Hut vergrößern zu wollen schien, während der Andere, im Uebrigen in Civil gekleidet, die rothe, goldgestickte Generalsmütze trug. In einiger Entfernung folgten ihm ein Polizeibeamter in Civil und einer der auf Wilhelmshöhe befindlichen Unterofficiere der Schloßgarde-Compagnie. Nur zuweilen zeigte er ein weniger sorgenvolles, auch gesünderes Aussehen als sonst, und einmal wagte er sich sogar auf’s Eis des oberhalb des Schlosses liegenden Sees und zog durch seine Kunstfertigkeit als Schlittschuhläufer eine Menge staunender Zuschauer, wohl ohne seinen Willen, an.

Ein einziges Mal nur kam Napoleon mit uns in nähere Berührung. Eines Morgens nämlich mußte die Batterie aus den Ställen ziehen, anspannen und, die Mannschaften im guten Anzuge, auf dem Casernenhofe in Parade sich aufstellen. Da kam nach einiger Zeit der Kaiser in Begleitung des General-Lieutenants Grafen Monts, des Gouverneurs von Kassel, vom Schlosse herüber zu Fuß nach dem Casernenhofe, um die Batterie zu besichtigen. Zuerst ging er langsam die Front entlang, mit scharfem Blicke Alles prüfend; dann wurde auf seinen Wunsch ein Geschütz abgeprotzt, und die Bedienung desselben mußte daran die Handgriffe des Ladens, Richtens und Abfeuerns etc. durchmachen. [299] Napoleon, der bekanntlich ein wirklich kenntnißreicher Artillerist war, folgte dem Exercitium mit großer Aufmerksamkeit und stellte, übrigens in fließendem Deutsch redend, mehrere eingehende Fragen. Als er aber unter Anderem seine Bedenken darüber ausdrückte, daß die Laffeten doch recht schwer zu sein schienen und namentlich schnelles Richten erschwert sein müsse, antwortete ihm der Hauptmann: „Majestät, wir haben aber bisher die besten Erfolge gehabt.“ Da schwieg der Kaiser. Bald nachher bedankte er sich beim Grafen Monts und bei unserm Hauptmann und verabschiedete sich, hierauf nach dem Schlosse zurückkehrend.

Ein unvermeidlicher Photograph war während dieser denkwürdigen Besichtigung zugegen und vermochte zwei verschiedene Momente derselben auf seiner Platte zu fixiren und zwei Bilder herzustellen, die ich der Redaction zur Disposition stelle.

Unter Dienst und Erholung, unter Anstrengung und Zerstreuung verging die Zeit, und wir merkten es anfangs kaum, daß es nachgerade Winter werden wollte. Bald aber empfanden wir das um so stärker. Wer gedächte nicht mehr der ungewöhnlich strengen und anhaltenden Kälte gerade im Winter 1870 auf 1871; wer hätte damals nicht unsre braven Soldaten vor Paris bemitleiden ob all des Ungemaches, das sie zu leiden hatten? Aber auch in Wilhelmshöhe war Winter. Eisiger Wind fegte über den Casernenhof; er durchkältete die dünnen Wände der nur als angenehme Sommerwohnung erbauten Caserne und drang durch die mangelhaft schließenden Fenster, sodaß weder wollene Decken noch glühende Oefen uns des Nachts vor Frost bewahren konnten. Dabei wurde uns der Dienst nicht geschenkt. Hatten wir, Morgen für Morgen beinahe, den fußhoch liegenden Schnee in der ersten Stunde bei Seite gebracht, so ging es an’s Exerciren wie zur schönsten Sommerszeit, und wenn im Uebrigen auch unsre gestrengen Corporale Alles thaten, uns warm zu machen, so blieb immer noch Ursache genug für die Fingerspitzen, zu frieren, für die unbehandschuhten Hände, zu erstarren. Der kalte Säbel, die kalte Granate beim Exerciren, oder die Zügel beim Reiten trugen zur Verbesserung unserer Lage auch gerade nichts bei. Darüber konnte weder der steifste Grog bei Schombarth, noch das deutlich in den Gesichtern der immer noch zahlreichen Besucher von Wilhelmshöhe zu lesende Mitleid hinweghelfen. Uns blieb nur die immer wachsende Sehnsucht nach dem Felde und dem voraussichtlich herrlichen Frühlinge in Frankreich.

Endlich sollte unser heißester Wunsch in Erfüllung gehen. Es war gerade Nachmittagsstalldienst, als plötzlich das Signal „Appell ertönte und gleich darauf das weitere „Trab“. Alles eilte und stürzte also vor das Thor nach denn Appellplatze, um sich in Reih’ und Glied zu stellen. Eben war eine Ordonnanz von Kassel heraufgekommen und – „Wer will mit nach Frankreich?“ rief der Wachtmeister. Jubelnd sprangen wir Freiwillige vor, mit uns eine ganze Anzahl der ältesten Landwehrmänner, die auch noch gegen die Franzosen, den Erzfeind, ziehen wollten. Während wir eben Alle notirt wurden – es waren mehr Leute vorgetreten, als verlangt wurden – und unsere Freunde trotz aller Disciplin gar zu laut sich äußerte, kam Kaiser Napoleon gerade gegenüber an der Orangerie, nicht fünfzehn Schritte von uns, geführt von seinen beiden großen Generalen, vor uns vorbei. Er blieb stehen und schaute uns eine lange Weile zu. Welche Gedanken mögen ihm in diesem Augenblicke gekommen sein, als er unsre freudige Stimmung und aus unsern lauten Ausrufen die Veranlassung zu derselben erkannte!

Das war das letzte Mal, daß ich den Mann gesehen habe, vor dem noch Monde vorher die Welt zu zittern schien. Den Abend war Gesang und laute Freude in der ganzen Caserne. Nach zwei Tagen kamen wir, völlig neu ausgerüstet und eingekleidet, nach Kassel zu den sich formirenden Ersatzcommando; eine Woche später überschritten wir mit laut schallendem Hurrah die fränkisch-deutsche Grenze. –
M. Carl.




Das Jubiläum eines Glücklichen.

(Mit Portrait.)

Ist der Mann nicht glücklich zu preisen, der auf ein Vierteljahrhundert seiner Pflichterfüllung zurückblicken kann mit dem Bewußtsein: „Du hast nur das Gute gewollt, und das Beste ist Dir gelungen“? Ist er es nicht, wenn er, das Auge auf den Kreis seiner Lieben gerichtet, bekennen muß: „Mir hat ein freundlicher Stern geleuchtet; sein Strahl hat mich mit Glanz umgeben“? Wenn dieser Mann nun ein Fürst, ein Regent ist, wird nicht an seinem Jubeltage seine erste Frage sein: „Was sagt heute mein Volk?“ Diese Frage konnte Badens Großherzog am vierundzwanzigsten April an sein Volk richten. Und das Volk konnte antworten: „Wir freuen uns Deines Glückes. Du hast es um uns verdient.“

Das Großherzogthum Baden hatte am genannten Tage das Regierungsjubiläum seines Fürsten zu feiern. Wir Alle im übrigen Deutschland wissen, daß dieser Fürst in der Geschichte der Neugestaltung unseres nationalen Lebens auf den Gebietern der Einheit und Freiheit eine hervorragende Stellung einnimmt, und daß sein Name unzertrennlich verbunden ist mit den Errungenschaften, deren sich das deutsche Volk in der neuesten Periode seiner Entwickelung freudig und hochgemuth rühmen darf.

Es war ein glücklicher Gedanke, dieses Jubiläum durch eine Festschrift zu verherrlichen, welche in gedrängter Kürze und Uebersichtlichkeit die Ergebnisse der fünfundzwanzigjährigen Regierung des Großherzogs Friedrich zusammenfaßt und, in mehr als hunderttausend Exemplaren in allen Gemeinden des Landes verbreitet, auch dem heranwachsenden Geschlecht zu zeigen bestimmt ist, was in diesen fünfundzwanzig Jahren einer reich gesegneten Regierung im politischen Leben, auf den Gebieten der Gesetzgebung und Verwaltung, für Schule und Gewerbe, für Wissenschaft und Kunst, für Handel und Verkehr geschehen ist. Dieser von Archivrath Fr. von Weech verfaßten Festschrift „Baden in den Jahren 1852 bis 1877“[1], folgen wir, indem wir versuchen, ein Bild dieses bewegten und ereignißreichen Vierteljahrhunderts in Baden zu entwerfen.

Das kleinstaatliche Stillleben, welches das Großherzogthum in den Jahren führte, die der Revolution von 1849 folgten, bewegte sich innerhalb derselben Grenzen, welche das politische Dasein der meisten deutschen Länder in jenen Zeitabschnitte umschlossen. Es war mancherlei aufzubauen, was in den vorausgegangenen Wirren der Zerstörung zerfallen war; es galt die zerrütteten Finanzen zu ordnen, die Steuerkraft des Landes durch Verbesserung der betreffenden Gesetze richtiger zu verwerthen, das Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der staatlichen Einrichtungen, das tief erschüttert war, wieder zu befestigen. Es war im Ganzen eine trübe Zeit, ohne Aufschwung, ohne treibende Ideen, ohne rechte Arbeitsfreudigkeit, eine Zeit, in welcher der Weizen einer geist- und herzlosen Bureaukratie in rechter Blüthe stand.

In dieses dumpfe und gleichgültige Leben, dem alle bedeutenden Männer, alle freieren Geister fern blieben, kam plötzlich ein frischer, fröhlicher Zug mit dem Sturme, der sich gegen das Concordat erhob. Denn als die erzbischöfliche Curie zu Freiburg, den Geist der Zeit verkennend, der ganz anders beim Jahr 1860 angekommen war, als er das Jahr 1850 verlassen hatte, sich gegen die bestehenden Gesetze des Staats auflehnte und ihnen offen den Gehorsam verweigerte, erhob sich gegen die drohende Unterordnung des Staates, gegen die Preisgebung staatlicher Hoheitsrechte zu Gunsten der Kirche die Vertretung des badischen Volkes. Die zweite Kammer verwarf das Concordat, und der Großherzog entließ am 1. April 1860 sein Ministerium und berief die Führer der gegen das Concordat gerichteten Bewegung, Stabel und Lamey, in den Rath der Krone.

Dieser Bruch mit der Politik, die zum Abschluß des Concordats [300] geführt hatte, ward aber gleichzeitig der Beginn einer völligen Umgestaltung des gesammten Staatslebens, das nun in neue Bahnen gelenkt wurde. Vor Allem trat an die Stelle des bisher oft nur scheinbaren ein aufrichtig constitutionelles System, getragen von Männern, die für den Parlamentarismus von jeher gekämpft hatten, gutgeheißen von dem Großherzoge, der das schöne Wort sprach: „Ich konnte nicht finden, daß ein Gegensatz sei zwischen Fürstenrecht und Volksrecht; ich wollte nicht trennen, was zusammen gehört und sich wechselseitig ergänzt: Fürst und Volk unauflöslich vereint unter dem gemeinsamen schützenden Banner einer in Wort und That geheiligten Verfassung.“

Dem inneren Leben der Kirche wurde die vollste Selbstständigkeit gewährt, im Uebrigen aber mußte sie sich unter die Souveränetät des Staates beugen. An die Stelle der Nothcivilehe trat 1869 die obligatorische Civilehe, und im gleichen Geiste eines festen und gemessenen Fortschritts wurden viele andere Gesetze erlassen, wie über die rechtlichen Verhältnisse der Stiftungen, die öffentliche Lehrwirksamkeit der Mitglieder religiöser Orden, die Rechtsverhältnisse der Altkatholiken etc. Von höchster Bedeutung aber war die Befreiung der Volksschule von der Herrschaft der Kirche. Die confessionelle Volksschule, welche noch eine Reihe von Jahren hindurch die Regel gebildet hatte, machte 1868 der facultativen, 1876 der obligatorischen gemischten Schule Platz. An die Volksschule schließt sich seit 1875 eine Fortbildungsschule an, deren Besuch für die Knaben noch zwei Jahre, für die Mädchen noch ein Jahr nach Zurücklegung des schulpflichtigen Alters vorgeschrieben ist.

Auf dem Gebiete der Rechtsgesetzgebung traten seit 1864 Reformen in's Leben, welche Baden zu einem modernen Rechtsstaate im vollen Sinne des Wortes umschufen, und ebenso große Sorgfalt wandte der Großherzog und seine Regierung der Pflege der Wissenschaften und des höhern Unterrichtswesens zu. An den Landesuniversitäten Heidelberg und Freiburg und an der Polytechnischen Schule zu Karlsruhe wurden zahlreiche neue Lehrstühle errichtet, wissenschaftliche Institute erbaut und keine Kosten gescheut, um die ausgezeichnetsten Lehrkräfte zu gewinnen und zu erhalten. Nicht weniger ist für die Hebung von Landwirthschaft, Handel und Gewerbe geschehen, und auch hier ist den Unterrichtsanstalten ein besonderes Augenmerk geschenkt worden. Für den Verkehr wurde in ausgiebigster Weise gesorgt, vom äußersten Gebirgsort bis in das Rheinthal, welches von jeher eine Weltstraße voll pulsirenden Lebens war.

Die Finanzen des Landes wurden ausgezeichnet verwaltet. Der Wohlstand ist gestiegen, die Consumtionsfähigkeit gesteigert; die Staatseinnahmen sind vermehrt worden; abgesehen von der durch Werthe gedeckten Eisenbahnschuld, ist das Großherzogthum schuldenfrei.

Solche Umgestaltungen aller Zweige des Staatslebens, solche zahlreiche Neuschöpfungen konnten nicht in's Leben treten, ohne manchem mehr oder weniger heftigen Widerspruche zu begegnen. Offenen Widerstand fand die ganze moderne Gesetzgebung aber doch nur von Seite der katholischen Kirchenbehörden und der mit ihnen verbundenen ultramontanen Partei des Landes. Nicht nur jenen Gesetzen, die sich unmittelbar auf das Verhältniß der Kirche zum Staate beziehen sondern überhaupt allen auf freisinniger Grundlage aufgebauten Werken der Gesetzgebung zeigte sich diese Partei feindlich. Sie setzte alle Mittel in Bewegung, um der liberalen Entwickelung Schwierigkeiten zu bereiten, Hirtenbriefe des Erzbischofs und nach dessen Tode des Erzbisthumsverwesers, Versammlungen und Vereine mit specifisch-confessionellem Charakter, die durch das unwahre Vorgeben, daß die Religion bedroht sei, zu Stande gebracht wurden, Adreßstürme, eine vor keiner Verdächtigung und Rohheit zurückschreckende Presse – das Alles wurde aufgeboten, um den Glauben zu erwecken, daß das Volk in seiner überwiegenden Mehrheit von dem Fortschritt, von der freiheitliche Gesetzgebung nichts wissen wolle. Den rechtsgültig zu Stande gekommenen Gesetzen stellte, so weit sie kirchliche Verhältnisse berührten, die Curie zu Freiburg nicht nur Proteste, sondern theilweise directe Auflehnung gegenüber, welche den Erzbisthumsverweser selbst und zahlreiche Geistliche des Landes sogar in Conflicte mit dem Strafgesetzbuche brachte. Aber alle diese Uebergriffe der Kirchenbehörden, alle diese Agitationen der Ultramontanen scheiterten an dem streng gesetzlichen Sinne des Großherzogs, an der Festigkeit der Regierung, an der gesunden und klaren Erkenntniß des badischen Volkes, welches recht wohl zu unterscheiden wußte zwischen wahren und falschen Freunden, zwischen Licht und Finsterniß, zwischen dem ernsten Streben der liberalen Partei, das Volk immer mehr zur Bildung, zur selbstständigen Pflege seiner Interessen heranzuziehen, und den Bemühungen der Ultramontanen, es niederzuhalten in Unwissenheit und Unbildung zum Vortheil eines selbstsüchtigen Pfaffenregiments. Wenn es auch den Ultramontanen gelungen ist, im Laufe der Zeit eine Anzahl von Sitzen in der zweiten Kammer zu gewinnen, so steht dennoch fest, daß der weitaus größte Theil des badischen Volkes treu und bewußt dem liberalen Banner folgt und sich unentwegt zu der Ansicht bekennt, die Großherzog Friedrich noch unlängst bei festlichem Anlasse aussprach: daß die Gesetzgebung unseres Landes fest gegründet ist und daß auf den Grundlagen, auf welchen sie beruht, weiter gearbeitet werden muß.

Aber nicht nur die inländischen Oppositionsparteien bereiteten dem Werke der staatlichen Neugestaltung Badens manche Schwierigkeit, sondern auch von außen geschah gar Vieles, in der Absicht diese Arbeit nach Kräften zu erschweren. Es fehlte weder das mitleidige Achselzucken benachbarter „Staatsmänner“ über das unruhige, experimentirlustige Ländchen, noch die mit der Miene überlegener Besorgtheit vorgetragene Warnung vor Ueberstürzung, vor den unausbleiblichen traurigen Folgen des liberalen Regimentes. Um so ehrenvoller ist die stätige Ausdauer, mit welcher der Großherzog und die Männer, denen er sein Vertrauen schenkte, unbeirrt der einmal eingeschlagenen Richtung treu blieben, und sich – wie es der Großherzog in der Thronrede am Schlusse des Landtags von 1863 aussprach – bewährten „als wahre Freunde der Freiheit, jener Freiheit, die sich selbst beherrscht, und jenes Fortschrittes, der, aus der Einsicht des Bedürfnisses hervorgehend, sich in besonnener Erwägung des Staatswohls und treuer Liebe zum Vaterlande verwirklicht.“ Und jetzt, nach einer Reihe von Jahren, hat der Großherzog und hat die liberale Partei in Baden die Genugthuung, zu sehen, daß die „Experimente“, wegen deren man Baden belächelt oder bedauert hatte, in anderen deutschen Ländern, selbst in Preußen, ja für das ganze Reich eines nach dem andern zur Durchführung kommen.

War so die Haltung des Großherzogs Friedrich von Baden und seiner Regierung und Volksvertretung für die freiheitliche Entwickelung unseres Vaterlandes von einer Bedeutung, die weit über den Einfluß hinausreicht, welchen Baden, der Zahl seiner Quadratmeilen und Einwohner nach, zu beanspruchen hätte, so war dies in nicht geringerem Maße der Fall auf dem Gebiete der nationalen Einheitsbestrebungen. Dieselben Männer, welche den Kampf gegen die Uebergriffe der Curie aufgenommen und zu glücklichem Ende geführt hatten, übernahmen in Baden auch die Leitung der öffentlichen Meinung, als der Eintritt der „neuen Aera“ in Preußen, der Ausgang des Krieges von 1859, die Gründung des Nationalvereins in ganz Deutschland[WS 1] den nationalen Geist neu belebte. Mit voller Klarheit und Entschiedenheit wurde von den Anhängern der nationalen Partei in Baden, unter der Führung von Häusser, Jolly, Pagenstecher, Lamey, Eckhard und Anderen, die Forderung nach der Bildung eines Bundesstaates unter Preußens Führung, nach einer kräftigen Centralgewalt und einem nationalen Parlament erhoben. Und auch hier stimmte der Großherzog mit den Wünschen des politisch denkenden Theiles seines Volkes vollkommen überein. Durch die Berufung des Freiherrn Franz von Roggenbach an die Spitze seines auswärtigen Ministeriums gewann er einen ideal angelegten und national gesinnten Staatsmann für die Gestaltung seiner Beziehungen zum deutschen Bunde und zu den einzelnen Bundesstaaten; durch die Heranziehung von Männern wie Robert von Mohl und Karl Mathy zeigte er vor aller Welt, wie ernst und entschieden er die Aufgabe erfaßte, an seinem Theil für die Wiederaufrichtung eines geeinigten und mächtigen Deutschland mit voller Kraft thätig zu sein. Ueber die ebenso mannhafte wie fürstliche Haltung des Großherzogs Friedrich bei dem Frankfurter Fürstentage hat unser Artikel von 1863, der durch dieselbe sogar veranlaßt wurde, ganz besonders gehandelt.

Und als dann aus den Irrgängen dieser Frage sich plötzlich die deutsche Frage herausentwickelte, als sich die deutschen Mittel- und Kleinstaaten vor die Entscheidung gestellt sahen, in dem bevorstehenden Kampfe für Preußen oder für Oesterreich zu den Waffen zu greifen, auch da blieb Baden, so lange es möglich

[301]

Großherzog Friedrich von Baden.

war, bestrebt, den im nationalen Interesse gesteckten Forderungen Preußens nicht nur selbst zuzustimmen, sondern auch die Zustimmung anderer Bundesgenossen zu verschaffen. In den schweren Junitagen 1866 führte dann freilich die geographische Lage des Landes, die erregte Stimmung weiter Bevölkerungskreise auch Baden in das österreichische Lager herüber, aber der Großherzog machte in vertrauten Kreisen kein Geheimniß daraus, daß er zwar als constitutioneller Fürst den Wünschen seiner Volksvertretung nachgekommen sei, aber seinerseits die Ueberzeugung seines Ministers Mathy, der jetzt dem schon früher ausgeschiedenen Roggenbach in die Stille des Privatlebens folgte, theile, daß Baden auf der unrechten Seite stehe.

Als die Siege der preußischen Waffen dem Großherzoge die Freiheit des Entschlusses, den badischen Liberalen die Unbefangenheit des politischen Urtheils wiedergaben, war Baden der erste unter den süddeutschen Staaten, der sich mit aller Entschiedenheit [302] angelegen sein ließ, Fühlung mit dem Norddeutschen Bunde zu suchen, zunächst auf dem militärischen Gebiete Alles zu thun, um in der Stunde, da das Vaterland rufen würde, bereit zu sein, als ein ebenbürtiges, vollbereites Glied des Ganzen in die volle nationale Gemeinschaft einzutreten. Männer, wie Mathy, Jolly, von Freydorf und Andere, die nun an die Spitze der Geschäfte traten, wiesen alle Versuche zurück, welche zur Bildung eines Südbundes gemacht wurden, sie arbeiteten, besonders seit Jolly, nach Mathy’s Tode, Ministerpräsident geworden, in Gemeinschaft mit dem zum Kriegsminister ernannten preußischen General von Beyer unausgesetzt daran, die Wehrkraft des Landes zu der Höhe der Leistungsfähigkeit, wie sie Preußen von seinen Staatsangehörigen beansprucht, zu bringen.

Als in den unvergeßlichen Tagen des Juli und August 1870 ganz Deutschland sich wie ein Mann erhob, um den wälschen Uebermuth zu züchtigen, da bewies die überraschende Schnelligkeit der badischen Mobilmachung, wie vortrefflich die ganze Umorganisation der badischen Felddivision gelungen sei.

Und während sich die badischen Truppen vor den Wällen Straßburgs, in den Gebirgen der Côte d’Or und endlich in dem dreitägigen heldenmüthigen Kampfe bei Belfort mit Ruhm bedeckten, war der Großherzog mit seinem in treuer nationaler Gesinnung bewährten Minister Jolly in Versailles thätig, an dem großen nationalen Einigungswerke zu arbeiten. Mit Recht sagt hierüber von Weech’s Festschrift: „Den ganzen Umfang des Antheils, der dem Großherzoge an der Gründung des Reiches zukommt, nicht nur durch sein jahrelanges, unentwegtes Festhalten an der nationalen Idee, sondern insbesondere durch seine rastlose und erfolgreiche Thätigkeit in Versailles, wo es galt, Schwierigkeiten aller Art aus dem Wege zu räumen, Bedenken zu beseitigen, Gegensätze zu versöhnen, wird erst in spätern Jahren der Geschichtsschreiber schildern und dadurch das hohe Verdienst des Großherzogs in ein noch helleres Licht stellen können.“

Was er unmittelbar als Regent seines Landes in entschlossener und opferwilliger Vaterlandsliebe gethan, das wissen wir. Vorbehaltlos hat er den Eintritt des Großherzogthums in das deutsche Reich vollzogen, ohne irgend eines der Reservatrechte zu verlangen, durch welche andere deutsche Staaten wenigstens einzelne Theile der alten Zersplitterung zu verewigen trachten. Durch den Abschluß einer Militärconvention, in Folge deren das badische Contingent unmittelbarer Bestandtheil der deutschen, beziehungsweise der königlich preußischen Armee wurde, hat er ferner bewiesen, daß seinem erleuchteten Patriotismus die Stärkung der nationalen Wehrkraft und die einheitliche Leitung des Heerwesens höher steht, als der Schein, den andere Fürsten des Reiches noch mit ihrer in Wahrheit doch nur dem Namen nach bestehenden „Kriegsherrlichkeit“ aufrecht zu erhalten suchen.

Mit größter Entschiedenheit ist Badens Fürst und Volk auch seit dem Eintritte des Großherzogthums in das neue deutsche Reich der freisinnigen Richtung auf allen Gebieten des Staatslebens treu geblieben, und auch ein vielfach mit Argwohn betrachteter Ministerwechsel im Herbste 1876, in Folge dessen Jolly und Freydorf aus dem Ministerium ausschieden, hat daran nichts geändert. Das Ministerium Turban-Stösser hat seither nicht nur durch feierliche Erklärungen, sondern auch durch die That bewiesen, daß es in allen wesentlichen Fragen, in vollster Uebereinstimmung mit dem Großherzoge, dieselbe freisinnige und reichstreue Haltung beobachtet, wie seine Vorgänger.

So darf denn nicht nur Baden, sondern das ganze deutsche Reich an diesem Ehrentage dem Großherzoge Friedrich die freudige Anerkennung zollen, daß er „den Besten seiner Zeit genug gethan“, und daran den Wunsch knüpfen, daß dem trefflichen Fürsten noch eine lange und ebenso wie diese fünfundzwanzig Jahre reichgesegnete, für sein Land und für ganz Deutschland fruchtbringende Regierungszeit gegönnt sei. Möge das deutsche Reich in guten und schlimmen Tagen stets in seinen Einzelländern Fürsten am Ruder stehen sehen, welche besonnen und entschlossen, selbstlos und opferwillig immerdar in so freudiger Hingabe dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, wie es Großherzog Friedrich von Baden gethan!




Eine Blutsühne nach zwanzig Jahren.
Von Theodor Kirchhoff.


San Francisco, am 31. März 1877.

Der 16. September des Jahres 1857 war Zeuge von einem der schändlichsten Verbrechen, welches die amerikanische Geschichte aufzuweisen hat, der Metzelei einer Emigranten-Karawane in Mountain Meadows im Territorium Utah, wobei gegen hundertfünfzig Emigranten, Männer, Frauen und Kinder, von den Mormonen und den mit ihnen verbündeten Indianern verrätherischer Weise hingemordet wurden. Fast zwanzig Jahre lang blieb die entsetzliche Blutthat, welche Brigham Young stets den Indianern allein zur Last gelegt hatte, ungesühnt, bis die Gerechtigkeit endlich den Haupttheilnehmer an jener Metzelei in der Person des Mormonenältesten John D. Lee ereilt hat.

Bekanntlich hatten die Mormonen, ehe sie ihr gegenwärtiges hierarchisches Gemeinwesen unter Brigham Young’s Leitung in Utah gründeten, in den östlichen Unionsstaaten Ohio, Missouri und Illinois gelebt, wo sie von den ihre Religionsgebräuche hassenden Hinterwäldlern verfolgt und von Ort zu Ort getrieben wurden. Diese Verfolgungen gipfelten in der Ermordung des Propheten Joseph Smith in dem Städtchen Carthage bei Nauvoo in Illinois (27. Juni 1844). Die Wanderung der Mormonen von den Ufern des Mississippi nach dem Thalbecken am großen Salzsee unter der Führung von Brigham Young und die Gründung des neuen Mormonenstaates Zion im Innern des Continents gehören der Geschichte an.[2] Bei den Mormonen herrschte, namentlich während der ersten Jahre nach ihrer Vertreibung, ein intensiver Haß gegen alle „Gentiles“ (Nichtmormonen), welchen Brigham Young für seine selbstsüchtigen Pläne vortrefflich zu verwerthen verstand. Wer seinen Verordnungen widersprach oder ihm sonst unliebsam war, verschwand oft auf räthselhafte Weise, meistens während einer „Reise auf’s Land“, welche „Unfälle“ Brigham den Indianern zuzuschieben pflegte. Es ist jetzt jedem Unparteiischen klar, daß die im Dienste der Mormonenkirche stehenden Daniten oder „Racheengel“ die Henkersrolle bei fast allen solchen „Unfällen“ gespielt haben. Das Hauptamt der Daniten scheint jedoch darin bestanden zu haben, die Mormonen an solchen zu rächen, welche sie vor ihrem Auszug aus den „Staaten“ verfolgt hatten.

Im Spätsommer des Jahres 1857 verbreitete sich die Kunde in Salt Lake City, daß ein aus etwa einhundertfünfzig Personen bestehender Emigrantenzug mit vierzig Wagen, achthundert Rindern, sechszig Maulthieren und Pferden und vieler werthvollen Habe von Arkansas nach dem südlichen Californien unterwegs sei und demnächst durch jene Stadt kommen werde. Die Mormonen waren zu damaliger Zeit in furchtbarer Aufregung wegen der sich gegen sie von der Regierung in Washington vorbereitenden Bundesexecution.

Als die Emigranten nach ihrem überaus mühsamen Marsche über die Ebenen, die fast pfadlose Gebirgswildniß der Felsengebirge und durch trostlos öde Salbei- und Alkaliwüsten endlich Salt Lake City erreichten und sich dort neu verproviantiren und für die Weiterreise stärken wollten, verweigerten ihnen die Mormonen Lebensmittel und sonstige Bedürfnisse und behandelten sie auf die nur denkbar abstoßendste Weise. Auf der Wanderfahrt weiter südwärts fanden sie bei allen Niederlassungen der „Heiligen“ dieselbe schnöde Behandlung. Niemand verkehrte mit ihnen, und finstere Blicke begegneten ihnen an jeder Thür. Nach mehreren Wochen einer solchen traurigen Reise erreichten sie ein grünes Thal im Gebirge (Mountain Meadows), welches etwa fünf englische Meilen lang und zwei Meilen breit war, wo sie ein Lager aufschlugen und einige Zeit zu verweilen gedachten, um ihre Thiere sich beim Weiden an den saftigen Gräsern erholen zu lassen und selbst frische Kräfte für den Zug durch die Wüsteneien nach dem südlichen Californien zu sammeln. Als sie am Morgen des 7. September ihre mühsame Reise fortsetzen wollten, wurden [303] sie plötzlich von Indianern angegriffen, bei deren erstem Feuer sieben Männer von Büchsenkugeln getroffen zu Boden sanken. Schnell bildeten die tapferen Arkansas-Leute eine Wagenburg, in welcher sie sich auf’s Beste verschanzten und den Kampf mit den Wilden auf Leben und Tod muthig Aufnahmen.

Ich lasse jetzt den ehemaligen Mormonenbischof John D. Lee weiter reden, indem ich einen Auszug aus dem Bekenntnisse bringe, welches er vor seiner Hinrichtung schriftlich niederlegte und das zuerst im „New-York Herald“ veröffentlicht wurde.

„Im Jahre 1836 wurde ich“ – so lauten Lee’s Worte – „in meiner damaligen Heimath Illinois mit einigen herumreisenden Mormonenpredigern bekannt, welche mich zu ihrem Glauben bekehrten. Ich verkaufte mein Eigenthum in Illinois und zog nach Missouri, wo ich mit dem Propheten Joseph Smith, mit Brigham Young und andern Häuptern der Kirche der ‚Heiligen vom jüngsten Tage‘ vertraut wurde. Später wurde ich in den Orden der Daniten zugelassen, deren Mitglieder feierlich schwören müssen, allen Befehlen der Priesterschaft der Mormonenkirche Folge zu leisten. Aus dieser Organisation wurden die ‚zerstörenden Engel‘ ausgewählt.

In Jackson County in Missouri nahm ich als Mormonensoldat thätigen Antheil an den Conflicten mit den ‚Gentiles‘ und war Polizist und Leibgardist des Propheten in Nauvoo. Nach seinem Tode erhielt ich dieselbe Stellung bei Brigham Young, reiste später als Unterhändler der Kirche viel in den Vereinigten Staaten umher und bekleidete angesehene Aemter in Utah. Als der Prophet Joseph Smith die Enthüllung über Polygamie erhielt, trat ich dem neuen Glauben sofort bei. Im Laufe der Jahre erwarb ich achtzehn Weiber, worunter sich eine Mutter mit ihren drei Töchtern befand. Die Mutter heirathete ich jedoch nur, um ihre Seele zu retten. Ich bin Vater von vierundsechszig Kindern, von denen vierundfünfzig noch am Leben sind. So war ich ein geachteter Mann in der Kirche der ‚Heiligen vom jüngsten Tage‘.

Die Mountain Meadows-Metzelei war das Resultat der directen Lehren von Brigham Young und geschah auf unmittelbaren Befehl einer Mormonenconferenz in Cedar City im südlichen Utah und im Auftrage des Obersten William H. Dame und Oberstlieutenant Isaac C. Haight.

Zu Anfang September reiste ich nach Cedar City, wo ich mit Haight zusammentraf, der Befehlshaber der Iron County-Miliz und zugleich Gouverneur jenes Staates in Zion war. Haight gab mir einen ausführlichen Bericht über die Emigranten, welche bei Mountain Meadows ein Lager bezogen hätten. Er bezeichnete dieselben als Räuber und Halsabschneider, die am Morde der Missouripropheten Theil genommen. Zugleich befahl er mir, eine Indianerbande zu holen, um mit deren Hülfe die Emigranten anzugreifen, ihr Vieh fortzutreiben und jene selbst umzubringen. (Lee war zu damaliger Zeit Indianeragent und besaß volle Controle über die Indianer.)

Ich brachte sofort eine Bande der südlichen Indianer zusammen und organisirte den Angriff. Haight bemerkte noch, als ich sagte, daß es verboten sei, unschuldiges Blut zu vergießen: ‚Alles ist in Ordnung. Wir wollen den Indianern die ganze Schuld aufbürden. Nicht ein Tropfen unschuldigen Blutes ist in der ganzen Emigrantengesellschaft. Wenn Du pflichtgetreu handelst, so soll Deine Belohnung groß sein im Königreiche Gottes; denn Gott wird Diejenigen segnen, welche unsern Beschlüssen gehorchen.‘

Bei Tagesanbruch am Dienstag Morgen griffen die Indianer den ‚Train‘ an, tödteten sieben und verwundeten sechszehn Emigranten. Sie selbst verloren dabei einige ihrer Krieger. Jetzt schickten die Indianer nach mir, um den Angriff zu leiten. Die ganze Gegend war in Aufstand, und sowohl Weiße wie Indianer eilten von allen Seiten nach Mountain Meadows. Am Donnerstag langte Major Higby an und brachte den Befehl von Cedar City, daß alle Emigranten, die sprechen könnten, getödtet werden sollten; nur die kleinen Kinder dürften Schonung erhalten. Achtundfünfzig Weiße und etwa fünfhundert Indianer hatten das ganze Lager umzingelt und unterhielten ein erfolgloses Feuergefecht mit den Emigranten. Major Higby sagte, es sei das Beste, wenn die Emigranten durch Verrath aus ihren Befestigungen herausgelockt würden. Er beauftragte mich, einer Parlamentärflagge zu folgen und einen Vertrag mit den Emigranten abzuschließen, ihnen Schutz und freien Abzug zu versprechen, wenn sie die Waffen niederlegten, und die Kranken und Verwundeten in die Wagen zu schaffen. Dann sollten die Truppen mit den Emigranten zusammentreffen und sie als Escorte begleiten, während sich die Indianer in den Hinterhalt legten. Den Indianern wurde alsdann bedeutet, daß sie die Frauen umbringen sollten; die Männer wurden der Miliz als Opfer bezeichnet. Ich und die Treiber der Wagen erhielten den Auftrag, die Verwundeten und Kranken zu ermorden.

Am Freitag Morgen pflanzten die Emigranten eine weiße Flagge auf; sie hatten den Vertrag angenommen, brachten die Verwundeten und Kranken in die Wagen und begruben die todten Männer. Als sie aus dem Lager zogen, waren sie in Thränen. Eine halbe Meile von dem Platze begann das Feuern, und ich tödtete mit den Treibern verabredetermaßen die Kranken und Verwundeten. Nur siebenzehn kleine Kinder, die entblößt und theilweise verwundet auf dem Felde lagen, blieben verschont. Die Schrecken der Metzelei spotteten aller Beschreibung. Haight sagte zu Dame: ‚Verdammt! Sie haben es so angeordnet,‘ – worauf Dame bemerkte, er habe nicht gewußt, daß es ihrer so Viele seien. Das Vieh trieben wir nach Iron Springs; die Wagen und anderes Eigenthum wurde in Cedar City auf Befehl der kirchlichen Behörden verkauft. Ein heiliger Eid band alle Brüder, die bei der Metzelei betheiligt gewesen waren und sonst davon wußten, zum ewigen Schweigen.

Haight gab mir den Auftrag, nach Salt Lake City zu gehen und Brigham Young Bericht abzulegen, und versprach mir große kirchliche Belohnung für das, was ich gethan hatte.

Zehn Tage nach der Metzelei bei Mountain Meadows stattete ich dem Propheten meinen Bericht ab und erzählte ihm Alles, was ich davon wußte. Er müsse uns beistehen und uns vor Verfolgung schützen. Brigham antwortete mir, daß er sich mit Gott unterreden werde. Als ich den Propheten am folgenden Tage besuchte, sagte er zu mir: ‚Bruder Lee, es ist nicht ein Tropfen unschuldigen Blutes vergossen worden. Gott hat mir gezeigt, daß unser Volk ein gerechtes Werk gethan hat und nur ein wenig übereilt handelte. Ich trete für Alles ein, was ihr gethan habt, und fürchte nur etwaigen Verrath von Seiten der Brüder. Gehe heim und sage ihnen, daß sie Alle verschwiegen sein sollen wie das Grab! Schreibe mir einen Brief, worin Du den Indianern jegliche Schuld beimißt! Ich werde dann den Vorfall an die Bundesbehörde in Washington City als ein Indianer-Massacre berichten.‘

Young war damals und noch zehn Jahre nachher mit meinen Handlungen einverstanden. Kurz nach dem Vorfall machte er mich zum Richter von Washington County und gab mir drei Weiber. Daß er mich jetzt verläßt, ist niedrige Feigheit. Zum Jahre 1868 wurde mir von ihm auf alle Weise geschmeichelt; erst dann wählte er mich zum Sündenbock, um mich für die Verbrechen meines Volkes leiden und die Folgen derselben tragen zu lassen. Alle meine Tagebücher und andere Privatschriften wurden auf Befehl von Brigham Young vernichtet, und es bleibt mir nur mein Gedächtniß, um einen Bericht über jene Schandthaten zu geben, welche im Namen Gottes und unter der Autorität des Propheten in Utah verübt worden sind.“

Hiermit schließt das Bekenntniß von John D. Lee, in seinem trockenen Styl gehalten, welches überall in Amerika eine ungeheure Aufregung hervorgerufen hat und das Mormonenproblem auf’s Neue auf die Tagesordnung setzt. Der Mörder hat sich augenscheinlich bemüht, seinen Helfershelfern auch noch nach seinem Tode dasselbe Schicksal zu bereiten, welches ihn ereilt hat. Offenbar war er der Ansicht gewesen, daß die Kirche ihn vor aller Strafe schützen werde. Als ihn diese schmählich verließ und gleichsam als Märtyrer ihrer Sache preisgab, muß sich seiner wohl eine unbeschreibliche Wuth bemächtigt haben, wie sie aus dem Bekenntnisse deutlich genug hervorleuchtet.

Die bei der Criminaluntersuchung gemachten Aussagen der Zeugen des Blutbades und Solcher, die Genaueres davon mittheilen konnten, sind wahrhaft schaudererregend.

Während der Belagerung, die vier Tage und Nächte dauerte, hatten die Emigranten keinen Tropfen Wasser, weder für die Gesunden noch für die Verwundeten, erlangen können, und die Leiden der Letzteren waren herzzerreißend. Eine nicht weit vom Lager fließende Quelle wurde von den Indianern auf’s [304] Strengste bewacht und Jeder niedergeschossen, der sich derselben zu nähern wagte. Am dritten Tage sandten die Belagerten zwei hübsch mit weißen Kleidern angezogene kleine Mädchen mit Trinkgefäßen nach der Quelle, in dem Wahne, daß der Feind die unschuldigen Kinder nicht belästigen werde. Trügerische Hoffnung! Die Wilden kannten kein Erbarmen und schossen hohnlachend die Kleinen an der Quelle zusammen. Als Lee unter der Parlamentärflagge mit den Emigranten unterhandelte, heuchelte er die tiefste Freundschaft für dieselben und versprach ihnen hoch und heilig, daß er sie gegen die Indianer schützen werde, wenn sie den Vertrag annehmen wollten. Er würde sie unter dem Schutze der Miliz nach der nächsten Mormonenniederlassung geleiten und dort mit dem Nöthigen versorgen, sodaß sie ihre Reise nach Californien fortzusetzen vermöchten.

Auf sein Wort bauend, legten die Emigranten die Waffen nieder und ein weiß gekleidetes junges Mädchen wurde aus der Wagenburg in’s Freie gesandt, um als Zeichen zu dienen, daß die Friedensbedingungen angenommen seien. Als die Emigranten, von der Mormonenmiliz escortirt, etwa eine halbe englische Meile vom Lager entfernt waren, wurde der Befehl gegeben, anzuhalten. Dies war das mit den Indianern verabredete Zeichen zur Metzelei, welche nun in ihrer ganzen Scheußlichkeit begann. Die Männer wurden niedergeschossen und scalpirt und aller Kleider beraubt, welche sich die Wilden zueigneten; den Frauen riß man die Gewänder in Fetzen vom Leibe, ehe sie ermordet wurden. Die von den Mormonen und Indianern an jener Schauerstätte verübten Schandthaten entziehen sich durch ihre Gräßlichkeit einer genaueren Besprechung. Man denke sich das grauenhafte Bild der ihre blutigen Scalpirmesser schwingenden Wilden, das Hohnlachen der entmenschten Miliz, den Hülferuf, das Jammern der verrathenen Emigranten! Nackt, mit durchgeschnittenen Kehlen und scheußlich verstümmelt blieben die Leichen unbeerdigt auf dem Blutfelde liegen, eine Beute den wilden Thieren. Ein Jäger, der zwei Wochen nach dem Blutbade zufällig die Stätte des Schreckens betrat, sagte in dem Processe aus, er habe dort so viele menschliche Skelete und von Wölfen und Geiern zerstreute Knochen gesehen, daß er entsetzt davon geeilt sei. Nur siebzehn Kinder wurden, wie gesagt, verschont, weil sie zu klein waren, um als verrätherische Zeugen der Metzelei den Mormonen gefährlich werden zu können. Lee tödtete zuletzt noch zwei Kinder, die ihm zu groß und klug vorkamen.

Die entsetzlichen Einzelheiten jener Schandthat, bei welcher Verrath und tückische List die wehrlosen Schlachtopfer einem erbarmungslosen Feinde preisgaben, die teuflische Kaltblütigkeit, womit die sich civilisirt nennenden Mormonen die Kranken und Verwundeten hinmordeten, – jene haarsträubenden Scenen, welche sich dort auf der grünen Oase in der Bergwüste des südlichen Utah vor zwanzig Jahren abgespielt haben, bilden zusammen eine Episode in der Geschichte, bei deren Lesen man den Glauben an die Menschheit verlieren möchte. Welche Ursache zur Rache die Emigranten aus früherer Zeit den Führern der Mormonen auch gegeben haben mögen – daß jene sich bei der Verfolgung der „Heiligen“ in Missouri betheiligt haben, wurde nie erwiesen –: ein so teuflisches Bubenstück wie die Metzelei von Mountain Meadows kann auf keinerlei Weise beschönigt werden, und einen schändlicheren Verrath als jenen kennt die Geschichte kaum.

Den von allen Seiten des Landes nach Washington gesandten Aufforderungen gegenüber, die Mormonenhäupter für jenes Blutbad verantwortlich zu halten, stellen deren Vertheidiger jetzt die Entschuldigung auf, daß die Mormonen durch die vorhergehenden Verfolgungen auf’s Aeußerste gereizt worden, daß die Metzelei bei Mountain Meadows weiter nichts als ein Ausbruch der Volkswuth der im südlichen Utah ansässigen Mormonen gewesen sei, welche in den durch ihr Land ziehenden Emigranten ihre alten Todfeinde erblickten, und daß Brigham Young und andere Kirchenhäupter nicht für das Blutbad, welches sie nicht hätten verhindern können, verantwortlich gemacht werden dürften. Die compromittirenden Angaben eines solchen Scheusals wie Lee könnte man unmöglich als Beweisgründe gegen die Kirchenhäupter geltend machen. Brigham Young, der die ganze Tragweite des Lee’schen Bekenntnisses sofort erkannte, hat denn auch gleich nachher auf telegraphischem Wege eine kurze Entgegnung veröffentlicht, worin er alle Schuld an dem Verbrechen von sich abwälzt. Ein von ihm am 22. März an den Herausgeber des „New-York Herald“ gesandtes Telegramm lautet folgendermaßen:

„An den Herrn James Gordon Bennett, New-York. Ihre Mittheilung habe ich soeben erhalten. Wenn Lee in seinem Bekenntnisse eine mich compromittirende Angabe gemacht hat, wie Ihr Telegramm vom 21. März andeutet, so erkläre ich hiermit, daß dieselbe eine bodenlose Lüge ist. Mein Lebenslauf ist Tausenden von ehrenhaften Leuten so wohl bekannt, daß Keiner von diesen auch nur auf einen Augenblick einer solchen Anklage Glauben schenken wird. Brigham Young.“

Das klingt nun allerdings sehr schön, und wir wollen hoffen, daß der Prophet seine Unschuld der ganzen Welt wird darlegen können. Aber selbst im günstigsten Falle kann er die Verantwortung, die „Daniten“ und die „zerstörenden Engel“ organisirt zu haben, nicht von sich abwälzen. Die sich über einen Zeitraum von beinahe achtzehn Jahren hinausziehende Criminaluntersuchung, durch welche Lee schließlich überführt und zum Tode verurtheilt wurde, zeigte die für Brigham sehr angenehme Thatsache, daß ein gewisser George A. Smith, zur Zeit der Metzelei bei Mountain Meadows Befehlshaber der Mormonenmiliz im südlichen Utah, welcher den Auftrag zur Ermordung der Emigranten von Salt Lake City nach Cedar City gebracht haben soll, vor dem Beginne des letzten Jury-Processes gestorben ist und daß folglich das wichtigste Glied im Zeugenbeweise gegen die Kirchenhäupter fehlt.

Der Proceß oder vielmehr die Processe gegen Lee und Dame, deren man allein von den Anführern habhaft werden konnte, begannen bereits achtzehn Monate nach der Metzelei bei Mountain Meadows. Es gelang den Mormonen jedoch mit Leichtigkeit, zu jener Zeit, als Brigham Young’s Macht in Utah eine fast souveraine war, die erste Anklage zu annulliren und die Anschuldigungen gegen Lee und andere „Heilige“ für nichtig erklären zu lassen. Als aber die Macht der Vereinigten Staaten in Utah von Jahr zu Jahr wuchs, zogen die Kirchenhäupter der Mormonen allmählich gelindere Saiten auf und erboten sich zuletzt sogar, zur Ueberführung der Schuldigen eine helfende Hand zu leihen. Brigham Young, der zu Lee gesagt hatte: „Kein Haar auf Deinem Haupte soll geschädigt werden, Bruder Lee,“ zog seine schützende Hand von ihm zurück, und im Juli 1875 gelang es endlich dem Vereinigten Staaten-Gerichte in Utah einen Criminalproceß gegen Lee allen Ernstes anzustrengen.

Dieser Proceß führte jedoch zu keinem Resultat. Die Vertheidigung bemühte sich, die Metzelei bei Mountain Meadows lediglich als einen Indianerüberfall hinzustellen. Lee wäre zufällig dabei zugegen gewesen, hätte aber selbst Niemanden ermordet. Das Resultat dieses Processes war, daß die Jury nicht zur Entscheidung kommen konnte. (Nach amerikanischem Gesetze muß die Entscheidung durch eine Jury einstimmig sein.) Die Jury bestand in diesem Falle aus neun Mormonen und vier „Gentiles“, von denen acht Mormonen und ein „Gentile“ für Lee’s Freisprechung gestimmt hatten. Das Vereinigte Staaten-Gericht ließ es jedoch nicht hierbei bewenden, sondern ordnete einen neuen Criminalproceß an, der im September 1876 begann. Diesmal war ein auffälliger neuer Geist über die wiederum aus Mormonen und „Gentiles“ zusammengesetzte Jury gekommen. Die Mormonen zeigten sich als die erbittertsten Zeugen gegen Lee, und das Resultat war eine einstimmige Verurtheilung Lee’s durch die Jury. Lee appellirte gegen das Urtheil an’s höhere Gericht, welches jedoch im Januar 1877 die Entscheidung der Jury bestätigte und zwar auf diese Weise, daß bestimmt wurde, Lee solle an Ort und Stelle seines Verbrechens erschossen werden.

Die Hinrichtung Lee’s fand am 23. März statt. Nur wenige Zuschauer, worunter Vertreter des „Herald“ und der „Tribüne“ in New-York und einiger in San Francisco erscheinenden englischen Tagesblätter, hatten sich in dem durch das Blutbad der Emigranten historisch gewordenen Thalgrunde von Mountain Meadows im südlichen Utah eingefunden. Hundertfünfzig Ellen von der Stelle, wo Lee auf seinem Sarge saß, um das Feuer der Soldaten zu empfangen, lag das bereits in Trümmern gefallene „Monument“, jetzt nur noch ein Haufen von losen Steinen, welches vor zwanzig Jahren als ein Wahrzeichen der grauenhaften Metzelei hier errichtet worden war. Die ehemalige grüne Oase in der öden Gebirgswildniß war seit jener Zeit zur Wüstenei geworden, indem eine Wasserhose das Thal

[305]

Ist die Katz’ aus dem Haus, so tanzt die Maus.
Originalzeichnung von Keller.


im Jahre 1862 total verheerte und mit Schutt und Steingeröll von den umliegenden Höhen übersäete. Es mochte wohl dem Mörder, dessen letzte Worte ein Fluch auf Brigham Young waren, sein, als habe Gott selbst die Stätte der grauenhaften Unthat verflucht. – Das Feuer von fünf mit Zündnadelbüchsen bewaffneten Regulären that prompt seine Schuldigkeit. Ein kurzes Commando, und Lee lag, von fünf Kugeln im Herzen durchbohrt, als Todter bei seinem Sarge, welcher mit den Ueberresten des Mörders seiner Familie in Cedar City abgeliefert wurde.

In einem Alter von sechsundsechszig Jahren ein halber Greis schon, büßte Lee die Schandthat, welche er im rüstigen Mannesalter vollbracht hatte. Sein Bekenntniß und seine Hinrichtung sind wie ein finstrer Schatten über das Mormonenvolk gefallen und haben den Glauben an die „von Gott eingesetzte“ [306] Priesterschaft bei demselben tief erschüttert. Der Staatsanwalt der Vereinigten Staaten wird, wie es heißt, bald einen energischen Versuch machen, auch die anderen Haupttheilnehmer am Morde der Emigranten dem Arme der Gerechtigkeit zu überliefern. Bis jetzt ist es immer noch nicht erwiesen, wer den ersten Befehl zur Metzelei bei Mountain Meadows erlassen hat. George A. Smith ist, wie schon erwähnt wurde, gestorben, und Dame, Haight, Higby und Lee befanden sich nur in abhängiger Stellung unter ihm. Vermuthlich war Lee nicht der erste Urheber des schändlichen Bubenstücks, doch es stempelt ihn der Verrath, den er dabei an den Emigranten ausübte, zu einem Ungeheuer in Menschengestalt. Brigham Young aber, in dessen Hand es zweifelsohne lag, die Schandthat zu verhindern, hat das „Mene tekel“ gewiß schon deutlich an der Wand erkannt. Es ist Abend bei ihm geworden, und sein Stern ist im Untergehen. Seinen nicht zu verkennenden Verdiensten um die Cultur, für welche er aus einer Wüste im Innern des Continentes einen blühenden Garten geschaffen hat, verdankt der jetzt sechsundsiebenzigjährige Prophet es wohl allein, wenn die Centralbehörde der großen Republik ihn seine Tage in Frieden beschließen läßt und nicht weiter den Schleier zu lüften versucht, der seine etwaige Mitwissenschaft um die Metzelei von Mountain Meadows verhüllen mag.




Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)
16.

Die Cholera in der Stadt!

Lakonisch und so versteckt wie möglich hatte das locale Blatt von jenem ersten Falle der gräulichen Seuche Meldung gethan, welcher in dem verfallenen Häuschen in der Nähe des Wassers ein Menschenleben ausgelöscht hatte, und der hinzugefügte kurze Wunsch, daß dieser Fall vereinzelt bleiben möge, war nicht in Erfüllung gegangen.

In den ersten zwei Tagen starben fünf Menschen, in den folgenden beiden ihrer acht. In dem nämlichen Verhältnisse ungefähr schwoll das Verderben weiter.

Auf den Todtenhöfen traf man Vorbereitungen. Wagen mit Kalk gefüllt langten an und entledigten sich ihrer Last an der Mauer. In einer Ecke klaffte eine Grube; Arbeiter in ihren blauen Blousen standen darin und warfen mehr und mehr Erde heraus, und sie waren merkwürdig still bei ihrem Thun und tranken häufiger als sonst wohl aus ihren Flaschen. Die Zeit, wo diese Grube eine Nothwendigkeit wurde, sollte rasch genug kommen. Die ersten vierzehn Tage strichen über hundert Menschen aus dem Buche der Lebendigen.

Ein dumpfes Gefühl der Unsicherheit, eine heimliche Angst brütete in den Stuben der festgesperrten Häuser und auf den verödeten Straßen. Aus den reichen Stadttheilen rollten dann und wann Wagen, mit Kisten und Koffern bepackt, in’s Freie hinaus, ohne wieder zurückzukehren. Die Insassen, vermummt und verstört, hielten bis weit vor die Stadt die Hitze hinter verschlossenen Fenstern aus, fürchtend, daß der giftige Hauch sie im letzten Augenblicke der Flucht noch anwehen könnte, und schlossen die Augen, wenn der Zufall wollte, daß sie einem Sarge begegneten oder daß von einer Thürklinke her ein schwarzer Flor ihnen entgegenwehte. Die Todtenhäuser mit den schwarzen wehenden Floren waren noch durch etwas Anderes gekennzeichnet: sie hatten die Laden und Jalousien zugeschlagen.

Wer die Wege des Windbuckels beschreiten mußte, auf dem der Friedhof lag, schlich scheuen Blickes bei den langgezogenen Mauern vorüber. Die Glocken auf den Thürmen, welche sonst jeden feierlichen Einzug in das stille Reich der letzten Ruhe mit ihrem dumpf gewaltigen Klange begleitet, schwiegen jetzt, wenn dunkle Trauerzüge jene schmalen Holzgehäuse einführten, welche zerfallene Menschenruinen bargen.

Am Ende jener vierzehn Tage gab es kaum ein Trauergeleite mehr, nur daß hier und da ein Familienglied sich der Todtenfrau und dem Polizeidiener zugesellte, welche hinter dem rumpelnden Wagen hergingen, um draußen das Begräbniß zu constatiren. Und endlich flüchteten sich diese Acte unter den Schleier der Nacht; an der Wagenleiter schimmerte gelbröthlich die schwankende Laterne; schattenhaft bewegten sich das Pferd und ein paar Menschen neben dem Fuhrwerke. Den Wagen stellte die Stadt, und das Volk nannte ihn die „Petruskarre“.

Und zu allem dem schien den Tag über am wolkenlosen Himmel eine lachende Sommersonne. Kaum ein Hauch bewegte die Luft; die Blumen dufteten, und die Vögel sangen in das Menschenelend.

Eines Nachmittags hielt ein Wagen vor dem Hause, in welchem Urban wohnte. Der Doctor, welcher seine volle Kraft wiedergewonnen hatte, war eben von einem Berufsgange nach Hause gekommen und saß auf dem Sopha, um sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen, als eine Hand an sein Fenster klopfte und das Gesicht des Kutschers Johannes sich spähend an die Scheibe drückte.

Der Gestörte sprang, ein paar ärgerliche Worte zwischen den Zähnen murmelnd, auf und öffnete das Fenster.

„Was giebt es denn, Johannes?“

„Der Herr Doctor möchten sich nur gleich in den Wagen setzen und mitkommen, denn unser gnädiges Fräulein ist krank geworden.“

„Fräulein Toni krank? Um des Himmels willen doch nicht an der Cholera?“ –

„Wie Gott will; ich habe sie nicht gesehen und weiß es nicht, ob es die Cholera ist.“

Urban war blaß geworden; es war das erste Mal seit dem Ausbruch der Epidemie, daß ihn bei der Nachricht von einer Erkrankung ein Schauer überrieselte.

Das reizende, blühende, muntere Mädchen in der Gewalt des Scheusals: – „Es wäre entsetzlich,“ sagte der eiligst Hinausstürzende. Er warf sich in die Kissen und rief: „Vorwärts in Dreiteufelsnamen! Je eher wir kommen, desto besser!“

Die Apfelschimmel flogen; die Räder rasselten, und doch dünkten die Minuten, welche der Wagen brauchte, ehe er vor dem Hofthore des Commerzienraths still hielt, dem Darinsitzenden eine halbe Ewigkeit. Auf dem Balcone über den Karyatiden stand der Commerzienrath in Ungeduld und winkte hinunter.

„Halten Sie hier, Johannes!“ sagte Urban im Hinausspringen. „Vielleicht müssen Sie sofort zur Apotheke fahren.“

Auf der Treppe kam dem hastig Hinausstolpernden der Fabrikant entgegen.

„Das haben Sie davon,“ warf ihm Urban fast zornig entgegen, „daß Sie dieses Nest nicht bei Zeiten verlassen haben. Aber da kann man sich von seinen Schnurren und Spulen nicht trennen und von den dicken Hauptbüchern und meint, ohne Unsereinen ginge das Geschäft zu Grunde. Hätten Sie doch Alles drunter und drüber gehen lassen und gethan, wie ich Ihnen gesagt habe! Es hätte auch nichts geschadet.“

„Sie haben Recht, Doctor,“ erwiderte der Commerzienrath, dessen fahles Gesicht von Angst verstört war und dessen sonst peinlich sorgfältige Toilette Verschiedenes zu wünschen übrig ließ. „Es ist auch schon Alles gepackt, und noch heute Abend wollten wir abfahren; da fängt mir das Mädchen nach Tische zu klagen an. Vergebens, daß ich sie zu bewegen suche, das Bett zu Hülfe zu nehmen – Sie wissen, Herr Doctor, daß Sie mir dies für den Fall eines Unwohlseins sofort zu thun verordnet haben – sie hält sich bis vor ungefähr einer Viertelstunde aufrecht, inzwischen ist ihr aber übler und übler zu Muthe geworden, und nun liegt sie da. Mein Gott, nur nicht diese fürchterliche Krankheit – jede andere, nur diese nicht!“

„Treffen denn die Symptome zu? Doch wozu alles Reden! Führen Sie mich zu ihr! Ich will selbst sehen.“

Sie stiegen noch eine Treppe höher, und der Commerzienrath klinkte rasch an einer Thür –

Sie öffnete sich nicht.

„Lisette!“

„Herr Commerzienrath?“ antwortete es drinnen.

„Hat Sie die Thür zugeriegelt?“

[307] „Ja, auf Befehl des gnädigen Fräuleins. Sie läßt um Entschuldigung bitten –“

„Oeffne die Thür! Ich werde mit meinem Schwager sprechen,“ hörte man drinnen die würdevolle Stimme der Tante sagen, und die hagere Gestalt mit dem altjüngferlichen Anstande und dem feierlichen Gesichte erschien auf der Schwelle und wandte sich grüßend zu Urban, indem sie ein Nebenzimmer aufschloß.

„Würden Sie die Güte haben, sich einen Augenblick hier hinein zu bemühen, Herr Doctor?“

Und verdrießlich und verwundert zugleich horchte dieser einen Moment später wider Willen auf die leise geflüsterte Auseinandersetzung der Dame draußen, ohne etwas anderes zu verstehen, als ärgerliche Interjectionen des Commerzienrathes, welche dann und wann den Vortrag unterbrachen, bis die Beiden eiligen Schrittes in das Krankenzimmer gingen.

Urban stampfte ungeduldig die Dielen und musterte stirnrunzelnd die Blumen auf den herabgelassenen Rouleaux, durch welche die sinkende Sonne leuchtete. Plötzlich kam der Commerzienrath herein, ein Gemisch von Angst, Verdruß und Verlegenheit in den Mienen.

„Wie eigensinnig oft Krankheiten machen, Doctor!“ sagte er, und vermied es, Urban anzusehen. „Wollen Sie glauben, daß meine Tochter – wie soll ich mich ausdrücken – – sich genirt, Ihre ärztliche Hülfe in Anspruch zu nehmen?“

„Wie?“ fuhr der Doctor auf und trat einen Schritt näher, als hätte er nicht recht gehört.

„Es ist so. Eine Laune, eine ganz unbegreifliche Laune. Oder haben Sie irgend eine Erklärung dafür?“

In Urban empörte sich etwas; er hatte das Gefühl bitterster Kränkung. Aber er war in solchen Fällen weit entfernt nach Art empfindlicher Menschen sich zurückzuziehen.

„Ich darf wohl annehmen, daß Sie vernünftiger sind als Ihr Fräulein Tochter,“ warf er hastig hin. „Kommen Sie!“

Der Commerzienrath zauderte ein wenig, als der Arzt sich mit zorniger Entschlossenheit zur Thür wandte, und bewegte die Lippen, als wollte er eine Einwendung machen. Dann folgte er kopfschüttelnd.

Toni hatte das weiße Plumeau, zwischen dessen Bändern blaue Seide schimmerte, bis an den Kopf gezogen und das Gesicht der Wand zugekehrt, daß Urban nur die dunkeln, festgesteckten Flechten sah.

„Es ist jetzt keine Zeit, persönliche Abneigung geltend zu machen, Fräulein Toni,“ sprach er, und seine Stimme klang bitter und hart. „Sie haben nicht allein ein Anrecht an ihr Leben, und Sie müssen mir wenigstens ein paar Fragen erlauben, damit ich constatiren kann, ob augenblickliche Hülfe vonnöthen ist, oder ob ich es darauf ankommen lassen darf, daß ein Stellvertreter für mich, den Widerwärtigen, geholt wird. Im letztem Falle verzichte ich darauf, mich Ihnen als Arzt aufzudrängen.“

Sie regte sich nicht und antwortete nicht, aber Urban sah, wie ihr Ohr und ihr schlanker Hals in Röthe flammten.

Der Arzt kreuzte finster die Arme und nagte an der Unterlippe. Er hörte das Seidenkleid der Tante hinter sich rauschen.

„Was ist das für ein Benehmen, Kind!“ sagte strafend die sanfte Stimme der Dame. „Der Arzt ist ein Werkzeug des Himmels, dem man mit Achtung und Ehrfurcht, aber nicht mit Mädchengrillen begegnen soll.“

Urban gab plötzlich die wartende Haltung auf. Er nahm die feine schlanke Hand, die auf dem Plumeau lag, und er fühlte keinen Widerstand, als er nach dem Pulse suchte; dann beugte er sich hinüber und betrachtete das glühende Gesicht. Die Augen waren matt geschlossen und die langen seidenen Wimpern berührten die Wangen. Er merkte, daß sie den Athem anhielt.

„Sie sollen Ihren Willen haben,“ flüsterte er, sich tief zu ihrem Ohre neigend. „Leben Sie wohl, mein Fräulein!“ fügte er laut hinzu, indem er sich aufrichtete und der Tante zunickte. „Sie haben wohl die Güte, mich die Treppe hinab zu begleiten, Herr Commerzienrath.“

„Wie ist’s, Doctor?“ fragte der Letztere draußen. „Darf ich aus Ihrem Benehmen einige Hoffnung schöpfen?“

Die Blicke des Arztes ruhten mit erheuchelter Kälte auf dem kleinen, ängstlichen Manne an seiner Seite. „Ich bin entbehrlich,“ sagte er gleichgültig; „von Cholera ist hier keine Rede, und Sie haben vollkommen Zeit, zu einem meiner Collegen zu schicken. Es ist wahrscheinlich, daß eine Fieberkrankheit im Anzuge ist. Wie lange klagt die Kranke schon?“

„Sie war nicht ganz wohl, als sie von einem Besuche in der Erlenfuhrt zurückkehrte, den ich ihr vor einiger Zeit verstattete. Dann aber hat sie nicht geklagt bis jetzt.“

„Sie wird sich in dem feuchten Thale eine Erkältung zugezogen haben,“ meinte Urban nachlässig.

Sie waren bei der Hofthür angelangt, und der Doctor blieb stehen und sah seinen Begleiter mit flammenden Augen an.

„Meine Thätigkeit in diesem Hause ist zu Ende,“ brach es grollend aus ihm hervor: „Ich bin nicht gewohnt, daß man der Ausübung meiner Berufsthätigkeit solche Schwierigkeiten in den Weg legt. Entweder ich bin allgebietend in dieser Ausübung, oder ich bin nicht in der Lage, die volle Verantwortung zu tragen, und in diesem Falle verzichte ich darauf, Arzt zu sein. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Commerzienrath!“

„Bleiben Sie, Doctor!“ rief die flehende Stimme des alten Herrn hinter dem Davoneilenden her – „haben Sie ein wenig Nachsicht –“

Umsonst. Urban hatte den Hut trotzig in die Stirn gedrückt und ging mit weiten Schritten und leise zwischen den Zähnen pfeifend an der harrenden Equipage vorbei, ohne auch nur zu Johannes auf dem Kutschbocke empor zu sehen, der ihm mit verwundertem Brummen nachblickte. Er hatte bereits die halbe Straße nach der Brücke hin zurückgelegt, als der Wagen ihn einholte, und er athmete mit zorniger Befriedigung auf, daß derselbe an ihm vorbeirasselte.

Es giebt Stimmungen, welche jezuweilen bei jedem geistig bedeutenden, ringenden und strebenden Menschen eintreten und jede Empfindung von Glück ausschließen. Irgend ein tief berührender Mißerfolg, ein ganz besonders unangenehmer Zufall pflegt die Veranlassung zu sein, und in seinem Schatten wachen die Geister aller Verdrießlichkeiten auf, deren Spuren im Herzen noch nicht völlig vernarbt sind, und halten einen Hexensabbath ab. Diese sonnenlosen, widrigen Stimmungen erzeugen dem darunter Leidenden ein Gefühl des Lebensüberdrusses, der Feindschaft gegen sich selbst und gegen die ganze Welt.

So war es Urban zu Muthe. Alles, was ihm in der letzten Zeit mißglückt war, stellte sich plötzlich in seiner Erinnerung neben einander und ließ sich nicht bannen: sein fruchtloser Kampf um Emilie, seine vergeblichen Anstrengungen, um Zehren zu schädigen, der erstickte Revolteversuch. Die Verbindung mit seinen alten Freunden war gelockert, um nicht zu sagen zerrissen; überall begegnete er feindlichen, abstoßenden Empfindungen; selbst dieses reizende, originelle Pathenkind der Grazien, das er auf dem Krankenlager verlassen, kündigte ihm die Freundschaft auf. Warum? Es war wohl das leidenschaftliche, bis zum Verbrechen leidenschaftliche Va-banque-Spiel in der Erlenfuhrt, das den Widerwillen gegen ihn in ihr wachgerufen hatte; er konnte kaum daran zweifeln.

Eine leise Stimme mahnte ihn zur Demuth, zur Umkehr, zum Neubau seiner Beziehungen zu der Welt, die ihn umgab, aber sein Trotz setzte dem stillen Mahner den Stiefelabsatz auf den Kopf und zertrat ihn. „Gegen eine Welt!“ sagte er bei sich. „Ich beuge mich nicht.“

Er bog in die Canalstraße ein. Vor dem Hornemann’schen Hause stand eine Ansammlung von Leuten, und als er näher kam, konnte er in den Gesichtern die ganze Scala von der trüben Bekümmerniß bis zur verzerrten Angst wahrnehmen. Viele dieser Gesichter kannte er, und er blieb einen Moment stehen.

„Was treibt Ihr hier? Was geschieht in diesem Hause?“

„Herr Hornemann hat ein Mittel, das gegen die Cholera hilft – er hat schon ein paar Kranke gesund gemacht –“ tönte es im Chorus, und ein paar Namen wurden genannt.

„Ah, die Arznei!“ sagte Urban überrascht, und in Gedanken sah er die Flaschen vor sich, die der Pascha ihm einst in die Wohnung gebracht und welche noch unberührt in der Schublade lagen. Ein inneres Verlangen trieb ihn an, treppauf zu steigen zu dem einstigen Freunde, um Näheres zu erfahren. Dann zuckte er die Achseln und ging mit scheinbarer Gelassenheit über den Steg; seiner Wohnung zu.

„Es ist vorüber zwischen uns,“ sprach er bei sich selber; „er hat es so gewollt, und ich habe noch nie um Freundschaft gebettelt.“ –

[308] Das Gerücht von der heilkräftigen Arzenei des wunderlichen Mannes, der in dem alten Bau auf der Canalstraße bei Tag und Nacht fast unermüdet kochte und braute, durchflog rasch die Stadt, und sein Haus glich bisweilen einer belagerten Festung. In großen Nöthen pflegen die Menschen mit Begier zum Außerordentlichen zu greifen und an Wunder zu glauben. Und Karl Hornemann war so zuversichtlich. Alle ehrlichen Erfinder glauben an ihre Erfindungen. Er freute sich, daß man auf der Seite seiner politischen Gegner seine Arznei als Agitationsmittel bekämpfte, und opferte ihr unbedenklich Kraft und Geld.

Endlich ging beides auf die Neige. Die Vermögenden unter seinen vertrauten Verbündeten waren zumeist geflüchtet, und er trug Bedenken, die Zurückgebliebenen in Anspruch zu nehmen, da er das Gefühl hatte, daß er in dieser Angelegenheit das persönliche Vertrauen nicht mit derselben Unbedingtheit fordern könne, wie in seinem politischen Wirken. Er bot den Aerzten sein Recept an. Ein Deputirter derselben prüfte es zwar, schüttelte indessen den Kopf und erklärte, nicht begreifen zu können, wie diese Composition der Seuche entgegen zu wirken vermöge. Damit war die Arzenei Karl Hornemann’s officiell gerichtet. Er lächelte bitter und war im Begriffe, die Hände in den Schooß zu legen. –

Eines Tages erschien zwischen seinen Gläsern und Retorten, in der verräucherten und mit einem scharfen, nicht gerade angenehmen Duft durchwürzten Stube Jemand, an den er in seiner Sorge nicht gedacht hatte, – Franz Zehren.

„Karl,“ sagte dieser lächelnd und legte eine Anzahl Banknoten vor diesen hin, „ich habe durch einen Arbeiter erfahren, daß Dir Kraft und Mittel auszugehen beginnen, um Deine Arzenei zu bereiten; Du hast es gegen den Mann geäußert. Nun, ich bin bereit, Dir mit beiden auszuhelfen. Schlag ein!“

Der Pascha, dessen Gesicht ziemlich blaß und bekümmert aussah, blickte mit seinen strahlenden Augen überrascht zu dem künftigen Schwager empor. „Die Union wird Dir wegen dieses Entschlusses wenig Dank wissen.“

Zehren hatte ihn verstanden. „Ich denke, Du stehst mir jetzt näher als die Union,“ erwiderte er.

Der Pascha dachte ein wenig nach; endlich nahm sein Gesicht einen freundlich schlauen Ausdruck an.

„Du hast ohnehin einige Verpflichtungen gegen mich.“

Er stand auf und nahm aus einem verschlossenen Fache Papiere, welche er Zehren hinreichte. Es waren die Briefe, welche Donner auf der Post mit Beschlag belegt hatte, und die Hand Karl Hornemann’s hatte den Text der Geheimschrift entziffert zwischen die Zeilen gesetzt.

Der Fabrikant begann neugierig zu lesen und sah gespannt auf den Demagogen, als er mit dem ersten der Documente zum Schlusse gelangt war. Da wandte dieser das Blatt um und deutete auf die Adresse. Zehren wurde bleich. Seine Lippen zitterten vor Aufregung. „Das ist wieder eine niederträchtige Intrigue,“ sagte er heftig.

Der Pascha nickte stumm und bedeutete ihn, weiter zu lesen. Dann nahm er die Papiere wieder an sich.

„Wie sind diese Papiere in Deinen Besitz gelangt?“

„Sie waren bestimmt, Dich zu verderben,“ entgegnete Karl Hornemann langsam. „Die Polizei, welche sie in Deiner Abwesenheit auf der Post an sich genommen, war im Begriffe, sie zu Deiner Verfolgung zu benutzen, und es ist Zeit, sie für immer unschädlich zu machen.“

Er warf die Papiere einzeln in ein Kohlenfeuer, welches auf einem kleinen Herde brannte.

„Bist Du es, der mich gerettet hat?“ fragte erschüttert der Fabrikant.

Der Pascha blinzelte ausweichend mit den Augen.

„Ich verstehe Dich. Und meinst Du, daß es wieder Urban ist, dem ich diese Gefahr danke?“

Ein Achselzucken war die Antwort.

„Karl,“ sagte Zehren begeistert, „verfüge über mich und mein Vermögen!“

„Arbeiten wir!“ meinte der Pascha und zeigte auf die Geräthschaften vor ihm, während ein Schein von Verklärung über die angenehmen Züge seines Gesichts ging. „Du bist mir Ersatz für meine Schwester schuldig.“

Und nun begann eine verdoppelte Thätigkeit auf der von Menschen bestürmten Erkerstube. Zuweilen erschien Frau Hornemann oben, mit welcher eine sichtliche Veränderung vorgegangen war. Sie lachte, wo sie früher kaum lächeln konnte, und auch dies nur hart und glanzlos, wie unter einem äußeren Zwange. Das Starre, Gedrückte, Eckige in ihrer Haltung und ihrem Wesen war nicht völlig verschwunden, aber es hatte sich erweicht, und sie glich, Alles in Allem, einer glücklichen alten Frau, bis auf Augenblicke, wo sich etwas unruhig Nachdenkliches wie ein Schatten über sie breitete.

Ueber der Arzenei Karl Hornemann’s aber schwebte das Verhängniß und in gleicher Weise über Allem, woran sonst noch seine Seele hing. Wenige Tage später geschah etwas, von dessen Möglichkeit sich Niemand hatte träumen lassen, ein Ereigniß von so elementarer Wirkung, daß für kurze Zeit selbst der Engel des Verderbens vergessen war, dessen Flammenschwert mit heimtückischen Streichen seine Saat schnitt.

Der Polizeicommissar Donner war von einer Urlaubsreise zurückgekehrt, und in seiner Begleitung war ein Unbekannter erschienen, der sich im Wiedenhofe einquartiert hatte. Dieser Fremde war am dritten Tage nach seiner Ankunft vor das greise Oberhaupt der Stadt getreten und hatte demselben höflich ein Schreiben überreicht.

Dem alten Herrn waren über dem Lesen die Augen feucht geworden. Nur wenige dürre Worte hatten darin gestanden: daß dem seitherigen Oberbürgermeister der Stadt in Gnaden die wohlverdiente Ruhe gewährt und daß Ueberbringer des Schreibens, Geheimer Regierungsrath Rehling, commissarisch mit der Verwaltung seiner schwierigen Stellung betraut worden sei.

Der Wiedenhof blieb die Wohnung des von der Union, soweit die Furcht vor der Seuche sie nicht gesprengt hatte, mit Jubel begrüßten Verwesers mit der hageren, sauber gekleideten Figur, dem freundlichen, vornehm verschlossenen, glatten Gesichte und dem Toupet à la Louis Philipp, und es war das Jenny-Lind-Zimmer, in welchem er sich niedergelassen. Der Verabschiedete verließ mit seiner Familie zunächst auf einige Zeit die Stadt. Donner aber mußte einen Wink erhalten haben, zu schweigen, denn wie triumphirend auch sein Gesicht aussah, wenn die Rede auf die blitzartig gekommene Veränderung fiel und sehr unzweideutig auf den Zusammenhang seiner Reise mit derselben angespielt wurde, – er hütete sich zu sagen, daß diese Veränderung sein Werk sei. Nur einem Menschen legte er vollständig Beichte ab, nämlich dem Doctor Urban, der mit einem Schlage sein unbedingtes Vertrauen erworben hatte.

Ein paar Versetzungen und Pensionirungen im Beamtenpersonal der Stadt ließen keinen Zweifel über den Geist der neuen Aera; einige Verhaftungen wegen Majestäts- und Beamtenbeleidigungen folgten. Und eines Tages stellte ein Polizeibeamter Karl Hornemann eine Verfügung des Inhaltes zu, daß ihm die Bereitung und Austheilung von Arzenei Mangels jeder Qualification künftig nicht gestattet sei.

Er machte den Versuch, in der Stille zu thun, was er öffentlich nicht mehr thun durfte, aber bei dieser Gelegenheit wurde ihm sofort ein Zweites klar, daß er polizeilich scharf bewacht wurde. Er mußte nach dem ersten heimlichen Abendgange halbwegs umkehren. In der Stube beim Laden drunten, wo er schmerzlich bewegt auf- und abging, erfaßte er die Verfügung, welche in seiner Tasche knisterte. Er rollte sie zu einem Fidibus zusammen, zündete eine Kerze damit an, ging langsam treppauf in sein Zimmer und zerschlug dort seine Gläser und Glasapparate, worauf er die Scherben in den Kohlenkasten warf. Auf die erloschenen Kohlen des Herdes goß er Wasser. Für diese sinnige Natur waren symbolische Handlungen ein Bedürfniß.

Zuletzt nahm er Briefe und Zeitungen, in denen Hoffnungsstrahlen für sein gedrücktes Gemüth leuchten mußten, denn sein Gesicht klärte sich über dem Lesen auf. Als er fertig war, überlegte er.

„Ich will Euch vor Spionen sichern,“ murmelte er, stand auf, knitterte die Papiere zusammen und schob sie auf den Rost eines alten Kachelofens. Einen Augenblick später loderten sie in Flammen auf. – –

(Fortsetzung folgt.)



Deutsch-türkische Kriegsberichte und Illustrationen sind in Vorbereitung.       D. Red.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Verlag der A. Billefeld’schen Hofbuchhandlung in Karlsruhe. Das Schriftchen ist mit einem Bildniß des Großherzogs Friedrich aus der Gegenwart geschmückt. Wir müssen, weil ein neues Portrait nicht rechtzeitig fertig geworden, unsern Lesern zu diesem Jubiläums-Artikel ein Bildniß des Gefeierten aus dem Jahre 1863 nochmals vorlegen. Abgesehen von dem nun voller gewordenen Bart, haben die letzten dreizehn Jahre nur wenige Spuren in dem edlen Antlitz des Fürsten hinterlassen, der schon damals in der Ueberschrift unseres Artikels (1863, S. 692) „Der Liebling des deutschen Volks“ genannt werden konnte.
  2. Die Entstehungsgeschichte der „Heiligen vom jüngsten Tage“ und ihrer Dogmen habe ich im ersten Bande meiner „Amerikanischen Reisebilder“ eingehend erörtert.
    D. Verf.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Dentschland