Die Gartenlaube (1877)/Heft 19

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[309]

No. 19.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


In der nämlichen Nacht lag Urban auf seinem Sopha, bequem ausgestreckt, wie das seine Gewohnheit vor dem Schlafengehen war.

Plötzlich schrak er auf, denn draußen zog Jemand mit ungewöhnlicher Heftigkeit die Schelle. Er erhob sich, um die Hausthür zu öffnen, und als er, die Lampe in der Hand, den späten Besucher, welcher mit undeutlichem „Guten Abend“ eintrat, recognoscirte, erkannte er den Commerzienrath Seyboldt.

„Was verschafft mir die Ehre?“ fragte er freundlicher, als die anfangs verfinsterte Miene hatte erwarten lassen. Das verstörte, verzweifelte Gesicht des kleinen alten Herrn, der mit sichtlicher Scheu zu ihm aufblickte, flößte ihm Mitleid ein.

„Doctor,“ stieß der Commerzienrath zitternd hervor, „mein Kind, mein Kind! Ich glaube, daß sie stirbt. Ich habe den Sanitätsrath Dolcius und den alten Matthias da gehabt, und die haben sie die Zeit her behandelt und von einem gallig-nervösen Fieber geredet. Heute haben Beide die Achseln gezuckt und gemeint, sie könnten jetzt nichts mehr thun. Mein liebes, schönes Kind, mein Sonnenstrahl wird sterben,“ brach der alte Mann jammernd aus. „Ich habe gebetet,“ fuhr er gefaßter fort, „wie nie in meinem Leben. Ich habe gewiß einigen Anspruch an Gottes Barmherzigkeit, aber der Himmel ist wie zugeschlossen. Doctor, ich gehe nicht aus Ihrem Hause, oder Sie kommen mit mir. Sie können die Verantwortung nicht auf sich laden und einem unglücklichen Vater den letzten Hoffnungshalm in der Hand zerbrechen, Sie müssen mich an das Bett meines Kindes begleiten.“

Und der haltlos Verzweifelte riß mit heftigen Rucken an dem Hausrocke des Arztes, dessen Aufschläge er krampfhaft gefaßt hielt, daß der Schirm der Lampe in Urban's Hand aufspringend klirrte.

Einen Augenblick überkam diesen das alte Gefühl des Grolles, und sein Herz wallte in Bitterkeit auf. „Wenn sie nun einen lichten Augenblick hat und mich erblickt, was dann?“ sagte er mit einiger Ironie im Tone. „Ich fürchte, der Verdruß wird ihr mehr schaden, als meine Kunst ihr nützen kann.“

„Ich nehme Alles auf mich,“ fiel der Commerzienrath hastig ein. „Sie liegt in Fieberphantasien und erkennt Niemanden.“

„Gehen wir!“ sagte Urban kurz.

Sie schritten durch die ruhige, sternenhelle Nacht, in welcher man selbst das nächste Wehr rauschen hörte, und der Arzt fragte Dieses und Jenes über den Verlauf der Krankheit.

Endlich standen sie im Krankenzimmer.

Eine spanische Mattenwand verdeckte das Bett. An einem Tische, auf welchem mitten unter Gläsern und Medicinflaschen wie ein Glühwurm das kleine Nachtlicht strahlte, saß die Frau des Kutschers Johannes; sie hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und war eingeschlafen. Hinter der Matte hörte man hastig hervorgestoßene, nur halb verständliche Worte – das Fieberlallen des armen jungen Geschöpfes, dessen Natur mit dem Verderber rang.

„Da sitzt sie wieder und schläft,“ flüsterte die zitternde Stimme des Commerzienrathes. „Und den ganzen Tag lasse ich dem Weibe zum Schlafen frei, damit sie in der Nacht munter sein soll.“ Und er stieß die Ermüdete an, daß sie erschrocken auffuhr.

Urban winkte abwehrend gegen Beide, nahm das Glas mit dem schwankenden Lichte darin in die eine, und einen grünen, durchscheinenden Papierschirm in die andere Hand und trat leise hinter die Schutzwand.

Wie blasser Mondschein fiel das gedämpfte Licht durch die Blende auf das fieberverwüstete Gesichtchen, das so schmal und farblos auf dem krausen, wirren Haare lag. Die Augenlider waren nicht völlig geschlossen; über die schwarzen Wimpern lief ein nervöses Zucken, und der feine, bleiche Mund zwischen den tiefliegenden Grübchen schwatzte mit geisterhafter Eile einen Wirbel von Worten, während die weißen, kleinen Zähne zwischen den Lippen hervorschimmerten.

Das Antlitz des Arztes verdüsterte sich einen Moment; als er indessen wieder zu den beiden Anderen trat, hatte er seinen gewöhnlichen ruhig-energischen Gesichtsausdruck angenommen. Er setzte Licht und Schirm auf den Tisch und beantwortete den angstvoll fragenden Blick des Commerzienrathes mit Achselzucken. Dann ging er noch einmal zu der Kranken und fühlte nach der schmalen, kühlen Hand auf der Decke. Der Puls schlug schwach, dann und wann aussetzend.

„Ich werde diese Nacht am Bette der Kranken wachen,“ sagte er, leise zu dem unglücklichen Vater tretend.

Der Commerzienrath reichte ihm die Hand. „Fordern Sie dafür, was Sie wollen, aber retten Sie mein Kind!“

„Sie selbst,“ fuhr Urban fort, „werden sich einstweilen zur Ruhe begeben. Wenn irgend ein besonderer Grund vorhanden ist, lasse ich Sie rufen. Die Frau mag hier bleiben und meinetwegen schlafen, soviel sie Lust hat; bedarf ich ihrer Hülfe, so wecke ich sie schon. Gehen Sie! Für diese Nacht bin ich Herr im Hause.“

[310] Der Commerzienrath zündete ein Licht an und gehorchte zaudernd der gebieterischen Weisung. Als er hinaus war, setzte sich Urban an das Bett und stützte den Kopf in die Hand. In dem stillen, dämmerigen Zimmer war nichts zu hören als das leise Ticken einer Taschenuhr, die schnarchenden Athemzüge der Frau, welche wieder eingeschlafen war, und das flüsternde Geschwätz der Kranken neben ihm.

Er lauschte anfangs unfreiwillig diesem geheimnißvollen Plaudern und gab sich später Mühe, aus dem Wortstrudel Gedanken zu fischen, als er hörte, wie häufig sein eigener Name darin auftauchte. Das Meiste, was sie sagte, paßte in den Rahmen jenes unglücklichen Abenteuers in der Erlenfuhrt, und er konnte immer wieder die Spur des tiefen Entsetzens wahrnehmen, welches sich mit der Erinnerung daran in die Seele des jungen Mädchens geprägt hatte. Ein Frösteln überkam ihn bei dem Gedanken, daß er selber es war, der den Giftsamen zu dieser zerstörenden Wirkung gesäet hatte. Blitzschnell wechselten die Bilder, oft nur in zwei, drei Worten angedeutet, aber für ihn leicht erkennbar; manches davon kehrte häufig wieder, am häufigsten der Kahn, der auf der Höhe des Wassersturzes schwebte und im Begriff war zu verschwinden, und die Vorstellung, daß er gegen den Felsen zerschmettert wurde und zerrissen und blutend gegen die Brücke hin trieb. Nur selten leuchtete dazwischen ein leises Lachen des Glückes auf, wie das Kichern eines versteckten Kindes, oder fremde Bilder, von denen er wenigstens eines begriff: die weißen Flügel eines Schwanes, der über das Wasser zog. Er dachte an die Zigeunerin und ihre wunderliche Prophezeiung.

Aber das Merkwürdigste für ihn war die Art, wie sie seinen Namen aussprach. Er war für sie immer wieder ein Anderer. Der ganze Farbenvorrath der Empfindung beleuchtete nacheinander diesen oder vielmehr diese Namen, denn sie nannte ihn abwechselnd bald Urban, bald Heinrich. Zorn und Bitterkeit, tiefes Grauen, Wehmuth und Jammer, und wieder die keusche, schüchterne Zärtlichkeit und leidenschaftliche Innigkeit – wie ein schillernder Stern tauchte der eine und der andere Name in diese wechselnden Farben und strahlten ihm beide das verschwiegene Geheimniß des jungen, unschuldigen, ringenden Herzens zu. Was er in einzelnen Momenten geahnt, aber kaum für mehr als eine kraftlose, stille Neigung, eine jener Erstlingsblüthen gehalten, welche um so süßer und berauschender duften, je unfruchtbarer sie sind – es blendete ihn, dies jetzt als vollwichtige, im Fegfeuer tiefster Seelenqual geläuterte Leidenschaft begreifen zu müssen.

Sie liebte ihn, und sie starb für ihn; sie starb, weil sie ihn hatte im Herzen behalten wollen und das nicht möglich gewesen war, ohne die zerstörendsten Schrecken jener Nacht zu empfinden, die Niemand weiter empfunden hatte als sie, nicht einmal er selber, am wenigsten jenes stolze, kalte, eigensinnige schöne Mädchen, das sich rettete, um ihn sterben zu lassen.

Der Tod da vor ihm plauderte das Geheimniß des Lebens aus.

„Heinrich! – Heinrich! –“

Er beugte sich tief nieder zu dem mageren Gesichtchen und versenkte sich in tiefster Seele zitternd in die veränderten Linien und Formen, deren Vergangenheit mit reizender Deutlichkeit in seiner Erinnerung auflebte. Ihr bebender Athem strömte ihm zu; der Augenstreif zwischen den Wimpern flimmerte. Heiß wallte es in ihm auf, und er hauchte leise einen Kuß auf die bleichen, zuckenden Lippen.

In seinem Innern regte sich ein Stachel und begann still zu wühlen und zu bohren. In dieser heimlichen Stunde zerrann sein Hochmuth, seine Selbstsucht wie Nebel, und nur das Verwerfliche, das sie geboren, die Mißformen, die sie in seiner Seele ausgemeißelt, blickten ihn nackt und in ihrer ganzen Häßlichkeit an.

„Ich bin dieses Kindes nicht werth,“ sagte er bei sich selber.

Und dann stiegen wieder verlockende Bilder von Glück in ihm auf. Eine kleine, graziöse, sprühende Sylphe, von Reichthum und Glanz umgeben –

Ein Stöhnen aus tiefster Brust riß ihn in die Wirklichkeit zurück. „Wasser!“ stammelte die Kranke schwach.

Urban blickte freudig überrascht nieder. Ihre Augen waren noch geschlossen. Er ging an das Licht, schenkte ein Wasserglas voll und trug es hinter die Matte.

Seine Hand zitterte, als er sie leise unter das schwarze, lose Flechtengewirr schob und den Kopf der Kranken aufrichtete. Sie wurde plötzlich still und schluckte mühsam, aber mit Begierde, als er das Glas zwischen die schimmernden Zähne brachte und ihr den Trank einflößte. Er mußte den Athem anhalten, um die Herrschaft über seine Muskeln zu bewahren. Endlich ließ er ihren Kopf in die Kissen zurücksinken.

Er trug das Glas wieder hinaus und kehrte zurück, um seinen Platz auf dem Stuhle abermals einzunehmen und zu beobachten. Wie er sich wieder über ihr Gesicht beugte, blickte er in zwei starre, offene Augen, welche plötzlich einen ängstlichen Ausdruck annahmen.

„Nicht – nicht!“ stammelte sie. „Gehen Sie, Herr Doctor! Sie sollen nicht hier sein, wenn ich sterbe. Wo ist mein Vater?“

Sie hob ein wenig den Arm, als wollte sie seine Gegenwart abwehren, aber die Kraft reichte nicht weit; das ernste Männergesicht über ihr blieb, und die strengen, zaubergewaltigen Augen darin leuchteten warm und mild wie Frühlingssonnenschein zu ihr nieder.

„Toni!“ sagte er leise und langsam.

„Was wollen Sie?“ rang es sich von ihren Lippen, während sie auf einen Moment wieder die Augen schloß.

„Im Angesichte des Todes seien Sie wahr!“ fuhr er fort. „Ich weiß, daß Sie mich lieben, daß mein Bild in Ihrem süßen kleinen Herzen lebt. Ehe der Vorhang vor dieser Weltbühne für Sie fällt, lassen Sie mich das eine Wort noch hören, das Sie mir schon längst gern gesagt hätten, wenn ich Thor es nur hätte hören wollen!“

Ein glückseliges Lächeln spielte um ihre Lippen und es war, als ob ihr Gesicht sich färbte und Wärme strahlte.

„Du kleiner Engel, dem schon die Flügel sprossen, hast Du mich lieb gehabt damals, als Du noch ein reizendes blühendes Menschenkind warst?“ fragte er, sich tiefer neigend.

Da war es, als käme ihre Kraft wieder; sie legte leise die Arme um seinen Hals und flüsterte wie im Traume:

„Ich habe Dich lieb – lieb – über alle Maßen. Aber nun muß ich sterben, sonst dürfte ich es Dir nicht sagen.“ Und nun legte auch er seine beiden Arme unter ihren Kopf und küßte sie so sanft, wie man ein neugeborenes zerbrechliches Kind küßt.

„Nun stirb, wenn Du durchaus willst!“ sagte er in tiefer Bewegung, als sie die Hände löste. „Es stirbt sich leicht, wenn man durch Sterben glücklich geworden ist.“

„Gott, was habe ich gethan!“ seufzte sie, und dann wandte sie das Gesicht von ihm weg und lag da wie damals, als er zuerst vor dem Krankenbette gestanden. „Ich sehe etwas Weißes, wie Schwanenflügel, Heinrich,“ fügte sie kaum hörbar hinzu; „das ist der Tod – der Schwan – die Zigeunerin –“

Sie war still, aber sie athmete ruhiger als vorher.

Der Doctor vermochte nicht, sich zu setzen; ein stürmisches Gefühl von Glück floß ihm durch alle Nerven. Er stand draußen bei dem stillen, unbewegten Flämmchen und kreuzte die Arme über der Brust. Drunten auf der Straße fuhr langsam ein Wagen und sein Ohr folgte mechanisch der schütternden Bewegung und dem Klappen des Hufschlages.

Er war eine bewegliche Natur; die Wogen des neuen Glückes schlugen hoch auf und verdeckten das Bild der schönen Emilie Hornemann.

Wie lange? –

Er schrak auf; die Stubenthür bewegte sich leise knirschend in den Angeln, und herein trat in einem türkisch gemusterten Schlafrock der Commerzienrath. Sein Gesicht war grau und seine Augen stier vor Angst.

„Doctor, mir graut drüben,“ stöhnte er und wischte mit dem bunten Taschentuche über die perlende Stirn. „Ich muß mich hierher setzen, wo Licht und Menschen sind; die Angst läßt mich nicht schlafen. Was macht mein armes, unglückliches Kind, Doctor?“

Er wollte aufstehen, aber Urban drückte ihn wieder in den Sessel nieder.

„Bleiben Sie und stören Sie sie nicht! Die Kranke schläft und hat jedenfalls aufgehört zu phantasiren. Wie Sie sehen, habe ich noch keine Ursache gehabt, die Frau dort zu wecken.“

„Ist der Schlaf ein gutes Zeichen, Doctor?“ flüsterte der Aufgeregte, und in seinen Zügen dämmerte eine schwache Hoffnung auf.

[311] Urban zuckte die Achseln. „In ein paar Stunden will ich Ihnen Bescheid sagen. Aber wollen Sie nicht Ihr Lager wieder aufsuchen? Erkältungen sind gegenwärtig gefährlich.“

„Nein, ich kann nicht schlafen. Ich habe einen Traum gehabt, Doctor, einen Traum, grauenerregend, sage ich Ihnen. Es ging ein Gespenst in der Stadt um – die Cholera. Und sie packte mich, Doctor – ich schaudere noch – –“

„Alpdrücken!“ sagte Urban. „Sie haben sich in der letzten Zeit zu sehr aufgeregt, verehrter Herr; Ihr Blut ist in Unordnung gekommen. Nehmen Sie ein Brausepulver, wenn Sie eines im Hause haben!“

„Alpdrücken, natürlich!“ wiederholte zögernd der Commerzienrath. „Uebrigens erinnern Sie sich noch, Doctor, wie ich Sie vor einiger Zeit wegen der Cholera befragte? Sie lachten mich damals aus. Aber ich hatte eine Ahnung, daß sie kommen würde. Eine Geißel Gottes für unsere Sünden nenne ich sie, und als solche erwartete ich sie. Wir haben viel Sünde in unsrer Stadt, viel Auflehnung wider Gott und die Obrigkeit.“ Er starrte eine Weile schweigend in die Leere. „Haben Sie wohl einige Hoffnung, mich zu retten, wenn der Himmel wollte, daß –“

Er sprach nicht aus. Urban erhob sich und ging auf den Zehen hinter die Matte zur Kranken. Toni athmete tief und ruhig, und als er mit leisen Fingern ihr über die Stirn strich, fühlte er, daß sie warm und feucht war. Dann stand er da wie Einer, der rasch etwas überlegt, und kehrte endlich zu dem Alten zurück, dessen Hände ruhelos das rothe Taschentuch knitterten.

„Ich darf wohl Ihre Frage mit einem ‚Ja‘ beantworten,“ sagte er halblaut, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen. „Aber verstehen Sie recht: ich, und nur ich kann dieses ‚Ja‘ sprechen, seit die Narren jenem Karl Hornemann ein Verbot in den Weg gelegt.“

„Ich habe davon gehört –“

„Und ich weiß davon,“ fiel der Arzt ein wenig brüsk ein. „Aber noch etwas: ich werde Ihnen Fräulein Toni retten; ich werde sie dem Tode aus dem Rachen reißen – und – ich möchte sie dann für mich behalten.“ Er sagte das so nachlässig wie ein Fürst, der auf eine Ananas seines Gewächshauses Beschlag legt, und doch, wie groß und stolz sein Auge auf dem überraschten Commerzienrath ruhte! Seine zuckenden Nüstern und der verhaltene Athem straften die erheuchelte Sicherheit Lügen.

„Ich dachte, daß Sie verlobt wären?“

„Ich war nahe daran, es selbst zu glauben,“ versetzte der junge Mann düster. „Aber ich habe mich zu einem bessern Glauben bekehrt, Herr Commerzienrath, denn ich habe vorhin eine Offenbarung gehabt; ich habe eine Blumenknospe sich öffnen sehen und der Duft hauchte mir süß und berauschend das Geständniß zu: ‚Ich liebe Dich.‘ Wissen Sie, was diese Knospe war? Das Herz Ihrer – und wenn Sie wollen: meiner Toni.“

„Sie haben mit ihr gesprochen?“

„In der That.“

„Also sie wird gesund werden? Ich alte, verwitterte Säule werde meinen schlanken, lustigen, jungen Epheu nicht verlieren, Doctor, und Sie sind es, der das Kunststück fertig bringt, ihn mir zu erhalten?“ Wie leise der alte Herr auch flüsterte, man hörte es, wie seine Stimme zitterte. „Aber die Politik, Doctor! Ja, wenn Sie sich entschließen könnten, Gott die Ehre zu geben –“

„Lassen wir die Ehre Gottes aus dem Spiele!“

Der Commerzienrath blinzelte mit den Augen und schlug mit innerer Erregung die Flügel des Schlafrockes über einander. „Ich kann nicht fördern, was die Schrift verbietet. Sagen Sie sich von jenem gottlosen Liberalismus los, der eine Religion ist für diejenigen, welche nichts zu verlieren haben! Ich rathe Ihnen wie ein Vater –“

Urban stand unmuthig auf und ging leisen Schrittes gegen das Fenster hin. Die Augen des Alten folgten ihm mit einiger Aengstlichkeit.

„Wir sprechen noch darüber,“ sagte der junge Mann kurz, aber nicht unfreundlich, als er umgekehrt war. „Vorläufig bitte ich inständig: versuchen Sie noch einmal zu schlafen! Meine kleine Braut wird unruhig und sie bedarf der Ruhe dringend; ich will mein Glück vertheidigen gegen Alles, selbst gegen Sie.“

Er stellte sich breit zwischen Tisch und Wand, und der alte Herr kniff lächelnd die kleinen schwarzen Augen ein und reichte ihm die Hand. Dann schlurfte er hinaus.

Urban sah ihm mit unruhigen Blicken nach. „Ich muß ihm als ihr Retter gelten,“ sagte er in Gedanken. „Und die Arzenei Karl Hornemann's – nun, ich hoffe, daß es zu keiner Probe kommen wird.“ – –

Als er früh in den morgenkühlen Hof trat, stieß er auf Bandmüller, der aus dem Garten kam und große Augen machte, als er seiner ansichtig ward.

„Ich glaubte, Sie wären in Ungnade gefallen. Herr Doctor.“

„Aberglaube, lieber Bandmüller! Sie haben im Gegentheil den muthmaßlichen Erben von Seyboldt und Compagnie vor sich, und ich rathe Ihnen, auf die Kniee zu sinken und mir den Huldigungseid zu schwören,“ war die lächelnde Antwort. „Es hat immer etwas für sich, der ‚erste‘ Unterthan zu sein.“

Der Kopf des Fabrikleiters fuhr empor und seine graugelben Augen funkelten einen Moment häßlich wie Katzenaugen.

„Alle Wetter! – Wie meinen Sie das?“

„Ich habe in dieser Nacht den Lebensretter Toni Seyboldt’s gespielt, und ich habe nur ein letztes Wort zu sprechen, um ihr Bräutigam zu sein.“

„Hm – meinte Bandmüller trocken, „wer das Glück hat, führt die Braut heim. Ich habe Ihnen auch eine Neuigkeit zu melden: die romantische kleine Hexe von Zigeunerin, deren Mutter so menschenfreundliche Absichten mit mir hatte, muß sich vor diesem Stadtende wieder irgendwo angesiedelt haben. Ich bin die letzten Tage öfter die Chaussee hinauf gegangen, und wenn ich in die Gegend der Schmiede kam, hatte ich nie lange zu warten, um sie in Sicht zu bekommen. Nun kommt aber das Beste: ich habe einen leisen Verdacht, daß sie, oder wohl eigentlich ihre männlichen Verwandten mir einen Denkzettel zugedacht haben; wofür, das können Sie sich leicht sagen.“

„Was brachte Sie auf diese Idee?“

„Gestern Abend untersuche ich die Stelle, wo sie damals lagerten, als wir zuerst ihre Bekanntschaft machten. Ich finde nichts, wie ich mich aber umsehe, sitzt sie auf dem Abhange über dem Unterholze. Es war noch nicht dunkel, und ich konnte recht gut den rothen Rock und das Kopftuch erkennen. Ich steuere nun auf das Unterholz zu; mit einem Male steht sie auf und steigt abwärts, aber langsam. Sie hatte mich jedenfalls gesehen, und es fiel mir schon auf, daß sie nicht wie eine angeschossene Gemse heruntersprang; das ist ja sonst ihre Art. Trotzdem betrete ich den Weg, der im Gebüsch hinläuft. Fünfzig Schritt vor mir leuchtet ihr Kopftuch über den Haselnußstauden, und weiterhin werde ich deutlich gewahr, daß sie sich nach mir umsieht und durchaus keine Anstalten zur Flucht macht. Mir war unter diesen Umständen nicht recht geheuer, und ich machte Kehrt.“

„Was fürchten Sie denn von den Zigeunern?“ sagte spöttisch und ungläubig Urban.

„Was weiß ich?“ war die ärgerliche Erwiderung.

„Ich möchte diesen Leuten einigen Dank abtragen,“ meinte der Doctor im Abgehen. „Ich verdanke ihnen mein Leben, und das ist schon immerhin etwas.“

„Erbe von Seyboldt und Compagnie!“ murmelte der Fabrikleiter hinter ihm drein, indem er bedächtig die Spitzen seines Bart-Urwaldes zauste. „Es wird Zeit, daß ich eine Mine springen lasse.




17.


Eine reizende Menschenblüthe, auf welche der Frühreif gefallen, war im Augenblicke gerettet worden, da das letzte Naß in ihr erstarren wollte. Die Krisis war vorüber, und Toni Seyboldt schlief den heißen Sommertag über. Wie oft auch ihr Vater in das Krankenzimmer schlich und sich auf das abgemagerte Gesichtchen niederbog, in dem ein Hauch von Röthe aufging wie das Morgenroth der Genesung, – immer lagen die seidenen, schwarzen Wimpern fest auf die Wangen geschmiegt, und die Brust hob und senkte sich freudlos und leidlos im regelmäßigen Wellenschlage elementaren Lebens. Urban kam gegen Mittag noch einmal an das Krankenbett und gab der Tante, welche den Tag über das oberste Regiment im Krankenzimmer führte, eingehende Vorsichtsmaßregeln. Er war launig und frisch wie lange nicht und reizte die Neugier der Würdigen durch versteckte Anspielungen, welche sie nicht verstand. Der Commerzienrath hatte also ihr gegenüber geschwiegen.

Letzterer war übrigens nicht recht bei Laune heute, trotz des [312] frohen Ergebnisses der vergangenen Nacht. Er behauptete unter Mittag schon, ein unbehagliches Gefühl zu verspüren, und entschuldigte damit ziemlich verdrießlich seinen Mangel an Appetit beim Mittagessen. Sein Kopf sei dumpf und seine Glieder schwer. Er machte Reiseprojecte, die er ausführen wollte, sobald Toni so weit hergestellt sei, um überhaupt frische Luft im Freien zu vertragen und in einen Wagen gehoben werden zu können.

Er wollte hinaus aus dem elenden „Choleraneste.“

Als der Fabrikleiter Bandmüller in den Nachmittagsstunden das Arbeitszimmer seines Principals betrat, hatte der Alte unter seinem Schlafrocke ein Kissen über den Magen gebunden, und der Ankömmling vermochte über diesen unerwarteten Zuwachs an Körperfülle ein heimliches Lächeln nicht zu unterdrücken. Doch verschwand dasselbe schnell, denn der Commerzienrath Seyboldt konnte nichts vertragen, was einem Spotte über ihn selber ähnlich sah. Auf dem runden Tische vor dem Sopha, mit den schöngeschnitzten Drachenfüßen, stand ein Theegeschirr, und der scharfe Duft der römischen Camille würzte die Luft des Gemaches.

„Was wollen Sie, Bandmüller?“ fragte es vom Sopha her, in welchem der Commerzienrath sich aus seiner liegenden Stellung emporrichtete.

Der etwas gereizte Ton, mit welchem er empfangen wurde, machte den Fabrikleiter ein wenig verdutzt. Aber er konnte sich auf die Wirkung dessen, was er zu sagen hatte, verlassen.

„Eine wichtige Entdeckung, verehrter Herr Commerzienrath; erlauben Sie, daß ich Platz nehme! Eine Entdeckung politischer Natur. Wir sind durch die Gnade des Höchsten in jüngster Zeit über einen Abgrund gefahren, der Alles verschlingen konnte, was an Gutgesinnten in dieser Stadt lebt: mit einem Worte, wir sind wie durch ein Wunder einer in allen ihren Theilen vorbereiteten blutigen Revolution entgangen.“

Der Commerzienrath horchte auf. „Also war das Gerede davon doch keine bloße Mythe? Und Sie sind im Stande, bestimmte Angaben zu machen?“

„Bestimmte und zuverlässige zugleich. Nur muß ich bitten, meine Quelle verschweigen zu dürfen, und unbedingte Discretion in Anspruch nehmen. Bei dieser Gelegenheit ist mir endlich auch ein klares Licht über die Rolle aufgegangen, welche der Doctor Urban, Ihr Hausarzt, in dem unseligen Treiben der thron- und kirchenfeindlichen Partei unsrer Stadt spielt, und ich muß es leider aussprechen: Sie nähren eine Schlange am Busen.“

„Was sagen Sie? Das müssen Sie beweisen, Herr!“ fuhr der Commerzienrath aufgeregt in den salbungsvollen Ton des Fabrikleiters hinein.

„Entschuldigung!“ sagte dieser mit gut gespielter Betrübniß; „in diesem Falle bin ich gezwungen zu schweigen –“

„Nein, nein, reden Sie! Die Sache interessirt mich mehr, als Sie wissen und verstehen können.“

Und so begann denn ein Vortrag, welcher dem Zuhörer das Blut in den Adern erstarren machte. Mit tückischer Deutlichkeit wurde der kunstvolle Plan Urban's nachgezeichnet, soweit er Bandmüller bekannt geworden, die muthmaßlichen Folgen entwickelt und mit den schreiendsten Farben gemalt, und mitten in diesem Netze, in dem Punkte, wo die Fäden zusammenliefen, saß die blut- und beutegierige Kreuzspinne, welche das Netz gewoben: Doctor Urban, der Heuchler mit dem Vertrauen heischenden Aeußern und dem lauernden, Verderben brütenden Innern. Das Ganze war ein Verrath und eine Denunciation zugleich.

Der Commerzienrath hörte anfangs wie betäubt zu, kaum daß ein halb erstickter Ausruf des Entsetzens den Eindruck andeutete, den er von dem Gehörten empfing: – dürres Reisig für das trübe Feuer der Rede Bandmüller's, das diese jedes Mal heller auflodern machte. Später gewann eine zornige Erbitterung die Oberhand; die unruhigen Lippen und Hände, die grimmigen Augen, die immer lebhafter werdenden Unterbrechungen sprachen deutlich genug.

Bandmüller war zu Ende.

Der Commerzienrath war aufgestanden und postirte sich dicht vor den Fabrikleiter hin, welchem er die Hand auf die Schulter legte.

„Können Sie die Wahrheit dessen, was Sie mir da erzählt haben, beschwören?“

„Der Hauptsache nach, ja.“

„Ah! und ich bin im Begriffe, meiner Tochter diesen Mann zum Gatten zu geben. Was würden Sie in meiner Lage thun?“

Bandmüller zuckte die Achseln.

Der Alte that ein paar Schritte in's Zimmer und kehrte dann rasch um; der Fabrikleiter gewahrte mit Befremden, daß der zornige Ausdruck im Gesichte des Fabrikanten fast erloschen war.

„Geschehen ist geschehen,“ murmelte derselbe unentschlossen; „ein offener Uebertritt zur Union, und ich könnte ihm die Amnestie garantiren. Er muß sich dazu verstehen. – Sie müssen wissen,“ fuhr er gegen Bandmüller heraus, der ihn scharf beobachtete, „daß meine kranke Tochter diesem Manne das Leben schuldet, und daß ich den geschicktesten Arzt im Orte nicht missen mag.“

„Es ist möglich, daß er das Leben Ihres Fräulein Tochter gerettet hat, möglich, sage ich, aber nicht erwiesen. Die Natur pflegt sich meist selber zu helfen, und die Aerzte haben es hinterher bequem, zu sagen, daß Alles ihren Recepten zu danken sei. Aber wenn Sie freilich die Ueberzeugung haben, Herr Commerzienrath –“

„Gewiß; ich kann kaum anders.“

Der Fabrikleiter schlug mit heftiger Bewegung die Beine übereinander, und ein giftiger Blick fiel auf den Fabrikanten, dessen Augen auf dem Teppiche hafteten. Sein Plan war nahe daran zu scheitern. Vergebens preßte er sein Gehirn um einen rettenden Einfall.

„Ich würde nicht zu hoffen wagen, daß ein so hart gesottener Revolutionär zu wirklicher innerer Umkehr kommt,“ warf er hastig hin.

„O, man hat Beispiele, Saulusbekehrungen, lieber Bandmüller. – Ich werde ihm schreiben –“

Der Fabrikleiter lachte plötzlich kurz auf.

„Was haben Sie?“ fragte der Alte emporblickend.

„Einen Einfall. Ich würde mir, wenn ich in Ihren Verhältnissen wäre, unter keinen Umständen einen Arzt zum Schwiegersohne wählen.“

„Warum nicht?“

„Es steht zwar geschrieben: Lasset Euch nicht gelüsten, aber es ist keine kleine Versuchung, immer ein reiches Erbe vor Augen zu haben, das nur eine Kleinigkeit von Lebensfaden hindert, uns in den Schooß zu fallen. Eine Krankheit – man verfehlt zufällig das rechte Mittel, das einzige, welches helfen würde – das passirt ja ohnehin in der Praxis oft genug –“

Bandmüller hatte seinen letzten Trumpf ausgespielt und das lange Gesicht des Commerzienrathes befriedigte ihn völlig.

„Teu…, daran habe ich niemals gedacht.“

Und das ohnehin heute auffallend fahle Gesicht war aschgrau geworden, und der Commerzienrath Seyboldt ging an den Schreibtisch und kritzelte zwei Briefe, erst einen kürzern, den er nach dem Durchlesen wieder zerriß, und dann mit vielem Nachdenken einen zweiten. Die Cholera, die Cholera! War es nicht, als ob ein nebelhaftes, grinsendes Gespenst draußen vor den Scheiben hing und mit langen, dürren Krallenfingern auf ihn zeigte? Wie, wenn er mit dem Absagebriefe wartete, bis die Stadt von dieser Geißel befreit war? Nein, und wieder nein! Gesetzt, daß die gräßlichen Krallen sich in seinen Nacken schlugen und ihn niederwarfen: war das nicht die beste Gelegenheit für den künftigen Schwiegersohn, sich seiner sofort zu entledigen? Und doch war es auf der andern Seite der nämliche Urban, der ihm versichert hatte, allein die Wahrscheinlichkeit einer Rettung bieten zu können.

Ein seltsam widerspruchvolles Geschöpf von Brief entstand unter seinen zitternden Händen. Zweierlei nur ging mit einiger Klarheit aus demselben hervor: die Abweisung einer Verbindung Urban’s mit Toni, und die Absicht, einen vollständigen Bruch mit dem Arzte zu verhüten.

„Hier,“ sagte der Commerzienrath, und reichte Bandmüller das Schreiben; „schicken Sie das durch den Kutscher an die angegebene Adresse! Vorläufig will ich glauben, daß ich Ursache habe, Ihnen dankbar zu sein,“ fügte er mit eigenthümlich gepreßter Stimme hinzu. „Sagen Sie im Vorbeigehen, daß eines der Mädchen sich im Vorzimmer aufhalten soll! Ich fühle mich unwohl; sie wird genau auf meine Schelle Acht geben und verhindern, daß Jemand bis zu meinem Zimmer vordringt.“ Der Fabrikleiter war entlassen.

(Fortsetzung folgt.)
[313]

Schlußscene des Shakespeare’schen „Wintermärchens“ im Nationaltheater zu Berlin.
Nach der Natur aufgenommen von Professor C. E. Doepler in Berlin.

[314]

Kindergarten und Charakterbildung.[1]
Von Angelika Hartmann, Seminar-Vorsteherin in Leipzig.


Bei der Besprechung des von mir gewählten Themas kann es sich nicht darum handeln, ein Bild weitgreifender pädagogischer Thätigkeit vor Ihnen zu entrollen, nein – in das stille, geheime Weben und Entfalten des Kindesgeistes möchte ich Sie schauen lassen, möchte die zarten Keime der ersten Thätigkeit dieses wunderbaren Mikrokosmos Ihnen zeigen und mit Ihnen in das Heiligthum unserer Lieblinge eintreten.

Ich bin nun – und das könnten Sie mir bei dieser Betrachtung zum Vorwurfe machen – keine Mutter, und nur der Mutter und dem Vater ist es, so meinen Sie vielleicht, möglich, diesen tiefen Blick in des Kindes Leben zu thun, weil diese es am meisten lieben und deshalb am besten verstehen müssen. Und doch glaube ich, giebt es noch ein Herz, das mit warmer Liebe für unsere Lieblinge schlägt, das mit Opferfreudigkeit und Hingabe für das Wohl derselben sorgt: es ist das Herz der Kindergärtnerin. Und wie die Familie ein Tempel der Liebe, der Ehrbarkeit und Heiligkeit sein, wie hier das Kind von Liebe umgeben und mit Verständniß für seine individuelle Veranlagung behandelt und beeinflußt werden soll, so muß der Kindergarten, der die Familie nicht ersetzt, wohl aber ergänzt, von dem Geiste pädagogischer Ueberzeugung getragen sein, muß eine allseitige Entwickelung der Menschennatur anstreben.

Dazu bedarf es einer Kindergärtnerin, die mit vollem Verständniß ihrer Aufgabe für die Erziehung des Kindes in den ersten Lebensjahren arbeitet, die, mit jenen Erziehungsgesetzen vertraut, sie in die Praxis überzuführen versteht.

Eine schöne, eine hohe Aufgabe! Aber nur die Kindergärtnerin erfüllt sie ganz, die dem Beispiele der liebenden und sorgenden, aber auch denkenden Mutter folgt und ihr Kind als ein sich fort und fort entwickelndes betrachtet, die diesen Erziehungsgang kennt und die Wonne der Mutter begreifen kann, wenn diese in den Augen des Säuglings zum ersten Mal, wie Jean Paul sagt, das zauberische Lächeln, das liebliche Morgenroth der beginnenden Vernunft wahrnimmt. Von diesem Augenblicke an geht es bergauf im schrittgemäßen Weiterentfalten, denn die Natur kennt keinen Sprung und belebt erst allmählich mit ihrem Zauberworte alle Thätigkeiten des aufbrechenden Geistes.

Und nun grünt und blüht es, als wollte der Frühling mit seinen Maientagen das Füllhorn seines Segens ausschütten. Täglich entdeckt die Mutterliebe ein neues Keimchen, das sich empor an’s Licht ringen will, und küßt es auf und pflegt es und behütet und wartet und liebt es Tag und Nacht.

Da gehe hin, Kindergärtnerin, und theile die Freude und siehe, wie Liebe reicher wird im Geben, und lerne, wie man Liebe durch Opfer verdient! Dort kannst Du auch die geheime Werkstatt der Natur belauschen und schauen, wie sich bei naturgemäßer Einwirkung von Nahrung, Luft und Licht die körperlichen Organe kräftigen und wie sie stützend den geistigen eine Basis bereiten.

In entwickelnder Thätigkeit zeigen sich jetzt die Sinnesorgane. Das Auge erfaßt den Gegenstand und erkennt bald den ihm liebsten, die Mutter; das Ohr unterscheidet ihre Stimme von anderen Tönen; die kleinen Hände greifen und versuchen festzuhalten; Geruch und Geschmack üben ihre Wirkungen aus.

Und parallel dieser allmählichen Sinnesentwickelung brechen im Geiste Anhänglichkeit, Wohlwollen, Nachahmungs- und Thätigkeitstrieb auf.

Aber auch die Triebe brechen sich jetzt Bahn, die, wenn sie nicht im Entstehen niedergehalten werden, späterhin das Kind zu einem eigensinnigen, zornigen, herrischen, sich weder den Anordnungen und Wünschen der Mutter, noch den Befehlen des Vaters fügenden machen. Willst Du, Mutter, Deinen Liebling vor diesen Fehlern, die seinen unschuldsvollen Blick trüben, bewahren, so gieb Acht, daß in der Zeit, in welcher die ersten Eindrücke seiner Umgebung auf den Säugling einwirken, nichts diese erwachenden Triebe Reizendes an ihn herantrete. Wie Du die ersten Empfindungen der Alles überdauernden Liebe in dasselbe hineinlebst, wie Dein Gebet, mit dem Du es Morgens vom Lager nimmst und des Abends in die Hände des Höchsten bettest, die ersten heiligen Gefühle bei ihm wachküßt, so wirken Heftigkeit, Laune, Willkür und maßloses Eingreifen schon in diesem zarten Alter zerstörend auf seine Willensäußerungen.

Sei darum vor Allem das selbst, wozu Du Dein Kind erziehen willst! Nichts wirkt in der Zeit, wo das Kind noch in der innigsten Gemeinschaft mit der Mutter lebt, mehr auf die Bildung des Charakters ein, als das Beispiel derselben. Mit der Mutter lacht und weint, trauert und jubelt das Kind. Von dem ersten Augenblicke an, in welchem das heilige Geschäft der Erziehung für sie beginnt, hat sie deshalb bewußt in ihrem eigenen Wollen, maßvoll und würdig in ihrem Handeln zu sein. Den Aeußerungen der Leidenschaftlichkeit des Kindes trete sie mit Ruhe, mit Geduld, aber auch mit unerbittlicher Consequenz entgegen, gewähre nicht ein Mal, was sie ein andres Mal versagt, strafe nicht heute, wo sie morgen liebkost.

Das unmuthige Schreien des Säuglings, die ungestüm fordernde Geberde, wie das befehlend ausgesprochene Wort des ältern Kindes sind Erzeugnisse derselben Geistesthätigkeit – sie sind natürliche Erscheinungen des noch nicht vom Denken beherrschten Willens des Kindes. Dieser Wille muß geleitet, geregelt und, wenn es nöthig ist, gebrochen werden, damit, wie Jean Paul sagt, Euren Kindern nicht späterhin das Herz darüber bricht.

Je früher und consequenter wir es an diese Selbstbeherrschung gewöhnen, je zeitiger wir es ein weises, vom höhern Standpunkte der Wissenschaft vorgeschriebenes Gesetz bei unserm Handeln hindurchfühlen lassen, um so fester werden wir die Grundpfeiler des Gehorsams in dem Charakter des Kindes aufbauen.

Aus der Natur, dem Borne, aus dem ewiges Leben quillt, wo Klarheit und Wahrheit, wo Gesetz und Entwickelung sich durchdringt, da müssen Mutter und Erzieherin schöpfen, wenn sie lebendiges Leben beim Kinde schaffen, wenn sie dasselbe auf jeder Altersstufe seinen Anlagen und Fähigkeiten entsprechend erziehen wollen. Verständniß für die Vorgänge der körperlichen und geistigen Entwickelungsphasen muß sich daher der Liebe zum Kinde zugesellen, denn nur der Erzieher, der diesen Gang der Entwickelung wahrhaft kennt, kann dieselbe naturgemäß leiten. Und hier fallen die Aufgaben der Mutter und Erzieherin zusammen.

Bedauernswerth, hohl und unersprießlich ist das Erziehungsgeschäft der Letzteren, wenn sie ihrem Kinde nicht ein Herz voll Liebe entgegenbringt, und die Mutter, welche sich nur von ihren Empfindungen, und seien es auch die höchsten und an sich edelsten, leiten läßt, giebt bald die Zügel aus der Hand und erzieht das Kind anstatt zum charaktervollen, dem höheren Gesetz sich unterordnenden Wesen, zu einem willenlosen, augenblicklichen Regungen sich hingebenden Menschen.

Das höchste Ziel der Erziehung aber, geistige Selbstständigkeit, die Möglichkeit einer freien Entschließung, aus der breitesten Grundlage sittlicher Reinheit und Kraft herausgewachsen, muß von Jugend an erstrebt und alle Hemmnisse, welche die Erreichung dieses Zieles hinausschieben oder unmöglich machen, müssen energisch bei Seite geschafft werden.

An die Stelle des Verbotes lasse deshalb schon beim kleinen Kinde das Gebot treten! Gebiete mit Liebe, kurz, und laß das Gebotene sofort vollziehen! Meistere nicht zu viel und schilt nicht über Angewohnheiten und Unarten, sondern hilf, daß diese Unarten vermieden werden! Hilf Deinem Lieblinge, das heißt zugleich, sei um ihn!

„ – – Geh fleißig um mit Deinen Kindern!
Sei Tag und Nacht um sie und liebe sie,
Und laß Dich lieben einzig schöne Jahre!
Denn nur den engen Traum der Kindheit sind
Sie Dein! nicht länger!“

singt Leopold Schefer.

So erwächst ihnen der kindliche Frohsinn, der die Saat des Guten zu doppelt reicher Frucht reifen läßt. Mt dieser strahlenden Fröhlichkeit folgt uns das Kind gern, wenn wir ihm Anweisungen zur Ordnung und Pünktlichkeit geben. Ordnung nach außen schafft ruhige Entwickelung nach innen. Mit dieser Fröhlichkeit wird es lernen einem lebhaften Wunsche entsagen, Kampf [315] und Entbehrungen ertragen. Bei solchen Einwirkungen bildet man feste Entschließungen, leitet das Kind gewohnheitsmäßig zur Bekämpfung dieser in dem zarten Alter vorwaltenden, die edleren Regungen vernichtenden Triebe an und stählt hierdurch seine Kraft zur Ausübung kindlicher Tugenden. Unter der leitenden Hand der Liebe bricht nun die Ahnung von seinem Gotte in dem Kinde auf.

Ein einfaches Morgen- und Abendgebet, das die Mutter bis dahin vor dem Kinde betete, beten sie jetzt in Gemeinschaft. Besser, als ich es Ihnen sagen kann, fühlen Mütter und Erzieherinnen die Größe eines solchen Augenblickes. Das Heiligste läßt sich eben nicht in Worte fassen und soll in dem Heiligthume des Kindesherzens feste, unausreißbare Wurzeln schlagen.

Liebe, Vertrauen, Verträglichkeit, Unterordnung unter das verständige Gebot, Milde und Freundlichkeit gegen Dienstboten, Theilnahme für die Armen und Freude, ihnen von dem eigenen Besitze mittheilen zu können, das sind die Tugenden, die den Charakter des Kindes schon in den ersten Jahren des Lebens zu einem sittlichen machen sollen, und die das, was Pestalozzi so treffend mit dem Namen „Kraftbildung“ bezeichnet, erzeugen.

Und das Mittel, dem Kinde die Grundzüge eines solchen Charakters recht tief einzuprägen, es auszurüsten mit jener Tüchtigkeit, die es nöthig hat, um in den Kämpfen des Lebens sich selbst nicht zu verlieren, um sich zu stählen gegen die An- und Eingriffe des Schicksals, die Keinem, auch dem Glücklichsten nicht, erspart bleiben – es ist die Arbeit. Wir haben die Liebe zu ihr von dem Augenblicke an, wo das Kind fähig ist zu arbeiten, in ihm zu pflegen.

Mit dieser Forderung, die ich als eine der wesentlichsten für die Charakterbildung des Kindes hinstelle, hat zugleich der Kindergarten seine Berechtigung neben der Familienerziehung. Er soll die Mutter nicht der Pflichten gegen ihr Kind entheben, nein – er soll sich anschließen an eine solide, von Mutterliebe und verständiger väterlicher Einwirkung getragene Familienerziehung und das dem Kinde reichen, was keine Familie bieten kann: eine regelmäßige Arbeit in Gemeinschaft gleichalteriger Genossen.

Wie die Arbeit uns gesund, fröhlich, zufrieden macht, wie sie Völker, Nationen zur sittlichen Kraft, zur Einheit und Stärke erzieht, so ist sie das Mittel, durch welches Familie und Kindergarten Hand in Hand gehend, auf die Charakterbildung des Kindes wirken sollen.

Diesen Segen einer regelmäßigen Körper und Geist bildenden Arbeit will der Kindergarten früh schon dem Kinde zu Theil werden lassen, will, indem er kindliche Beschäftigungen pflegt, den Zögling nicht allein vor den schädlichen Folgen der Langeweile bewahren, sondern bei ihm den Grund zu einer allseitigen Ausbildung der gesammten Kräfte legen. Und ein wesentlicher Hebel dieser harmonischen Gestaltung des kindlichen Wesens ist die Gesundheit. Der gute, unter umsichtsvoller Leitung stehende Kindergarten wird darum vor Allem dem körperlichen Leben des Kindes eine eingehende Pflege angedeihen lassen.

Luft, Licht, Bewegung heißen die Factoren, vermittelst deren wir diese Aufgabe lösen.

Deshalb schöne luftige Räume, Spaziergänge hinaus in’s Freie, und vor Allem körperliche Arbeit im Freien. Die Kindergärtnerin hat mehr, als dies bisher im Allgemeinen geschehen ist, mit ihren Kindern zu säen, zu pflanzen, Gartenanlagen zu machen, Hütten zu bauen, Thiere zu pflegen, hat überhaupt die Kleinen so zu diesen Arbeiten anzuleiten, daß sie wirkliche Resultate aus denselben hervorgehen sehen. Ein kleines Terrain, welches das Kind als das seinige bearbeiten und bebauen muß, wird hier einen Anziehungspunkt bilden, der seine Beschäftigung ihm zu einer freudigen und angenehmen macht. Neben einer erhöhten Herz- und Lungenthätigkeit, einer normalen Blut- und Muskelbildung, erwächst aus dieser Beschäftigung die Liebe zu und die Freude an der Arbeit, die kein Kind, selbst das vornehmste nicht, auch nicht das des Fürsten schändet, sondern die fröhliche Augen, frische Wangen, kräftige Arme und flinke Beine schafft.

Nach solcher Arbeit schmeckt das Frühstück, das, im Kindergarten in Gemeinschaft genossen, dem Kinde ein Labsal ist. Da werden keine Leckerbissen gereicht noch geduldet, und hier könnte, so glaube ich, manche Mutter lernen, daß das Verlangen des Kindes nach unregelmäßiger und schwerverdaulicher Nahrung nur der Ausdruck der Langeweile ist, daß aus diesem Uebelstande aber nicht allein körperliches Unwohlsein, sondern auch der Zustand entsteht, den Hippel so richtig beim Kinde „den Schnupfen der Seele“ nennt. Das weiß die verständige Kindergärtnerin, die den Trieb des Kindes, sein inneres Leben zu veräußerlichen, kennt und ihm, nach stattgehabter Ruhe und Erholung, neue Nahrung reicht.

Eines der reizenden Bewegungsspiele, in denen neben körperlicher Gewandtheit auch die verschiedenen Sinnesthätigkeiten und die Sprachfähigkeit des Kindes entwickelt werden, beginnt, oder die Zöglinge eilen an ihre kleinen Tische, wo ebenfalls die Arbeit ihrer harrt, bei der sie Hand und Finger geschickt machen, und durch welche sie sich und Anderen Freude bereitet sollen.

Hier wird nicht dem Principe der sogenannten guten Kindermädchen oder Bonnen gehuldigt, dem Kinde mit läppischen Spielereien die Zeit zu vertreiben, sondern die in des Kindes Wesen verständig blickende Erzieherin weiß, daß in diesen Arbeiten eine versittlichende und bildende Kraft liegt.

Indem das Kind das Schöne, das Harmonische selbst gestaltet, läßt es dasselbe einziehen in seine Seele und erarbeitet sich Anschauungen, welche die niederen Triebe unterdrücken und es sanfteren Regungen und Gefühlen zugänglich machen.

Ich könnte Ihnen aus meiner langjährigen Erfahrung hunderte von Beispielen anführen, die den Beweis liefern, daß rohe, unerzogene oder verbildete Kräfte auf diesem Wege allmählich in ein harmonisches Gleichgewicht gebracht worden sind.

Ein guter Kindergarten muß daher immerhin Ansprüche, wenn auch maßvolle, an die Kindeskraft machen, Leistungsfähigkeit schon bei den Kleinen hervorrufen, nicht zu viel und zu vielerlei den Kindern bieten, aber alle Erziehungsmittel auf ein einheitliches Ziel – auf die Selbstthat lenken.

So wirkt er diätetisch auf Körper und Geist, bildet gesunde Kinder, und aus der Gesundheit erwächst denselben Kraft und Entschließung zur sittlichen That. Diesen Segen empfindet auch das Kind unbewußt; deshalb eilt es, auch wenn es schon in der Familie nach bestimmten Grundsätzen erzogen, so gern und so freudig der Stätte zu, wo es die empfangenen häuslichen Eindrücke und Anschauungen in der Gemeinschaft, diesem wesentlichen Factor zur Pflege des Charakters, bethätigen kann; denn des Kindes Leben ist Thätigkeit, und nur das einseitig erzogene Kind gewöhnt sich zagend an diese kräftige Atmosphäre. Aber um so nothwendiger ist dann eine sorgsame Pflege der noch unentwickelten Seiten seines Charakters. Und hier thut eine ruhige Arbeit, von der Kindergärtnerin mit milder Freundlichkeit vorgeschrieben und überwacht, Wunder. Während sie dem herrschsüchtigen, wildanstürmenden, leidenschaftlichen Charakter Mäßigung und Beschränkung lehrt, macht sie das schüchterne, unselbstständige Kind selbstvertrauend und muthvoll, läßt es seine Anlagen erkennen und sie für seine vielseitigere Ausbildung verwerthen. So segnet planvolle Arbeit das kluge Bemühen.

Ueberall gestaltet sie maßvoll und deshalb harmonisch; „denn,“ sagt Goethe, „nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich“. In solchem Sinne charakterbildend, wirkt der Kindergarten aber sicherlich auch auf die Familie segensvoll zurück, indem er die Eltern auffordert, mit seinen Grundsätzen Hand in Hand zu gehen und mit der Elternliebe eine der Kindesnatur angemessene diätetische Behandlung zu verbinden. Zugleich soll er jedoch durch seine Einwirkung auf die Charakteranlagen der Zöglinge diese tüchtig machen, sich schon in früher Jugend in einer sittlichen Gemeinschaft einen Platz, ein Feld nützlicher Thätigkeit zu erobern.

Mit solchen Principien ist er dann gewiß werth, als eine Basis der Schule angesehen zu werden, die es sich zur Aufgabe macht, Jünglinge und Jungfrauen in das Leben hinaus zu senden, welche nicht allein ihren Geist an veredelnden Kenntnissen bereichert haben, sondern die zugleich zu selbstständigen, mit weiser Beschränkung und sittlicher Würde handelnden Menschen erzogen sind. Charaktere verlangt das Leben, verlangt der Staat von seinen Bürgern. Nur dann wird auch unser deutsches Vaterland seine innere Größe und Einheit gewinnen und erhalten, wenn Familie, Kindergarten und Schule geistes- und charakterstarke Bürger und Bürgerinnen erziehen, Menschen, die wissen, was sie wollen und thun, was sie sollen, die Wahrheit und Sitte üben, die Schönheit und Tugend pflegen, die ihre volle Kraft daran setzen, Menschen im wahren Sinne des Wortes zu sein.



[316]
Aus den Erinnerungen eines Veteranen.
Mitgetheilt von Robert Keil.

Kein Heldenleben, sondern ein Dulderleben ist es, welches wir im Nachstehenden unsern Lesern vorführen wollen, das Leben eines armen Lehrers.

Von französischen Emigranten abstammend, wurde im Jahre 1779 im Dörfchen Taupadel bei Jena Friedrich Krauße als der Sohn eines Schulmeisters geboren. Vom dreizehnten Jahre an besuchte er das Gymnasium zu Weimar, wurde aber durch die damals übliche mechanische Unterrichtsmethode nur langsam gefördert. Zu einiger Fertigkeit gelangte er, wie er selbst gesteht, zunächst nur in Schelmereien. Bei seiner besondern Vorliebe für Geschichte und Geographie, seinem fleißigen Studium derselben und der eifrigen Lectüre guter deutscher Bücher gewann er aber doch allmählich eine ihn vor vielen Mitschülern auszeichnende geistige Bildung und war so in den Stand gesetzt, nebenbei durch Unterrichten kleiner Kinder in einigen Familien sich einen geringen Erwerb zu verschaffen, der ihn vor Hunger schützte.

Damals war Herder Präsident des Oberconsistoriums und Schulephorus zu Weimar. Durch Herder’s Söhne, seine Schulcameraden, war Krauße in Herder’s Wohnung und Garten eingeführt worden, und bei jenem rühmlichen Streben gelang es ihm, die Gewogenheit des großen Mannes in hohem Grade, zu erlangen.

Wohl erfüllte ihn die Sehnsucht, den akademischen Studien zu folgen, doch die ärmlichen Vermögensumstände seines Vaters erlaubten die Ausführung so kostspieligen Planes nicht. Im Jahre 1799 mußte er, neunzehn Jahre alt, sich bequemen, Landschullehrer-Substitut zu werden. Zwar wurde er durch die Gunst Herder’s, der ihn vor dem Versauern und Verbauern schützen wollte, in die Nähe der Residenz Weimar, nach dem Dörfchen Klein-Kromsdorf versetzt, wo er durch Empfehlung desselben auch Gelegenheit zu Privatunterricht erhielt; dennoch fühlte er sich, weil seinen Gönnern und Lehrern, seinen Freunden entrückt, nicht glücklich. Nach mancherlei trüben Erfahrungen, aber geschützt von dem freisinnigen, humanen Herder, wurde er nach Verlauf einiger Jahre als Schullehrer nach Frankendorf (zwischen Weimar und Jena) versetzt und hatte dort im Jahre 1806 die furchtbaren Leiden zu erdulden, welche die Jenaer Schlacht im Gefolge hatte.

Nach vergeblichen Versuchen, sich in Jena den höheren Studien zu widmen und nachdem er sich eine Zeit hindurch in Weimar als Schullehrer, Abschreiber und Concipient kümmerlich ernährt, ging er, zweiunddreißig Jahre alt, unter’s Militär. Es war im Jahre 1812. Der russische Krieg stand bevor; das Contingent Herzog von Weimar mußte gegen Rußland mit zu Felde ziehen. Auch unser Krauße trat den verhängnißvollen Marsch nach Rußland an. Durch Polen gelangte er bis nach Wilna und bis Oßmiana, jener Stadt, wo der von der Berezina kommende Napoleon, hätte er sich nur um eine Stunde verspätet, in die Hände der Russen gefallen wäre. Zugleich mit den elenden Resten der retirirenden grande armée, jener aus allerlei Nationen gemischten, jämmerlich anzusehenden disciplinlosen Masse, die sich bei gräßlichster Kälte und unter beständigen Verlusten auf wildem Rückzuge befand, kam Krauße nach Wilna zurück, wurde aber, als kurz darauf die Russen in Wilna eindrangen, auf der Flucht in der Nähe dieser Stadt von Kosaken verwundet und gefangen genommen. Mit tausenden von Leidensgefährten hatte er in einem Klosterhofe bei Wilna, dann aber in Wilna selbst und später auf dem Transporte bis Pleskow den unsäglichsten Jammer, das entsetzlichste Elend zu erdulden, bis er endlich in Riga seine Freiheit wieder erlangte.

Im Jahre 1813 aus der russischen Gefangenschaft in seine Heimath zurückgekommen, mußte er schon am dritten Tage nach seiner Ankunft in Weimar mit dem zweiten Landwehrbataillon nach Frankreich marschiren. Nachdem er auch aus diesem Feldzuge glücklich zurückgekehrt, wurde ihm das Amt des Inspektors der ersten Strafanstalt des Landes übertragen. Auch in dieser wichtigen Stellung wußte er mit treuer Pflichterfüllung und unermüdlicher, unverdrossener Thätigkeit echte Humanität zu verbinden. Das Leben hatte ihn gestählt, hatte die Kernnatur, die ihm innewohnte, zur vollen Ausbildung gebracht; seine Erfahrungen hatten ihn zu klarer Lebensanschauung und menschenfreundlichsten Maximen gelangen lassen. Von solchen Anschauungen geleitet, erfüllte er durch lange Jahre seine ernste Pflicht mit Milde; es war ihm auch ein Genuß, sich in die Tage der Jugend, die Zeiten seines Unglücks im Geiste zurückzuversetzen und in stillen Abendstunden die Geschichte seiner Jugend und insbesondere seiner Leiden in russischer Gefangenschaft niederzuschreiben.

Als das Alter herannahte, zog er sich nach dem Dörfchen Gaberndorf zurück, wo er eine Ziegelei erworben hatte. Hier, am Abhange des Ettersbergs, auf einem der schönsten Aussichtspunkte in Weimars Umgebung, verlebte er die Jahre des Alters, geehrt und viel besucht von seinen Freunden. Noch sehe ich ihn vor mir, den guten Alten, wenn ich, zur Bergeshöhe hinauf gewandert, bei ihm in die einfache Stube trat, deren Fenster die weite Aussicht über das Thal und bis hin nach den Bergen des Thüringer Waldes boten. Dort am Fenster saß er im Anblicke der frischen Frühlingsnatur, oder er durchmaß, hoher stattlicher Statur, Papiere aus längst vergangenen Tagen in der Hand, mit kräftigen Schritten das Zimmer.

So genoß er in stiller Beschaulichkeit den in voller, reicher Entwickelung prangenden Sommer, wie den Winter mit seinem Eise und Sturme und der blitzenden Schneedecke. So sah er von seinem Stübchen Tag für Tag, Jahr für Jahr die Natur in ewig schönem Wechsel sich verjüngen. Und war auch ihm selbst, dem Freunde der Natur, dem greisen Eremiten, keine körperliche Verjüngung beschieden – im Geiste war er jung und frisch geblieben, und mit dieser Geistesfrische lebte er seinen Erinnerungen, bis ein Tag kam, der ihm mit dem Leben auch die Erinnerungen auslöschte und den guten Alten auf dem Friedhofe des Dörfchens in die stille Gruft bettete.

In seinem Nachlasse fand sich das Manuscript seiner Lebenserinnerungen, seiner Jugend und seiner Erfahrungen und Leiden in russischer Gefangenschaft. Von seinem Enkel Robert Krauße, dem Leipziger Maler, wurde mir das Manuscript zur Bearbeitung übergeben. Mit besonderm Interesse habe ich diesen Auftrag übernommen – sind doch namentlich die Wilnaer Vorgänge fast furchtbarer und gewaltiger nochmals selbst die vorausgegangenen Ereignisse bei dem Uebergange über die Berezina, und giebt es doch in der gesammten auf den Feldzug von 1812 bezüglichen Literatur meines Wissens keine einzige Schrift, welche jene entsetzlichen Zustände und Vorgänge in so genauem Detail und so wahrheitsgetreuer und erschütternder Anschaulichkeit schildert, wie die Krauße’sche Aufzeichnung. Als ein Beitrag zu der Geschichte jener ewig denkwürdigen Tage wird von mir die Bearbeitung des Krauße’schen Manuskripts unter dem Titel „In russischer Gefangenschaft“ demnächst veröffentlicht werden. Aus der Lebensskizze, die ich dem Buche als Einleitung gegeben habe, und aus den russischen Tagen mögen folgende wenige Bruchstücke als anschauliche Bilder hier Platz finden. Lassen wir Krauße selbst von seiner Schulmeisterzeit, von Herder und dessen Schutz, von den Erlebnissen bei der Jenaer Schlacht und von den entsetzlichen Vorgängen in Wilna erzählen!…

1. Herder und der Landschullehrer.

Wurden auch, erzählt Krauße, während der Schulstunden in meinem Dörfchen Kleinkromsdorf durch die Beschäftigung mit den von mir geliebten Schulkindern die Grillen aus meiner Seele verscheucht, ja kehrte auch bisweilen Frohsinn in mein Inneres zurück, so fühlte ich mich doch nach den Schularbeiten einsam und gleichsam verlassen. Um das Drückende und Niederbeugende meiner Lage noch zu erhöhen, richteten sich auch Anfeindungen gegen mich von einer Seite her, von welcher mir Ermuthigung und Freude hätte kommen sollen. Unbekannt mit der damaligen Etiquette der Landgeistlichkeit, hatte ich nämlich versäumt, einem in der Nähe meines Dorfes wohnenden Geistlichen, der meine Schule alljährlich zu besuchen hatte, und der Gemahlin desselben meine Aufwartung zu machen, und damit einen Fehler begangen, der mich in verdrießliche Händel verwickelte und mir nie vergessen wurde. Von meiner Lehrweise nahm man den Stoff her, mich bei der geistlichen Oberbehörde zu verdächtigen. Mein Senior war ein Mann [317] von gutem Herzen, hatte aber eine höhere Lehranstalt nie besucht, sondern früher nur als Bedienter in einem angesehenen Hause fungirt. Unter ihm hatte die Schule in einem Zeitraume von fünfzig Jahren niemals auch nur zu einigem Gedeihen kommen können. Ich suchte ihr mit aller Kraft aufzuhelfen. Da fast kein derselben angehöriges Kind richtig lesen konnte, bemühte ich mich, vor Allem Lesefertigkeit und überhaupt Lernlust in dieselbe einzuführen, und wählte dazu unter Anderem als anmuthiges, die Schüler anziehendes Lehrmittel die bekannten Erzählungen von Robinson; ich that es mit sichtlichem Erfolg. Die Schüler erzählten dies zu Hause, und Unverständige sahen die von mir auf eigne Hand bewirkte Abschaffung der bisherigen Gewohnheit, „die sieben Buß-Psalmen“, „den Sirach“, „den Himmelsweg“, „die Haustafel“ etc. durch die Kinder täglich ableiern zu lassen, als eine Ketzerei an. Klatschsüchtige Weiber, welche in dem angedeuteten Pfarrhause um einer Tasse Kaffee und eines Stücks Kuchen willen liebedienerten, hatten dies dort angebracht, hatten von Büchern mit blauen Tafeln gesprochen, die ich statt der Religionsbücher in meiner Schule eingeführt hätte, und somit willkommenen Anlaß dargeboten, mich als einen Irrlehrer und Verführer der Jugend durch Anleitung zur Romanleserei in Klage zu nehmen. Der geistliche Herr, von seiner Gattin gereizt, brachte auch dem mir zunächst vorgesetzten Pfarrer, einem gutmüthigen, aber schwachen Manne, die Meinung bei, daß ich den mir anvertrauten Schülern nicht das Rechte lehre, und die Sache gelangte als Beschwerde über mich an das Oberconsistorium.

Ich wurde vorgefordert. Schweren Herzens ging ich den Weg nach der Hauptstadt, zitternd und zagend stieg ich die zum Sessionszimmer führende Treppe hinauf und hörte mit Beben von dem Diener des Collegiums, „man habe mir heute eine tüchtige Wäsche zugedacht; die Herren drinnen hätten die Seife dazu parat gelegt“. Noch höher stieg meine Angst, als ich hörte, ich sei von der mich zunächst beaufsichtigenden Geistlichkeit der Pflichtverletzung in der Schule angeklagt worden, und den Termin werden heute nicht der eben unpäßliche Präsident von Herder, sondern ein Oberconsistorialrath halten, von dem ich wußte, daß er zu der mich befeindenden Predigerfamilie in sehr freundschaftlichem Verhältnisse stand. Ohne mich lange zu besinnen, lief ich, um dem mir drohenden Ungewitter zu entgehen, pfeilschnell die Treppe hinunter, eilte zu einem meiner vormaligen verehrungswürdigen und mir wohlwollenden Lehrer und wurde von demselben theilnahmsvoll zu Herder gewiesen. Ich ging zu ihm. Freundlich empfing er mich, indem er mich noch mit dem frühern „Du“ anredete, und als ich ihm meine Angelegenheit kurz vorgetragen hatte, schrieb er ein Billet und gab mir dasselbe mit dem Auftrage, es beim Oberconsistorium abzugeben. Er fügte hinzu, daß er selbst bald in der Sitzung erscheinen und den Termin halten werde. Das Papier, als einen undurchdringlichen Schild fest in meiner Hand haltend, kehrte ich in das Local des Oberconsistoriums zurück, wo ich auch die beiden Geistlichen traf, die gegen mich als Kläger aufgetreten waren. Bald darauf wurde ich zum Vortritte aufgefordert. Getrosten Muthes trat ich ein, und auch die unheildrohende Miene des vicarirenden Präses vermochte mich nicht zu erschüttern – hatte ich doch meinen Talisman in der Hand. Das mir vom Vorsitzenden gemachte Compliment, „daß ich ein noch grüner Bursch sei“, nahm ich ruhig hin, und ebenso ruhig hörte ich die Anklagepunkte an, welche der Secretär vorlesen mußte. Ohne ein Wort zu erwidern, überreichte ich das Herder’sche Billet. Es wurde gelesen, und Todtenstille trat ein. In diesem Augenblicke erschien auch mein hoher Gönner und Beschützer. Freundlich redete er mich mit den Worten an: „Es sollte mir leid thun, wenn ich mich in Krauße geirrt hätte, und wenn die gegen ihn angebrachten Beschuldigungen begründet wären.“

Ich vertheidigte mich mit bescheidener Offenheit gegen die Anklagepunkte und bemerkte am Ende meiner Rechtfertigung mit besonderem Nachdrucke, daß die beiden gegen mich klagenden geistlichen Herren, so lange ich Landschullehrer sei, meine Schule noch nicht ein einziges Mal besucht hätten, folglich gar nicht über meine Lehrart urtheilen könnten, sondern das, was sie angebracht hätten, nur durch Zuträgerei zu ihrer Kenntniß gelangt sein müsse. Herder rieb sich die Stirn; die übrigen Anwesenden machten bedenkliche Gesichter; ich wurde angewiesen abzutreten, und die beiden Prediger wurden zum Eintritt aufgefordert. Ich hörte Herder drinnen mit lauter Stimme vom Nichtbesuch der Schule, von Pflichtvergessenheit, von Anhören des Gewäsches alter Weiber u. dergl. reden. Mit rothen Gesichtern, auf denen die Scham nicht zu verkennen war, kamen die statt meiner Gewaschen wieder heraus, und ich wurde abermals vorgerufen. In wahrem Vatertone sprach nun der ehrwürdige Herder:

„Es beruht die ganze Sache auf einem Mißverständnisse. Krauße ist nicht auf dem gewöhnlichen Wege gegangen, das soll und kann ihm aber nicht zum Vorwurf gemacht werden. Wenn er, indem er nach Schöndorf[2] kommen will, statt des steinigen, holperigen Fahrweges einen angenehmen, ebenen, sich zwischen Blumen oder unter Bäumen hinziehenden Fußsteig wählt, so thut er recht daran; mag er ferner in dieser Weise fortfahren; das Oberconsistorium bleibt ihm in Gnaden gewogen.“

Welch eine Wonne waren diese Worte für mein Herz, welch ein Triumph war mir dadurch bereitet! So zeigte sich mir auch hier der unvergeßliche große Mann in jener ehrwürdigen und liebenswürdigen Weise, in welcher er nur während meiner Schulzeit erschienen war. Damals wurden von ihm, dem Feinde des geisttödtenden Mechanismus auf dem Gebiete wissenschaftlichen Strebens, beim öffentlichen Examen nicht diejenigen Schüler gelobt, die sich sclavisch an die Worte des Lehrers hielten und sich nur in dem alten Geleise bewegten; es wurden vielmehr von ihm diejenigen Schüler, die, dem ekelhaften Schlendrian abhold, fessellos aus sich selbst heraus etwas producirten, im geraden Gegensätze zu der damaligen Art mancher Lehrer für die vorzüglicheren erklärt; ihnen lächelte er seinen gewichtigen Beifall zu. Er war es ferner, der die zu jener Zeit dort gewöhnliche Katechisirmethode, nach welcher die von ihm herausgegebene Erklärung des Katechismus jämmerlich gemißbraucht und zu einem Uebungsmittel im Verwandeln der darin enthaltenen Fragen in Antworten und der gegebenen Antworten in Fragen herabgewürdigt wurde, einst in einer Schulrede, zu größter Beschämung des Betroffenen, mit den Worten persiflirte: „Wie steht der Mund? In die Quere. Was steht in die Quere? Der Mund. Wie steht die Nase? In die Länge. Was steht in die Länge? Die Nase.“

In ebenso freidenkender und gerechter Weise wurde mir vor dem Oberconsistorium durch ihn mein Recht. Gerechtfertigt vor meinen Widersachern, ging ich in mein Dorf zurück und suchte auch ferner in meiner Weise und nach meinen Kräften Gutes im Kreise meiner Zöglinge zu wirken, immer dem Grundsatze Herder’s getreu, daß der Mensch nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen müsse.

  1. Vortrag, gehalten am zweiten Tage der Leipziger General-Versammlung des deutschen Fröbel-Verbandes.
  2. Ein Dorf bei Weimar, auf der Höhe des Ettersberges.

Die Verfälschung der Lebens- und Genußmittel.
Von Dr. Gustav Dannehl.

Eine sociale Krankheit allerschlimmster Art, weil wir bei der gegenwärtigen schlaffen Handhabung des gesetzlichen Schutzes gegen dieselbe ihren gefährlichen Einflüssen fast wehrlos ausgesetzt sind, breitet sich immer mehr unter uns aus, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß sie bei uns bereits einen epidemischen Charakter anzunehmen beginnt. Es ist dies die Verfälschung gerade der unentbehrlichsten Nahrungs- und Genußmittel und namentlich der Getränke. Eine Vergleichung der einschlägigen strafgesetzlichen Bestimmungen aller Nachbarländer mit denen Deutschlands ergiebt bis zur Evidenz, daß die Gesetzgebung in diesem Punkte anderswo strenger ist und, was wichtiger sein dürfte, bedeutend energischer gehandhabt wird, als bei uns. Aufmerksamen Beobachtern, welche nach irgend einer Richtung hin über die Grenzen unseres deutschen Vaterlandes hinausgekommen sind, kann es ebenso wenig wie dem Schreiber dieser Zeilen entgangen sein, daß es anderswo um die beregte Sache weniger [318] schlimm steht, als bei uns. In Frankreich kann man den Segen eines solchen strengeren Verfahrens auf Schritt und Tritt beobachten, ebenso in Belgien, und seit einiger Zeit auch in England, wo namentlich durch das Gesetz vom 6. August 1860 und durch die Zusatzacte vom 10. August 1872 gründlich reine Bahn gemacht ist. Ich bin sicherlich nicht der Einzige, dessen Glaube an die nachgerade genug gemißbrauchte deutsche Treue und Biederkeit in Handel und Wandel einen empfindlichen Stoß erlitten hat, sobald er den fremden Boden betrat. Wie tief muß in den Augen unserer Handelswelt der Werth wahrer Rechtlichkeit gesunken sein, wenn ein bekanntes Handelsblatt es wagen darf, Sätze wie folgende aufzustellen: „Die Grundidee des Handels ist, sich auf Kosten Anderer zu bereichern“ – oder: „Es haben sich im mercantilischen Leben verschiedene Gebräuche und Gewohnheiten eingebürgert, welche vor dem Richterstuhle der allgemeinen menschlichen Moral nicht bestehen können, die aber dennoch im ehrenhaften Handelsverkehr geduldet und anerkannt und von Personen befolgt werden, die in ihrem Privatleben durchaus nach den Principien der strikten Moral handeln.“ Oder: „Mancher Fabrikant sieht sich durch den Kampf der Concurrenz veranlaßt, der geforderten guten Waare eine geringere Qualität unterzuschieben, an Maß und Gewicht kleine Verkürzungen eintreten zu lassen und dennoch kann er in seinem Privatleben auf dem Boden der allerstrengsten Rechtschaffenheit stehen etc.“

Wenn nun ein Theil des Handelsstandes nach solchen sauberen Grundsätzen Geschäfte treibt – und fast muß man es glauben, denn es ist, soweit ich habe nachkommen können, kein tausendstimmiger öffentlicher Protest gegen die eben angeführten Sätze erhoben worden – nun, so haben wir ja an ihnen einen genügenden Aufschluß über den betrübend niedrigen Stand der Reellität in unserm Handel und Wandel. Ich habe in meinem simpeln Käufer- und Consumentenverstande immer geglaubt, es gäbe nur eine Moral, und ein Krämer, welcher eine wenn auch „kleine Verkürzung an Maß und Gewicht“ eintreten läßt, ein Schnitthändler, der mir Halbleinen für Leinen, Halbwolle für Wolle, Halbseide für Seide verkauft, ein Weinhändler, der mir Kunstwein für echten Traubenwein schickt, sei einfach ein Betrüger.

Viel lehrreicher, als für mich, ist jedenfalls der angezogene Artikel für alle diejenigen Geschäftsleute, welche in der eben geschilderten Handelspraxis schon einige Routine besitzen, aber noch so blöde sind, zuweilen doch einige Beklemmungen zu empfinden, wenn sie mit der erwähnten Maß- und Gewichtsverkürzung oder mit der Unterschiebung einer geringeren Sorte etwas[WS 1] zu weit gegangen sind. Ihnen stärkt also der erwähnte gefällige Handelsphilosoph das kleingläubig zagende Herz, und auf die Lebensmittelfrage angewendet, würde sein Evangelium etwa so lauten: „Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch große Freude. Wenn ihr auch etwas zweifelhaftes Fett zwischen die Butter schmelzt oder sie durch Butterpulver schwerer macht, wenn ihr auch Kalk oder Gyps unter das Mehl und den Streuzucker, Kalkwasser unter die Milch, Glycerin unter das Bier mischt oder den Käse durch geriebene Kartoffeln 'mildert', oder Cigarrenkistenholz unter den gestoßenen Zimmt reibt und was die Geschäftspraxis sonst so mit sich bringt, – was thut’s? Zwar sind solche Substanzen theilweise nicht gerade zuträglich für den menschlichen Magen, aber was an solchem Nährstoff zu Grunde geht (vielleicht ein paar tausend schwächliche Kinder oder dergleichen), das war schon von Haus aus nicht recht lebensfähig; was kräftig ist, frißt sich schon durch. Ihr aber seid und bleibt bei alledem immer noch ehrenwerthe Geschäftsleute und steht in eurem Privatleben unentwegt auf dem Boden der allerstrengsten Rechtschaffenheit, vorausgesetzt, daß ihr nach Schluß des Geschäfts nicht noch euren Nebenmenschen Uhr und Portemonnaie aus der Tasche zieht oder fremde Thüren in gewinnsüchtiger Absicht mit Ditrichen oder Nachschlüsseln öffnet.“

Doch die Sache ist vielleicht etwas zu ernst, um darüber zu lächeln. Ich erzähle Ihnen also versprochenermaßen lieber etwas von einigen – Bearbeitungen und Vervollkommnungen geringerer Sorten von Lebensmitteln zu bessern, ein Verfahren, das ich mir trotz der neuen Lehre unserer toleranten Handelspresse erlauben werde, einstweilen noch mit dem Namen Verfälschung zu bezeichnen. Und zwar soll diesmal vom Weine die Rede sein.

Die Klagen über das „Taufen und Manschen“ reichen ziemlich weit hinauf. Aber im Allgemeinen sind doch unser Jahrhundert und vorherrschend die letzten Jahrzehnte desselben die Blüthezeit des Verfälschungsschwindels. Mit dem Aufschwung und dem Fortschritt der Chemie hält der Mißbrauch der durch dieselbe gewonnenen Resultate gleichen Schritt. Die Weinverfälschung hat förmlich ihre Geschichte, und wer dieselbe weiter verfolgen will, den verweise ich auf die sehr gründliche criminal-politische Studie des Landgerichts-Assessors Hermann Bresgen: „Der Handel mit verfälschten oder verdorbenen Getränken etc.“, ein wenig übersichtliches, nicht gerade anmuthig sich lesendes Buch, das aber den vagen und unbewiesenen Deklamationen gegenüber, auf die wir meist in unserer wichtigen Frage angewiesen sind, wirkliche Thatsachen und ein mit erstaunlicher Sorgsamkeit und Gründlichkeit zusammengetragenes Material giebt. Wenn man an der Hand dieses Autors die endlosen, auf strengere Handhabung der Gesetze zielenden Schritte der landwirthschaftlichen Vereine, der Oenologen- oder Weinkennercongresse, die vielen Anträge und Petitionen der ehrlichen Weinproducenten überblickt, die sich und ihr ganzes Gewerbe durch die gewissenlosen Weinverfälscher beeinträchtigt sehen und auf energische Verfolgung der unsauberen Elemente dringen, so kann man sich nicht genug über die Zimperlichkeit wundern, mit welcher die Behörden gegen das Uebel vorgehen. Der Hauptgrund dieser ganz unzeitigen Milde scheint der Umstand zu sein, daß factische Beweise, wie z. B. eine chemische Analyse sie gewähren könnte, in Betreff der Verfälschung von gegohrenen Getränken sich schwer beibringen lassen.

Die älteste Methode der „Weinverbesserung“ ist das Chaptalisiren, d. h. das von Chaptal erfundene Zusetzen von Zuckerstoffen zu dem Most, welches dazu dient, eine geringere Sorte oder einen sauren Jahrgang trinkbarer zu machen. Dieses Verfahren ist ziemlich unverfänglich, wenn wirklich, und nicht nur vorgeblich, reiner Candiszucker hierzu genommen würde. Statt dessen wird, wie sich statistisch nachweisen läßt, vorherrschend Traubenzucker verwendet, der zwar chemisch bekanntlich dem in der Traube selbst erzeugten Zuckerstoff zum Verwechseln ähnlich ist, demselben aber dennoch in jeder Weise nachsteht. Auch der beste aus Kartoffelstärke durch Kochen derselben mit Vitriolöl gewonnene Traubenzucker, wie er im Handel vorkommt, ist niemals rein, sondern enthält zehn bis zwanzig Procent fremde, theilweise sehr schädliche Substanzen, welche nicht mit vergähren. Im Uebergangsstadium zum Alkohol verbreitet selbst ein verhältnißmäßig reiner Traubenzucker einen widerwärtigen ekelhaften Geruch. Und doch ist dieses Zusatzverfahren das bei weitem unschuldigste unter den Verfälschungen, und juristische wie medicinische Autoritäten haben Bedenken getragen, dasselbe überhaupt als eine Verfälschung zu kennzeichnen, weil der Wein wegen seiner complicirten Behandlungsart ebenso gut ein Kunstprodukt als ein Naturprodukt sei. Wenn daher auch die Weinbereitung nach Chaptal’s Grundsätzen nicht als Betrug angesehen zu werden braucht, so gilt dies doch von dem Handel mit chaptalisirtem Wein, denn offenbar zielt doch die ganze Behandlung darauf, das Product eines geringeren Jahrganges dem der besseren ähnlich zu machen, um es dann als besseren Jahrgang feilzubieten.

Bei diesem unschuldigen Verfahren blieb man natürlich nicht stehen. Es lohnte ja wenig. In den 1850er Jahren erfand Dr. Ludw. Gall in Trier ein anderes, bei dem schon mehr zu gewinnen war. Die Doctrin, welche er in einer Reihe von Weinbereitungsbroschüren erläutert, läßt sich kurz dahin zusammenfassen: „Es hängt von uns selbst ab, aus geringen und auch aus den edelsten Trauben der besten Lagen durch Zuckerwasserzusatz zum Moste wenigstens doppelt soviel Wein von mindestens gleicher Güte, wie aus dem unvermischten Moste, zu erlangen.“

Die Lehre Gall’s rief einen lebhaften Meinungsaustausch hervor. Es hat nicht an Chemikern gefehlt, welche sie, als wissenschaftlich richtig, vertheidigt haben. Andere griffen sie lebhaft an. Man wies darauf hin, daß der rohe Kartoffelzucker keineswegs mit dem in der Traube enthaltenen Zucker identisch sei. Dieser Kartoffelzucker werde durch die unreine Schwefelsäure blei- oder gar arsenikhaltig; er enthalte oft noch Dextrin, Kalk, Gyps oder sonstige der Gesundheit schädliche Stoffe, und so beantwortete man daraufhin die Frage, ob ein nach Gall’scher Methode bereiteter Wein der Gesundheit schädliche Stoffe enthalte, [319] entschieden bejahend. Die Gall’sche Methode hatte noch den Vortheil, daß die natürliche Säure schlechter Sorten oder Jahrgänge durch den Zusatz von Zuckerwasser verdünnt wurde; wenn dies noch nicht genug half, so wurde die freie Säure durch Pottasche, Kalk, Soda, weinsaures Kali etc. abgestumpft und gefällt. Der Consument bekommt eine oft hundertprocentig mit schädlichen Stoffen versetzte Flüssigkeit, die ihm als reiner Naturwein verkauft wird.

Trotzdem erklärte die Regierung zu Coblenz auf bestimmte, selbst amtliche Anfragen unter dem 10. Juni 1857, daß das Chaptalisiren und Gallisiren nicht unter die gegen Verfälschung etc. gerichteten Strafbestimmungen falle. In Folge dessen wurde denn das „Manschen und Panschen“ von Tag zu Tag offenkundiger getrieben. In der Rheinprovinz ging allmählich eine große Menge von Weinfabrikanten in ihrer Zutraulichkeit und Offenherzigkeit dazu über, das in Gegenwart von Steuerofficianten dem Moste zugegossene Wasser sich von dem Quantum fertigen Weines abziehen zu lassen, ja man declarirte den Wasserzusatz ganz offen auf den Steuerämtern. Man glaube ja nicht, daß die Anwendung dieses Verfahrens vereinzelt dasteht. Schon 1872 bestanden in Preußen allein dreiundvierzig Stärkezuckerfabriken. Während des Jahres 1873 wurden 80,000 Centner Stärkezucker zur Benutzung bei der Weinfabrikation zu Schiffe moselaufwärts geführt.

Wenn die Gesetzgebung wenigstens soweit eingriffe, die Fabrikanten zu zwingen, ein solches Getränk als gemachten Wein im Großhandel zu declariren und den Wiederverkäufer anzuhalten, daß er auf der Weinkarte und auf dem Etiquette nicht immer ganz unentwegt „Liebfrauenmilch“, „Hochheimer“, etc. schreiben darf, sondern etwa: „Kunstwein“ oder „Gallisirter Rhein- oder Moselwein“, so könnte man sich allenfalls beruhigen.

Die folgende Stufe zum Schlimmeren bezeichnet drittens das Petiotisiren. Wenn sich Gall damit begnügt, den Traubensaft zu vervielfältigen, so weiß sich dieser nächste Weinapostel, Pétiot, schon ganz ohne Traubensaft zu behelfen. Sein ganzes dem Weinberge entstammendes Rohmaterial besteht in den Trestern; dazu werden Keime und sonstige Faserstoffe des Weinstockes genommen. Diese übergießt man mit Zuckerwasser und läßt sie tüchtig auslaugen – also eine Art Diffusionsverfahren– und das giebt dann eine nette zweite Auflage des jedesmaligen Jahrganges, den sogenannten Nachwein, wie er natürlich nur bei den Eingeweihten, im Handel aber nie genannt wird. Der Weinreisende offerirt diese Sorten dem vertrauensseligen Kunden etwa mit folgenden Wendungen: „Wenn Sie etwas Billigeres wollen, so habe ich noch einen leichten Rheinwein etc.“. Ja, der ist allerdings ganz leicht – nämlich seinem Werthe und Gehalte nach.

Auch das Petiotisiren wurde noch überboten. Ehe ich Ihnen die vollkommenste und lohnendste Methode der Weinfabrikation kurz skizzire, welche sich, wie die drei erwähnten, ebenfalls wieder an einen bestimmten Namen knüpft, lassen Sie mich eine kleine Blumenlese anderer kleiner Surrogate und Verfahren geben, welche sich so unversehens eingeschlichen haben und die man als namenlose oder wilde Methoden bezeichnen kann! Die unschuldigste ist das Verschneiden, das heißt: die Vermengung des Traubenmostes oder Traubenweines mit Obstmost oder Obstwein, oder mit Mosten und Weinen aus anderen Gegenden, Lagen, Jahrgängen. Wie die Hauptkunst der Cigarrenfabrikation in der „richtigen“, das heißt: geschickten Zusammenstellung verschiedener Sorten aus- und inländischer Blätter besteht, so ist hier dem Weinhändler ein Feld genialster Combination eröffnet. Man denke sich nur zehn der currentesten Sorten, nehme davon die letzten vier bis fünf Jahrgänge, dann von jedem die Sonnen- und die Schattenseite, endlich eine Wenigkeit von Obstweinarten dazu, man mache mit diesen benannten Zahlen eine regelrechte Verwandelung, und man wird eine Fülle von Sorten herausbekommen, die jedem Geschmack genügen wird, selbst für die Ausstattung des größten Reichstagsweinfestes ausreichen würde, wir müssen uns aber auch sagen, daß es dem modernen Menschen solchen Leistungen der Weinproduction gegenüber nicht leicht gemacht wird, sich zu einem Weinkenner auszubilden.

Für jedes Gebrechen seines Erzeugnisses weiß der Weinfabrikant Rath. Ist er mit dem Zucker ein wenig zu derb gekommen, gut, so setzt er im besten Falle Fruchtsäure, Weinstein, im schlimmsten Falle – Schwefelsäure zu. Es ist noch nicht lange her, daß in Baden ein Fabrikant verurtheilt wurde, welcher die Schwefelsäure oxhoftweise verarbeitet hatte. Der Zusatz von Alkohol und von dem ekelhaften Glycerin hat in letzter Zeit eine ganz erschreckende Ausbreitung gewonnen. Zum sogenannten Schönen des Weines, das heißt: zur Fällung der Eiweißkörper und Hefenstoffe verwendet man Gerbsäure (Tannin) oder Leim, Gelatine, Hausenblase und Eiweiß. Der Weinproducent hat es ganz in seiner Gewalt, was für Wein auf seinem Grundstück wachsen soll. Mit dem künstlich bereiteten Bouquet, mit ätherischen Oelen, Gewürzschnitten, Essenzen, Oenanthäther, bei billigen Sorten auch mit Gewürznelken, Hollunderblüthen und andern Pflanzenstoffen läßt sich auch eine „Blume“, die Poesie des Weins, wie man sich genannt hat, auf’s Beste und Billigste herstellen.

Noch sicherer hat man die Erzeugung der Farbe in seiner Gewalt: Mit Heidelbeeren, Kirschen, Maulbeeren, rothen Runkelrüben, Hollunderbeeren, mit sogenannter Zuckercouleur läßt sich jede Schattirung, jede Nüance herstellen. Am meisten scheint, nach der großartigen Nachfrage und Preissteigerung dieses erst seit Kurzem beachteten Surrogats gegenwärtig die schwarze Malvenblüthe angewendet zu werden, und neuerdings das Fuchsin, welches häufig Arsenik enthält. Bresgen weist ferner nach, daß Bleiglätte, Bleizucker, Gyps, Alaun, Safran, schwefelsaurer Kalk, Kreide, Austerschalen etc. in Menge bei der Weinbereitung zur Anwendung gekommen sind. – Und doch war mit all diesen sauberen Erfindungen das Ideal des echten Weinfabrikanten noch nicht erreicht, bis Fr. Jac. Dochnahl die permanente Weinbereitung in’s Leben rief und, nachdem er das Verfahren eine Reihe von Jahren gegen ein Honorar brieflich gelehrt hatte, 1875 durch eine Broschüre anpries. Er hat auf der Basis Petiot's weitergebaut.

Man bedient sich zu der Weinbereitung nach Dochnahl eines Gährfasses, welches mit dem betreffenden Material (Holzfasern in Form von Hobelspähnen, oder Reisig von Schleh- und Weißdorn-, Eichen oder Zwetschen etc.) ein- für allemal gefüllt wird. Diese Füllung bewahrt den Gähreffect permanent und übt ihn vollkommen aus, so oft auch immer eine neue Auffüllung, ein bloßes Hindurchleiten von „Most“, das heißt Trestern und Kartoffelzuckerwasser, oder noch bedenklicheren Flüssigkeiten vorgenommen wird. Man zapft die oben eingefüllten Fluthen einfach unten als Wein ab und setzt die Aufgüsse nach Belieben fort, ohne eine Erschöpfung des das Medium bildenden Materials zu finden. Was will daneben das Wunder von Kana noch bedeuten! Für die Herstellung des Aufgusses giebt Dochnahl in der erwähnten Broschüre („Die permanente Weinbereitung. Ein Beitrag zur Weinvermehrung von Fr. Jac. Dochnahl. Frankfurt am Main bei Chr. Winter 1875.“) eine stattliche Reihe wohlerprobter Recepte.

Da sind z. B. etliche Sorten, welche Dochnahl (natürlich für die Eingeweihten) mit dem vielverheißenden Namen Frankenthaler Kartoffelwein belegt. Man nimmt dazu: hundert Pfund Wasser, zwölf ein halb Pfund Kartoffeln, drei Pfund geschrotenes Gerstenmalz, vier Pfund Rohrzucker, hundert Gramm Hefe, ein halbes Pfund Weinsäure, drei Liter Weingeist von fünfundneunzig Procent. Mit diesem Recept sollen namentlich in den vierziger Jahren hunderttausende von Gulden nach Dochnahl verdient worden sein.

Der rheinische Hefenwein wird dargestellt aus hundert Pfund Wasser, dreißig Pfund Traubenzucker, fünf Pfund gepreßter (zwanzig Pfund flüssiger) Weinhefe, einem halben Pfund Weinsäure, sechszig Gramm Hollunderblüthen, fünfzehn Gramm Tannin. Bei den Rosinenweinen kommen auf die hundert Pfund Wasser zwanzig Pfund Rosinen, zehn Pfund Rohrzucker und ein halbes Pfund Weinsäure, wenn Weißwein daraus werden soll. Dieselbe Sorte in Roth erfordert noch einen Zusatz von fünfzehn Gramm Kino-Gummi, oder dreißig Gramm Tannin, „oder besser einen Absud von vier Pfund Schlehen oder Vogelbeeren, vier Pfund schwarzen Malvenblüthen, dreißig Gramm Veilchenwurzeln, welche mit ein Pfund Himbeersyrup oder zwei Pfund Himbeersaft abgekocht werden“.

Künstlicher Rheinweine kann ein ganzes Sortiment mit Hülfe des Dochnahl’schen Büchleins fabricirt werden. Kartoffel-Zuckerwasser mit Hefe und Weingeist ist immer der Hauptbestandtheil; die „Sorten“ bilden sich, je nachdem Tamarinden, Citronensäure und Kino-Gummi, oder Rosinen, Tamarinden und Bierhefe, oder Gerstenmalz, Veilchenwurzeln und Malvenblüthen zugesetzt werden. [320] Aus hundert Pfund Wasser, zwanzig Pfund Rebenblättern, Ranken oder Gipfeltrieben mit den immer wiederkehrenden Ingredienzen lehrt Herr Dochnahl einen „sehr guten Tischwein“ bereiten, welcher das ganze Liter sich auf fünf Kreuzer, sage fünf Kreuzer, stellt. –

Wo ist je ein größerer Wohlthäter der durstigen Menschheit aufgetreten, und wer hat je der Speculation, dem uns Menschenkindern doch so natürlichen Streben nach schneller Bereicherung ein ergiebigeres Feld seiner Thätigkeit eröffnet? Was kümmern uns nun noch Mißwachs, Nachtfröste und vernichtende Dürre? Reblaus, wo ist dein Stachel? Traubenkrankheit, wo ist dein Sieg? Also heran, ihr unterirdischen Boudiker, ihr billigen Bowlen-Weinhändler, kauft euch Dochnahl's unsterbliche Broschüre und macht euch euren „Wein“ selbst mittelst des permanenten Wassers! Habt ihr armen Opfer gewinnsüchtiger Großhändlerspeculation nicht immer mindestens fünfzig Reichspfennig und mehr für das Liter dieses guten Tischweines zahlen müssen, das Dochnahl für fünf Kreuzer herstellt und, menschenfreundlich wie er ist, herzustellen lehrt?


Zillerthalerin.
Charakterstudie von Julius Adam in München.


Wie lange sollen Manscher, Panscher und Compagnie und wie sie alle heißen, noch von eurem Marke zehren und euren ehrlichen Verdienst schmälern, jene Groß-Weinhändler des Rheins, der Mosel, der Ahr, deren „eigenes Gewächs“ nicht im rosigen Lichte reift, sondern im Dunkeln, wo gut Munkeln ist, nicht an dem Sonnenhange des Rhein- und Moselufers, sondern in den felsigen Eingeweiden desselben, in dem tiefen Verließ, wo das oben beschriebene wunderthätige Danaidenfaß steht? Und das ist ja gerade das Bequeme, Sichere und Angenehme bei dieser Weinfabrikation, daß man dazu nicht erst einer in's Auge fallenden Fabrik mit einem himmelhoch ragenden Schornsteine bedarf.

Der glückliche Umstand, daß dieser lohnende Industriezweig geeignet ist, so recht im Verborgenen zu blühen, scheint mir ein Haupthebel seiner Verbreitung gewesen zu sein, und ich bin sicher, daß man zu staunenswerthen Resultaten gelangen würde, wenn man einmal der Weinfabrikation und dem Weinhandel ex officio auf den Grund ginge.

Ich habe im Vorstehenden ein wahrheitsgetreues Bild von den Methoden der Verfälschung eines der vielen uns mehr oder weniger unentbehrlichen Lebens- oder Genußmittel gegeben. Vielleicht trägt dieser Artikel dazu bei, arglose optimistische Gemüther aus ihrer Vertrauensseligkeit zu rütteln, und ein energisches Vorgehen Vieler gegen das sociale Uebel der Lebensmittelverfälschung, das fort und fort an Boden gewinnt, anzuregen. So lange die Gesetzgebung sich als unzugänglich erweist und wir noch auf Selbsthülfe angewiesen sind, würde die Ermittelung von Verfälschungen durch landwirthschaftliche, gewerbliche, naturwissenschaftliche und ähnliche Vereine, sowie die schonungsloseste Veröffentlichung erwiesener Fälle durch die Presse treffliche Dienste leisten.




Eine schwarze Kugel.
Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung.)
3.

Hermann's Koffer stand gepackt. Schon trug er selbst, seiner militärischen Pflicht entlassen, wieder Civilkleidung. Nur ein Gang war noch übrig, der schwere Abschiedsbesuch im Kettler'schen Hause. Während der letzten Abende hatte ihm Frau Clara's freundlicher Einladung gegenüber der Vorwand eines Unwohlseins beistehen müssen, abreisen durfte er aber nicht, ohne dort Lebewohl gesagt zu haben. Zwar wußte er den Oberst abwesend, dennoch war ihm der Gedanke äußerst peinlich, mit den Frauen zusammen zu treffen. So empfand er es wie eine wahre Wohlthat, Niemand zu Hause zu finden, als er gegen Abend vorsprach. Aber ehe er noch das der Villa zunächst gelegene Stadtthor erreichte, erkannte er in zwei Damen, die ihm entgegenkamen, mit Bestürzung Frau Kettler und Paula Hollbach. Auszuweichen war unmöglich; er nahm alle Fassung zusammen, um die Damen möglichst unbefangen zu begrüßen, und äußerte sein Bedauern, bei diesem letzten Besuche Niemand von der Familie daheim getroffen zu haben.

Frau Clara schüttelte den Kopf. „Ich werde mich bei Ihrer Mama beklagen müssen, Hermann. Sie haben uns neuerdings sehr vernachlässigt. Oder wären Sie in der That ernstlicher unwohl gewesen, als ich glaubte? Wirklich, Sie sehen angegriffen aus. Und noch diesen Abend wollen Sie fort? Mein Mann, der jetzt beständig unterwegs ist, sagte davon kein Wort, als er heute früh wegfuhr. Habt Ihr Euch denn von einander verabschiedet?“

Hermann bejahte schweigend; es erschien ihm unmöglich, [321] angesichts dieser Beiden vom Oberst zu sprechen, sei es auch das Gleichgültigste.

„Ida wird schelten, wenn ich ihr berichten muß, daß Sie in solcher Weise auf und davon gehen, und auch Paula hätte Ursache dazu,“ fuhr die alte Freundin in ihrer herzlichen Weise fort. „Ich darf Sie nicht einmal auffordern, noch für ein Stündchen mit nach Hause zu kommen; die Kinder erwarten mich in der Stadt, wo wir uns ein Stelldichein gegeben haben, um nachher in das Theater zu gehen. Ich war nur eben einen Augenblick bei Hollbach’s, weil diese schlimme Paula sich tagelang nicht hatte sehen lassen; auch heute giebt sie mir nur ein kurzes Wegegeleite.“


Zillerthaler.
Charakterstudie von Julius Adam in München.


„Ist Ihre Frau Mutter leidender?“ fragte Hermann, ohne das junge Mädchen anzusehen und um nur überhaupt etwas zu sagen.

„Doch nicht,“ entgegnete sie mit klarer Stimme; „es geht ihr im Gegentheil neuerdings etwas besser, und wenn Ihre Zeit Ihnen wirklich noch einen Besuch erlaubt, Herr Barner, so begleiten Sie mich vielleicht auf einen Augenblick nach Hause? Meine Mutter wünscht längst, Sie kennen zu lernen.“

Während Paula sprach, war die Gruppe vor dem Thore angelangt, welches zur Stadt führte. Frau Oberst Kettler warf einen erstaunten Blick auf das junge Mädchen und lächelte kaum merklich, als sie Hermann die Hand zum Abschied reichte und seine unverkennbare Aufregung gewahrte.

„Tausend Grüße also von Haus zu Haus, und kehren Sie bald wieder!“ sprach die liebenswürdige Frau mit vielsagendem Blick. „Dich, Paula, erwarten wir morgen bestimmt. Auf Wiedersehen!“ Sie winkte noch einmal zurück und ging dann ihres Weges.

Das junge Paar wandelte neben einander, ohne ein Wort zu tauschen. Mit jeder Secunde empfand Hermann das Auffallende, ja Unschickliche seines Schweigens nach solcher Aufforderung peinlicher, und doch war ihm die Kehle wie zugeschnürt. Was ließe sich auch sprechen, wenn die Seele voll ist bis zum Ueberfluthen und die Lippe doch von alledem nichts äußern darf? Sobald man nicht sagen darf, was man will, ist es ganz einerlei, ob man spricht oder schweigt.

Schon kam an der Biegung des Weges das rebenumzogene Häuschen zum Vorschein; Ranken und Blätter glühten in herbstlichem Purpur. Da begann Paula ihren Begleiter nach seiner Heimath, seiner Mutter zu fragen, in so sanften Lauten, daß alles Fremde, Starre davor aus seiner Seele wich und nichts zurückblieb, als der alte, allmächtige Zug nach dem lieben Mädchen hin. Ihm ward wundersam zu Muthe, wundersamer noch, als er die Schwelle überschritt, welche er in Gedanken so oft betreten hatte; es war ihm, als träumte er.

Das Zimmer zu ebener Erde, in welchem Frau Hollbach den Tag auf ihrer Chaiselongue zuzubringen pflegte, störte diesen traumhaften Zustand nicht. Alles war dort gedämpft, Licht und Farben. Der Teppich, welcher selbst zu dieser Jahreszeit den ganzen Fußboden bedeckte, ließ keines Schrittes Schall vernehmen; die niederwallenden Gardinen, das dunkle Braun der Polsterung, vor Allem diese überzarte, zwischen Kissen gebettete Gestalt mit dem sanften, geduldigen Gesicht weckten den Eindruck, als lebe sich hier eine besondere Welt aus, in welche kein lauter Ton eindringen dürfe, weder äußerlicher noch innerer Art.

„Hier bringe ich Dir Herrn Barner, liebe Mutter,“ sagte Paula einfach und rollte für den Gast einen Sessel vor das Tischchen, welches neben dem Lager der Leidenden stand. Diese streckte Hermann eine bleiche Hand entgegen und hieß ihn freundlich, ja freudig willkommen. Aus jeder ihrer Bemerkungen und Fragen ließ sich erkennen, daß Paula ihr oft von ihm gesprochen haben mußte.

Das junge Mädchen ging geräuschlos ab und zu; sie bereitete auf einem Seitentische den Thee, wozu bereits Alles vorgerichtet stand. Als sie dem Gaste eine Tasse bot, blickte er sie zum ersten Mal voll an. Sie war sehr blaß, die dunkelgrauen Augen unergründlicher als je, doch sprach eigenthümliche Festigkeit aus ihren Zügen.

Während Hermann so da saß, gleich einem Familiengliede am Lager der Kranken bewirthet, überkam ihn von Neuem tiefstes Unbehagen. Weshalb war er hier? was hatte das Alles zu bedeuten? Unnatürlich, ja fast wie ein Hohn erschien ihm diese späte Einladung und sein Verweilen. Der Contrast dieser leisen Töne, des märchenhaft umspinnenden Stilllebens hier, mit dem in seinem Hirn und Herzen wirbelnden Aufruhr wurde ihm fast unerträglich; sobald ihm die Schicklichkeit irgend gestattete, dem Besuche ein Ende zu machen, erhob er sich mit dem Bemerken, seine Zeit sei abgelaufen.

Paula warf einen schnellen Blick auf ihn; ein schwaches, sogleich wieder verschwindendes Roth huschte über ihr Gesicht, als sie flüchtig sagte: „Unser Gärtchen muß ich Ihnen doch noch zeigen. Es war so oft die Rede davon.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie mit einladender Bewegung dem anstoßenden Zimmer zu; es war ihr eigenes, dasselbe, an dessen Fenster Hermann sie so oft gesehen und begrüßt hatte. Diesem Fenster gegenüber führte eine Glasthür nach dem kleinen Hausgarten, in welchem ein bunter Asternflor prangte.

Hermann war ihr gefolgt. Paula blieb innerhalb der Gartenthür stehen, die Hand auf der Klinke, ohne doch zu öffnen oder den Blick hinaus zu wenden. Sie sah vor sich hin; ihre Wimpern zitterten über dem halb geschlossenen Auge, und ihre Lippen bewegten sich wiederholt, ohne doch einen Laut vernehmen zu lassen. Plötzlich sagte sie in sehr leisem, eindringlichem Tone: „Ich [322] muß Sie fragen – ich muß erfahren – was ist vorgegangen zwischen Ihnen und – und dem Herrn Oberst?“

Er fuhr zusammen. Was wußte sie? Oder ahnte sie nur? Das Wort traf ihn so unvorbereitet; er war so ganz in Unkenntniß über ihr Fühlen und Denken.

„Vorgegangen? Nichts!“ sagte er unsicher.

Paula hob die Wimpern und sah ihn mit tiefem Ernst an. Kein Blutstropfen färbte ihr zartes Gesicht, Hermann dagegen erröthete heftig, als sie nun weiter sprach:

„Ich weiß, daß er bei Ihnen war nach jenem Abend. Das wäre nicht möglich gewesen, ohne –“

Die zurückgedrängte Angst erstickte ihr das Wort auf den Lippen und brach nun unaufhaltsam aus ihren Augen, bebte um den scheuen Mund. Sie neigte sich gegen Hermann vor, als wollte sie ihm leise, ganz leise etwas zuflüstern; schwach wie ein Hauch, aber in erschütterndem Flehen klang ihr Wort:

„Sagen Sie, o sagen Sie mir, was geschehen ist – oder geschehen wird! Es steht – nicht gut zwischen Ihnen Beiden?“

Hermann bewegte den Kopf zu ernstem Verneinen: „Beruhigen Sie sich, Fräulein Hollbach! Ich darf Ihnen mein Wort geben, daß der Herr Oberst und ich in vollem Einverständniß von einander geschieden sind und uns kaum jemals wieder begegnen werden.“

Das junge Mädchen blickte stumm auf ihre fest in einander geschlossenen Hände nieder. Der angstvolle Zug, welcher sich herb um ihre Lippen grub, wich der beschwichtigenden Rede nicht.

„Können Sie mir auch Ihr Wort geben, daß sein Leben durch nichts bedroht wird?“ sagte sie plötzlich. „Sie schweigen?“

„Leben und Tod des Menschen stehen in höherer Hand – wer dürfte sein Wort für ein fremdes Leben verpfänden!“ erwiderte er beinahe schroff.

„Sie schätzen mich nicht mehr.“ Die stolze Geberde, mit der sie das Haupt erhob, widersprach dem Worte, aber das Bangen war stärker als das Selbstgefühl; Thränen stürzten ihr aus den Augen: „O, sprechen Sie nicht so grausam! Sagen Sie mir die Wahrheit – vielleicht ließe sich retten –“

„Fragen Sie ihn selbst,“ erwiderte Hermann, „sagen Sie ihm dabei, daß mein Verzicht bestehen bleibt! Was er auch sinnen mag, Ihnen giebt er wohl Gehör. Ihr Einfluß –“

Das letzte Wort kam mühsam und klang bitter. Ein so heiß schmerzlicher Blick gab ihm Geleit, daß ihre Gedanken zu ihm hinübergezwungen wurden.

„Mein Einfluß?“ wiederholte sie betroffen, und der leise Zug von Scheu vertiefte sich. „Ich kann Ihnen das – ich kann nichts erklären. Sie sahen und hörten – denken Sie von mir, was Sie müssen!“

Sie hatte ihre ganze Fassung wiedergewonnen und blickte mit klaren Augen zu ihm auf: „Ich darf Sie nicht länger zurückhalten. Leben Sie wohl!“

Seine Fassung aber war verloren. Also wirklich! Sie wußte Alles, hatte ihn erkannt an dem Unglücksabende. Nichts war gerettet, nicht einmal der Trost, wenigstens ihr Bewußtsein freigehalten zu wissen. Aber trotz alledem überkam ihn ein Gefühl der Erleichterung. Trostbringend, siegreich erstand in ihm der Glaube an das geliebte Mädchen. Was auch unbegreiflich bleiben, was auch dahin sein mochte, der reine Blick dieser Augen trog nicht, ihr Bild stand hoch und klar an seiner alten Stelle. Alles Ungesagte und Ungefragte, was ihn noch bedrängte, klang aus dem Tone, womit er ihren Namen rief: „Paula!“

Ohne ein Wort hinzuzufügen, ergriff er ihre Hand und beugte sich darüber; seine Lippen berührten sie mit tiefer Ehrerbietung. Ein schwacher Druck der zarten, kalten Finger antwortete. Dann ging er.




Paula hatte ihm kein Geleit gegeben. Die pulsirende Schläfe gegen die kühle Scheibe gepreßt, stand sie an der Gartenthür und blickte hinaus auf die vom Abendlichte übergossenen Beete. Große Thränen fielen zögernd, vereinzelt durch die Wimpern auf das blasse, liebe Gesicht. Da hörte sie ihren Namen rufen; schwach wie ein Hauch nur drang er aus dem anstoßenden Zimmer herüber, aber es genügte, um sie aus ihrer Versunkenheit zum vollen Wachsein aufzurütteln. Wenn Beherrschung sich je erlernen läßt, so ist es am lange behüteten Krankenlager. Die vielgeübte Kraft versagte dem jungen Mädchen auch jetzt nicht; sie trocknete sich hastig die Augen und trat mit der gewohnten ruhigen Haltung bei der Mutter ein. Indem sie ihr das Kissen bequemer rückte, sagte sie zärtlich: „Du riefst, Mütterchen; wünschest Du etwas?“

„Nur Dich!“ sagte Frau Hollbach und sah ihr forschend in die Augen. „Weshalb bist Du nicht mit dem Gaste hereingekommen? Er hat sich bei mir sehr rasch verabschiedet, und Du – Paula, Du hast geweint.“

„Nicht doch!“

Die Mutter bestand nicht auf ihrer Behauptung, doch faßte sie des Mädchens Hände und zog sie neben sich nieder. „Er schien mir sehr bewegt. Ihr habt Abschied genommen – ist er Dir lieb?“

Paula legte ihren Kopf dicht neben den der Mutter auf das Kissen. „Wir haben Abschied genommen, und er ist mir lieb – aber nicht so, wie Du vielleicht denkst.“

„Kind, liebes Kind, ich fürchte, Du hast um meinetwillen aufgegeben, was Dein Glück wäre. Meinst Du, ich fühlte nicht, daß Dich etwas quält, besonders seit den letzten Tagen? Wenn Du auch schweigst! Als er eben ging, sah ich, daß er litt – warum hast Du ihn so gehen lassen? Ich weiß, daß Du mich nicht verlässest, ich weiß aber auch, daß meine Tage, schlimmsten Falles meine Jahre gezählt sind. Ihr habt noch viel Leben vor Euch; weshalb also in Schmerzen scheiden? Nur Gutes und Liebes habe ich von ihm gehört; er hat gar treue Augen – ich wüßte Deine Zukunft geborgen und könnte ruhiger schlafen.“

Paula richtete sich auf und sah ihre Mutter mit einem stillen Blicke an. „Es ist nicht, wie Du meinst. Vielleicht daß ich ihm lieb bin – oder war. Aufzugeben habe ich nicht, was mir nicht dargeboten wurde. Sei also ruhig! Auch weißt Du, ich gehöre zu Dir. Was mich eben ein wenig bewegt hat, geht vorüber.“

Sie strich ihrer lieben Kranken sanft über die müden Augen und waltete leise im Zimmer umher. Als ihr schien, daß die Mutter eingeschlummert sei, was der Schwachen nach jeder ungewöhnlichen Unterbrechung ihres einsamen Lebens leicht geschah, setzte sie sich an das Fenster, dessen Epheugeranke das einfallende Licht hinderte, das Lager zu streifen. Paula’s sonst allezeit fleißige Händchen lagen gefaltet in ihrem Schooße; es wurde dunkel im Zimmer, nur die Gaslaterne vor dem Hause warf durch das zweite Fenster einen hellen, mondlichtgleichen Streifen herein. In der tiefen Stille waren sogar die schwachen, unregelmäßigen Athemzüge der Kranken zu vernehmen. So lautlos war es rings, daß das Rädergeroll von der Straße her das junge Mädchen aufschreckte und sie einen unwillkürlichen Blick durch die Scheiben werfen ließ. Sie schrak zusammen. Das offene Jagdwägelchen, welches da vorbei fuhr, war ihr bekannt, gleich dessen Insassen. Die unwillkürliche Bewegung, womit Paula sich in ihren Sessel zurücklehnte, als wollte sie sich bergen, war überflüssig; der Kopf des Vorüberfahrenden blieb dem rebenumflochtenen Häuschen abgewendet.

Das leichte Geräusch hatte den Schlummer der Mutter unterbrochen. „Bist Du da, Paula?“ fragte sie leise; „und so im Dunkeln – doch nicht mir zu Liebe? Es wird ohnedies Zeit, daß ich mein Schlafzimmer aufsuche. Und sobald ich gebettet bin, gehst Du noch für ein Stündchen zu Kettler’s, Kind; ich wünsche Das. Es wird Dir wohl thun, und mich beruhigt es. Du weißt, es ist mir unlieb, wenn Du Dich tagelang so einspinnst.“

Paula hatte sie unterbrechen, ihr sagen wollen, daß Frau Kettler und Ida im Theater seien, doch sie schwieg; als ihr die Worte schon auf den Lippen schwebten, erfaßte sie plötzlich ein Gedanke. Sie fühlte selbst, wie blaß sie wurde, und blieb einen Moment unbeweglich vor der Lampe stehen, die sie im Begriff war anzuzünden – an diesen Gedanken mußte sie sich im Dunkel gewöhnen. Als das Licht ihre Züge beschien, waren sie voll Entschlossenheit.

Sie rief die Dienerin, bettete ihre Mutter um, gab der Gehülfin noch einige Weisungen und kam dann mit Hut und Tuch, sich zu verabschieden.

„Ich gehe, werde aber nicht lange bleiben. Vielleicht treffe ich Dich noch wach. Schläfst Du ein, dann schließe mich zuvor in Dein Gebet!“

„Um was hätte ich sonst zu beten? Gott sei mit Dir!“

[323] Die schwachen Arme hoben sich, ihr Liebstes zu umfangen. Ihr fehlte Gesundheit, Thätigkeit, Freude – ihre Paula war ihr Ersatz für Alles.




Obgleich der Oberst sehr ermüdet von seiner Jagdpartie zurückgekehrt war, ließ er doch die Glieder nicht ruhen, als er sich daheim in seinem Zimmer befand. Er stand am Fenster, reinigte sein Gewehr und blickte zerstreut durch die Scheiben hinab auf die Bäume des Gartens, deren leuchtende Roth- und Orangefärbung selbst die tiefe Dämmerung noch durchdrang. Sein Gedanke kehrte zum Walde zurück, in welchem er den Tag verlebt; – ein trüber Tag, aber trotz des bedeckten Himmels waren auch dort alle Farben des Feuers mit solcher Kraft durch das schwindende Grün gebrochen, daß die ganze Waldung wie von der Abendsonne angeglänzt erschien. Herbst! – – So waren auch in ihm tiefste Gluthen emporgeloht, nachdem sein Frühling und Sommer bereits zu Rüste gegangen. In allen Farben des Feuers war ihm die kraftvolle Seele aufgeflammt, um nun bald als todtes Laub niederzutaumeln auf den Schooß der Mutter Erde.

Es war still, sehr still in ihm. Der Tod ist ein Strom, welcher alle Leidenschaften verschlingt, aus dem allein sie Vergessenheit trinken. Seine Gedanken hatten in der Gewißheit naher Ruhe schon etwas von deren Wohlthat auf Abschlag empfangen. Es gehört viel Kraft dazu, die Vorstellung deutlich zu fassen, daß etwas enden müsse, mag es sich nun um Dinge des Lebens handeln oder um das Sterben. Sobald der Geist aber einmal die Unmöglichkeit begriffen hat, einen Besitz zu bewahren, gehen Wille und Nothwendigkeit Hand in Hand.

In Gedanken verloren, achtete Kettler der einbrechenden Dunkelheit erst, als sich das Zimmer ganz in Schatten gehüllt hatte. Nun zündete er Licht an, setzte sich vor den Tisch, nahm sein Notizbuch hervor und zeichnete bedächtig, immer neu überlegend, einzelne Sätze darin ein. Es betraf verschiedene Anordnungen, die er in den nächsten Tagen mit seinem Notar besprechen wollte. Seine Stimmung war dieselbe, welche ihn einige Jahre früher vor dem Ausrücken zu einem Feldzuge beherrscht hatte. Eine warme und zugleich gelassene Abschiedsstimmung den Seinen gegenüber. Bei ihnen zu bleiben war unmöglich, konnte gar nicht in Frage kommen; so galt es denn nach bestem Ermessen vorzusorgen, daß sie ihn wenigstens, so weit es Aeußerliches betraf, nicht allzusehr vermissen möchten, falls er nicht wiederkehrte. Es war heute weder etwas Gleichgültiges noch Liebloses in seinem Entschlusse, die Lieben zu verlassen; er war so durchdrungen von dessen Nothwendigkeit, daß auch nicht der Schatten eines Zweifels über ihn kam. Die Parze, welche die Zukunft spinnt, wob für ihn keinen haltbaren Faden mehr.

Niemals hatte er vor einem lebenden Wesen die Augen niederschlagen müssen; jetzt zuckte Alles in ihm vor Scham, sobald er an Paula dachte, die er seit jenem verhängnißvollen Abende nicht mehr wiedergesehen. Alle Zartheit der Empfindung, welche ihn Jahre hindurch mit dem Kinde, dem Mädchen verbunden, setzte sich zur Wehre gegen die Erinnerung an den stürmischer Augenblick, wo seine Leidenschaft sich ihr ohne Hülle gezeigt. Wenige Männer verstehen, was es heißt: ein unschuldiges Mädchen; der Vater eines solchen ahnt es wenigstens. Paula, der Zarten, Reinen, hatte er Regungen verrathen, die er in sich selbst immer voll Neuem zu ertödten gesucht – wie mochte sie jetzt seiner gedenken? Jetzt und alle Zeit?

Das war der bittere Tropfen im lockenden Todeskelche, und doch rückte gerade dieser denselben nahe, ganz nah an seine Lippen. Auszulöschen war das Gedächtniß an jenen Augenblick nicht, wo sein Arm das zitternde Kind umfangen, seine heißen Lippen sich auf den scheuen Mund gepreßt, der nicht gab, sich nur hülflos nehmen ließ – aber dieses Gedächtniß konnte sich mildern und klären, denn Alles vergiebt man den Todten, die fern sind und ohne Gewalt.

Der Stift ruhte längst müßig in seiner Hand; die Ruhe, welche noch eben wie kühlender Schatten über ihm gelegen, wich quälender Unrast. Er stand auf und durchwanderte das Zimmer – wer weiß wie viele Male! Da kam ein leichter Schritt die Treppe hinauf und hielt vor seiner Thür an. Da er noch nicht nach Frau und Tochter gefragt, welche seine Heimkehr erst zum nächsten Tage erwarteten, dachte er, es sei Ida, und rief, als sich draußen nichts weiter regte, mit leiser Ungeduld im Tone: „Herein doch!“

Die Thür öffnete sich, und Paula erschien auf der Schwelle; sie drückte das Schloß hinter sich zu und stand unbeweglich da, die Hand auf der Klinke, als sei sie im Begriff zu gehen, statt zu kommen. Kettler hatte ihr im ersten Moment einen raschen Schritt entgegen gethan, als er aber ihre Haltung sah, blieb er wie angewurzelt stehen und sagte mit unbeschreiblich schmerzlichem Ausdrucke: „Sie fürchten sich vor mir? Dahin also ist es gekommen!“

Mehr als der Ton, so erschütternd er klang, traf Paula das Wort selbst. Seit Jahren hatte der Oberst sie nie anders angeredet, als mit dem traulichen Du – der fremde Ausdruck brachte ihr die Spannung des Augenblicks niederdrückend zum Bewußtsein. Sie erblaßte, während sie ihm rasch näher trat; ihre Wimpern zitterten, wie immer, wenn sie stark erregt war und sich Beherrschung abzwang; sie blieb dicht vor Kettler stehen und sagte mit ihrer tiefen, melodischen Stimme:

„Viel – Alles fürchte ich. Darum bin ich hier.“

Er faßte die kleine Hand, welche sie wie beschwörend zu ihm erhoben hatte, leicht in die seine. „Darum bist Du hier?“ wiederholte er in schwerem Tone.

„Und weil ich einen Auftrag für Sie habe. Herr Barner hat mir –“

Kettler ließ ihre Hand niedergleiten; wie ein Blitz durchzuckte es jäh seine Augen. „Einen Auftrag? Von Hermann Barner! Sie haben ihn also gesprochen?“

Paula sah ernsthaft zu ihm auf. „Heute. Er läßt Ihnen sagen, daß sein Verzicht bestehen bleibt.“

Mit finsterem Lächeln entgegnete Kettler: „Weiter nichts? Oder giebt es vielleicht noch mehr Aufträge – an mich? Und durch Sie?“

Das junge Mädchen schüttelte schweigend den Kopf; der schroffe Ton, womit diese Fragen hervorgestoßen wurden, machte sie einen Augenblick sprachlos. Dann hob sie ihre Augen und sah ihn dringend an: „Was seine Worte bedeuten, weiß ich nicht, aber ich habe andere Worte gehört – von Ihnen – und was diese bedeuten, weiß ich.“

„Worte – Worte –“ sagte Kettler, „was ist an Worten gelegen!“

Paula war in den nächsten Stuhl gesunken; ihre Füße trugen sie nicht mehr. Wie schwer war es doch zu sagen und zu fragen, was sie im Sinne trug! Wie Unnahbarkeit lag es in jedem Blicke und Ton des Mannes, dessen Willen zu bezwingen sie gekommen war, und plötzlich fühlte sie sich von namenloser Angst überwältigt. Sie drückte die gefalteten Hände gegen ihre Brust und stammelte:

„Als wir uns neulich trennten, sagten Sie: 'Es ist Zeit, daß ein Ende wird.' Welches Ende? welches Ende? Bei Allem, was heilig ist, versprechen Sie mir, zu leben!“

Seine Wange färbte sich schwach. „Thörichter Gedanke!“ sagte er kalt.

Sie stand auf ihren Füßen und sah ihm mit zwingender Macht in die Augen. „Ich weiß, wozu Sie entschlossen sind," sagte sie fest. „Mehr als einmal hörte ich Sie sagen: ein Mann müsse zu gehen wissen, wenn es an der Zeit sei.“

„Und Du meinst, solche Zeit sei gekommen – meinst Du das wirklich, Kind?“ sagte er mit plötzlicher Weichheit und faßte ihr zartes Gesicht zwischen seine beiden Hände. „Wohl – wohl! ich werde gehen, aber so weit doch nicht, wie Du denkst – nur von hinnen, von hinnen.“

Des Mädchens Augen ruhten forschend auf seinen erschütterten Zügen, dann hob sie mit freier Bewegung den Kopf, trat von ihm zurück und sagte sehr leise, im entschlossensten Tone: „Wenn Sie – verunglücken, dann folge ich Ihnen, so wahr Gott lebt.“

„Paula! Paula!“ rief er fassungslos, „nimm dieses Wort zurück!“

„Sie sehen wohl – weshalb wollen Sie mich täuschen? Ich bin nur ein Mädchen, aber ich habe doch mehr Muth als Sie. Ich verleugne wenigstens nicht meine Entschlüsse.“

Er verhüllte seine Augen – einen Moment nur – dann beugte er sich zu ihr nieder, zog sie dicht an sich und fragte zitternd: „Sterben um mich? Du liebst mich?“

[324] Sie machte sich mit leiser unwiderstehlicher Bewegung frei. „Lieben? – Sie haben mir gesagt, daß Sie mich lieben, und wollen mir doch das Bewußtsein auf die Seele laden, die Ursache Ihres Todes zu sein. Was kümmert Sie mein Friede, was der Jammer Ihrer Theuersten? Sie wollen die eigene Noth abschütteln; was Sie hinter sich lassen, gilt Ihnen nichts. Ich aber bin nicht standhaft genug, solche Centnerlast auf dem Gewissen durch das Leben zu tragen. Ob Sie noch heute thun, was Sie sinnen, ob Sie es morgen thun, Sie wissen jetzt, daß Sie nicht über Ihr Leben allein verfügen. Noch bindet mich heiligste Pflicht, aber, wie meine arme Mutter erst heute sagte – ihre Tage sind gezählt, und in der ersten Stunde, wo sie meiner nicht mehr bedarf, halte ich mein Gelübde, so wahr Gott lebt.“

„Nimmermehr!“ rief Kettler außer sich.

„Das liegt fortan in Ihrer Hand,“ sagte Paula sanft. „Wollen Sie, daß ich lebe, so schwören Sie mir, daß auch Sie leben wollen.“

„Paula, Paula! Du weißt nicht, was Du forderst.“

„Ich weiß es gut,“ sagte sie fest, und blickte ihn mit den unergründlichen Augen tief an. „Wenn es aber wahr ist, daß Sie mich lieben, dann steht mir zu das Höchste zu fordern. Und gewähren Sie, dann sind wir einander unser Leben schuldig geworden und müssen uns der Gabe werth erweisen. Jeder Athemzug des meinen soll vor Dem bestehen dürfen, der ihn mir schenkt – o, gewähren Sie!“

Sie neigte sich über seine Hand und legte ihre kalte Wange darauf. Er blickte stumm auf sie nieder; eine schwere Thräne fiel aus seinem Auge, auf des Mädchens lockiges Haar.

„Du hast mich bezwungen,“ sagte er nach kurzer, banger Pause. „Nicht um solchen Preis darf ich Frieden begehren – Dein Wille geschehe!“

Leise, wie ein Lufthauch, streiften ihre Lippen die Hand, dann richtete sie sich auf, das zarte, durchgeistigte Gesicht ganz mit Thränen bethaut. „Lebe wohl!“ sagte sie leise, „für immer lebe wohl!“

Er schloß sie einen Moment schweigend in die Arme, ohne sie mit den Lippen zu berühren. Als er sie freigelassen, wandte er sich in raschem Impulse seinem Schreibtische zu.

„Nimm ein Gedenken an diese Stunde, nimm dies!“ sagte er hastig und ließ, was er aus einem Fache des Pultes genommen, in ihre Hand gleiten. Namenloses Leiden wühlte in des Mannes stolzen Zügen, als ihm das Wort aus der Seele brach: „Das Leben für sein Liebstes hingeben ist ja nichts, ist ja süß. Ich schenke Dir mehr als dies, Kind: ich schenke Dir meinen Tod.“

In Paula’s Hand lag eine schwarze Kugel.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Ein theatralisches Fest des Vereins „Berliner Presse“. (Mit Abbildung S. 313.) Daß rüstiges künstlerisches Streben auch unter ungünstigen Verhältnissen oft das Ziel nicht verfehlt, das hat die am 7. April dieses Jahres im Berliner „Nationaltheater“ stattgehabte Festvorstellung von Shakespeare's „Wintermärchen“, deren Schlußscene unsere heutige Abbildung vorführt, auf’s Neue dargethan. Der Schriftstellerverein „Berliner Presse“ hatte längst ein Gesammtgastspiel unserer ersten schauspielerischen Kräfte geplant, um zu zeigen, was die heutige deutsche Bühnenkunst in ihren idealen Vertretern zu leisten vermag. Aber kein Erfolg ohne Mühe und Arbeit! Die Auswahl des geeigneten classischen Stückes, die Herbeischaffung der angemessenen Musterdarsteller mitten in der Saison, wo jeder Künstler den Pflichten seines Engagements zu genügen hat, die Herstellung eines tadellosen Ensembles aus diesen von Nord und Süd herbeigerufenen und daher nicht mit einander eingespielten Künstlern – alle diese und noch manche andere Hindernisse repräsentiren eine Summe von Schwierigkeiten, welche nur da überwunden werden kann, wo ein so kunstverständiger und intelligenter Unternehmer an der Spitze steht, wie der genannte Berliner Schriftstellerverein, und wo die ausübenden Kräfte den geistigen Kern der gegenwärtigen deutschen Bühnenkunst repräsentiren, wie hier.

Die Aufführung bot ein glänzendes Resultat. Fräulein Ellmenreich vom Stadttheater zu Hamburg als Hermione, Herr Ludwig Barnay als Leontes und Herr Karl Mittell als Polyxenes waren die Hauptträger des Stückes, an welche sich in den Vertretern der kleinen und kleinsten Partien eine geschlossene Phalanx von Künstlern anschloß, die bis in’s Einzelne hinein ihre Aufgabe geistig durchdrungen und innerlich verarbeitet hatten. Die treffliche Regie des Herrn Director Robert Buchholz vom Nationaltheater, unterstützt durch die Namczinowsky’schen Decorationen und die nach Döbler’schen Figuren angefertigten Costüme, löste ihre Aufgabe mit Geschmack und Umsicht.

Mit der Wahl des Shakespeare’schen „Wintermärchens“, dem ein schwungvoller Prolog, gedichtet von Albert Traeger, gesprochen von Herrn Director Hahn, voranging, muß wohl jeder kundige Beurtheiler, im Hinblick auf den Zweck der Vorstellung, sich einverstanden erklären. Wenige unserer classischen Bühnendichtungen dürften darstellenden Künstlern von dem Range der hier versammelt gewesenen eine schönere Aufgabe zur Verwirklichung idealer Intentionen bieten, als eben diese – wohl letzte – Dichtung des Sängers von Stratford.

Die warme Zustimmung des Publikums erschien als eine durchaus gerechtfertigte – als eine besonders werthvolle aber mußte sie deshalb betrachtet werden, weil dieses Publicum, abgesehen von der Anwesenheit des Hofes, sich aus den vornehmsten Vertretern der Wissenschaft und der Kunst, der Literatur und der Presse zusammensetzte. Die schnell vorüberrauschenden Hervorbringungen des Abends bedeuteten mehr, als einen flüchtigen Erfolg. Sie waren eine Kundgebung dessen, was künstlerischer Unternehmungsgeist im Bunde mit auserwählten Talenten auch heute noch zu leisten vermag.




Aus dem Zillerthal. (Mit Portraits Seite 320 und 321.) Die Zillerthaler nehmen es Keinem übel, der sie für Zugvögel erklärt, schon um ihres Gesangs willen, mit dem sie draußen in der Welt ihrem Ländel einen so hellen, heiteren Ruf verschafft haben. Viele tragen auch ihr Kistchen voll Handschuhe auf der Kracksen durch manches Reich. Und die Meisten haben Glück, das so oft der Schönheit Erbtheil ist. Schöne Männer, schöne Frauen, eine in Anmuth und Kraft blühende Jugend, deren Anblick eine Reise werth ist, zeichnen dieses Gebirgsvölkchen aus. Ein hübsches Gesicht ist, nach Goethe, der beste Empfehlungsbrief, und wenn, wie dies im Zillerthal häufig vorkommt, ein Schatten von Melancholie über den schönen Zügen liegt, so können sie, je nachdem, für „Manderl“ oder für „Weiberl“, ganz bezaubernd wirken. Besonders zeigt das weibliche Geschlecht viel junonische Gestalten und Schönheiten, und daß Solche als Sängerinnen erst recht vom Glücke sanft durch das Leben getragen werden, ist kein Wunder. Dennoch will L. Steub, der sinnige Drei-Sommer-Gast Tirols, ganz hübsche Mädchen gesehen haben, die im Winter als Primadonnen in Concertsälen nordischer Hauptstädte im Hermelin geglänzt und dann wieder im Sommer am Zillerbache Kartoffeln ausgegraben haben. Da hat’s wohl an der Stimme gelegen, oder an der Unverträglichkeit, oder auch am Heimweh, gegen das kein anderes Kraut gewachsen ist, als die Heimkehr in die geliebten Berge. Viele aber haben Glück; daß auch manches ansehnliche Vermögen draußen ersungen und seit des Vaters Rainer erster Sängerzeit in’s Zillerthal von Familien und Einzelnen heimgetragen worden, dafür spricht das Thal selbst am lautesten.

Daß auch Race in dem Geschlecht ist, haben jene Zillerthaler des Jahres 1838 bewiesen, welche, 399 Männer, Frauen und Kinder stark, ihre Alpenheimath verließen, um den religiösen Glauben, den sie sich nach der Bibel gebildet hatten, von Jesuiten- und Pfaffenbedrängniß frei leben zu können. Sie und ihre Nachkommen haben bekanntlich in Schlesien eine neue Heimath gefunden und dort drei Colonien, Hoch-, Mittel- und Nieder-Zillerthal gegründet.

Diesen gehören die in unserer heutigen Nummer abgebildeten Zillerthaler nicht an; sie sind daheim geblieben und haben die Altzillerthaler Art so treu bewahrt, daß unser Künstler nicht umhin konnte, sie sich zum Andenken im Bilde mitzunehmen.




Erledigt. Die auf Veranlassung der „Direction der hessischen Ludwigs-Eisenbahn in Mainz“ von uns in Nr. 16 veröffentlichte Nachfrage nach dem unbekannten Eigenthümer des im Mainzer Bahnhofe liegen gebliebenen Ringes und Geldes hat sich bereits erledigt. Eine in Amerika (in Cincinnati) verheirathete Frau hat auf der Besuchsreise zu ihren Verwandten in Emmendingen in Baden den bezeichneten Verlust gehabt und in Köln vergebliche Nachforschungen danach angestellt. Durch die „Gartenlaube“ auf die richtige Spur gebracht, hat die Frau bereits ihre Ansprüche in Mainz angemeldet, wie uns aus Emmendingen freundlich mitgetheilt wird.




Erklärung. Das in Nr. 273 der „Anzeigen zur Gartenlaube“ (Beilage zu unserer Nr. 15) angekündigte englische Prämienbild „The Entanglement“ ist mehrfach als eine Prämie zu unserem Blatte aufgefaßt worden. Dieser irrthümlichen Annahme gegenüber erklären wir wiederholt, daß die „Gartenlaube“ Prämien weder jemals ausgeboten hat, noch in Zukunft ausbieten wird, und daß eine Anpreisung des uns völlig unbekannten Bildes uns daher gänzlich fern lag.

Bei dieser Gelegenheit möge noch einmal darauf hingewiesen werden, daß alle der „Gartenlaube“ beiliegenden Anzeigen, Prospecte und sonstigen Reclamen in keinem inneren Zusammenhange mit unserem Blatte stehen und daß die Redaction am wenigsten damit eine Empfehlung der angezeigten Objecte verbinden will.
Die Red.




Zur Kriegschronik. Anknüpfend an den Avis am Fuße unserer Nr. 18 müssen wir die dort gemachte Mittheilung leider dahin ergänzen, daß in Folge der zeitraubenden Herstellungsweise der „Gartenlaube“ eine von uns schon damals intendirte Karte des Kriegsschauplatzes nicht so früh erscheinen kann, wie wir anfänglich gehofft. Da der Krieg sich vorläufig noch nicht völlig localisirt hat und eine abgrenzende Uebersicht des Schauplatzes bisher auch kaum möglich geworden, dürften unsere Leser eine Karte bis zur Stunde wohl nicht allzu empfindlich vermißt haben.

D. Red.




Berichtigung. Lies in Nr. 17 auf S. 291, Z. 3 der Blätter und Blüthen statt obersteierische „untersteierische Veste“.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig.– Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ewas