Die Gartenlaube (1877)/Heft 41

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 41.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Junker Paul.
Erzählung von Hans Warring.
(Fortsetzung.)


Das Gespräch hatte hiermit ein Ende. Marie hörte, wie die schweren Schritte im Hausflur verhallten und wie die Hausthür in’s Schloß fiel. Sie sah, wie ihr Bruder sich zum Ausgehen bereit machte. Hatten die eben gehörten Worte schon ihre Unruhe vermehrt, so steigerte sich diese jetzt bis zu einer herzbeklemmenden Angst, als sie wahrnahm, wie Max raschen Schrittes in sein Schlafcabinet trat und sich an dem Schranke zu schaffen machte, in welchem er seine Waffen aufbewahrte. Als er in sein Wohnzimmer zurückkam, hatte er einen Gegenstand in der Hand, welchen er in seiner Brusttasche verbarg. Dann nahm er seinen Hut und wandte sich der Thür zu. Hier aber stieß er auf seine Schwester, die sich ihm angstvoll in den Weg warf.

„Geh’ nicht, Max!“ rief sie seinen Arm ergreifend, „ich weiß, daß Du einer Gefahr entgegengehst.“

„Thorheit, Kind! Beunruhige Dich nicht unnützer Weise! Ich gebe Dir die Versicherung, daß ich selbst an keine Gefahr glaube.“

„Weshalb hast Du denn einen Revolver zu Dir gesteckt?“

„Um für alle Fälle gesichert zu sein. Ein Mann ist stets in einer schmachvollen, unwürdigen Lage, wenn er wehrlos einer Gefahr gegenübersteht.“

„Wenn eine solche möglich ist, solltest Du Dich ihr nicht aussetzen. – Bedenke, was für uns Alle auf dem Spiele steht!“

„Ich wiederhole Dir, Marie, Du kannst meinetwegen außer Sorgen sein. Man bedroht nicht meine Person. Wenn von einer Gefahr die Rede sein kann, so sind es meine neuen Maschinen, die einer solchen ausgesetzt sind. Ich habe Jantzen nach dem Bahnhofe geschickt, sie zu holen, und war eben im Begriff, ihm entgegenzugehen. Seine Rückkehr hat sich so lange verzögert, daß ich fürchte, ihm ist ein Unfall zugestoßen.“

„Weshalb hast Du mir ein Geheimniß daraus gemacht? Du pflegst doch sonst Deine Angelegenheiten mit mit zu besprechen. – Aber ich ahne, Max, daß gerade die neuen Maschinen den Ausbruch beschleunigen werden – konntest Du damit nicht warten, bis die Gemüther sich etwas beruhigt hatten? Du weißt, wie mißtrauisch die Leute gegen jede Neuerung sind.“

„Ich kann es nicht ändern,“ entgegnete er. „Bin ich in der Lage warten zu können? Mir bleibt keine Wahl. Entweder ich gehe energisch vor, oder ich bin zu Grunde gerichtet. – Die neuen Maschinen sind der Art construirt, daß sie einen Theil der Arbeiter entbehrlich machen. Ich kenne die Rädelsführer – und sobald die neuen Stühle im Gange sind, sollen jene fort zum warnenden Beispiel für die Anderen. Dieser Schlag, wenn er anders von Wirkung sein soll, muß sie unvorbereitet treffen, und daher habe ich zu Niemand von dem Projecte gesprochen, selbst zu Dir nicht. Auch Kramer und Jantzen haben bis heute Morgen Nichts davon gewußt. Du siehst, ich hatte meine Gründe, so geheim zu handeln. Doch jetzt lebe wohl! In einer halben Stunde bin ich wieder bei Dir.“

Er war gegangen, ehe sie es hatte verhindern können. Draußen hörte sie seinen festen Schritt auf den Steinplatten des Vorhofes. Sie sah ihn durch die kleine Gitterpforte auf die Landstraße treten und rasch vorwärts schreiten. Mit bangem Herzklopfen blickte sie ihm nach, bis seine Gestalt im Abendnebel verschwand.

Der Damm war etwa eine Viertelmeile von den Fabrikgebäuden entfernt. Ein Gebüsch, das hoch und dicht genug war, um zu einem Verstecke benutzt zu werden, faßte ihn auf beiden Seiten ein. Außer dieser einen Stelle gab es keine zweite auf dem ganzen Wege nach Elmsleben, die zu einem Hinterhalte hätte dienen können. Wenn Gefahr vorhanden war, so konnte sie nur dort drohen – das erkannte Max wohl. Rüstig schritt er vorwärts. Auf dem Wege, soweit er ihn bei der dunkeln, nebeligen Atmosphäre überblicken konnte, regte sich Nichts. Auch in den Arbeiterwohnungen, die links vom Wege, etwa einen Steinwurf von der Fabrik entfernt lagen, und auf welche er im Vorübergehen einen scharfen Blick warf, war Alles ruhig. Die Feuer brannten in den Kaminen wie gewöhnlich, und er sah die Frauen mit der Bereitung des Abendessens beschäftigt. Sollte seine Unruhe und Sorge unnütz gewesen sein? War dies der Fall, so mußte er bei dem windstillen Abend das Geräusch der Räder und den schweren Tritt der Pferde schon aus einiger Entfernung hören. Er blieb stehen, um zu lauschen, aber Nichts ließ sich vernehmen. Er war dem Damme mittlerweile so nahe gekommen, daß er trotz Dunkelheit und Nebel den Weg bis zu dem Punkte, wo er im Gebüsche verschwand, überblicken konnte. Nichts war auf demselben sichtbar. Etwa nach fünf Minuten ging er mit unverminderter Schnelligkeit weiter – dann machte er plötzlich Halt. Es war ein Ton zu ihm gedrungen, der ihn stille stehen und aufhorchen machte. Ihm war's, als hätte er den Schall von schweren, gewaltigen Schlägen gehört, der durch die feuchte Luft nur dumpf vernehmbar war. Nur einmal ließ sich dieser Ton hören; er wiederholte sich nicht, so oft Max auch lauschend stille stehen mochte. Einmal meinte er noch, nebelhafte Gestalten links vom Wege den Bergabhang hinab gleiten zu sehen, aber er konnte sich geirrt haben. War doch der Nebel so dicht geworden, daß man kaum zwanzig Schritte voraussehen konnte.

Als er den Damm erreicht hatte, hielt er einen Augenblick [682] an und nahm den Revolver aus der Tasche; dann schritt er wieder vorwärts. Max war ein muthiger Mann, der schon mancher Gefahr tapfer in’s Gesicht geschaut hatte, aber er verhehlte es sich nicht, daß seine Lage in diesem Augenblicke eine sehr bedenkliche war. Einem Feinde Auge in Auge gegenüberstehen, sich mannhaft wehren bei offenem Angriffe, darauf war er jederzeit vorbereitet. Aber hier aus dem Hinterhalte heraus von einer Kugel getroffen werden, vielleicht verwundet und hülflos einer gereizten rachedürstenden Horde in die Hände fallen – dieser Gedanke machte ihn schaudern. Nur die äußerste Wachsamkeit konnte ihn schützen. Langsam, Schritt vor Schritt ging er vorwärts, mit scharfem Blicke das Gebüsche rechts und links vom Wege durchspähend. Aber Nichts regte sich in den Büschen; kein Ton war vernehmbar. So mochte er etwa zehn Minuten gegangen sein, als aus dem Nebel vor ihm ein Gegenstand auftauchte, der sich langsam an der Grabenböschung hin bewegte. Im Näherkommen gewahrte er, daß es ein Pferd war, das friedlich das Gras am Wegrande abfraß.

Jetzt war es unzweifelhaft, daß ein Unglück geschehen war, denn er erkannte einen seiner Braunen, der, des Zaumzeugs ledig, mit nachschleifenden Strängen, die man augenscheinlich zerschnitten hatte, ihn mit leisem Wiehern begrüßte. Das Thier hielt sich dicht an seiner Seite, als er jetzt rascher vorwärts schritt. Es dauerte übrigens nur noch wenige Minuten, bis er erkannte, was geschehen war. Man mußte auf irgend eine Art Kunde erhalten haben von dem, was im Werke war. Man hatte den Wagen überfallen und die Maschinen zertrümmert.




4.

Erst am nächsten Morgen, als die Geschwister sich beim Frühstücke trafen, erzählte Max ausführlicher von den Erlebnissen des letzten Abends, von denen er gestern nur einen kurzen, flüchtigen Bericht gegeben hatte. Beide hatten die Nacht sehr wenig geschlafen. Sie hatten einen Theil derselben am Lager des armen Jantzen zugebracht, den sein Herr besinnungslos neben einem der Wagen hingestreckt gefunden und der erst gegen Morgen unter den Händen des herbeigerufenen Arztes sein Bewußtsein wieder erlangt hatte. Anfangs war er nicht im Stande gewesen, die an ihn gerichteten Fragen über das Geschehene zu beantworten; erst nach und nach hatte sich die Erinnerung bei ihm wieder eingestellt. Und anfangs in wirren Worten, allmählich aber mit größerer Klarheit hatte er einen Bericht gegeben von den Einzelheiten des Ueberfalls. Er hatte ausgesagt, daß er von Männern – er konnte die Zahl derselben nicht genau angeben, schätzte sie aber auf vier oder fünf – welche, um sich unkenntlich zu machen, ihre Gesichter geschwärzt hatten, überfallen und nach kurzem Kampfe besinnungslos niedergestreckt worden sei. Der Führer des zweiten Wagens, den er in Elmsleben gedungen, hatte sich mit seinen Pferden sogleich aus dem Staube gemacht, den Wagen und die Ladung in den Händen der Angreifer zurücklassend.

„Der arme Bursche ist übel zugerichtet,“ sagte Max im Verlaufe seiner Erzählung, „doch giebt der Doctor Hoffnung, ihn in einer oder zwei Wochen wieder auf die Beine zu bringen. Er muß sich wie ein Löwe gewehrt haben, ehe es ihnen gelungen ist, ihn zu Boden zu strecken. Wenigstens legte das Fragment seines schweren Peitschenstiels, das er noch mit krampfhaft festem Griffe gefaßt hielt, als ich ihn fand, Zeugniß von der Wucht der Hiebe ab, die er ausgetheilt. Wer weiß, ob wir nicht durch irgend ein Kennzeichen, das seine Hand den Uebelthätern aufgedrückt, einen Fingerzeig gewinnen werden, wo wir dieselben zu suchen haben.“

„Und wenn Du sie wirklich ausfindig machtest, Deine Maschinen sind doch unrettbar verloren,“ sagte Marie kummervoll. „Und das Böseste ist, daß nach der ersten Gewaltthat jede Sicherheit für uns aufhört. Was einmal geschehen ist, kann und wird sich öfter wiederholen. Wir müssen jetzt auf Alles, auch auf das Aergste, gefaßt sein.

„Nicht, wenn es uns gelingt, die Verbrecher zu ermitteln und dingfest zu machen,“ entgegnete Max. „Das Gesetz ahndet einen derartigen Act brutaler Gewaltthätigkeit mit schwerer Strafe. Wenn ein paar der ärgsten Schreier hart dadurch getroffen werden, so werden die anderen bei Zeiten zu Ruhe, Ordnung und Gesetzlichkeit zurückkehren. Ich werde gleich nach dem Frühstück nach Elmsleben reiten, um Anzeige zu machen und strenge Untersuchung des Geschehenen zu beantragen.“

„Max, laß die Sache ruhen! Durch Dein strenges Vorgehen wirst Du die Gemüther nur noch mehr erbittern.“

„Kannst Du wirklich im Ernste dieses Verlangen an mich stellen, Kind?“ rief er im Tone vorwurfsvollen Erstaunens. „Ich erkenne in Dir kaum mehr meine tapfere, kleine Schwester von ehemals. Hebe den Kopf hoch, Kind! Wir sind in unserem Rechte; Gesetz und Billigkeit sind für uns. Es wäre Schwäche, sich durch widrige Verhältnisse, die sich in Kurzem besser gestalten werden, niederbeugen zu lassen.“

„Ich wünschte, Max, Du könntest die Fabrik verkaufen. Ich sehe hier kein Heil für uns. – O, wenn wir doch zusammen wieder in die Heimath ziehen könnten!“

„Jetzt möchte ich das nicht, selbst wenn ich es ohne Verlust könnte,“ entgegnete er fest. „Ich sollte die Flucht ergreifen, feige das Angefangene im Stiche lassen, weil sich mir Schwierigkeiten in den Weg stellen? Gerade das ist mir der höchste Sporn. Alle meine Kräfte werde ich aufbieten, sie zu überwinden. Du weißt, ich bin eine zähe Natur; wenn jemals, so will ich das jetzt beweisen. Nicht um Fingerbreite gehe ich von meinem Rechte ab; bis zum Aeußersten will ich mich bemühen, daß jede ungesetzliche Handlung unnachsichtig bestraft werde. Sie sollen es schnell genug einsehen, daß sie sich selbst, nicht mich verderben.“

Er hatte seine Mahlzeit beendet und war aufgestanden, als er so sprach. Sie blickte zu ihm auf und gewahrte auf seinem Gesichte den Ausdruck fester Entschlossenheit und selbstbewußter, gesammelter Kraft. Zwar hatten die letzten Wochen Linien der Sorge auf seine ernste, gebietende Stirn gegraben, zwar hatte sein dunkles Haar in letzter Zeit begonnen, an den Schläfen einen leisen silbernen Schimmer anzunehmen, allein fest und ungebeugt stand er da, eine Stütze im Sturm, an welche sie sich – das fühlte sie – mit Zuversicht und Vertrauen lehnen konnte. Auch sie war aufgestanden und an seine Seite getreten. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und hielt sich mit beiden Händen an seinem Arme fest in einem Gefühle der Schutzbedürftigkeit, das sie noch selten so stark überkommen hatte.

„Wirst Du es überstehen können?“ fragte sie leise. „Jeden Verlust, den Du erleidest, fühle ich mit einer herzbeklemmenden Angst und Pein. Bei jedem neuen Schlage denke ich: nun ist’s zu Ende – das wirft ihn unrettbar zu Boden. Sage mir, Max, ist Dir durch die Zerstörung der Maschinen ein großer Schaden zugefügt worden?“

„Allerdings ist er nicht klein, aber ich werde ihn überstehen,“ antwortete er ruhig. „Mir kommt es zu statten, daß meine beiden Hauptgläubiger ein guter Freund und eine treue Schwester sind. Kayser – Du darfst nicht die Schultern über ihn zucken, wenn er auch zu Zeiten gegen die gefällige, gesellschaftliche Form verstößt – hat mir schon mehr als einmal Beweise seiner großmüthigen, aufrichtigen Freundschaft gegeben. Das berechtigt mich zu der Hoffnung, daß er Geduld üben wird, wenn ich deren bedürfen sollte. Und Du, Marie! Wahrlich ich wäre ein undankbarer Thor, wenn ich pessimistisch in die Welt schauen wollte. Wer eine solche Schwester, so unwandelbare Güte, so goldtreue Liebe sein nennt, wie Du sie mir stets bewiesen, der würde sich einer sündigen Verzagtheit schuldig machen, wenn er nicht an das überwiegend Gute und Schöne im Leben glauben sollte, auch wenn einmal dunkle Wolken sich um ihn zusammenziehen.“

Er hatte mit einer Innigkeit gesprochen, die seinem ruhigen, kühlen Wesen sonst fremd war. Es war selten, daß dergleichen Worte zwischen den Geschwistern gewechselt wurden. Sie wußten, daß sie in jeder Lebenslage auf einander rechnen konnten, aber zärtliche Worte pflegten sie nicht auszutauschen. „Thaten, nicht Worte!“ – lautete Max’ Wahlspruch, und Marie wußte, daß er demselben gemäß handelte.

„Was Du sagst, klingt beruhigend,“ erwiderte sie, „aber dennoch werde ich einer bangen Furcht nicht Herr. Ich kann kaum an Deine ruhige Zuversicht glauben und fürchte, daß Du, um mich zu schonen, mir den Stand der Angelegenheiten verbirgst.“

„Ich wäre leichtsinnig, wenn ich die schwere Verantwortlichkeit meiner Lage nicht mit Sorge empfände, wenn ich auch nur einen Augenblick vergäße, was für uns Alle auf dem Spiele steht,“ entgegnete er. „Glaubst Du, daß es ein Kleines ist, zu [683] wissen, daß mit meinem Fall auch Dein Vermögen unrettbar verloren ist? Aber blicke mir in die Augen, Marie! Sie werden Dir sagen, daß ich nicht lüge, wenn ich Dir die Versicherung gebe: noch darf ich die Hoffnung auf ein glückliches Ende nicht aufgeben. – Sieh, so gänzlich wie jetzt kann der Handel nicht lange darniederliegen; es müssen bessere Zeiten kommen. Die Chancen stehen so, daß ich in einigen Jahren ein wohlhabender, ja ein reicher Mann sein kann – das heißt, wenn sich die Geschäfte heben und ich Gelegenheit zum Absatz für meine Tuche finde. Bis dies geschieht, ist meine Lage allerdings gefährlich, ja ich will es Dir nicht verhehlen: so gefährlich, daß selbst schon das Herausziehen einer geringfügigen Summe aus meinem Geschäfte meinen Sturz herbeiführen würde. Du weißt aber, daß ich dieses Unheil nicht zu fürchten habe. Sei also guten Muthes! Wenn ich zurückkomme, hoffe ich meine muthige, tapfere Schwester wiederzufinden.“

Mit einem warmen Händedrucke verließ er sie. Draußen vor der Treppe wartete schon sein Pferd, das ihn nach Elmsleben tragen sollte. Er war eben im Begriffe, es zu besteigen, als er Kayser eilig die Straße entlang kommen und ihm schon von weitem zuwinken sah.

„Gott sei Dank, daß Sie gesund und wohl sind!“ sagte er, als Max neben ihm an der Gartenmauer auf und nieder schritt. „Nach den Gerüchten, die heute über Sie coursiren, konnte ich dies kaum hoffen. Ich hörte, man hätte Sie schwer verwundet und bewußtlos auf dem Damm gefunden.“

„Das ganze Unglück reducirt sich auf einige zertrümmerte Maschinen und auf die Beulen, die der arme Jantzen davongetragen hat. Sie sehen, ich bin frisch und gesund und eben im Begriffe nach Elmsleben zu reiten, um mir telegraphisch eine zweite Sendung Maschinen zu bestellen.“

„Solche Neuerungen einzuführen, jetzt, wo irgend eine Kleinigkeit einen offenen Ausbruch veranlassen kann!“

„Man hat mir gedroht, die Arbeiten einzustellen. Sie müssen doch einsehen, daß ich mich von der Willkür meiner Arbeiter unabhängig machen muß. Aber brechen wir von diesem Thema ab – wir werden uns darüber doch nie verständigen.“

„Das glaube ich auch – indessen hören Sie, was ich Ihnen jetzt sagen werde! Sie, bei Ihrer Persönlichkeit, haben Chancen für sich, die, wenn Sie dieselben klug benutzen, Sie mit einem Schlage aller Sorge entheben werden. Ich habe immer die Bemerkung gemacht, daß solche langbeinige, breitschulterige Bursche, noch dazu wenn sie so steifnackig sind und so gleichgültig drein schauen, alle Weiber wie am Schnürchen hinter sich herziehen.“

„Lassen Sie mich in Ruhe! Die Zeiten sind auch danach angethan, an solche Thorheiten zu denken!“ entgegnete Max ungeduldig und wollte sein Pferd besteigen.

„Nun,“ fuhr Kayser fort, „thun Sie die Augen auf! Wenn Sie der gescheidte Bursche sind, für den ich Sie halte, so werden Sie mich verstehen. Ich setze natürlich voraus, daß Sie die Zeiten der Jugendthorheiten, wo man an Liebe, Sympathie und ein vollkommenes Glück in der Ehe glaubt, bereits hinter sich haben.“

„Sie haben Recht; mit meinen dreiunddreißig Jahren habe ich genug von der Welt gesehen, um an nichts Vollkommenes mehr zu glauben.“

„Gut! Und wenn Sie diese Ihre Erfahrung vor allen Dingen auf die Frauen anwenden, so wird Sie das vor allen Illusionen bewahren. Je weniger Sie deren aber in die Ehe mitbringen, desto besser für Sie!“

„Wenn Sie, wie ich dunkel ahne, die Absicht haben, mich zu verheirathen, so schlagen Sie einen ganz absonderlichen Weg ein,“ sagte Reinhard lächelnd. „Aber jetzt muß ich reiten.“

„Noch Eines! Wahrheit ist immer gut, lieber Freund. Und deshalb will ich Ihnen reinen Wein einschenken, und zwar auf dem Gebiete, wo Ihnen eine klare Einsicht am meisten noththut. Also: ein hübsches Gut, das eine Familie nicht allein anständig, sondern luxuriös nähren kann, und hunderttausend Thaler Baarvermögen, nicht zu gedenken der Ersparnisse, die während ihrer Minderjährigkeit gemacht worden sind –“

„Ein niedliches Vermögen,“ sagte Reinhard, „– wenn es aber das Einzige ist, was Sie mir zu rühmen wissen, so –“

„Pah,“ unterbrach ihn Kayser, „die Mitgift ist das einzige Werthvolle, das Sie durch eine Heirath erlangen können. Wählen Sie nie eine anerkannte Schönheit, auch wenn sie Ihnen noch so anmuthig, liebreizend, und wie der Unsinn sonst heißen mag, erscheint! Sie bezahlen das unfehlbar mit Täuschung und Herzeleid.“

„Ob sie Anderen für schön gilt, das sollte mir gleichgültig sein – aber das weiß ich: sie müßte meinen Augen gefallen. Jung, frisch, sanft und lieblich müßte sie sein. Nach dem lächelnden Willkommensgruße ihres Mundes müßte ich mich sehnen, wenn ich fern von ihr bin; meinen Sinnen und meinem Herzen müßte ihre Nähe wohlthun.“

„Sie thun mir leid, mein Junge.“

„Eine Frau heirathen, für welche Nichts in mir spricht, zu welcher kein Gefühl der Sympathie mich hinzieht – das könnte ich nicht, auch wenn ihr Vermögen mich vom finanziellen Ruin rettete.“

„Nun, ich verlange ja vorläufig Nichts von Ihnen, als daß Sie sehen und prüfen,“ rief Kayser ungeduldig. „Ich bilde mir ein, daß gerade Sie der geeignete Mann sind, in der Ehe manche Uebelstände abzustellen, manche Ecken abzuschleifen. Sie sehen aus, als ob Sie selbst des Teufels Großmutter zu einer fügsamen Frau machen könnten.“

„Bin ich ein Schulmeister? Lassen Sie mich reiten, Kayser – ich will keine Frau, bei der es Uebelstände und Ecken giebt.“

„Aber so hören Sie doch, Sie eigensinniger Bursche! Ich kann kein Wort sprechen, das Sie nicht mißdeuten. – Vielleicht ist sie nicht ganz das Genre, das Sie sich zu Ihrem Ideal erkoren haben, vielleicht etwas querköpfig, etwas hitzig, etwas launenhaft. Aber im Grunde ist sie doch ein gutes Kind, und wenn sie einen Mann fände, der es verstände, ihr den Daumen auf’s Auge zu drücken –“

„Ich muß nach Elmsleben, Kayser. Leben Sie wohl! Ich habe keine Zeit zu verlieren.“

„So reiten Sie zum Teufel, Sie undankbarer Bursche! Ich werde meinen Kopf nie wieder mit Ihren Angelegenheiten beschweren.“

Max bestieg lachend sein Pferd und ritt die Straße nach der Stadt entlang, während Kayser brummend die Stufen der Freitreppe erstieg. Oben angelangt, blieb er stehen, um mit seinem Taschentuche sich den Staub von den Stiefeln zu klopfen. Dann streckte er seine stattliche Gestalt zu ihrer vollen Höhe empor, rückte seine Weste zurecht und setzte den blanken Klingelgriff in Bewegung.




5.

Es vergingen nur wenige Minuten, bis Herrn Kayser geöffnet wurde, aber die Zeit reichte doch hin, eine Wandlung in seiner Stimmung hervorzubringen. Der halb wirklich empfundene, halb nur erheuchelte Unwille über Max’s Weigerung verflog und machte einer leichten Beklommenheit Platz. Er fragte sich, wie ihn Marie nach dem Scharmützel des gestrigen Abends heute empfangen würde. Er wußte, daß sie Ausfälle gegen ihr Geschlecht nicht leicht vergab, und hatte schon die Erfahrung gemacht, daß sie ihn tagelang sehr kühl behandelt hatte, ja, daß sie nach solchen Scenen längere Zeit hindurch ganz unsichtbar geblieben war. Und doch war es ihm heute mehr als je darum zu thun, Frieden mit ihr zu machen.

Er hatte heute ein Anliegen an sie, für welches er nicht nur eine Gewährung – er war im Grunde überzeugt, eine solche zu finden – sondern auch ein freudiges, herzliches, rückhaltloses Entgegenkommen wünschte. Er mußte sich also – das sah er ein – zu einer kleinen Entschuldigung bequemen, die ihm um so schwerer wurde, als er seit manchem Jahre nur mit Personen in untergeordneter Stellung in näherem Verkehr gestanden hatte, für die sein Wille Gesetz und seine Laune ein unabänderliches Fatum gewesen war. Aber er war entschlossen, sich in diesem Falle einen kleinen Zwang aufzulegen, denn nicht allein, daß für ihn selbst die Geschwister Reinhard der nächste, liebste und angenehmste Umgang waren – auch für seine junge Nichte, die gestern Abend angekommen war, wünschte er eine nähere Bekanntschaft mit Marie anzubahnen. Sie sollte – so wünschte er – dem jungen Mädchen freundlich entgegenkommen. Er machte es sich nicht klar, daß in diesem Wunsche bereits eine Inconsequenz lag. Erst vor wenigen Tagen hatte er ihr geschrieben und in ihr Kommen nur unter der Bedingung gewilligt, daß sie auf jeden Umgang und jede Zerstreuung verzichte [684] und die ihm zum Bedürfniß gewordene Ruhe seines Haushaltes in keiner Weise störe. Noch bis gestern hatte der Entschluß fest in ihm gestanden, das junge Mädchen lediglich auf den Verkehr mit seiner alten Haushälterin als der für ihre körperliche Pflege geeignetsten Person zu beschränken. Seitdem aber war ihm doch ein Bedenken aufgestiegen, ob dieser Entschluß durchführbar sein würde. Das junge Fräulein hatte bei aller Bescheidenheit ihres Auftretens ein Etwas in ihrem Wesen, welches Rücksicht verlangte, welches ihn gezwungen hatte, an seine hochgebildete Nachbarin als an einen passenden Umgang für sie zu denken.

So war es gekommen, daß er jetzt Mariens zierlichem Hausmädchen gegenüberstand, und auf ihre Weisung, er werde das Fräulein entweder im Garten oder im Saale finden, langsam in Reinhard’s Stube, die erste in der Reihe, eintrat. Er fand die Thür, welche zum Gartensaale führte, halb geöffnet, aber in beiden Zimmern war die Gesuchte nicht zu sehen. Als auch sein leises Klopfen keine Erwiderung fand, glaubte er sie im Garten suchen zu müssen, und hatte den Saal in dieser Absicht schon halb durchschritten, als er plötzlich stehen blieb. Ein kleines Zimmer neben dem Saale, das Marie als ihr ausschließliches Eigenthum betrachtete, wo sie malte, schrieb und dachte, war geöffnet, sodaß Kayser es von seinem Standpunkte aus überblicken konnte. Die Inhaberin hatte sich – so schien es wenigstens dem Beobachter – in Erinnerungen vertieft. Ein Kästchen, dem sie verschiedene Schmuckgegenstände entnommen hatte, stand neben ihr, und als ob[1] beim Anblicke dieser Dinge überstandene Schmerzen und Leiden noch einmal in ihr lebendig geworden waren, stand sie mit gesenktem Haupte da, beide Hände auf die Tischplatte gestützt; ihr ganzer Körper erbebte unter heftigem, aber lautlosem Weinen.

Es wäre für Kayser eine schwierige Aufgabe gewesen, von seinen Gefühlen bei diesem Anblicke Rechenschaft abzulegen. Das Erste, was ihn überkam, war ein unbegrenztes Staunen, hier, wo er stets eine unwandelbare, kühle Ruhe, eine gleichmäßige, nicht zu erschütternde Sammlung gefunden hatte, auf einen so leidenschaftlichen Schmerzausbruch zu stoßen. Mariens Gleichmuth hatte ihn oft geärgert und den Wunsch in ihm erzeugt, sie einmal außer Fassung zu sehen. Er hatte nie eine Gelegenheit, sie zu reizen, vorübergehen lassen, ohne doch jemals recht zu seinem Zwecke gelangt zu sein. Der Anblick, der sich ihm jetzt darbot, hätte ihn also eigentlich mit stiller Befriedigung erfüllen müssen – aber in dem tiefen und doch so tapfer getragenen Kummer des Mädchens lag etwas so Ergreifendes, daß eine derartige Empfindung nicht in ihm aufkam. Er fühlte im Gegentheil ein tiefes Mitleid, wie er sich dessen selbst kaum für fähig gehalten hatte. Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, wo er es gelernt, sich gegen Weiberthränen zu verhärten. Er hatte sie so oft und bei so geringfügigen Veranlassungen fließen gesehen, daß er sich für ganz und gar abgehärtet gegen sie gehalten hatte. Hier aber – das sah er – wurden sie um keines kleinen Kummers willen vergossen.

Einige Minuten lang stand er rathlos da. Dann kam ihm plötzlich die Erkenntniß, daß er Marie in dieser Situation nicht überraschen dürfe. Eben wollte er mit aller Vorsicht und Discretion seinen Rückzug bewerkstelligen, als Marie, durch ein leises Geräusch aufmerksam gemacht, sich umwandte und mit unverkennbarem Schrecken ihn erkannte. Sie faßte sich jedoch schnell, trocknete ihre Thränen und trat ihm einige Schritte entgegen. Sekundenlang standen sie sich schweigend gegenüber. Dann sagte Kayser mit einer Stimme, deren zarter, schüchterner Ton seinem eigenen Ohre fremd und überraschend klang:

„Verzeihen Sie, daß ich hier eingedrungen bin! Ich konnte nicht wissen, wie störend ich Ihnen komme. – Es war vornehmlich die Sorge um Ihren Bruder, die mich hergetrieben hat, und der Wunsch, ihm nützlich sein zu können in dem Ungemache, das ihn betroffen.“

„Wir Beide wissen Ihre uneigennützige Freundschaft wohl zu schätzen, Herr Kayser,“ sagte Marie mit etwas unsicherer Stimme.

„Ich wünschte, Sie gäben mir Gelegenheit, Ihnen dieselbe durch die That zu beweisen,“ entgegnete er, ohne sich von der Stelle zu bewegen. „Bei Ihrem Bruder wüßte ich allenfalls, wo ich anzugreifen habe, um ihm zu helfen – aber Ihnen, Fräulein Marie, Ihnen, die, wie ich fürchte, mit Schatten der Vergangenheit kämpft und die, wie der Augenschein lehrt“ – er deutete auf die Gegenstände, mit welchen Marie sich beschäftigt hatte – „an den Sorgen der Gegenwart nicht genug hat, sondern durch einen ganz unverzeihlichen Reliquiendienst schmerzlichsüße Erinnerungen vergangener Tage wieder lebendig zu machen scheint – Ihnen stehe ich ganz hülf- und rathlos gegenüber.“

Er hatte ruhig zu sprechen begonnen, aber im Verlaufe seiner Rede hatte sich seiner eine zornige Erregung bemächtigt. Ein eifersüchtiger Groll gegen den Gegenstand jener schmerzlich-süßen Erinnerungen, die er bei Marie voraussetzte, regte sich in seinem Herzen und vibrirte in seiner Stimme. Er schien plötzlich vergessen zu haben, daß er sich selbst als anspruchslosen, hülfsbereiten Freund angekündigt hatte – wie ein Beleidigter, fast wie ein Ankläger stand er ihr gegenüber.

„ Sie sind im Irrthume, mein Herr,“ sagte Marie, die sich durch seinen Zorn seltsam eingeschüchtert fühlte, „meine Thränen gelten keinem alten Kummer – es ist ein neuer, der mich heimgesucht hat!“

„Bezieht er sich auf Ihren Bruder, oder ist er etwa so zarter Natur, daß er mir nicht anvertraut werden kann?“ fragte er mit mißtrauischem Grollen.

In Marie wollte sich bei diesem rücksichtslosen Inquiriren ein Gefühl gekränkten Stolzes regen. Aber als sie ihn anblickte, lag auf seinem Gesichte so deutlich der Ausdruck gespannter Erwartung und fast ängstlicher Theilnahme, daß sie beschloß, ihm ihr Vertrauen zu schenken.

„Ich habe einen Brief von Richard, meinem jüngeren Bruder, erhalten,“ sagte sie, „einen Brief, der mich in große Angst und Sorge versetzt hat. Sie können es nicht wissen,“ fuhr sie fort, während ihre Stimme vor unterdrückter Bewegung zitterte und sich wieder Thränen in ihren Augen sammelten – „Sie können nicht wissen, welch ein Sorgenkind Richard seit seiner frühesten Kindheit für mich gewesen ist. Er ist mehrere Jahre jünger als ich, und da wir die Eltern frühe verloren, habe ich ihn groß gezogen und mehr wie eine Mutter, als wie eine Schwester für ihn gefühlt. – Wie stolz war ich auf ihn, als er zu einem schönen, kräftigen, lebensfrischen jungen Manne heranwuchs! Und wenn ich mit ihm über die Straße ging, und die Blicke aller Vorübergehenden bewundernd auf ihm ruhen sah, dann vergaß ich, daß meine eigene Jugend hinging, daß die Jahre, die ihn zum Ideal jugendlicher Mannesschönheit reiften, mich alt und einsam machten.“

Ihre Stimme brach in Schluchzen, und sie wandte sich ab und verhüllte ihr Gesicht. In Kayser’s Mienenspiel ging während dessen eine auffallende Veränderung vor. Je reichlicher Mariens Thränen flossen, desto mehr verschwanden die Wolken von seiner Stirn, und als ihre schmerzliche Bewegung sie am Weitersprechen hinderte, ging sogar ein Lächeln über sein Angesicht. Mit der Miene eines Mannes, der es sich behaglich und heimisch machen will, legte er Hut und Stock bei Seite und rieb sich vergnügt die Hände.

„So,“ sagte er, „jetzt bin ich auf dem Laufenden. Jetzt weiß ich, um was es sich handelt. – Mit der Gegenwart will ich einen Kampf aufnehmen, aber vor den Schemen der Vergangenheit hätte ich Reißaus genommen. Ihr Bruder ist Officier, hübsch, elegant, leichtlebig – wie? Er hat Schulden gemacht, flott gelebt, bis es nicht weiter ging – ist es so? Und nun soll die Schwester helfen oder es steht Cassation oder doch so Etwas zu erwarten – he?“

(Fortsetzung folgt.)




Jagden in der Steppe.
Von Brehm.


Seit einigen Tagen befanden wir uns in Semipalatinsk, der größten Steppen- und der Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements. Von Omsk an hatten wir die Steppe durchzogen, ohne eigentlich etwas von ihr zu sehen, ohne sie kennen zu lernen. Denn noch hatten wir das Thal ihres größten Flusses, des Irtisch – mit den Gewässern Westeuropas verglichen, eines gewaltigen Stromes – nicht verlassen. Jetzt rüsteten wir uns zur Steppenreise.

[685]

Ein Jurtenlager in der kirgisischen Steppe.
Nach Vorlagen von Brehm auf Holz gezeichnet von G. Mützel.

[686] Allerorten in Rußland und Sibirien[2] hatten wir bisher eine Aufnahme gefunden, welche uns ebenso überraschen wie beglücken mußte. Die zuvorkommende Liebenswürdigkeit und dem Herzen entstammende Gastlichkeit der Russen hatte uns die beschwerliche Reise in jeder Beziehung erleichtert. Wir waren mit schwerwiegenden Empfehlungen nach Rußland gekommen, aber auch von denen, welche die Bedeutung dieser Empfehlungen nicht zu würdigen wußten, in freundlichster Weise aufgenommen, bewirthet, unterwiesen und belehrt worden. Jedermann ohne Unterschied bestrebte sich, uns gefällig zu sein. Es war, als ob sich der Geringe wie der Vornehme bemühen müsse, uns zu zeigen, daß das Rußland von heute ein anderes sei, als es vor zwanzig, vielleicht vor zehn Jahren gewesen. Man hätte dieses Mühen sich sparen können: wir sahen selbst, welche ungeheuren Fortschritte nach jeder Richtung hin gewonnen worden waren und fortdauernd erstrebt werden. Aber es berührte mich angenehm, dieses allgemeine Bemühen wahrzunehmen, weil es die warme Vaterlandsliebe aller Russen und ihr ernstes Ringen nach der Bildungsstufe westeuropäischer Völker in unverkennbarer Weise darlegte. Wer unbefangen urtheilen will, wird zu ähnlichen Anschauungen gelangen, wenn er Rußland bereist.

Auch in Semipalatinsk empfing man uns mit derselben Freundlichkeit wie überall. Wir waren solchen Empfanges bereits gewohnt und in Folge dessen verwöhnt worden, sollten jedoch erfahren, daß alles bisher Erfahrene noch überboten werden könne. Kein Geringerer als der Gouverneur selbst, General von Poltorasky, übte hier die Gastfreundschaft gegen uns. Wir hatten bereits mancherlei von ihm vernommen. Man hatte ihn uns als kenntnißreichen Mann und trefflichen Gesellschafter gerühmt, und man hatte nicht zu viel, eher zu wenig gesagt. Was man uns aber nicht, mindestens nicht deutlich genug gesagt hatte, war, daß er eine ihm in jeder Beziehung ebenbürtige Gemahlin besaß, eine Frau, welche, selbst Künstlerin und Schriftstellerin, jeder ernsteren Bestrebung Theilnahme widmete und sie nach Kräften, unterstützte.

Beide wetteiferten, uns die Tage, welche wir in Semipalatinsk verlebten, zu lehr- und genußreichen zu gestalten. Was die einsame Stadt bieten konnte, wurde uns geboten, Menschen und Thiere uns zur Verfügung gestellt. Doch damit war weder der General noch seine Gemahlin zufrieden. In der Seele des Ersteren reifte der Entschluß, uns noch weit mehr zu zeigen, als die Stadt selbst aufweisen konnte. Wie groß der Antheil war, welchen die Frau Generalin an gedachtem Entschlusse hatte, will ich dahin gestellt sein lassen, so bestimmt ich auch der Meinung mich zuneige, daß wir ihr wenigstens den Keim dazu Verdankten. Der General erinnerte sich, von seinen Untergebenen, den Kirgisen, zu einer Jagd auf Archare, riesige Wildschafe, eingeladen worden zu sein, und beschloß jetzt, dieser Einladung Folge zu geben. Das Jagdgebiet, die Arkâtberge, war freilich hundertundsechszig Werst, etwas mehr als ebenso viel Kilometer, von Semipalatinsk entfernt, was aber fragt man in Sibirien nach solcher Strecke? Man feiert den Geburtstag eines Freundes, obwohl man, um zu ihm zu gelangen, das Doppelte durchreisen muß; man kommt zu Hochzeit und Taufe, und wenn man dreimal so weit zu fahren hätte. Die Jagd wurde beschlossen und alles Erforderliche sofort vorbereitet.

Ein Kreishauptmann mit den unvermeidlichen Kosaken reiste voraus, um den Kirgisenhäuptlingen, Gemeindevorstehern und Sultanen den Besuch des Gouverneurs anzusagen; andere Beamte folgten. Zwei Tage später verließ die Frau Generalin in Begleitung ihrer liebenswürdigen Tochter und einiger befreundeter Familien die Stadt, hoch auf dem Tarantass, dem hier üblichen Reisewagen thronend, um uns in der Einöde die Wirthin nicht vermissen zu lassen; Tags darauf beschlossen wir den Reisezug, welcher drei Tage nach einander sämmtliche Postpferde der Straße nach Taschkent in Bewegung gesetzt hatte.

Am jenseitigen Ufer des Irtisch betraten wir die Kirgisensteppe. Es war am 3. Mai; der Frühling hatte wenige Tage vorher seinen Einzug gehalten, sein erster Hauch das junge Grün eben erst allüberall wachgerufen. Mit ihm waren die Zugvögel zurückgekehrt, welche der Winter vertrieben und bis vor kurzem in der Fremde zurückgehalten hatte. In der klaren Luft, wie an unsichtbaren Fädchen gehalten, hingen Röthel- und Rothfußfalken, die liebenswerthesten Kleinräuber der Steppe; zwischen den sprossenden Halmen liefen Steppenkiebitze umher; von den Ebenen stiegen kohlschwarze Tatarenlerchen in Gemeinschaft unserer Feldlerche und zweier Verwandten zum Himmel auf; an den Bergesgehängen sahen wir Alpenlerchen; in den frischgrünen, feuchten Thälern weideten kleine, zierliche, fuchsrothe Gänse; auf und an den Seen tummelten sich Enten, Limosen, Stelzen; über Berg und Thal glitten wiegenden Fluges Weihen dahin; hier und da zog ein Steppenbussard, in der Nähe des Irtisch auch ein und der andere Fischadler seine Kreise.

Ueber weite Ebenen und vielverzweigte Hügel durch Thäler und Kessel führte unser Weg. Hatten wir eine Hügelkette überstiegen, so lag ein breites Thal, erst ringsum durch Hügel abgeschlossener Kessel, mit mehr oder minder ausgedehntem See, vor unseren Augen; hatten wir ihn durchschritten, so erhoben sich wiederum Hügel und Berge vor uns. Nach je zwanzig, dreißig und mehr Werst hielten wir vor einem einsamen Posthause, um die Pferde zu wechseln und einige Mundbissen zu nehmen; dann ging es wieder weiter und so immer weiter durch die wechselreiche, der beständigen Wiederholung höchst ähnlicher Landschaftsbilder halber jedoch eintönig erscheinende Steppe.

Erst gegen Abend, nach zwölfstündiger Fahrt etwa, stiegen die Arkâtberge vor uns auf. Die Steppe, in welcher das Auge den Maßstab zutreffender Schätzung verliert, täuschte uns die Berge als hohe Gebirge vor. Scharf abfallende Grate, jäh aufstrebende Felsenmassen, Kegel, Spitzen, Zacken, riesige, wie der Knauf einer Säule auf dem Schafte ruhende Platten, auf schwächerem Untergestell, tief eingeschnittene Thäler zwischen den Bergen, Abgründe und Abstürze, baumlose Matten am Fuße der unbewaldeten, selbst unbebuschten Höhen, welche vom blauen Dufte der Ferne geschmückt und verschleiert waren und von den weißen Schäfchenwolken am Himmel darüber noch besondere Zierde empfangen hatten: so lagen sie vor uns, die höchstens fünfhundert Meter über die Ebene sich erhebenden Arkâtberge. Eine Stunde später hatten wir das nach ihnen benannte Posthaus erreicht. Kosaken, welche unser geharrt, sprengten seitwärts vom Wege in die Steppe hinaus; andere geleiteten unsere fünf Wagen in derselben Richtung auf dem pfadlosen Wege und in der inzwischen hereingebrochenen Nacht. Würzige Pflanzendüfte und milde Frühlingsluft umschmeichelten, auffallende, im schwach nur dämmernden Dunkel riesenhaft erscheinende Bergformen erregten unsere Sinne. Schattenhafte Gestalten bewegten sich gegen uns; rasch sich folgende Hufschläge, fremdartige Laute trafen unser Ohr: uns entgegengerittene Kirgisen umgaben die Wagen, tauschten freundliche Grüße mit dem General, bedeuteten die Kutscher und geleiteten uns zu dem in der Einöde für uns errichteten Aul (sprich „A – ul“) oder Jurtenlager. „Willkommen in der Wüste!“ rief uns die Generalin entgegen; willkommen hießen uns Russen und Kirgisen. Wir hatten das Ziel unserer Fahrt erreicht und wurden freudig überrascht durch die Nachricht, daß bereits einer der kirgisischen Jäger einen Archarbock erlegt habe.

Was die Nacht verschleierte, ließ der kommende Morgen uns schauen. Wir befanden uns auf einer weiten, hügeligen, ringsum von Bergen umschlossenen Hochebene. Nach Norden hin schloß dieselbe Bergkette, welche wir gestern während der Fahrt gesehen hatten, den Gesichtskreis ab; im Westen, Südwesten und Südosten erhoben sich ähnlich gestaltete, jedoch niedrigere Granitfelsen; nach Osten hin vervollständigten niedrige Hügel den felsigen Ring. In der Nähe eines tropfenweise rinnenden Wässerchens, welches hier und da versumpfte Lachen bildete, standen die Jurten, sieben an der Zahl, in fast gerader Reihe. Fünf von ihnen gaben dem General und seiner Familie, uns und dem übrigen Gefolge Herberge; eine diente als Empfangs- und Versammlungsraum, eine als Küche. Die zu Wohnungen bestimmten waren außen und innen zierlich und festlich geschmückt, [687] außen mit kunstreicher Nähterei, aufgeheftetem buntem Zierrath aus stilvoll verschnörkelten Tuchflittern, innen mit kostbaren Teppichen und seidenen Decken, welche rings an den Wänden hingen und den Boden deckten. Jede einzelne stellte einen in sich abgeschlossenen Raum und das vollkommenste und gemüthlichste aller Zelte dar, heimelte an, wehrte dem Wetter und ließ sich jedem Sonnenblicke erschließen, erfüllte mit einem Worte alle Bedingungen, welche man an eine mit dem Besitzer wandernde Behausung stellen kann. Behaglich hatten wir uns schon gestern in ihr gefühlt; heute erschien sie uns über alles Lob erhaben.

Doch nicht im Innern der Jurten litt es uns lange; denn draußen wurde es lebendig, Sie waren erschienen, die von unserem Gastfreunde berufenen Kirgisen: Sultane, Gemeindevorsteher und andere Vornehme des Volks der Steppe mit Schützen und Treibern, Sängern und Stegreifdichtern, Jagd- und Rennpferden, gezähmten, auf Fuchs und Wolf, Murmelthier und Antilope abgetragenen Steinadlern, langhaarigen Windhunden, Kameelen und Saumthieren und was sonst noch erforderlich ist nach Gebrauch und Sitte. Jetzt erfüllte ihr Getümmel die Niederung zwischen den Bergen. Auf edlen und keineswegs unschönen Rossen ritten sie hin und wider; in Gruppen, langgestreckten Reihen und geschlossenen Kreisen saßen sie, gemüthlich plaudernd, am Boden, umdrängten sie den General, seine Gemahlin und uns. Wo sie die Nacht verbracht, von woher sie am Morgen gekommen, blieb uns ein Räthsel; denn kein zweiter Aul zeigte sich unseren Blicken. Vorhanden, zur Stelle aber waren sie und harrten jetzt der ausgesandten Späher, um zu erfahren, in welchem Theile des Rundgebirges das gesuchte Wild sich befinde.

Ziemlich spät erst gelangten wir zum Aufbruche. Die ausgesandten Kundschafter hatten weit reiten müssen, bevor sie Wildschafe gefunden. Jetzt zogen wir, mindestens achtzig Reiter stark, die Damen mit uns, dem westlichen Gebirgszuge zu. Hinter uns stelzten Kameele, mit einer Jurte und Küchengeräthe befrachtet, auf demselben Wege einher. In der Nähe des besagten Gebirgszuges verließen uns die berittenen Treiber und wandten sich dem südlichen Abhange der felsigen Kette zu, während wir das entgegengesetzte Ende besetzten und hier hinter Felsblöcken, welche uns bargen und Fernsicht gewährten, uns anstellten.

Der Trieb begann. Reitend erkletterten die Treiber das felsige Gebirge. Hier und da erschien einer von ihnen auf der Spitze der Felsen, welche er erklommen, um bald darauf wieder im Gestein zu verschwinden. Kein einziger von ihnen verließ die ihm angewiesene Richtung. Wie Ziegen kletterten die belasteten Pferde in den Felsbergen umher. Einem Bergsteiger boten die Granitwände und Kegel allerdings nirgends unüberwindliche Schwierigkeiten, Reiter aber hatte ich noch niemals in solchem Gebirge Pfade suchen und finden sehen. Der Kirgise faßt den Begriff „Weg“ anders auf als sonstige Menschenkinder. Weg bedeutet nach seinem Verständniß: „Durchmessen einer bestimmten Strecke in gerader Richtung“. Was zwischen dem Ausgangs- und Endpunkte liegt, ist gleichgültig. „Wo eine Ziege gehen kann,“ sagt er, „mag eben so gut ein Pferd Fuß fassen, und wo ein Pferd seinen Weg findet, beherrscht ihn auch ein Reiter.“ Näher und näher kamen uns die Treiber, Wild aber zeigte sich nicht. Erst in der letzten Minute erschien ein Wolf vor der Schützenlinie, nach Art des getriebenen Fuchses gedeckte Wege suchend, bald hinter ihm auch ein Archar. Der Wolf wurde gefehlt, das Wildschaf von dem betreffenden nächsten Schützen nicht bemerkt. Die Reiter langten bei uns an; der Trieb war zu Ende.

Mißmuthig zogen wir heimwärts. Im ersten Querthale winkte die während unserer Jagd errichtete Jurte; vor der Thür stand unsere liebenswürdige Wirthin, um uns zu einem Imbiß einzuladen. Wir folgten und saßen bald vor reich beschickter Tafel im Innern der Jurte, welche des rauhen Wetters halber behaglicher erschien als je. Da schreckt uns lauter Zuruf vom Mahle weg; wir eilen in’s Freie und sehen fünf stattliche Archarböcke über das Gefelse herabspringen. Eilig greifen wir nach den Büchsen, werfen wir uns auf die Pferde, jagen wir den Thieren zu – vergeblich. Unbeirrt durch uns oder die Treiber setzen sie, zu weit für unsere Geschosse, ihren Weg fort, kreuzen die zwischen zwei Bergketten liegende Niederung und ziehen, dem nördlichen Gebirgszuge zu. Sie eilen nicht, sondern traben nur, kein Pferd aber ist im Stande, sie einzuholen. Ruhig, stolz, bedachtsam ziehen sie weiter und erreichen ungekränkt das schützende Gefelse.

Man hatte uns falsch berichtet, als man uns mittheilte, daß der Trieb zu Ende sei. Einige Reiter hatten das Wild in einem der Nebenthäler entdeckt, in weitem Bogen umritten, und so geschickt getrieben, daß es zu Schuß hätte kommen müssen, wären wir nur zur Stelle gewesen.

Ich tröstete mich wie immer, wenn aus Jagden Mißgeschick mich neckt. Hatte ich die gewaltigen Thiere doch in ihrer Heimath, in voller Bewegung gesehen; war doch das ganze Getriebe der Jagd so eigenartig, so fesselnd gewesen, wie eine Jagd überhaupt sein kann. „Vielleicht lächelt die herrliche Göttin uns morgen,“ dachte ich, als wir unserem Aul in malerisch gelöstem Zuge zuritten.

Vor den Jurten fanden wir zwei Archarlämmer angebunden. Man hatte sie inzwischen lebend gefangen. Von einem dritten brachte man uns den zerfleischten Leichnam. Durch die Treiber erschreckt und verscheucht, hätte es die Mutter im Gefelse zum Niederducken bewogen und so in einen lebendigen Stein verwandelt, sich selbst aber den Treibern gezeigt, um sie von der Spur des geliebten Kleinen abzulocken; glücklich hatte sie auch die menschlichen, nicht aber die thierischen Feinde getäuscht: dem scharfen Auge eines Steinadlers war das bewegungslos der Rückkehr seiner Mutter harrende Lamm nicht entgangen und dem kühnen und starken Raubvogel zum Opfer gefallen. Für die beiden anderen schaffte man noch an demselben Abend Hausschafe herbei, welche, trotz ihres Sträubens, Ammendienste leisten mußten.

Am nächsten Morgen zogen wir wiederum zur Jagd aus, diesmal dem nördlichen Gebirgszuge uns zuwendend. Es war ein bitterkalter, von Aprilwetter regierter Tag, und das Ausharren auf den uns angewiesenen Plätzen wurde zur Qual. Stundenlang währte der Trieb, bevor wir von den Treibern etwas wahrnahmen. Ein Wildschaf mit zwei Lämmern zog in mehr als doppelter Schußweite an meinem Stande vorüber. Von den Böcken sahen wir keine Spur; ob sie zurückgewechselt oder von den Treibern nicht aufgefunden worden waren, blieb fraglich. Schon näherte der Trieb sich dem Ende; da rollten Steine über mir, und wenige Minuten später stieg ein Wildschaf, meist durch die Felsen gedeckt. Nur auf Augenblicke sichtbar werdend, neben meinem Stande in die Tiefe herab. Endlich zeigte es sich frei und bot sich zum Ziele; mein Schuß durchhallte das Gebirge. Langsamer zog es weiter; ich lud und feuerte zum zweiten Male, diesmal schon aus zu großer Entfernung. Das Thier setzte seinem Weg fort wie vorher, blieb jedoch bald darauf von Zeit zu Zeit stehen, als ob es überlege, und wandte sich sodann in weitem Bogen dem mir gegenüberliegenden Bergzuge zu. Auf gut Glück hin verließ ich meinen Stand, durchschritt, den von jenem beschriebenen Bogen durchschneidend, das Thal, kletterte, so schnell das Gefelse und meine Lunge gestatteten, an der Bergwand empor und stellte mich in einem Quereinschnitte des Kammes wieder an. Ich hatte richtig berechnet. Noch keuchte die Brust und zitterten die Glieder von der gewaltigen Anstrengung, als dasselbe Wildschaf hoch über mir an die äußerste Kante des Felsens trat, um zu sichern. Bevor es mich erspäht, hatte ihm meine Kugel die Brust durchbohrt, und wie ein schwerer Felsblock stürzte es in die Tiefe hinab.

Jubelruf aus zwanzig Kirgisenkehlen hallte im Gebirge wider. Von allen Seiten sprengten und kletterten Reiter herbei. Vier kräftige Männer schleppten mühsam die Beute zur Tiefe. Ich staunte über die Größe, noch mehr über die Lebenszähigkeit des Archar. Die erste Kugel hatte genau auf der beabsichtigten Stelle eingeschlagen, von hinten her die ganze Brust durchbohrt, die Lunge zerrissen und in der Schultergegend ihren Ausgang genommen: gleichwohl zeigte das Thier, nachdem es mit solcher Wunde mindestens tausend Schritte durchmessen, keine Abnahme seiner Kräfte und würde für uns verloren gewesen sein, hätte ich ihm nicht noch eine zweite Kugel durch die Brust gejagt.

Allseitig beglückwünscht, ritten wir heim zu den Jurten. Die Kirgisen rühmten mein Jägergeschick, die Gefährten mein Jagdglück. Vor den Jurten wogte es im bunten Durcheinander. Unter dem lebhaftesten Geberdenspiel gaben die Steppenleute, welche dem Schlusse der Jagd beigewohnt hatten, allen Uebrigen [688] Bericht. Ich war zum Löwen des Tages geworden, hatte selbst den Sänger begeistert. Denn als der Abend hereingebrochen war und die Jurten sich gefüllt hatten, erschien er in unserer Mitte, ließ in langem Vorspiele seine einfache Laute erklingen und hob endlich einen Gesang an, in welchem seine „rothe Zunge“ sich Genüge that, den General und seine Gemahlin, uns und die übrigen Gäste bewillkommnete und auch mein Jagdglück verherrlichte, dem Sänger selbst aber allen Beifall eintrug. Großartige, tiefgehende Gedanken waren es nicht, welche der Dichter in Worte kleidete; eigenartige, auch mich, der ich morgenländische Denk- und Redeweise kannte, fremdartig anklingende aber waren es wohl. Damit keiner von ihnen mir entschwinden möge, schrieb ich sie nieder, so wie sie mir durch zweier Dolmetscher Mund übermittelt wurden.

Für die Kirgisen, deren einförmiges Hirtenleben jeden Wechsel willkommen erscheinen läßt, waren die beiden Jagdtage Festlichkeiten gewesen, kein Wunder daher, daß ihnen zwei Festtage zu wenig dünkten. Ihre Jagdfertigkeit hatten wir kennen gelernt, ihre Steinadler und Windhunde mit gebührender Theilnahme betrachtet, den Worten ihres Sängers bewundernd gelauscht; nunmehr mußten Ringer und Rennpferde ihre Kräfte üben, um das kirgisische Fest würdig zu beschließen. Reckenhaft gebaute Männer stellten sich einander zum Wettkampfe; hochedle, wenn auch nach unseren Begriffen nicht vollendet schöne Pferde, geritten von sechs- bis achtjährigen Knaben, stürmten in die Steppe hinaus, um vierzig Kilometer auf pfadlosem Wege zurückzulegen, so schnell sie vermochten. Beide, Ringkämpfer wie Rennpferde, entzückten durch ihre Leistungen die Kirgisen und somit auch uns.

Noch am Abend verließen wir unsern Aul, hochbefriedigt von allem, was wir erlebt und gesehen. Unsere russischen Begleiter kehrten nach Semipalatinsk zurück, wir wandten uns südlich und überschritten noch in derselben Nacht die Grenze Turkestans.

Mit Archaren trafen wir nicht wieder zusammen, wir hatten aber in den Arkâtbergen so viel von ihnen gesehen und gehört, daß ich mich wohl für berechtigt halten darf, von ihnen zu berichten. Dies soll das nächste Mal geschehen.




Meine Jugenderinnerungen an Ferdinand Lassalle.
Mitgetheilt von R. Z.

In Nr. 4 der Gartenlaube des laufenden Jahrganges befindet sich ein, wie ich zugestehen will, parteilos geschriebener Artikel mit der Ueberschrift „Aus dem Leben eines Agitators“, welcher trotz dieser Parteilosigkeit über manches Ereigniß anders reflectirt, als der historisch durchlebte Sachverhalt in meinem Gedächtniß lebt. Derselbe bespricht zunächst eine unter dem Titel „Biographisches Charakterbild“ erschienene Lebensbeschreibung Lassalle’s von Georg Brandes, ein Buch, welches mir bis nun nicht zur Hand gekommen ist, jenen kritischen Notizen nach zu urtheilen aber Wahrheit und Dichtung enthalten muß. Dieser Wahrnehmung verdanken gegenwärtige Zeilen ihre Entstehung.

Beinahe vier Decennien sind verflossen, seitdem ich mit jenem vielbesprochenen Manne, dem auch der obstinateste Gegner Genie und Originalität zuerkennen muß, in ununterbrochenem Tages- ja stündlichem Verkehr stand, und zwar unter so intimen Umgangsformen, wie sie nur der Jugend eigen sind. Ich war nach gut christlich-evangelischem Brauche confirmirt worden und hatte mit diesem äußerlichen Abschlusse der Kinderjahre dem Elementarunterricht der Schule entsagt. Meiner inneren Neigung, einen artistischen Lebensberuf zu erwählen, glaubte ich in jugendlich schüchterner Verzagtheit, Familienrücksichten halber, nicht nachhängen zu dürfen; ich war in Betreff eines zu wählenden Berufes noch unschlüssig. Eines Tages eröffnete mir mein Vater, ein schlichter Mann von altdeutschem Schrot und Korn, zu meiner Ueberraschung, daß er mich versuchsweise die in ihrer Art damals beinahe einzige, äußerst gut berufene Handelslehranstalt in meiner Vaterstadt Leipzig besuchen lassen werde und hieß mich zu dem Zwecke ihn begleiten. Wir machten uns auf den Weg, und meine stille Neugierde wuchs, als wir uns nicht in der Richtung zur Esplanade begaben, dem stillen Platze, wo jenes kaufmännische Pädagogium liegt, sondern einen entgegengesetzten Weg nach der jedem Einheimischen wohl bekannten Straße „dem Brühl“ einschlugen. Dort, inmitten jener Seite, auf welcher Katharinen- und Hainstraße münden, mußte ich vor einem unscheinbaren Parterreverkaufsladen stehen bleiben, während mein Vater in denselben trat. Ich blickte nach der oberhalb des Portals befestigten Firmentafel, welche in bescheidenen Lettern die Aufschrift: „Lassal aus Breslau“ auswies. So schrieb sich Ferdinand Lassalle zu jener Zeit, als wir mit einander, kaum den Knabenschuhen entwachsen, bekannt wurden und Freundschaft schlossen; denn die Französirung seines Namens datirt erst aus der späteren Periode, aus der Mitte der vierziger Jahre, wo er zuerst in Paris war.

Hier befand ich mich im Centrum einer jener bewegten Marktscenen, wie sie jede Jubilatenmesse Leipzigs zu jener Zeit im Gefolge hatte. Die zahllos um mich drängenden polnischen Juden mit wallenden Ringellocken und rauschenden Seidekaftanen gewährten mir, wenn auch gerade kein neues, so doch immerhin ein interessantes Bild. Ich war noch mit dem Studium marktschreierisch übereinander prangender Aushängeschilder beschäftigt, als ein junger Mensch von ungefähr meinem Alter mit lebhafter Geste und der Einladung herangesprungen kam, ich möchte in den Kaufladen eintreten. Mein Vater stellte mich darauf beiden Herren Lassals von Breslau, dem Papa und dem Sohne, vor. Wir befanden uns in dem halbdunkeln engen Raume eines kleinen Meßlocales; ein keineswegs umfangreiches Seidenwaarenlager, eben in der Auspackung begriffen, imponirte mir durch die Farbenpracht einzelner Stücke. Jetzt erst erfuhr ich den Zweck unseres Besuches. Unsere beiden Väter, welche aus geschäftlicher Verbindung sich schon von früher her kannten, hatten den gemeinsamen Plan gefaßt, uns, ihre Söhne, dem durch Schiebe’s Leitung renommirten Institute für höhere kaufmännische Bildung anzuvertrauen; der Plan, den jungen Lassal für die Studienzeit zu meiner Familie in Pension und Verpflegung zu geben, fand keine Verwirklichung. Offen gestanden fürchteten meine Eltern, den ungemein lebhaften Jüngling im Kreise der Familie aufzunehmen. – Aber man war doch in der Hauptsache einig geworden, und wir Vier, unsere Väter im eifrigen Gespräche voran, zogen durch die Stadt nach der Handelsschule hinaus, um uns dort als hoffnungsvolle Kaufmanns-Sprößlinge in den höheren Cursus einschreiben zu lassen.

Mir kam die Bekanntschaft mit dem jungen Fremden ganz unerwartet, aber ich gestehe, daß ich mich vom ersten Augenblicke unseres Beisammenseins an lebhaft zu ihm hingezogen fühlte, da der künftige Schulgenosse mir durch die nicht ruhende, stetig witzsprühende Zunge eine mir bis dahin unbekannte Unterhaltung bot. Mein neu gewonnener Freund „Ferdinand“, den ich auf diesem ersten gemeinschaftliche Wege einer genaueren Musterung unterzog, war nach der äußeren Erscheinung seinem Vater auf ein Haar ähnlich. Beide fielen zunächst durch originell kurz-krause Hauptlocken auf. Der Sohn konnte für einen in der kräftigsten Körperentwickelung begriffenen ungewöhnlich schönen Jüngling gelten, dessen antik geformtes griechisches Profil in den ersten Momenten der Betrachtung kaum die semitische Abstammung verrieth. Im lauten Zwiegespräch bestand eine der ersten Sorgen darin, festzustellen, wer von uns Beiden der ältere sei. Ferdinand zeigte mir sein Matrikelzeugniß, welches von Breslau aus dem Jahre 1823 datirte, während mein Taufschein vom darauf folgenden Jahrgang lautete. Noch sehe ich seinen triumphirenden Blick in dem Siegesbewußtsein mir gegenüber, als der Aeltere sechszehn volle Sommer zu zählen, während er mir für mindestes achtzehn derselben bereits geistig und physisch ausgebildet erschien. Schneller als ich vermuthete, war die Ceremonie unserer Eintragung in das Schülerregister der Leipziger Handelsschule vollzogen; unsere Väter erlegten die üblichen Aufnahme-Taxen, und ich fand bei dieser ersten Entlassung aus der neuen, wenig gemüthlichen Schulstube das Gesicht des bis dahin griesgrämig dreinschauenden Directors aufgeheitert und uns neu geworbene Zöglinge anlächelnd. [689] Als Localkundigen blieb es meinem Vater vorbehalten, für das häusliche Unterkommen des jungen Schlesiers zu sorgen. Bald war ein solches aufgefunden, und als der Breslauer Geschäftsfreund sich zur Rückreise nach der Heimath rüstete, bezog mein zukünftiger Schulcollege ein freundlich gelegenes, aber bescheiden schmales Stübchen im dritten Stockwerk eines im damaligen Bose’schen Garten befindlichen Hintergebäudes. Hier, beim Schuldirector H., einem in der Stadt bekannten Pädagogen, sollte ihm Familienverpflegung zu Theil werden.

Da Lassal während der kurzen Zeit seiner Anwesenheit in Leipzig außer einigen flüchtigen Theaterbekanntschaften nur bei meiner Familie Zutritt hatte, so blieb er auf meinen gesellschaftlichen Umgang angewiesen. Ich selbst aber fühlte mich durch sein übermüthig sprudelndes und geistig ungemein anregendes Wesen so zu ihm hingezogen, daß ich ihm meine freie Zeit ungeschmälert und gern widmete. Mein Freund beschäftigte sich, auch wenn ich zugegen war, stark mit Lectüre des Alterthums und las dann stundenlang und mit Pathos vor. Bald staunte ich, wie er, einem docirenden Lehrer gleich, die Classiker Griechenlands und Roms kannte, auch seine linguistischen Fertigkeiten in todten und modernen Sprachen fand ich Gelegenheit zu bewundern. Schon während der ersten Tage in seinem neuen Heim, als die kleine Handbibliothek aufgestellt war, machte er mich vertraulich mit seinem Lieblingspoeten, Heinrich Heine, bekannt, dessen Schriften ich bis dahin nur dem Namen nach kannte. Beim Dämmerscheine der primitiven Oellampe declamirte er mit dem Vollaufgebote jugendlicher Leidenschaft die hervorragendsten Gedichte aus dem „Buch der Lieder“, und ich gestehe, daß er mit diesen wahrscheinlich ersten rhetorischen Versuchen einen nachhaltig gewaltigen Eindruck auf mich, den in beschränkt kleinbürgerlicher Anschauung Heranwachsenden, ausübte.

Schon in diesen ersten Tagen des Zusammenseins mit Lassal nahm ich an ihm eine zügellose Neigung zur Poesie wahr, und wenn ich später beim Eintritt in sein Zimmer ihn nicht beim Studium Heine’scher oder altclassischer Schriften fand, dann traf ich ihn sicherlich der Dichtkunst die eigenen Tribute in gehobener Stimmung darbringend an.

Es ist meine feste Ueberzeugung, daß von dem Moment ab, da der junge Lassal das väterliche Haus verließ, ein ungeheurer Gährungsproceß in diesem gewaltig angelegten Geiste vor sich ging; war ich doch an der Periode eines zweieinhalbjährigen Umgangs Zeuge jener inneren Kämpfe, welche ihn zeitweilig an seiner Zukunft gänzlich verzweifeln ließen. Wir hatten Beide Ursache, über die Anfänge eines verfehlten Lebensberufes zu klagen, aber meines Freundes Individualität war dazu angelegt, jedes sich ihm entgegenstellende Hinderniß durch gewaltthätige Opposition über kurz oder lang zu beseitigen.

Das Trachten Lassal’s, schon von Jugend auf sich volle Unabhängigkeit zu schaffen, entsprang zunächst wohl dem Bewußtsein, dereinst Erbe eines beträchtlichen Vermögens zu werden, welches er mit nur einer Schwester zu theilen hatte. Kindliche Pietät wurde für ihn Ursache, die Leipziger Schule zu besuchen – ein Joch, dem sich sein nach selbstständigem Schaffen mächtig ringender Geist voraussichtlich auf die Dauer nicht zu beugen vermochte. Sehr bald nach der Abreise des Vaters brach denn auch die Sturm- und Drangperiode bei ihm hervor. Der Gedanke, Kaufmann, das heißt: Seidenhändler werden zu müssen, regte ihn bis zur Raserei auf; unzählige Male mußte ich Ausdrücke verletzter Eitelkeit und die Versicherung von ihm entgegennehmen, daß er fühle, zu etwas Besserem geboren zu sein. In solchen Momenten betheuerte er mir dann seine Mission – wie sie ihm damals vorschwebte – dem deutschen Volke ein echter, aber demokratischer Dichter zu werden. Sein höchster Wunsch war, an der Seite Heine’s im Paris leben und schaffen zu können. Unstreitig sind es eben die Jahre von bis 1839 bis 1841, in welch’ letzterem er die Leipziger Handelsschule mit der Breslauer und Berliner Universität vertauschte, wo der Anfang des Klärungsprocesses des vermeintlichen Dichters in spe zum künftigen Agitator sich vollzog.

Unser gemeinsamer Lehrer der deutschen Sprache hatte als eines der zu bearbeitenden Themata die Lösung der Aufgabe gestellt: „Wer ist unser Freund?“ Nachdem wir die Frage niedergeschrieben hatten, meldete sich Lassal zum Worte und ersuchte, sichtbar aufgeregt, um die Erlaubniß, commentirend zum erhaltenen Pensum sprechen zu dürfen. Mit wahrhaft zündenden Worten entspann sich nun eine Disputation, wie sie zwischen Lehrer und Schüler wohl nie zuvor stattgefunden haben dürfte, indem Ferdinand mit einer die Classe hinreißenden Beredsamkeit den Nachweis führte, daß eine solche Frage im Wege des Denkens überhaupt nicht zu lösen, vielmehr lediglich eine Gefühlssache sei. „Jeder Versuch,“ rief er, zu mir gewendet, „den Begriff Freundschaft logisch zu lösen, ist ein Unsinn, und ein solches Verlangen, ernstlich gestellt, kann nur dem Gehirne eines Schwachkopfes oder dem eines froschkalten Methodikers entspringen, welcher des Gefühles der Freundschaft unfähig ist.“ Gleichzeitig erklärte er diese Aufgabe nicht lösen zu können, es sei denn, daß er Schiller’s Ballade „Die Bürgschaft“ in Abschrift bringe. Alle Mitschüler sahen einander verdutzt an. Der beleidigte Lehrer, in der richtigen Erkenntniß, daß ihm diesem Eleven gegenüber die eigene Autorität keine Satisfaction schaffen werde, erhob bei höherer Instanz Klage, und der Attentäter mußte vor dem Director erscheinen. Dort wurde ihm der gemessene Befehl, die angefochtene Aufgabe zu lösen. Ein glühend poetischer Erguß, der in meiner Gegenwart entstand und mit den Worten begann:

„Nicht wägen mit der Wage in der Hand
Läßt sich der Freundschaft golden hehres Band –“

war die Form, in welcher mein Freund sein Opus zur Censur abgehen ließ und von dort zerrissen zurück empfing. Director Schiebe, ein abgesagter Feind von jeder dem commerciellen Wissen fernliegenden Schöngeisterei, nahm die schriftlich fortgesetzte Herausforderung seines widersetzlichen Schülers ungnädig auf, doch wurde die Differenz durch besonnenes Dazwischentreten Dritter endlich beigelegt.

Aehnliche Streitscenen wiederholten sich für die Folge öfter; sie dienten dazu, daß der Breslauer Brausekopf in Händel verwickelt wurde, zu deren Beilegung er sich dann meiner, des Ruhigen, Vermittelung bediente. Ein Doppelgänger Lassal’s, ein Landsberger von jüdisch-polnischer Abstammung, der sich in unserer Classe befand und ihm äußerlich, doch nur carrikirt ähnelte, litt unter den raffinirten Launen meines Freundes ganz besonders viel. Zudem hatte jenen der Zufall auf dieselbe Bank wie Lassal, ja unmittelbar an dessen Seite gebracht. –

Bei der leichten Erregbarkeit der Jugend war es unvermeidlich, daß wir zeitweilig Gegner wurden, und ich mußte energisch gegen meines Freundes Herrschsuchtsgelüste ankämpfen. Und gerade in Folge dieser Schwäche bot er mir Gelegenheit, mich über ihn als demokratischen Poeten lustig zu machen, insbesondere dann, wenn er über die Summe des Charakters und der Bildung des deutschen Volkes wegwerfend und mit einer Exclusivität urtheilte, die man sonst nur unter hoher Aristokratie zu finden gewöhnt ist. Mein Freund Ferdinand hielt schon damals an der humanistisch bedenklichen Idee fest, daß die große Masse der Bevölkerung für die Erziehung zu höherer Cultur unfähig sei.

In dem ersten Jahr verging kein Tag, daß nicht außerhalb der Schule ein Austausch unserer Meinungen oder ein Gespräch über zum Theil hochfahrende Pläne stattgefunden hätte. Er begann einige Werke französischer Nationalökonomen zu studiren, welche die Bibliothek unserer Lehranstalt zufällig enthielt, und ich bemerkte bald an ihm die Wirkung dieser im Geheimen fortgesetzten Lectüre. Speciell wandte er jenen volkswirthschaftlichen Capiteln verschärfte Aufmerksamkeit zu, welche die Bestrebungen der St. Simonisten behandelten, aber ich glaubte damals, bei der Vielseitigkeit seiner Lernbegierde, seinen begeisterten Betrachtungen keine Bedeutung beilegen zu sollen. Erst später fiel mir ein, daß diese Studien zu einer Zeit stattfanden, da Lassal schon den Entschluß in sich trug, die Handelsschule und Leipzig vor Vollendung des dreijährigen Cursus zu verlassen. Mein Freund stellte, von der geistreichen Behandlung des Stoffes durch den fremden Autor angeregt, die praktische Möglichkeit einer Arbeiterfrage auf, ein sociales Thema, welches in Frankreich schon seit der Revolution den Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gebildet hatte. Er[WS 1] warf mir seine eigensten Ideen im genialen Umrissen hin; ich erinnere mich sehr genau, daß sie zum Theil in strictem Widerspruch mit den Doctrinen standen, welche er als die „einzig richtigen“ ein Decennium später öffentlich verkündete. Auf solchen der französischen Revolution entsprungenen Anschauungen entwickelte Lassal schon [690] damals einen für sich bestehenden originellen Gedankengang. Es war dies bei Gelegenheit der in Industriedistricten zuckenden Arbeiterbewegungen, und ich vernahm aus seinem Munde das Work „Staatshülfe“, sowie Anklänge an jene Tendenzen, welche er in seinen späteren social-politischen Streitschriften und in dem Werke „System der erworbenen Rechte“ niederlegte.

Damals hatte noch nichts an ihm Bestand; die socialistischen Studien wurden mit manchem Anderen zurückgelegt und theilten für die nächste Folge das Schicksal kaufmännischer Schulübungen, denen er überhaupt nur so viel oblag, wie die Disciplin der Anstalt es erforderte.

Zwei Jahre äußerer Kämpfe und inneren Ringens in Leipzig genügten, um Lassal’s geistiges Naturell wesentlich zu ändern. Seine in dieser Periode an die Eltern gerichteten Briefe, deren Inhalt ich zum Theil kernen lernte, ließen den gefaßten Entschluß endlich gereift erscheinen, das dritte und letzte Jahr des kaufmännischen Cursus nicht zu absolviren, sondern im Laufe des Sommers 1841 nach der Vaterstadt zurückzukehren, um sich dort für den Besuch einer preußischen Universität vorzubereiten. Der Bruch mit dem kaufmännischen Beruf war jetzt im Princip beschlossen, theoretisch bereits früher vollzogen, und die Eltern konnten das consequente Begehren des Sohnes nicht länger verneinen. Insbesondere wurde diese geplante Veränderung zum Gesprächsthema, wenn der Vater während der Messen nach Leipzig kam, wo ich öfter Zeuge stürmischer Scenen war, wenn der alte Lassal dem Drängen des Sohnes kein Gehör schenken wollte. Die Festigkeit aber, mit welcher Ferdinand seinen Plan verfolgte, die Studien an der Leipziger Handelslehranstalt um keinen Preis zu vollenden, und die ungenügenden Zeugnisse, die er für sittliches Verhalten von dort erhielt, gaben den Ausschlag. Während des Frühlings des vorgenannten Jahres entwarf er die Grundzüge zum künftigen Studienplan. Er war entschlossen, sich dem Felde der reinen Philosophie und Antike zu widmen.

Als er von Leipzig schied, war unser Abschied ein brüderlich herzlicher; wir gelobten mit jugendlich überschwenglichem Feuereifer, dieses Leben hindurch einander die Alten zu bleiben und Freud’ und Leid uns gegenseitig mitzutheilen. Alle trauten Plätzchen, auf denen wir in den Mußestunden übermüthig zusammen getobt oder im ernsten Gespräche verweilt hatten, wurden ein letztes Mal aufgesucht; vorzugsweise galten die Trennungsgänge jener lauschigen Tiefe im Bose’schen Garten, wo das alte Buchdruckertheater stand, sowie dem Schimmel’schen Teiche mit seiner Insel Buen-Retiro, Leipzigs Seeseite, auf welcher unsere Schifferlaufbahn manches gemeinsame Unglück zu verzeichnen hatte.

Lassal’s Uebertritt auf preußische Universitäten und die allmählich erlangte Mannesreife änderten sein genial angelegtes, aber fortgesetzt excentrisch-kampfbereites Wesen wenig. In der ersten Hälfte der vierziger Jahre besuchte er mich zeitweilig in Leipzig, und ich erwiderte 1844 die Besuche mit einem mehrwöchigen Aufenthalte in Berlin. Unter Anderem rühmte er damals gegen mich, die Aufmerksamkeit und Anerkennung Alexander von Humboldt’s sich erworben zu haben. Ich suchte ihn im Parterrezimmer einer mitten unter den Linden auslaufende Sackgasse auf und fand ihn tief in die Lectüre griechischer Classiker vergraben; irre ich nicht, so galten diese Studien seinem „Heraklit dem Dunkeln“. Unsere Freude des Wiedersehens außer Leipzigs Mauern war groß; er warf die um ihn aufgethürmten Bücher bei Seite und diente mir unverdrossen als Mentor, die Physiognomie des damaligen Berlin durch Tages- und Nachtstudien kennen zu lernen. Mir erschien mein Freund ungemein lebensfrisch angeregt und trotz der Dissonanzen im Schooße der Familie, hervorgerufen durch die Ueberschreitung seines Budgets, nicht in jener gedrückt reizbaren Stimmung, welche ich während seines Aufenthaltes in Leipzig oft an ihm wahrnahm. Sein schon früher gefaßter Plan, im kommenden Jahre, mit guten Empfehlungen versehen, nach Paris zu gehen, dort Heine’s Bekanntschaft zu machen und, wenn möglich, unter dessen Einfluß seine Carriere endgültig festzusetzen, hatte nun bestimmte Gestalt angenommen. Bekanntlich wurde dieses Project von ihm auch zur Ausführung gebracht.

Wenn die heutigen Biographen Lassal’s in Bezug auf seine Stellung als Agitator meinen, daß seine eminenten Fähigkeiten ihn zu viel Höherem – wahrscheinlich meint man dichterische Bethätigung – bestimmt hätten, so muß ich, wie ich den Jugendfreund aus intimsten Umgang kannte, dieser Ansicht auf das Allerentschiedenste widersprechen. Ferdinand Lassal war gewiß niemals eine von Haus aus poetisch begabte Natur; der Dichtkunst mit Erfolg zu dienen, versagte ihm die Muse sicherlich. Heinrich Heine und andere Träger bedeutender Namen, denen man ein richtiges Urtheil wohl zutrauen darf, hatten ihn auch bald des Rechten belehrt, und seine nie zu befriedigende Eitelkeit mußte ihn deshalb auf andere Hülfswege drängen, um durch praktische Verwerthung seiner glänzenden Naturanlagen in thunlicher Kürze zum Ziele „des berühmten Mannes“ zu gelangen.

Hätte er weniger nach der Aeußerlichkeit blendenden Ruhmes gedürstet, so würde Lassal im ungestörten Verfolg seiner Studien des Alterthums ohne Zweifel früher oder später der Ruf eines höchst respectabeln, classisch gebildeten Gelehrten errungen haben, zumal er schon durch elterliche Fürsorge dem Ringen um das leibliche Dasein vom Anfang am überhoben war. Aber die einfache Stellung eines deutschen Universitätsprofessors genügte seinem hochfahrenden Geiste und der nach äußerem gesellschaftlichem Glanze dürstenden Seele nicht. Noch als wir uns das letzte Mal in Bonn begegneten und Lassalle – die französische Metamorphose war damals bereits vollzogen worden – in den Rheinlanden schon bei verschiedenen markantem Veranlassungen sich einen Namen in der Oeffentlichkeit gemacht hatte, bekannte er mir unaufgefordert und freimüthig, daß sein Jugendtraum für Poesie verfehlt gewesen und sein Drama „Franz von Sickingen“ ein verunglücktes Machwerk sei.

Wenn aber weiter das Urtheil seiner Zeitgenossen oder Anhänger ihn gern zum modernen Volkshelden stempeln möchte, so pflichte ich dem, lediglich der Wahrheit zu Liebe, ebenso wenig bei; denn um eine solche Mission edler Uneigennützigkeit durchzuführen, müßte man weit selbstloser und weniger genußsüchtig sein, als es dieser merkwürdige Denker, Schriftsteller und populäre Volksredner wirklich gewesen ist.

Atheist und Epikuräer zugleich, verstand er es nie, sinnliche Begierden zu zügeln, und die Art, wie er schon früh den Umgang mit dem andern Geschlechte auffaßte, ist für seinen ganzen Charakter bezeichnend. Seine später bekannt geworbenen Ausschweifungen in Berlin und Paris sind mit Recht scharf gerügt worden. Jedenfalls kann ich bezeugen, daß er schon im Jünglingsalter mit dem vollen Raffinement eines ausgebildeten Lebemannes zu genießen verstand. Haupttendenz für ihn blieb, ohne Rücksicht auf öffentliche Meinung, der Gunst des Augenblicks und der momentanen Strömung seines Geschmackes gemäß zu leben, und wenn er bei gewagten Zerstreuungen die herkömmliche Ordnung der Dinge, ohne Prüfung der möglichen Folgen, über den Haufen warf, so blieb er der daraus resultirenden Verlegenheiten wegen doch unbesorgt. – Im letzten Drittel seines Lebens fand ich, zunächst in Folge meiner Abreise von der Heimath, keine persönlichen Berührungspunkte mit ihm mehr, aber ich habe Grund anzunehmen, daß auch in späteren Jahren sein Lebensprincip, zu genießen, dasselbe geblieben ist. Wenigstens muß sein beklagenswerthes Ende auf das Conto dieses va-banque-Spielens geschrieben werden.




König und Erzbischof.
Ein Beitrag zur preußischen Geschichte.

Steigen und Fallen heißt das Losungswort der Zeit, und wie auf einzelne Menschen und Familien, so findet es auch auf Staaten seine Anwendung. Alles ist dem Wechsel unterworfen; nichts auf dieser Welt dauert ewig. Wer heute der Erste ist, kann morgen der Letzte sein; davon bietet uns namentlich auch die Geschichte der Gegenwart glänzende Beispiele; wir brauchen nur an Frankreich und – beinahe hätten wir gesagt: an Deutschland zu erinnern, allein Deutschland liegt dem speciellen Ziele unserer Skizze schon ferner, und so nehmen wir statt dessen Preußen. Wie Frankreich heute mit schmerzlicher und trotz aller Gegenversicherungen

[691] auch mit racheglühender Sehnsucht nach den Fleischtöpfen seiner früheren Machtstellung und „gloire“ zurückschaut, so darf Preußen und mit ihm auch das ganze übrige Deutschland mit stolzer Genugthuung sich seiner gegenwärtigen Größe freuen.

Aber wie ein angesehenes Haus das Andenken derjenigen Familienglieder ehrt und sich ihrer gern erinnert, die durch außerordentliche Thätigkeit und hervorragenden Fleiß zu dem Aufblühen desselben ganz besonders beigetragen haben, so ist das noch viel mehr bei den Staaten der Fall. Jedes Volk gedenkt gern jener Männer, deren Namen mit goldenen Lettern in der Geschichte seines Lebens und Wachsthums eingeschrieben stehen und unvergänglich der Nachwelt entgegenleuchten. Auch aus dem Rahmen der Geschichte Preußens – denn, wie die Ueberschrift unseres Artikels schon andeutet, ist es gerade diese, welche uns augenblicklich beschäftigt – ragen die Namen einzelner Herrscher gleich glänzenden Edelsteinen hervor, um, jeder in seiner Art, das Auge des Beschauers anzuziehen und zu erfreuen. Heute ist es der erste Träger der preußischen Königskrone, Kurfürst Friedrich der Dritte, von dem wir hier reden möchten. Dieser Fürst ließ es sich damals, als er in dem königlichen Diadem den Gipfel seiner sehnlichsten Wünsche erblickte, gewiß nicht träumen, daß noch nicht zwei Jahrhunderte später die Kaiserkrone auf dem Haupte eines seiner Nachkommen prangen werde. Doch welcher Unterschied liegt in der Erwerbungsart beider Diademe! Sie sind zwar beide theuer genug bezahlt worden, aber nur von der Königskrone läßt sich sagen, daß sie im wahren Sinne des Wortes „gekauft“ worden ist.

Friedrich der Dritte hatte sich dieselbe wohl am 18. Jannar 1701 zu Königsberg aus eigener Machtvollkommenheit auf's Haupt gesetzt, allein die Zustimmung des Kaisers mußte dazu noch nachträglich eingeholt oder besser „erkauft“ werden. Und der Preis, den sich Kaiser Leopold für seine Gefälligkeit zahlen ließ, war kein geringer. Obwohl die Truppen Friedrich’s fast zu gleicher Zeit in den Niederlanden, in Italien und in Ungarn zum Nachtheil des eigenen Vaterlandes für die Interessen des Kaisers gefochten und dieser seinen opferwilligen Verbündeten nicht einmal zu den Friedensverhandlungen zu Ryswik zugelassen hatte, mußte der Kurfürst auch noch den Einfluß und die militärische Macht seines Staates der Habsburgischen Politik unumschränkt zur Verfügung stellen, nur um die Zustimmung Leopold’s zur Erhebung Preußens zu einem Königthum zu erlangen. Wahrlich, dieser Lohn war in Anbetracht der Leistungen kärglich genug und Friedrich hätte einen besseren Dank verdient, doch –: „Dank vom Hause Oesterreich“!

Nichtsdestoweniger war der Kurfürst mit diesem Danke zufrieden, enthielt er doch, wie gesagt, die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, war doch in ihm das lange angestrebte Ziel endlich glücklich erreicht. Doch nein, noch nicht ganz. Der Kaiser hatte zwar seine Zustimmung zu der Führung des Königstitels gegeben, aber es war noch ein Mann im heiligen römischen Reiche, der in einer so wichtigen Angelegenheit ebenfalls gefragt sein wollte, und das war – wer sollte es glauben? – Niemand anders, als Lotharius Franz Christian, Erzbischof zu Mainz, des römischen Reichs Erzkanzler und Kurfürst. Diesen Prälaten ebenfalls um seine Zustimmung zu der neuen Würde zu ersuchen, hatte der Kurfürst versäumt, und das sollte ihm nicht so ohne Weiteres verziehen werden.

Um die Mittel und Wege zu erklären, auf welchen der Erzbischof seinen Zorn an dem ohne seine Gnade zum König gekrönten Kurfürsten ausließ, müssen wir erläuternd vorausschicken, daß der Kaiser alle von ihm vollzogenen Titelverleihungen und Rangerhöhungen dem damaligen Reichskammergerichte mitzutheilen pflegte, und dieses bei den Expeditionen und Verfügungen, welche es in des Kaisers Namen an denjenigen, welchen ein höherer Titel zu Theil geworden war, erließ, die neue Titulatur in Anwendung bringen könne.

Nun hatte aber der Erzbischof zu Mainz in seiner Eigenschaft als Erzkanzler das Titulaturwesen am Reichskammergericht unter seiner speciellen „Direction“ und der Kanzleiverwalter des Gerichts durfte „trotz Kaiser und Reich“ ohne Genehmigung des Erzbischofs eine Aenderung darin nicht eintreten lassen. Aus diesem Umstände schlug der letztere jetzt Capital. Der Kaiser versäumte nämlich auch diesmal nicht, dem Reichskammergerichte die Rangerhöhung des Kurfürsten in nachfolgendem Schreiben mitzutheilen:

„Leopold von Gottes gnaden Erwehlter Römischer Kayser zu allen Zeiten mehrer des Reichs.

Hochwürdiger Lieber Neve und Churfürst; auch Wohlgeborne, Edle, Ehrsambe, gelehrte Liebe getrewe; Es haben des Churfürsten zu Brandenburg Liebden schon Vor einiger Zeit ihr absehen gefasset, ihrem mit vielen Landen gesegnetem hohen Hause den Königl. Titul Zu acquiriren, und Unß dahero ersuchet, daß wir als das Allerhöchste Oberhaubt der Christenheit, ohne dessen approbation Sie sich solchen Titul zu arrogiren nicht gemeinet weren, Sr. Liebden mit der Königl. Dignitet und Titul über das von ihro inhabende Land Preusßen zu würdigen und zu beehren geruhen wolten. Gleichwie Wir nun in annerkennung und betrachtung dieses Chur-Hauses uhralten Splendoris, Macht, und ansehens des jetzigen Churfürstens etc. Unß und dem gemeinwesen bißhero geleister großer Diensten, und verschiedener anderer ursachen deroselben eine so hohe Dignitet beyzulegen Unß umb so weniger entbrechen können, alß Sie sich dabey sowohl Von selbst erklehrt haben, als von Uns ausdrücklich bedungen worden, daß dadurch Niemanden, er seye wer er wolle, an seinen Rechten praejudicirt werden, Sr. Liebden auch sowohl respectu des gesambten Römischen Reichs, alß dessen Crayßen und Ständen ins besondere in ihrer bisherigen Verbindlichkeit, und obligation, auch wo Sie bloß als ein Chur- oder Fürst des Reichs considerirt werden, in dem vorigen Rang verbleiben, und dieser Königl. Würde halber die geringste Enderung nicht machen noch begehren, hingegen aber des Vatterlandts conservation und wohlfahrt mit allem möglichen eiffer, Trewe, und ernst beförderen helfen sollen; maßen Wir dan sowohl selbst alß durch Unsere Cantzleyen und Ministros Sr. Liebden mit dem Königl. Titul in Preußen würklich beehren. So haben wir es Ew. Liebden zu dem ende hiermit bekannt zu machen, damit Sie es ad notam zu nehmen, und in denen bey Unserm Kayserl. Cammergericht Vorfallenden gelegenheiten oder Expeditionen des Churfürsten Liebden und ihre wie auch ihrer gebrüder in der Regierung des Landts zu Preußen folgende Descendenten einen König in Preußen zu nennen und Zu schreiben wissen mögen, jedoch dem Reich auch Teutschen Orden und Männiglichen wie gemeldet ohne praejudiz oder nachtheil. Wir verbleiben Ew. Liebden und euch tt>respective mit freundschaft, Kaiserl. gnaden wohlbeygethan und gewogen. Geben in unser Statt Wienn den eilften July Anno Siebenzehen Hundert und Eins, Unserer Reichen des Römischen im drey und Viertzigsten, des Hungarischen im Sieben und Viertzigsten, und des Böheimbischen im fünf und Viertzigsten.               Leopold.“

Das Kammergericht würde gar keinen Anstand genommen haben, auf Grund dieser kaiserlichen Erklärung dem Kurfürsten von Brandenburg den Königstitel in seinen Schreiben beizulegen, wenn der Kanzleiverwalter wegen der noch fehlenden erzbischöflichen Genehmigung nicht anderer Ansicht gewesen wäre. Man legte also die an den neuen König abzusendenden Verfügungen einstweilen zurück (das Kammergericht war bekanntlich ohnehin ein großer Freund vom „Zurücklegen“), um die Genehmigung des Erzbischofs zu erwirken, um welche dieser noch besonders seitens des Kanzleiverwalters ersucht worden war. Lange wartete man indessen vergebens, so daß das Kammergericht mittlerweile hinreichend Zeit fand, dem Kurfürsten „wegen erlangter königlicher Kron“ herzlich zu gratuliren und nachstehendes Dankschreiben in Empfang zu nehmen, das als Adresse die Worte trägt:

„An das Cammergericht zu Wetzlar. Danksagung für abgestattete Gratulation zur Königl. Dignität,“ während es selbst lautet:

„Von Gottes gnaden Friderich, König in Preußen, Marggraf zu Brandenburg, des Heyligen Römischen Reichs Ertzcämmerer und Churfürst, zu Magdeburg, Cleve, Jülich, Berg, Stettin, Pommern etc. Hertzog etc.

Unsern günstigen und gnädigen Gruß auch geneigten willen zuvor, Hochwollgebohrne, Edele, Veste, Hochgelahrte, besonders liebe, Welchergestalt Ihr Uns zu Unserer Vor einigen Monaten angenommenen Königl. Dignität gratuliren, auch Euer darüber habendes Vergnügen Uns bezeigen wollen, das haben Wir aus Euerem deßhalb an Uns abgelassenen Schreiben mit mehrerm wohl ersehen, Wir sagen Euch auch dafür hiemit günstigen und gnädigen Dank, und versichern Euch hingegen Unserer Vor Euch [692] sambt und sonders habender estime und propension, wovon Wir Euch bey vorfallenden Gelegenheiten angenehme Kennzeichen und proben zu geben nicht ermangeln, Indessen aber Euch mit günstigem und geneigtem Willen stets woll beygethan verbleiben werden. Gegeben zu Tangermünde den 10. August 1701.

Friderich, König.“     

Endlich ließ auch der Erzbischof zu Mainz etwas von sich hören, natürlich ein – „non possumus“. Er schrieb nämlich an den Kanzleiverwalter einmal:

„Was Du wegen der agnition des Herrn Churfürsten zu Brandenburg vor einen König in Preußen underthänigst berichten und anzeigen thust, das haben Wir ab Deinem Schreiben vom dritten hujus mehrern innhalts vernohmen. Unsere gnädigst befehlende Meynung ist darauf, daß Du hochermeldem Herrn Churfürsten zu Brandenburg kein anderes Praedicat oder Tilulatur, alß wie solche in Cancellariâ, bishero gebräuchlich gewesen, zulegen, und damit solang continuiren lassen sollest, bis Wir derenthalben demnechst ein anderes Verordnen werden. Welches Du also zu befolgen wissen wirst.“

Und dann etwas später, am 3. September 1701:

„Lotharius Frantz Christian von Gottes Gnaden Ertzbischoff zu Maintz, des Heyl. Röm. Reichs durch Germanien Ertz-Cantzler und Churfürst, Bischoff zu Bamberg etc. Ehrsamb und Hochgelehrter und Lieber getreuwer, Wir haben empfangen und vernohmen, was Du wegen der dem dasigen Kayserl. und des reichs Cammergericht umb ertheilung des Königl. Praedicats ahn den Herrn Churfürsten zu Brandenburg beschehene Kayserl. notification underm 31. passati underthänigst ahnzeigen und berichten thuest. Wie auch dieses eine Sache von Bedenken ist, alß wollest Du mit sothanem praedicat noch einige Zeith, biß dahin, daß Wir Dir demnechst Unsere Resolution darüber haben werden zukommen lassen, ahnstehen, Verpleiben Dir damit zu gnaden wohlgewogen.

     Mainz, den 3. September 1701.

Loth. Frantz Christian.“     

Mittlerweile aber war auch Friedrich durch seinen beim Reichskammergericht bestellten Advocaten und Prokurator Dr. Johann Friedrich Hoffmann von der seitens des Erzbischofs zu Mainz beobachteten Renitenz benachrichtigt worden, und mit welchem Widerstande er dem Erzbischof entgegentrat, das zeigt die folgende Stelle eines Schreibens, das er als Antwort auf den Bericht Hoffmann’s an diesen richtete, um auch das Reichskammergericht von dem Inhalte desselben in Kenntniß zu setzen. Der König schreibt unter’m 1. December 1701 von Cöln unter Anderm:

„Unsern gnädigen Gruß zuvor, hochgelehrter Lieber Getreuwer. Uns ist vorgetragen was Ihr sub dato des 11. Novbr. an Uns Berichtet, Wir lassen das compostement, welches daß dortige Cammergericht in der Sache wegen Unserer Titulatur bißhehr gegen Unß gehalten, an seynen Orth gestellet sein, Wan wir aber auch keine andere Ursach hetten darmit übel zufrieden zu seyn, so were doch dieße allein genug, daß daß Cammergericht in diesem Fall einen so großen Unterschied zwischen Unß und Chur Braunschweig machet, undt ohnerachtet der großen contradiction, so wieder diese Neue Chur im Reich gemachet wordten, selbigem Churfürsten sofort den gehörigen Titul gegeben, Unß aber ohnerachtet deß Kaysers außdrücklicher Verordtnung, welcher Chur-Maintz nullo jure sich wiedersetzen kann, den Titul eines Königs renegiret, Wir werden auch dannenhero bey Unserer einmahl gefasseter resolution fest verbleiben, daß Wir nemblich die jurisdiction deß Cammergerichts in Unseren zum Teutschen Reich gehörigen Landen eher nich agnoscieren, auch zu deßelben unterhalt an Cammerziehlern nicht einen Heller zahlen wollen, es seye denn die Unß gebührende Titulatur auf eben die Weiße, wie selbige auß dem Cammergericht an die Nordische Königen gegeben wirdt, würklich zuforderst erfolget.“

Nichtzahlung der Kammerziehler – das wirkte. Mit dieser Drohung hatte der König dem faulen Baume, dem das Kammergericht damals glich, die Axt an die Wurzel gelegt. Das hieß soviel als „Sein oder Nichtsein“. Die Nichtanerkennung der Jurisdiction in den zum deutschen Reiche gehörigen Landen des Königs wäre schon eher zu verschmerzen gewesen, denn das würde die Arbeit vermindert haben, aber Nichtzahlung der Kammerziehler … dieser Schlag mußte von den ohnehin schon genug darbenden Cameralen um jeden Preis abgewendet werden. Zu diesem Zwecke sandte das Reichskammergericht mit einer Eile, die sonst nicht gerade seine Gewohnheit war, schon am 13. December einen Bericht an den Erzbischof zu Mainz, in welchem dieser von den Drohungen des Königs unterrichtet wurde, unter gleichzeitiger Auseinandersetzung der schlimmen Folgen, welche die etwaige Ausführung derselben nicht nur für das Kammergericht und die Recht und Gerechtigkeit suchenden Parteien, sondern auch für die Rechtspflege überhaupt haben müsse. Dieser Bericht war so eindringlich gehalten, daß er seine beabsichtigte Wirkung denn auch nicht verfehlte. Schon am 20. December rescribirte der Erzbischof zu Mainz an den Kanzlei Verwalter des Kammergerichts:

„Ehrsamb und Hochgelehrter Lieber getreuwer; Dir wird sonder Zweifel alschon bekannt seyn, auch lassen wir zu Deiner mehrern Nachricht abschrifftlich hierbeylegen, was ahn Uns des dasigen Kayserl. und Reichskammergerichts Praesidenten und Assessores wegen der Chur-Brandenburgischer seiths pretendirender Titulatur alß Königs in Preußen mit mehrerm gelangen lassen. Nachdehme nun solche Titulatur von gedachten Praesidenten und Assessoren mittelst der von ihnen ahngeführten underschiedlichen ursachen, sonderlich aber, daß, wie Sie besorgen, die heylsambe Justiz leyden und gehemmet werden dürfte, wozu aber Wir Unseres ohrts Es nit gern kommen lassen wollten, gar stark urgirt wird, So werden wir wohl dabey conniviren müssen. Du hast aber auch ermelden Praesidenten und Assessoribus zu vernehmen zu geben, daß, gleichwie dieß Titulatur-Werkh zwischen dem Herrn Churfürsten zu Brandenburg und Uns noch zur Zeit nit ausgemacht ist, Wir also auch Uns deßhalben durch solche gemüßigte connivenz im geringsten nichts begeben haben wollten. Seindt Dir damit zu gnaden wohlgewogen.      Vorchheimb den 20. Decembris 1701.

Loth. Frantz Christian.“     

Damit hatte der Titulatur-Streit zwischen König und Erzbischof ein Ende; beiden Parteien war geholfen, und das Reichskammergericht war diesmal noch der Gefahr entgangen, aus einer unrühmlichen Ursache unrühmlich zu Grunde zu gehen.

J. Lenz.     




Das Berg-Maidel und der Mond.


Grüß’ Gott, du lieber Mondenschein!
Hast gut da droben steh’n!
Ist’s wahr, daß bis in’s Herz hinein
Du kannst dem Menschen seh’n?
Ja, schau nur her, und sieh mich an!
Aus ist’s mit meiner Ruh’,
Und weil ich’s Keinem sagen kann,
So höre du mir zu!

Du weißt, Kam’raden hatt’ ich viel;
Sie freuten sich mit mir
Als Kinder gern bei Tanz und Spiel –
Jetzt steh’ ich einsam hier.
Sie gehen Alle Paar und Paar,
Sodaß mir Keiner blieb.
Die Seppi drunten hat sogar
Von draußen Einer lieb.

Von draußen Einer! Lieber Mond,
Siehst du denn Keinen mehr,
Der, wüßt’ er, wo sein Maidel wohnt,
So gerne bei mir wär'?
Gewiß, du hast ihn jetzt gesehn –
O, zeig’ ihm doch geschwind
Den Weg, den er herauf muß gehn!
Ihn kennt ja jedes Kind.

O, wenn der Rechte endlich käm’
Den Berg zu mir herauf
Und mich als sein lieb Schätzel nähm’ –
Die Mutter weckt’ ich auf
Und jubelte zum Sternenzelt:
Da, lieber Gott, schau her!
Wer ist so glücklich auf der Welt,
Als Mutterl, ich und Er?

Fr. Hfm.
[693]

In stiller Sternennacht.
Originalzeichnung von W. Marc in München.

[694]
Teuerdank's Brautfahrt.
Romantisches Zeitbild aus dem 15. Jahrhundert.
Von Gustav von Meyern.
(Fortsetzung.)


Es war wunderbar, daß man das Fräulein nicht schon früher bemerkt, da ihre Gestalt jetzt eine so auffallende Verlängerung angenommen hatte, daß sie selbst das ansehnlich hohe Gebüsch noch überragte. Die burgundische Mode war zu jener Zeit in ihrem Bestreben durch äußersten Prunk zu glänzen und insonderheit der Schaustellung von Gold und Edelsteinen an der eigenen Person den denkbar größesten Raum einzuräumen, auf den Einfall gekommen, ein zuckerhutförmiges Monstrum zu erfinden, das als Kopfputz à la hénin bald die Höfe Europas eroberte. Ein solches kegelförmiges, zwei Kopflängen übersteigendes Thurmdach von violettgemustertem Goldstoff ragte über der Sylphidengestalt Adelheid's, das Haar an Stirn und Schläfen freilassend, schräg nach rückwärts und ließ bis zur Erde einen seiner ganzen Breite nach an ihm befestigten, spitzenbesetzten Schleier niederwallen, welcher, wenn er aufgerafft, wie jetzt, über den Arm geschlagen wurde, bei leisem Gegenwinde einem rückwärts geblähten, durchsichtigen Segel nicht unähnlich war – die Libelle hatte Flügel bekommen. Und dennoch, so sehr es wider die Natur zu sündigen schien, den zur Krönung des Menschen bestimmten Kopf also herabzusetzen: für schlanke Gestalten war es, im Verein mit den schmalen, lang nach vorn geschnäbelten Schuhen, eine höchst kleidsame Tracht. Und die Trägerin wußte dies wahrscheinlich selbst am besten, denn ein leichtes Schmollen umspielte ihre Züge, als sie jetzt auf Hugo's Frage, die Augen wie gelangweilt nach oben gerichtet und mit der Reitgerte vor sich hinwedelnd, antwortete:

„So allein, sagt Ihr? Wenn freilich die Herren Wichtigeres zu verhandeln haben, als eine verlassene Waldläuferin zu beschützen ...!“

„Waldfee!“ verbesserte Hugo lachend. „Euer Anblick gemahnt daran in dieser Umgebung. Und ich hörte wohl, Fräulein, daß die Feen die Sterblichen, aber niemals, daß Sterbliche die Feen zu beschützen hätten.“

„Ich aber glaubte Euch bei der Herzogin,“ entschuldigte sich der Prinz, als sie eben den Hofraum betraten.

„Die Aebtissin geht gar so langsam, Prinz. Der Weg hat sie ermüdet, und sie will hier ein wenig ausruhen, ehe sie zum Kloster zurückkehrt und wir nach Gent heimreiten.“

„Nach Gent!“ wiederholte seufzend der Prinz.

„Ihr seufzet? Es geht ja zur 'großen Action', wie Ihr es nennt, Prinz.“

„Ach, Fräulein, ich ritte lieber mit Euch durch Wald und Haide, als nach Gent.“

„Ich glaub's,“ murmelte Hugo.

„Wenn Euch das ein Vergnügen ist, Prinz,“ lachte Adelheid, scheinbar gar nicht unangenehm berührt von der naiven Aeußerung in Gegenwart Hugo's, „so möget Ihr es noch oft haben, wenn Ihr erst – unser gnädiger Herr und Gebietet seid.“

Ihr Blick streifte Hugo. Hugo biß sich auf die Lippen.

„Ja, recht oft, Fräulein,“ wiederholte eifrig der Prinz. „Dann reiten wir zusammen auf die Reiherbaize.“

Adelheid mußte den Blick senken – ein solcher Blitz traf sie aus Hugo's Auge. Sie fühlte, daß sie zu weit gegangen sei. Strafe mußte sein.

„Fürchtet Ihr nichts dabei, Prinz?“ fragte Hugo, sarkastisch lächelnd.

„Ich – fürchten – was?“

„So käme Euch nicht der Gedanke, die Herzogin könnte – eifersüchtig auf ihr Hoffräulein werden?“

„Alle Bomben – auch das noch!“ rief der Prinz mit Entsetzen.

„Ich dächte, sie hätte Grund genug dazu.“

„Aber nicht in Bezug auf den Prinzen,“ stach jetzt Adelheid um so gereizter auf Hugo ein, als sie sich getroffen fühlte.

Hugo erschrak. Er bereute offenbar, sie herausgefordert zu haben, und fürchtete weitere Erklärungen, denn mit einem ängstlich bedeutungsvollen Blick auf das Portal flüsterte er ihr ein „Still doch!“ zu, ehe er mit auffallend erhobener Stimme fortfuhr:

„Ei, wenn sie keinen Grund hat, wegen des Prinzen eifersüchtig auf Euch zu sein, Fräulein, so müßtet Ihr nothwendig von Jemand Anderem geliebt werden, der ihr Herz besitzt – ich kenne aber nur einen Solchen.“

„Ich auch,“ fiel ihm die Unverbesserliche in's Wort.

„Ihren früheren Verlobten, den Erzherzog Maximilian,“ fuhr Hugo hastig fort. „Und es wäre wirklich erstaunlich, Fräulein, wenn er Euch lieben sollte, ohne Euch noch gesehen zu haben.“

Niemand konnte ein verblüffteres Gesicht machen als der Prinz.

„Wa – was, Fräulein?“ stotterte er. „Liebt ihn Maria wirklich?“

Hugo war in peinlichster Angst. Er wußte, hinter dem Portale mußte Maximilian jedes Wort des Gespräches hören. Wie schrecklich, auf so unglückselige Weise, aus so gänzlich irrigem Grunde die gefährlichste aller Leidenschaften in ihm zu wecken! Alles konnte verdorben werden, das Schicksal der Herzogin, des Landes, ja mehr konnte auf dem Spiele stehen. Aber so unruhige Blicke er auf das Portal warf, so energische Zeichen er Adelheid machte, die Frage des Prinzen zu bejahen: sah sie ihn verwundert an, als verstehe sie ihn nicht, und weidete sich an seiner Qual.

„Vielleicht,“ erwiderte sie dem Prinzen nach kurzem Sinnen zögernd, „vielleicht hat sie ihn einmal geliebt, aber“ – Hugo vermochte sich kaum noch zu halten – „wie das auf den Thronen öfters vorkommen soll –“

„Aha!“ unterbrach sie lachend der schnell wieder beruhigte Prinz.

„Es kostet Euch den Kopf,“ raunte Hugo ihr zu.

„Wer's noch glaubte!“ gab sie ihm mit spöttischer Handbewegung zurück.

„Also, wie das auf den Thronen öfters vorkommen soll –?“ nahm der Prinz eifrig den Faden wieder auf.

„So wird auch ihr Herz noch immer Platz haben für –“ fuhr Adelheid unschlüssig fort.

Vergebens wehrte ihr Hugo.

„Für –?“ drang der Prinz in sie.

„Einen Anderen!“ stieß sie diplomatisch als einzige Concession heraus, die ihre Bosheit zuließ.

Hugo athmete auf. Noch war nicht Alles verloren, denn wenn auch das ihm wohlbekannte leicht entflammbare Temperament des unsichtbaren Zuhörers schon Feuer gefangen haben mußte, noch gab es einen Ausweg, noch war der nur mit halber Schärfe geführte Streich zu pariren, und rasch ersah er sich diesen Vortheil.

„Prinz,“ warf er harmlos scherzend hin, „das Fräulein beurtheilt die Herzogin nach sich, und nachdem Ihr Eurer künftigen Gemahlin heute zum ersten Male so schmeichelhafte Dinge gesagt habt, meint das Fräulein, daß auch Ihr wohl einen Platz in ihrem Herzen gewonnen haben könntet.“

Ein leises Rauschen wie von schleifenden Frauenkleidern kam ihm zu Hülfe. Hinter der Krümmung des Fußpfades trat die Herzogin mit ihrer Base hervor. „Gott sei Dank!“ sagte er sich, als Adelheid und der Prinz sich nach ihnen umwendeten.

„Nun denkt an unsere Wette, Prinz!“ mahnte er diesen.

Der Prinz, der Hugo's ihm so schmeichelhafte Erklärung mit offenem Munde und einem Ausdrucke der wasserblauen Augen zugehört hatte, als ob er im Zweifel sei, ob er Ernst oder Scherz höre, schien sich für erstere Auffassung entschieden zu haben, denn er nickte freudig und schritt mit zuversichtlicher Miene der Herzogin entgegen.

Der Ritter war auf einige Augenblicke mit Adelheid allein.

„Ihr ahnet nicht, was Ihr angestiftet haben könnt,“ flüsterte er ihr vorwurfsvoll zu. „Und ich machte Euch doch so verständliche Zeichen, daß wir nicht allein sind und Zuhörer haben. Ich glaubte, wir wären Freunde und Bundesgenossen seit dem Billete von heute Mittag.“

„Freunde?“ flüsterte sie, erstaunt seinem Blicke auf das [695] Portal folgend, zurück. „Mag sein! Aber Bundesgenossen? Ich habe es längst bereut. Ihr leugnet, selbst Teuerdank zu sein – aber dieses unverständliche Billet, Eure Unruhe, dieser ganze sonderbare Ausritt ... o, Ihr täuschet mich nicht ... die Vermählung mit dem Prinzen wird Euer Verhältniß zu Maria nur begünstigen. Ihr werdet künftig herrschen, und hier soll ungestörte Abrede darüber gehalten werden. Dieser Ausritt gilt nur einem maskirten ... Stelldichein.“

„O Gott, ist es möglich? Vertrauen!“ flehte Hugo.

„Wer möchte Euch noch vertrauen, hinter dem ewigen Visir? Wozu auch sonst dies Alles? Und dann ... Ihr habt mich gereizt, Ritter. Der Prinz ist so gut von Herzen und hängt wahrhaft an mir.“

„Adelheid!“

Ein momentanes Aufleuchten zuckte bei dem vertraulichen Ausrufe in Adelheid's Auge, aber sie war gewitzigt und nicht gesonnen, sich wieder eine Blöße vor ihm zu geben.

„Der Arme!“ fuhr sie fort, als ob ihre Gedanken, so glühend sie dem Ritter zuflogen, nur mit dem Prinzen beschäftigt wären. „Ich fühle Mitleid mit ihm.“

„Adelheid!“ und noch inniger klang seine Stimme – „Mitleid ist nur ein erster Schritt zur –“

Sie konnte ihn nicht vollenden lassen; ihr Herz klopfte zu laut; sie hätte sich nicht mehr halten können. Gewaltsam raffte sie sich auf.

„Wer weiß!“ brach sie achselzuckend kurz ab, indem sie sich der Herzogin entgegenwandte. Aber ihr Schritt war wie der einer Fiebernden, und mit wunderbar glühendem Auge blickte sie noch einmal auf ihn zurück.

„Sie liebt Dich, aber Du hast ihr Vertrauen verloren. Wie könnte sie auch!“ murmelte Hugo vor sich hin.

Nicht viel anders schien es mit der Zuversicht des Prinzen bestellt. Trotz seines kühnen Anlaufs mußte er wohl auf halbem Wege stehen geblieben sein; denn erst jetzt, als er Adelheid's Schritte hinter sich vernahm, entschloß er sich, der im Gespräche mit ihrer Base stehenden Herzogin entgegenzutreten.

Maria hielt die linke Hand im Arme der Aebtissin, während ihre Rechte den langen schwarzen Schleier, der von ihrem goldgemusterten, aber mit einem Kranze von schwarzen Perlen geschmückten Hut à la hénin herniederwallte, zusammengerafft trug. Der reiche Kopfputz und die lange Hermelinschleppe würden ihr etwas Königliches gegeben haben, wenn sich nicht die wahre Natur ihres Wesens durch die beiden Händchen verrathen hätte, welche, die eine über dem Ellenbogen der Aebtissin, die andere vorn den Schleier haltend, dicht nebeneinander lagen. Schmal und zierlich gebaut, wie Kinderhändchen, schauten sie neugierig aus dem der Sitte gemäß fast bis an die Finger reichenden farbigen Vorstoß der engen Aermel heraus. Und doch hatten sie ein Königreich zu vergeben, diese Händchen, und ein Herz zu verschenken, das selbst ein Königreich aufwog. ... Aber freilich, daß kein Prinz von Cleve der Glückliche sein konnte – das war eine Wahrheit, die Niemandem lebhafter vor Augen trat, als dem armen Prinzen selber, als er sie so in ihrer Herrlichkeit vor sich stehen sah. Des Ritters Worte mußten doch Scherz gewesen sein. Wie wäre es möglich, daß er in diesem Herzen einen Platz gewonnen? So sagte ihm seine einfach-ehrliche Selbsterkenntnis; und unwillkürlich mußte er wieder ihres früheren Verlobten gedenken, und der Nimbus von Kaisers Majestät umstrahlte sie wieder mit unnahbarem Glorienscheine.

Aber Adelheid erschien neben ihm – er mußte sprechen.

„Wünschet Ihr,“ stotterte er, auf Maria zutretend, „oder vielmehr befehlet Ihr, gnädige Muhme, in jener Ruine etwas zu verweilen?“

„Meine Base wünscht ein wenig zu rasten, ehe sie zurückkehrt,“ antwortete Maria.

„Es ... gilt ... eine Wette mit Huy, die im Augenblicke entschieden sein könnte, aber ... mein Herr Vater ... Ihr wisset ... Würde ich Euer Gnaden in einigen Minuten sicher hier wieder antreffen?“

„Verlasset Euch darauf!“ erwiderte Maria mit schmerzlichem Lächeln. „Ich bin Eure Gefangene – auf Ehrenwort.“

„Was sagt Ihr, gnädige Fürstin?“ stammelte der Aermste fast erschrocken. „Ihr seid meine erhabene Gebieterin. Das Andere ... geht meinen Herrn Vater an.“

Und froh, das peinliche Gespräch abbrechen zu können, verabschiedete er sich stumm, rief nach seinem Rappen, winkte Hugo herbei und entfernte sich mit ihm der Lichtung zu.

Maria aber führte ihre Base, während Adelheid auf und ab wandelte, noch die wenigen Schritte bis zum Hofraume der Ruine, suchte ihr dann sorgsam ein Plätzchen aus, ließ sie sich setzen und knieete auf dem Moose neben ihr nieder, die Hände in ihren Schooß legend.

„Wir sind allein,“ flüsterte sie. „Gott stehe mir bei!“

„Dir zu Liebe that ich, was ich nicht sollte,“ seufzte die Aebtissin.

„Ach, Base,“ erwiderte Maria, „ich bebe vor innerer Angst. Dieser räthselhafte Huy, der jeder Frage ausweicht und mich mit dem Zauberklange des einen Namens wie am Gängelbande bis in diese einsame Ruine gelockt hat – darf ich ihm vertrauen, wie ich so gern möchte? ... Was kann ich hier finden? Wen sucht meine Seele, als Einen – und ach, er ist fern.“

„Maria!“ erklang es unter dem Portale.

Jäh zusammenschreckend, wendete Maria den Kopf, sprang empor, trat einen Schritt vorwärts, breitete die Arme aus und stand einen Augenblick wie gebannt einer Bildsäule gleich.

„Ist es möglich? – Maximilian!“ entfloh es ihren bebenden Lippen.

Aber schon lag Maximilian zu ihren Füßen; schon preßte er ihre Hand an seine Lippen, nur daß er, aufblickend, den Finger erhob, als warne er vor jedem unvorsichtigen Ausrufe.

„Hier heiße ich Teuerdank,“ flüsterte er.

Nicht anders mochte einst vor den Augen des Bildners Galathea in rosiger Gluth zum Leben erwacht sein, als jetzt Maria.

„Teuerdank, mein Teuerdank!“ rief sie, ihn zu sich emporziehend und mit strahlender Liebe ihm in’s Auge blickend. „O, ich ahnte es; ich wußte es und wagte doch nicht, es für möglich zu halten – nur Du konntest es sein. Sei mir willkommen, edles deutsches Blut, das ich so sehr verlanget und nun bei mir sehe!“

Noch hatte es über Maximilian’s Stirn, trotz seines Entzückens, wie der Schatten eines bösen Gedankens gelegen. Nach diesem unverhohlenen Ausrufe ihres kindlichen Gemüthes aber flog der Schatten dahin.

„Meine wonnigliche Braut!“ rief er. „Nein, dies ist ungeheucheltes Entzücken. Hinweg mit jedem Argwohn! Mein Leben für Dich, Geliebte!“

Und sie lagen sich in den Armen.

„Allgütiger, Dein Werk!“ betete die fromme Frau.

„O Gott, was habe ich gethan!“ sagte sich Adelheid, die am Eingange des Hofraumes mit namenlosem Erstaunen Zeuge des Vorganges gewesen war.

„Aber was meintest Du, Geliebter?“ fragte Maria, sich der Umarmung entwindend, wie wenn auch sie erst einen bösen Schatten aufzuhellen hätte. „Du sprachest von Argwohn – Du meintest mein Zuvorkommen gegen den Dauphin ... O wenn Du wüßtest ...!“

„Beruhige Dich! Ich weiß es jetzt,“ lächelte Maximilian, einen seltsamen Blick zu Adelheid hinüberwerfend. „Und vielleicht auch eine Andere.“

Adelheid erröthete über und über. Maria aber ging so vollständig in ihrer eigenen Gedankenrichtung auf, daß sie weder auf sie, noch auf Maximilian’s Anspielung achtete.

„O wenn Du wüßtest, Geliebtester,“ wiederholte sie, „wie ich um Dich geweinet, wie viel ich um Dich gelitten! Was hat mir die Welt nicht Leides angethan seit dem Tode meines Vaters! Was ist nicht auf mich eingestürmt, auf mich armes, schwankes Rohr! Aber jetzt habe ich Dich; jetzt stütze ich mich auf Deinen starken Arm; jetzt jubelt mein Herz – Alles, Alles ist vergessen, und die ganze Welt könnte ich umarmen.“

Und sich zur Aebtissin wendend und ihr um den Hals fallend, jubelte sie auf: „Base, er ist da,“ und nach ihr Adelheid umarmend: „Adelheid, er ist da,“ und dann wieder zu Maximilian: „Mein Bräutigam, mein Retter, Du bist da.“

Und wieder lagen sich Beide in den Armen.

Eine Thräne der Rührung glänzte in den Augen der Aebtissin – es sei denn, daß es, trotz des Klosters, eine Thräne wehmüthiger Erinnerung gewesen wäre.

[696] Hoch auf aber athmete Adelheid. Ihr war ein Stein vom Herzen gefallen. „Sie liebt ihn und nur ihn,“ jubelte es in ihr. „Wer könnte noch zweifeln? Wie konnte ich so verblendet sein! O, über mich selbst möchte ich lachen.“ Und unbewußt lachte sie still vor sich hin.

Mit Verwunderung bemerkte es die Aebtissin.

„Du lachst, Kind?“ fragte sie, zu ihr tretend.

Verwirrt fuhr Adelheid empor, aber schnell gefaßt deutete sie auf Maria.

„Sehet doch selbst, ehrwürdige Frau,“ lächelte sie. „Ist das burgundische Hofetiquette? O, Huy hatte Recht – es giebt Granden der Zeit, die jeder Form spotten.“

„Maria liebt,“ seufzte entschuldigend die fromme Frau.

„Sie ist geliebt,“ seufzte das Hoffräulein.

Mit einem seltsam weltlichen Blicke sah ihr die Aebtissin in’s Auge; dann erhob sie schalkhaft drohend den Finger, und ein „Ei, ei, Fräulein!“ kam eben über ihre Lippen, als eine rasche Bewegung der Herzogin ihr Auge dorthin lenkte.

„Aber o Gott, mein Geliebter,“ rief Maria, sich scheu umblickend, wie wenn sie erst jetzt zur Wirklichkeit zurückkehre. „Du kommst doch nicht ohne starke Macht, ohne Heer?“

Maximilian lächelte.

„Siehe da, meine Theure,“ sagte er launig, auf den alten Ritter und den Pagen deutend, die, von Allen unbemerkt, längst hinter der Warte vorgetreten waren, „Ritter Ehrenhold und Junker Fürwittig; sie sind mein ganzes Heer.“

Trotz ihres Schreckens konnte Maria dem Schalke hinter ihren Lippen nicht Einhalt thun; er sprang hervor.

„Führwahr, mein Lieber,“ lachte sie mit kindlicher Lust, indem sie unmuthig die sich vor ihr Neigenden begrüßte, „Du hast die zahlreichste Macht, denn Dir folget Alt und Jung.“ Und dann seine eigene Weise nachahmend, fuhr sie fort: „Du aber, mein Theurer, sieh hier meine ehrwürdige Base Chimay und das Hoffräulein von Helwin – sie sind mein ganzes Heer.“

„Der Segen des Himmels, ehrwürdige Frau,“ sprach Maximilian verbindlich die Aebtissin an, „gilt mehr als ein Heer.“

Die Aebtissin verneigte sich vor ihm, nicht ohne zum Danke mit ihrer Hand das Zeichen des Kreuzes zu schlagen.

„Das Fräulein aber,“ wendete er sich mit einem Zuge von Schelmerei an Adelheid, „scheint mir in irdischen Dingen sehr wohl berathen.“

„Das ist sie, das ist sie,“ nickte Maria. „Sieh, welche Menschenkenntniß!“

In tiefster Beschämung neigte sich Adelheid. Aber ohne Erbarmen fuhr er fort:

„Nicht so, Fräulein? Im Herzen des Menschen, zumal auf den Thronen, muß neben dem Hauptplatze immer noch ein Sessel leer stehen?“

„Verzeiht, Herr!“ stammelte sie kaum hörbar.

„Wie weißt Du?“ fragte erstaunt Maria.

„Pst, meine Liebe!“ lächelte Maximilian. „Auch ich habe meine kleinen Geheimnisse unter allen den großen, die uns hier umgeben. Aber mit solcher Hülfe und mit dem bewaffneten Geleite, das Du mir entgegensandtest, verzweifle ich an nichts.“

„Bewaffnetes Geleite, Max?“

„Ei, meine Liebe, Du weißt ja, die beiden Hauptleute mit fünfhundert Mann, die mich an der Grenze in Deinem Namen empfingen.“

„In meinem Namen? Träume ich denn? Ich weiß von nichts.“

„Nun, dann, bei meinem Schutzpatron, hat Ritter Ehrenhold Recht, und es sind keine Leute von Fleisch und Blut, die uns bisher durch die Wälder geleitet.“

„Mir graut, Max,“ flüsterte Maria. „Denn wisse, auch ich stehe unter unsichtbarem Schutz. Aber ich ahne jetzt wenigstens den räthselhaften Vermittler, der mich arme Gefangene im letzten Augenblicke der Noth Dich hier finden ließ.“

„Dich arme Gefangene? Im letzten Augenblicke der Noth? Und spazierest doch frei in Wald und Ruinen umher?“

„O mein Geliebter, dort seitwärts halten fünfzig Mann Cleve’scher Reiter, die mich überwachen. Und Du weißt noch nicht das Schlimmste, weißt nicht, daß ihr Herr mich durch den blutdürstigen Pöbel gezwungen hat, noch heute Abend mein Verlöbniß mit seinem Sohn feiern zu lassen.“

„Ehrenhold, Ehrenhold,“ rief Maximilian zu dem alten Ritter hinüber, „hatte ich Recht, zu eilen? Ha, zur guten Stunde bin ich gekommen. Bei meinem Schwerte, das Fest gedenken Wir zu stören. Einen mächtigen Drachen glaubte ich im Kampfe bestehen zu müssen, aber kein winziges Eidechslein.“

„Vorsicht, Vorsicht, Max!“ flehte Maria. „O fürchte den Clever! Seine Macht ist groß beim Volke, und sein Sohn ist ein Tapferer. Horch!“

Alle lauschten auf. Von der Lichtung her erscholl Galoppschlag, der alsbald wieder verstummte. Dann klang die laute Stimme Huy’s herüber: „Führet die Pferde fort! Meine Stute gehört dem Prinzen.“

„Das ist Huy mit dem Prinzen von Cleve,“ flüsterte Maria. „Um Gott, Max, verbirg Dich!“

„Ich mich verbergen? Vor ihm?“ antwortete Maximilian stolz lächelnd. Und ruhig sich auf sein Mauerstück setzend, fuhr er fort: „Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich mich verstecken müssen – als Kind – damals, als im Bruderkriege meine lieben Wiener, die allezeit unruhigen Köpfe, die Hofburg belagerten und meine Mutter sich mit mir in das feste Erdgeschoß flüchtete. Aber bei Gott, nie wieder!“

„Wenn Du mich liebest, Max – Du hörest es ja, sie kommen,“ drang Maria in ihn.

„Ich höre sie, und ich liebe Dich sehr,“ sagte er gelassen. „Darum bitte ich Dich: ziehe Dich ein wenig hinter die Ruine zurück! Auch Ihr, lasset mich!“ befahl er kurz zum Ritter und zum Junker hinüber.

Die Schritte ließen sich schon dicht hinter der Krümmung des Fußpfades vernehmen. Deutlich war die rauhtönige Stimme des Prinzen zu erkennen.

„Ich sagte es ja,“ sprach er, „mein Hengst setzt wie ein Hirsch. Aber jetzt mache ich mir wahrlich ein Gewissen vor meinem Herrn Vater daraus. Ich eile voran, Huy, nach meiner gnädigen Braut zu sehen.“

„Seiner Braut!“ brauste Maximilian auf. Und emporspringend und auf das Portal deutend, gebot er: „Geht!“

„Max!“ flehte noch einmal, mit gefalteten Händen zu ihm aufblickend, Maria.

„Geh!“ antwortete er streng. Und Alle gingen.

Es war die höchste Zeit gewesen. Kaum war Maria gesenkten Hauptes hinter dem Portal verschwunden, als der Prinz von Cleve den Hofraum betrat. Den fremden jungen Rittersmann erblickend, stutzte er und trat einen Schritt zurück; seine Hand legte sich auf den Degenknauf.

„Wo ist die Herzogin?“ rief er.

Maximilian deutete auf das Portal.

„Dort ist sie, und unter meinem Schutze.“

„Schutz? Vor wem?“

„Vor Jedem, der ihre Freiheit bedroht.“

„Was wagt Ihr?“ fuhr der Prinz auf. „Bei meines Herrn Vaters Zorn, das geht Euch an den Kopf, Mann!“

„Denkt an den Eurigen – er sitzt sehr lose ... Mann!“

„Ha, kennet Ihr mich nicht? Sehet in mir den künftigen Herrn von Burgund und Niederland!“

„So hoch hinauf?“ spottete Max. „Sieh da, ein Hofhahn will in’s Adlernest.“

„Frecher Bube!“ knirschte der Prinz, „ein Wort von mir genügt, Dich binden zu lassen – aber erst steh’ mir Rede! Wer bist Du?“

Maximilian’s Augen funkelten. Mit all seiner angeborenen Hoheit den Kopf zurückwerfend, maß er die vierschrötige Gestalt des Prinzen von oben bis unten.

„Wer ich bin? Einer, der gewohnt ist, mit dem Schwerte Antwort zu geben. Hie Teuerdank!“ Und sein Schwert flog aus der Scheide.

Der Prinz that es ihm nach. Aber einen so ungewöhnlichen Eindruck hatten ihm Haltung und Wesen des Anderen gemacht, daß er, wie um sich eines Rückhaltes zu versichern, noch während des Ziehens den Kopf wandte, um Huy, der mit verschränkten Armen am Hofraum stand, ein „Hollah“ zuzurufen.

In demselben Augenblicke fühlte er einen flachen Klingenhieb.

„Ha, Feigling! Auch noch Hülfe?“ höhnte Maximilian.

„Tod und Teufel! Ich züchtige Euch allein. Hie Prinz

[697]

Der Nixenteich aus dem Malkastenfeste zu Düsseldorf.
Nach der Natur aufgenommen von Wilhelm Beckmann in Düsseldorf.

[698] von Cleve!“ rief wüthend der Prinz, und mit gewaltigen Schwertschlägen hieb er auf seinen Beleidiger ein.

Es war ein nicht zu verachtender Gegner, den Maximilian vor sich sah. Seine mächtigen Armknochen ließen das Schwert, einem Schmiedehammer gleich, auf- und niedersausen. Auch war seine Ausbildung an dem entlegenen kleinen Hofe fast ausschließlich der Waffenübung zugewendet gewesen, und schon manchen handfesten Ritter hatte er siegreich bestanden. Aber Maximilian's nicht mindere Körperstärke hatte durch Anlage, wie durch Schulung berühmter Lehrmeister, jene Stahlkraft gewonnen, die dem Eisen Biegsamkeit und Schärfe, den Muskeln aber die blitzartige Schnellkraft verleiht, die auch überlegenen Angriff nicht nur zu brechen, sondern unmittelbar und überraschend zu erwidern im Stande ist. Und dennoch machten ihm Adolf's Gewalthiebe zu schaffen. Es geschah offenbar mit Absicht, daß er dieselben eine Zeitlang unerwidert an seiner Klinge sich brechen ließ. Die Hand des Gegners sollte erst erlahmen. Dann aber – plötzlich – ließ er, nach damals im Schwertkampf beliebter Ueberraschungsweise, die ganze Wucht seines Schwertes in schräger Linie von oben nach unten so gewaltig gegen den Kreuzgriff des Gegners schmettern, daß die Waffe, der krampfhaften Umklammerung der Finger entrissen, jählings zu Boden flog.

Mit wildem Blick starrte ihr der Prinz nach. Aber nicht eine Secunde, und er war auch schon einen Schritt zurückgesprungen und riß den Dolch aus der Scheide.

„So denn zum Dolchkampf!“ schrie er wüthend und legte sich zum Sprunge aus.

Es wäre für einen Meister, wie Maximilian, ein Leichtes gewesen, ihn jetzt mit dem Schwerte niederzustoßen. Aber gegen einen nicht mehr ebenmäßig Bewaffneten und einen Tapferen dazu seinen Vortheil zu mißbrauchen, würde ihm als Schmach erschienen sein. Im Gegentheil, wie wenn ihm gelüste, auch in der zweiten Kampfart seine Ueberlegenheit zu beweisen, warf er geringschätzig sein eigenes Schwert zu Boden, zog den Dolch und erwartete festen Blickes seinen erbitterten Gegner.

Aber die Gefahr einer so mörderischen Waffe war zu unberechenbar, als daß der Erbe des heiligen römischen Reiches seiner großmüthigen Tollkühnheit überlassen werden durfte.

Gleichzeitig und von demselben Gedanken beseelt, sprangen von rechts und links Huy und der schon längst besorgt lauschende Ritter Herberstein hinzu und kreuzten ihre Klingen zwischen den Kämpfenden.

„Zu viel der Großmuth, Herr!“ rief Hugo.

Der alte Ritter aber, mit flammendem Blick auf den Prinzen, erhob feierlich die Linke:

„Des Deutschen Hand verdorre, der den Dolch zückt wider Diesen!“

In namenloser Bestürzung ließ der Prinz den Arm sinken; der Dolch entfiel ihm.

„Was muß ich ahnen?“ stammelte er, mit wirrem, fragendem, ehrerbietigem Blick zu Maximilian aufstarrend.

„Euer Wort, daß Ihr verschweigen wollt, was Ihr hören werdet!“ sagte Maximilian, ihm offen in's Auge blickend.

„Mein fürstlich Wort!“

„Hie Maximilian von Oesterreich!“

Der Prinz stand sprachlos da. Hinter dem Portal aber kamen, durch den frischen, fröhlichen Ton, mit dem Max das Wort gesprochen, hervorgelockt, als wären sie von bösem Zauber erlöst, Maria und die übrigen Verborgenen hervor.

„Gelobt sei Gott, kein Blut!“ rief Maria.

Selbstbewußt lächelte Max.

„Der soll erst noch geboren werden, der Uns im Kampf bestehet,“ sagte er, indem er sein ihm vom Pagen dargebotenes Schwert in die Scheide zurückstieß.

Erst jetzt gewann der Prinz seine Fassung wieder. „Euer Gnaden hier?“ rief er, bewundernd zu Maximilian aufblickend. „Bei Gott, das ahnte ich nicht, und mich gereuet, was ich gethan.“

„Das eine Wort genügt, Prinz. Alles ist vergessen.“

Aber bei dem Prinzen schien, trotz des freimüthig-fröhlichen Blickes, mit dem ihm Max zugenickt hatte, keineswegs Alles vergessen zu sein; eine böse Erinnerung mußte wohl mit seinen augenblicklichen Empfindungen kämpfen; seine Brauen zogen sich zusammen, wie wenn er nur mit Widerwillen dem Drucke eines stärkeren Pflichtgefühls weiche.

„Und dennoch, Euer Gnaden,“ brachte er endlich stockend und mit sichtbarster Verlegenheit hervor, „es fällt mir wahrlich schwer, aber ... wir sind in fremdem Lande ... in fremder Sache – und die Pflicht gegen ... gegen meinen Herrn Vater ... gebietet mir, Euch zu sagen: Eure Hoheit wird mir ... zu meinem Herrn Vater folgen müssen.“

„Ich Euch folgen? Ei, das ist lustig. Ich glaubte, Euch entwaffnet zu haben, und Ihr wäret mein Gefangener.“

„Euer Gnaden irren. Es bedarf nur eines Rufes von mir ...“

„O Gott!“ entfuhr es der Herzogin.

Maximilian warf einen schnellen Blick auf seine Begleiter.

„Umgekehrt, Prinz! Ein Wort von mir, und Ihr seid des Todes,“ erwiderte er mit einem Ausdruck, der keinen Zweifel zuließ, und im Augenblick sah der Prinz das Schwert des alten Ritters auf sich gezückt, und auf seine Brust schon das des Junkers gesetzt, der nur noch fragend am Auge seines Herrn hing.

Jetzt erst ging dem Prinzen ein volles Licht über seine verzweifelte Lage auf, und doch wußte er noch nicht einmal Alles, denn er hatte während des Kampfes nicht bemerken können, wie Ritter Huy. am Eingange des Hofraumes wachehaltend, zweimal sowohl nach der Cleveschen, wie nach der entgegengesetzten Seite abwehrende Handbewegungen gemacht, wie wenn er unberufene, durch den Lärm angelockte Störer fern halten wollte. Aber Eines begriff er völlig klar, daß sein Leben jetzt an einem Blicke Maximilian's hing, und so verblüfft war er von dieser Erkenntniß, daß er, ob auch ohne jede Furcht, mit offenem Munde von den Schwertspitzen auf Max und von diesem wieder auf jene blickte.

(Fortsetzung folgt.)




Die Kaisertage in Düsseldorf.
2. Das Malkastenfest.
(Mit Abbildung.)


Natur und Poesie hatten sich bei diesem Feste, welches von dem schönsten Wetter begünstigt war, zu einem Gesammtbilde vereinigt, das lebhaft an die prächtigen Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ erinnerte. Die Künstler des Malkastens hatten auf’s Neue bewiesen, daß sie zu den gottbegnadeten Zauberern im Reiche der Phantasie und Poesie gehören, die Herz und Sinn derartig gefangen zu nehmen wissen, daß man den bekannten Warnungsruf Karl Simrock’s erst recht versteht:

„Dich bezaubert der Laut; Dich bethöret der Schein;
Entzücken faßt Dich und Graus;
Nun singst Du nur immer am Rhein, am Rhein
Und gehst nicht wieder nach Haus.“

Vor dem Haupteingange des sogenannten Hinterlocals im Malkasten war ein zeltartiger Vorbau errichtet, wo sich die Garderoberäume für die allerhöchsten Herrschaften befanden. Nachdem der Kaiser mit seinem Gefolge gegen sieben Uhr Abends den Wagen verlassen, betrat er das Vestibül, welches ebenso wie der Hauptsaal auf das Prachtvollste decorirt worden war. Die fremdherrlichen Officiere hatten sich rechts und links von den für die höchsten und hohen Herrschaften hergerichteten Logen eingefunden. Die Kaiserloge sowohl wie das hinter dem Winterlocale erbaute Theater war nur für diesen einen Abend errichtet und umfaßte mehr als zweihundertundneunzig Personen; die Sitzplätze für die Mitglieder des Malkastens befanden sich zwischen dem Theater und der Kaiserloge und boten für etwa achthundertundfünfzig Personen Raum.

Nachdem die Majestäten und anderen hohen Herrschaften am Eingange von dem Vorstande des Malkastens empfangen und in den Saal geleitet worden, begann das Vorspiel auf der kleinen Bühne daselbst. Der Führer des ganzen Abends, Professor Camphausen, richtete in der Maske des „wilden Mannes“ aus dem preußischen Wappen an die Majestäten eine sinnige dichterische Ansprache, Bezug nehmend auf eben dieses Wappen selbst, welches von Grün und Blumen auf der Bühne prachtvoll hergestellt war. Hierauf geleitete er die hohen Gäste zu ihren Sitzen vor das provisorische Theater. Das festlich gekleidete Publicum begrüßte das Kaiserpaar nebst Gefolge durch Erheben von den Plätzen. Nach dem mit lebhafter Wärme gesprochenen Prolog, der mit einem Hoch auf das kaiserliche Haus endete und mit Orchestertusch begleitet wurde, begann das von dem Maler Karl Hoff verfaßte Festspiel, das sich durch edle Sprache, reiche Phantasie und glühende Vaterlandsliebe auszeichnete. [699] Zunächst ertönten die Klänge der Ouverture. Der Vorhang theilte sich langsam und der Raum eines Gartens in später Abendstunde war sichtbar; in demselben sind die „Alten“ mit ihrem Meister versammelt. Ein Anflug grotesker Komik zeichnet ihre Erscheinung aus; hierauf stürzt ein Jüngling herein und erzählt, daß große Dinge nahen: ein Weib in Waffen errege rings das Land. Hinter der Scene tritt nun „Germania“ (Fräulein Haverland, königlich sächsische Hofschauspielerin) mit sechs in deutsche Farben gekleideten Pagen auf und heischt von den Aeltesten, daß sie dem hohen Herrn am Abend eines mühevollen Tages die Zeit verkürzen; die Kunst rühme sich ja der ewigen Macht des Schönen. In der That erscheinen „Geschichte“ (Fräulein Irschick, bayerische Hofschauspielerin aus München), „Sage“ (Fräulein Schauenberg aus Berlin) und „Kunst“ (Fräulein Herrmann vom Stadttheater zu Düsseldorf), um durch ihre Darstellung die Poesie des Festes zu erhöhen.

Das Festspiel entrollte nun sowohl in Bildern wie in Worten den geschichtlichen Entwickelungsgang des deutschen Reiches und trug durchaus das Gepräge der Geschichte, Poesie und Sage des Rheins.

„Der Germanenzug“, arrangirt von Professor A. Baur, Decoration gemalt von Professor A. Achenbach, „Der mittelalterliche Zug“, arrangirt von Grot-Johann, Decoration gleichfalls von Achenbach, „Der Jagdzug“ aus dem 17. Jahrhundert, Arrangement und Decoration von W. Simmbe, „Der Befreiungskrieg“, arrangirt von W. Hünten, Decoration von Professor Achenbach, und „Friedensbild aus der Gegenwart“ (Winzer und Hochzeitszug), arrangirt von Professor Vautier, Decoration von H. Deiters – das waren die fünf Bilder, welche in wahrhaft vollendeter Weise vorgeführt wurden. Die zu diesen Zügen benutzten Decorationen waren als fortlaufende Wendeldecorationen angenommen und zeichneten sich in der Auffassung als echt künstlerische Arbeiten aus. Die Züge wirkten namentlich durch Pracht, Reichthum, Charakteristik und historische Treue der Costüme. Der Kaiser und die Kaiserin applaudirten bei verschiedenen Scenen der Züge, namentlich als im vierten Bilde der Marschall „Vorwärts“ hoch zu Rosse erschien. Dem Vorstande des Comités des Malkastens äußerte Seine Majestät in überaus herzlichen Worten seinen Dank. Ebenso animirt war der Kronprinz und die Kronprinzessin sowie das Gefolge, welches einstimmig der Meinung war, daß nach diesem Feste dem Kaiser kein würdigeres mehr geboten werden könnte.

Nach einer Pause von etwa zwanzig Minuten, während welcher die hohen Gäste einige Erfrischungen zu sich nahmen, begann der zweite Theil des Festspieles. Wieder lud Meister Camphausen, der „wilde Mann“ im Frack, Ihre Majestäten zu einem Rundgang durch den Garten, durch das Reich der Feen ein.

Der Zug setzte sich in feierlichem Tempo durch eine triumphbogenartig erleuchtete Ulmenallee in Bewegung. Vorauf schritten sechs Trabanten, welche sechs Riesenballons trugen. Zu beiden Seiten der Allee waren sechs colossale etwa fünfundzwanzig Fuß hohe Transparents errichtet, welche die „rheinische Sagenwelt“, von den ersten Meistern Düsseldorfs gemalt, darstellten. Aber was am Nixenteich wartete, übertraf die Vorstellungen der kühnsten Phantasie. Auf dem Teiche schwammen rothe und weiße hellerleuchtete Wasserrosen von riesigen Dimensionen, die einen märchenhaften Schimmer über die spiegelglatte Fläche des Teiches warfen. Mitten in demselben erhob sich ein zackiger Felsen, auf dessen Höhe Rheinnixen in weißen schilf- und rebenumkränzten Gewändern sichtbar wurden. Das war ein Elfenhain voll Pracht und Lieblichkeit, wie ihn das Auge selten schaut. Auf der gegenüberliegenden Seite der Düssel begann alsdann der „Elfentanz“ bei bengalischer Beleuchtung der Grotte, wie auch des zunächst liegenden Gartens und des Teiches. Während des Elfentanzes kam aus der Felsengrotte eine silberne von zwei Schwänen gezogene Gondel geschwommen; von einem schilfbekränzten Meermann gerudert, bewegte sie sich auf das kaiserliche Paar zu. Im Vordergrund standen die „Sage“ und die „Poesie“ und boten dem Kaiser zwei Eichenkränze dar. Hell leuchteten die Ufer von grünem und violettem Lichte; der Kahn zog silberne Furchen über den stillen See; leise erklang die von Jul. Tausch componirte und ausgeführte Musik, und einige Minuten lagerte ehrfurchtsvolles Schweigen über der Festversammlung.

Welch ein Schauspiel – aber ach, ein Schauspiel nur! Ein Traum voll Poesie, eine zauberhafte Märchenwelt, wie sie nur ein genialer Künstlergeist erdenken konnte. Man träumte von den Rosen von Schiras und lauschte den Erzählungen der Scheherezade; geheimnißvoll neigten die alten Ulmen des Malkastengartens ihre Häupter; ein würziger und milder Septemberabend fächelte Kühlung, und aus der Fluth stieg der Rheinzauber empor, ein jubelnder Chor aber ließ tausendstimmig das Lied von Kaiser und Reich über den deutschen Rhein in die stille Nacht hinaus erschallen.

Nachdem der Kaiser seinen Platz am Teiche verlassen hatte, begannen die im ersten Theil des Festspiels vorkommenden Züge ihren Fackelzug unter rauschender Militärmusik durch den Garten. Der Kaiser nahm mittlerweile seinen Sitz im Sommerlocal ein und sah von hier aus sämmtliche Züge an sich vorüberziehen. Wer je einem Gartenfest des Malkasten beigewohnt hat, kennt den Reiz, welcher in einem Fackelzuge desselben liegt. Die Figuren in den verschiedenen Costümen, von einem flackernden und unbestimmten Lichte beleuchtet und sich widerspiegelnd in dem Wasser der Düssel, hatten etwas ungemein Charakteristisches. Als der Zug bei der Kaiserbrücke angelangt war, brachte sowohl er wie das Publicum ein letztes Hoch auf den Kaiser aus, womit das Fest gegen zehn Uhr Abends einen würdigen Abschluß fand.

Welch tiefen Eindruck das Malkastenfest auf den Kaiser gemacht, geht aus dem warmen Dankschreiben desselben hervor, welches durch die Presse nunmehr genugsam bekannt geworden ist, so daß wir es hier wohl nicht zu wiederholen brauchen.

Der Abend des 6. Septembers wird in den Annalen des Düsseldorfer Malkastens mit goldenen Lettern verzeichnet stehen, und die Kaisertage in Düsseldorf werden sicherlich stets zu den angenehmsten Erinnerungen unseres ruhmgekrönten Herrschers gehören.

Adolph Kohut.     




Blätter und Blüthen.


Die Einweihung eines russischen Hauses. „Wollen Sie uns die Freude machen nächsten Dienstag um zwei Uhr bei uns zu sein, um der feierlichen Weihe unseres neuen Hauses beizuwohnen? Sie würden uns einen besonderen Gefallen erweisen, wenn Sie, statt der dunkeln Kleider, die Sie meist tragen, zur Feier des Tages möglichst helle anlegen wollten. Von Herzen etc.“ So lautete die freundliche Einladung eines Russen, der auf der großen Marskoi in St. Petersburg ein altes Haus niedergerissen und dort einen prächtigen Neubau hatte aufführen lassen. Die anberaumte Stunde kam und auch ich. Schon als mir der Portier in seinem stattlichen Pelz im Hausflur die doppelten Glasthüren nach dem Treppenhaus öffnete, drangen volle Töne an mein Ohr; es klang wie die schönste Orgel, deren volle Register gezogen waren. „Die kaiserliche Capelle,“ berichtete der Portier, der mein Staunen bemerkte, und immer voller, immer deutlicher ließen sich die herrlichen Stimmen vernehmen, während ich über die mit weichen Teppichen belegten Granitstufen hinauf stieg. Die Treppe war zu beiden Seiten mit Palmen und sonstigen exotischen Pflanzen bestellt; Schlinggewächse aller Art tapezirten die Nischen, wo die von Meisterhand geschaffenen Statuetten auf dem grünen Hintergrund doppelt vortheilhaft hervortraten. Wer in das weite Treppenhaus eintrat, war von der milden Temperatur, die darin herrschte, angenehm berührt, und so wie hier war jeder Winkel des Hauses durch Luftheizung gleichmäßig durchwärmt.

Ein Diener öffnete mir die Thür, nahm mir Pelz und sonstige Hüllen im Vorzimmer ab, und leise schlich ich in den großen Saal, wo eben die Stimmen der Chorsänger im zartesten Pianissimo verhallten. Es war als träte man in eine Kirche; so feierlich andächtig waren Alle hier versammelt. Drei russische Popen officirten in vollem Ornate vor den mitgebrachten Heiligenbildern; um sie her standen die kaiserlichen Chorsänger in ihren blauen mit Gold reich verzierten Kleidern; der schön geschmückte Saal mit den vielen geputzten Leuten, die sich während der Gebete auf die Kniee warfen und sich immer von Neuem bekreuzigten, machte auf den Hinzutretenden einen überwältigenden Eindruck. Wer in irgend einem Verhältniß zum Hause stand, war hier zugegen: Verwandte und Freunde, Angestellte und Dienstboten, alle wohnten der geistlichen Weihe des Hauses bei. Niemand hatte es versäumt sich festlich zu schmücken, denn, da die Russen bei Geburts- und sonstigen Festen großen Werth auf möglichst helle und vortheilhafte Kleidung der Theilnehmer legen, waren heute Dienerschaft wie Herrschaft in vollem Staat versammelt.

Als die Gebete zu Ende waren und die Sänger einen Schlußchoral anstimmten, trat der Hausherr, auf einen Wink der Geistlichen, an das Heiligenbild heran und küßte das Glas, unter dem eine kleine schwarze Madonna in goldenem mit Edelsteinen besetztem Kleide lag. Diesem Beispiele folgten die schöne junge Frau des Hauses, die Kinder, die Gäste und schließlich mit ganz besonderer Andacht die Dienstboten.

Diese Heiligenbilder, die zu feierlichen Gelegenheiten von Haus zu Haus gebracht werden, sind nicht nur im Gewande „steinreich“, sondern sie sind es selbst, denn wer ihrer bedarf, zahlt der betreffenden Kirche, der sie angehören, ganz bedeutende Summen, und so ist z. B. in Moskau, wo man oft viele Tage auf einen kurzen Besitz des Hauptmarienbildes warten muß, der Kutscher, der es zu fahren hat, fast Millionär. Man buhlt förmlich um die Gunst des Marienlenkers, und ein „goldener Händedruck“ für ihn jagt seine Rosse mit Windeseile an das erwünschte Ziel.

Nachdem Alle das Bild geküßt, begann die eigentliche Hausweihe: Die Popen zogen voran mit Weihwasser und Wedel durch die schönen Herrschaftsräume, durch Küche und Gesindekammern, bis hinunter in den Stall. Nicht der kleinste Raum wurde umgangen; dafür sorgten die Dienstboten gar wohl, denn wer je in einer Kammer schlief, aus der Priesterhand nicht „das Böse“ vertrieben hatte, der mußte sicherlich darunter leiden. Wie oft behaupten die Russen, wenn das Zipperlein einen alten Schnapsbruder zwickt, seine Schmerzen rühren nur daher, daß, nachdem eine Stube neu tapezirt, sie nicht auch neu geweiht wurde! Die Heiligenbilder, welche die russischen Leute stets an einer Wandecke ihrer Kammern anbringen und vor welchen an allen Festtagen eine kleine Oelflamme brennt, genügen demnach ihrem frommgläubigen Herzen durchaus nicht, um sie vor allem Bösen zu schützen.

Wo die Popen vorüberkamen, sprengten sie mit Weihwasser; wir Alle, die wir zugegen waren, wurden bespritzt und mußten uns wohl hüten, die geweihten Tropfen weder von Gesicht noch Kleidung abzuschütteln – das wäre in den Augen der Russen ein wahres Verbrechen gewesen.

Als nach geschehenem Umzuge die Geistlichen den Empfangssaal wieder betreten hatten, wurde Champagner gereicht (ohne Champagner ist in Rußland kaum irgend eine Feier denkbar) und fröhlich stießen die Gäste auf das Wohl der Bewohner des neuen Hauses an.

Jetzt entfernten sich die kaiserlichen Sänger, und schon bedauerten wir ihren Weggang, als plötzlich die Kaiserhymne in solcher Vollkommenheit vor der Thür erscholl, wie man die schöne Melodie unmöglich anderswo hören kann. Die wahrhaft kindliche Verehrung, mit der die Russen an ihrem Kaiser hängen, sowie an Allem, was sich auf ihn bezieht, hat etwas wahrhaft Rührendes; ihr Gebahren, sobald die Nationalhymne angestimmt wird, grenzt an Gottesdienst. Und hier, von den kräftigen und doch so weichen Männer- und Kinderstimmen vorgetragen, wirkte das Lied auch auf den Nichtrussen erhebend. Die kaiserliche Capelle ist weltberühmt – [700] und mit Recht; freilich läßt es sich der Kaiser etwas kosten, seine Sänger zu recrutiren, denn fortwährend sind competente Musiker im weiten Reich auf Reisen, nur um aus allen Ständen der Nation die besten Stimmen auszulesen und ihre Inhaber, oft mit sehr bedeutenden Opfern, zu bestimmen, in den Kirchenchor Seiner Majestät einzutreten.

Der gehobenen Stimmung gesellte sich bald eine fröhliche, und unbefangen vertheilten sich die Gäste in den schönen Räumen. Den Russen, und sogar den in Rußland lebenden Ausländern, ist die Geselligkeit mit ihren leichten, natürlichen Formen wie angeboren; in der größten Gesellschaft – und mögen auch die Leute aus den verschiedensten Sphären zusammengewürfelt sein – bilden sich einzelne kleine Clubs, wo fröhlich geplaudert wird, und in denen sich der Fremdeste sofort heimisch fühlt. Die Unterhaltung hat meist einen kosmopolitischen Anstrich, weil der Gesichtskreis des Einzelnen in einer Stadt, wo alle Nationen vertreten sind, sich nothwendig erweitert. Gewiß wird auch in Petersburg zuweilen ein Stückchen redlichen „Stadtklatsches“ auftauchen, aber so hartnäckig, wie in kleinen Orten, wo sich Alle kennen und wenig Anregung von außen hinzukommt, wird er nimmermehr sein Recht behaupten.

Bei dem wohlbekannten Sprachtalent der Russen wechselt die Redeweise jeden Augenblick, und tritt man in einen Petersburger Salon ein, so könnte man sich an den Thurm zu Babel versetzt glauben – aber wie gut verstehen sich die Leute hier und wie gut sprechen sie die fremden Sprachen! Die in Rußland lebenden Ausländer legen großen Werth darauf, daß ihre Kinder vor Allem das Russische erlernen, denn wer das inne hat, dem fällt weder Deutsch noch Französisch, weder Englisch noch Italienisch schwer. Es sei nur das Einzige hier erwähnt: die Russen haben keinen Artikel, und nur durch die veränderten Endungen wird der Fall, in dem das Hauptwort steht, angegeben. Welcher Stein des Anstoßes sind die vier Fälle in unserer Sprache für den Nichtdeutschen – die Russen haben ihrer gar sechs. Der Reichthum ihrer Sprache ist unerschöpflich; während wir für jede unserer Handlungen nur ein Zeitwort haben, bezeichnen sie durch ganz verschieden Wörter, ob sie z. B. täglich oder nur dann und wann hier oder dorthin gehen etc. Doch wohin gerathen wir? Eine grammatikalische Abhandlung sollten diese Zeilen nicht sein. Darum zurück in den behaglichen kleinen Salon, wo eben einige ältere Damen durch die großen Fensterscheiben des Erkers hinab aus das Menschen- und Wagengewirr der großen Marskoi blicken! Die Frau des Hauses nähert sich ihnen: „Darf ich bitten ein Stückchen Häring zu genießen?“ sagt sie freundlich – so lautet in Rußland stets die Aufforderung an den Tisch zu kommen – und damit führt sie die Damen nach dem Eßsaal.

Die Speisestunde ist erst um sechs Uhr; daher ist jetzt nicht wie zu einer eigentlichen Mahlzeit gedeckt. Der große Tisch in der Mitte des Saales ist mit allen erdenklichen Leckerbissen auf das Geschmackvollste beladen. Teller und Bestecke stehen auch dort, und nachdem alle Damen an kleinen Tischen Platz genommen, bringen ihnen die Herren, was sie wünschen, herbei und setzen sich erst dann, wenn sie Alle versorgt sind, zu ihnen, auch ihr „Stückchen Häring“ zu verzehren. Diese erste Bewirthung in einem neuen Hause gestaltet sich stets zu einem Piknik, und nicht die Eingeladenen sind bei dem Wirth zu Gaste, sondern eher er bei ihnen. Wie in Deutschland in so vielen Gegenden die freundliche Sitte des „Herdwärmens“ beim Wohnungswechsel besteht, so bringt auch hier jeder Eingeladene Brod und Salz an den neuen gastlichen Herd. Gar zu genau nimmt man es freilich nicht damit, und meist verwandeln sich diese unumgänglichen Zuthaten in schöne Pasteten, in Früchte oder Zuckerwaaren. Brod und Salz spielen in Rußland eine große Rolle: bereist der Kaiser nach der Krönung sein Land, so wird ihm von jeder Provinz als Huldigung Brod und Salz entgegen gebracht, und die reichen Gold- und Silberplatten, auf denen dies geschieht, stehen zu Hunderten auf den Büffets der kaiserlichen Speisesäle im Winterpalast von Petersburg.

Beim fröhlichen Mahl löste der perlende Wein die Zungen; im ernsten und launigen Reden gaben die Freunde ihren guten Wünschen für Haus und Herd Ausdruck, und längst spiegelten sich die funkelnden Lichter in der Newa, als sich endlich die Gäste aus dem ihnen auf’s Neue geöffneten gastlichen Hause entfernten.
L. Devrient.




Neue Arten giftiger Tapeten. Im Anfang dieses Sommers wurde von der königlichen Staatsanwaltschaft zu Altona dem dortigen Gerichtschemiker eine Tapetenprobe zur Untersuchung auf Arsenik übergeben. Diese war von einem Arzte aus dem Holsteinischen dem Krankenzimmer eines Kindes entnommen, und durch eine vorläufige Prüfung wurde darin eine nicht unwesentliche Menge Arsenik nachgewiesen.

Wenngleich nun ein direct nachtheiliger Einfluß der giftigen Zimmerbekleidung auf den Patienten nicht constatirt werden konnte, so hielt es der Arzt dennoch für seine Pflicht, diesen Fall der Behörde seines Ortes zur weiteren Verfolgung der Sache anzuzeigen. Dieser Schritt ist nur zu billigen; denn ein unnachsichtiges Auftreten der Aerzte in derartigen Fällen ist schon aus dem Grunde nothwendig, um die verbotene Fabrikationsweise von giftigen Tapeten endlich einmal auszurotten.

Es kommt dabei weniger auf die Menge des in den Tapeten enthaltenen Giftes an, als überhaupt auf das Vorhandensein desselben; denn wird das Bedrucken der Tapeten mit gifthaltigen Farben überall freigegeben, so liegt es ja eben in dem Belieben eines jeden Fabrikanten, wie viel er von dem giftigen Farbstoff in Anwendung bringen will, und das Publicum hat nicht die geringste Garantie dafür, daß die Grenze der Unschädlichkeit nicht überschritten wird.

Wir haben aber bei dem oben mitgetheilten Factum noch einen anderen Punkt in Rücksicht zu ziehen, der sehr zu beachten ist. Die eingesandte Tapetenprobe zeigte nämlich nicht die allgemein bekannte, lebhaft grüne Farbe des Schweinfurter Grüns, sondern einen blaugrünen Grundton, der mit einem dunkelgrünen Muster bedruckt worden war.

Trotzdem ergab die Analyse einen erheblichen Arsenikgehalt. Mithin war hier die giftige Farbe mit einer unschädlichen vermischt worden.

Auch soll es nicht selten vorkommen, daß hellgrüne, giftige Tapeten mit einer nicht nachtheiligen Farbe überdruckt werden. Diese Manipulationen werden von den Fabrikanten vorgenommen, um die vielseitig als giftig bekannte hellgrüne Farbennuance zu verdecken und dadurch die Waare leichter verkäuflich zu machen. Nebebei verfolgt man auch den Zweck, die Anwendung des zur Erhöhung des Farbentons sehr zweckdienlichen Schweinfurter Grüns zu ermöglichen. Daß aber blaugrüne Tapeten Gift enthalten können, dürfte dem Publicum so gut wie gar nicht bekannt sein. Ebenso wenig werden die Käufer es ahnen, daß auch in grauen, braunen und rothen Tapeten Arsenik enthalten sein kann, und doch ist dieses durch Untersuchungen von Dr. Franz Hulwa in Breslau bewiesen, und den Liebhabern des pompejanischen Roths wird es nicht uninteressant sein, zu erfahren, daß Dr. Hallwachs in Darmstadt in einer derartig gefärbten modernen Tapete ganz enorme Mengen Arsenik nachgewiesen hat.

In Anbetracht der angeführten Thatsachen muß es vom deutschen Publicum mit großer Freude begrüßt werden, daß der Herr Reichskanzler dem Vorsitzenden des kaiserliche Gesundheitsamtes zu Berlin, Herrn Dr. Struck, und dem Vorsitzenden des Reichsjustizamtes, Herrn Staatssecretär Dr. Friedberg, den Befehl ertheilt hat, neben der so dringend nothwendigen Gesetzesvorlage gegen die Verfälschungen der Lebensmittel auch eine solche auszuarbeiten gegen die gesundheitswidrige Beschaffenheit anderer Gebrauchsgegenstände.

Sämmtliche deutsche Sachverständige, denen ein erwähnenswerthes Erfahrungsmaterial in Bezug auf die Prüfung gefälschter Lebensmittel und auf die Feststellung der gesundheitsschädlichen Beschaffenheit anderweitiger Waaren zu Gebote steht, oder die in anderer Richtung sich mit dieser Frage befaßt haben, wurden öffentlich aufgefordert, bis zum 1. October dieses Jahres dem kaiserlichen Gesundheitsamte bezügliche Mittheilungen hierüber zukommen zu lassen.

Möge die sehr beachtenswerthe Aufforderung in den betreffenden Kreisen eine allseitige Berücksichtigung finden und es Keiner versäumen, seine Kenntnisse und Erfahrungen zum Vortheil des öffentlichen Interesses an oben bezeichnetem Orte niederzulegen! Es liegt für Jeden, der an diesem Werke mitarbeitet, eine Befriedigung darin, dem Gemeinwohl einen wichtige Dienst geleistet zu haben, entweder durch ein rückhaltloses Auftreten gegen das schändliche Gewerbe der Lebensmittelfälschung oder durch die Warnung vor dem Gebrauch der die Gesundheit benachtheiligenden Gegenstände.
Dr. Julius Erdmann.




Die Ausbildung von Krankenpflegerinnen, für welche wir jüngst die von Fräulein Emilie von Bunsen in Karlsruhe geleitete Anstalt empfohlen haben, erfreut sich auch im deutsche Norden, in Bremen, einer Heimstätte. Von einem Verein gegründet und erhalten, besitzt die Anstalt bereits ein eigenes, neu erbautes Asyl mit Wohnräumen für vierzehn Pflegerinnen, Barackenlager für sechsundzwanzig Kranke und steht unter der Oberin Fräulein Johanna Mentzel, die im französischen Kriege sich ausgezeichnete Verdienste erworben hat. Wenn wir in den „Grundgesetzen des Vereins“ Paragraphen finden, wie: „Der Verein zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen stellt bei Mobilmachung des deutschen Heeres sein Krankenhaus mit allen Einrichtungen, sowie sein ganzes Personal für die Pflege kranker und verwundeter Krieger in Bereitschaft“ – und „Auf das Religionsbekenntniß wird bei der Aufnahme in die Anstalt keine Rücksicht genommen, doch wird bestimmt erwartet, daß alle im Dienste oder unter dem Schutze des Vereins stehenden Personen jede religiöse Ueberzeugung achten und niemals versuchen, ihre eigenen Ansichten anderen aufzudrängen“, so hat sich damit der Geist der Vereins-Anstalt am besten gekennzeichnet.




Entlaufen oder entführt. Vor fünf Jahre verließ der zwölfjährige Sohn des Schuhmachers Johann Doublon in Nürnberg (Gestenhof, Bauerngasse 9), Georg Michael Wolfgang Doublon, die elterliche Wohnung und ist seitdem für die Seinen spurlos verschwunden. Man weiß nur, daß zur Zeit seines Verschwindens in dem Dorfe Buch hinter der Veste, in unmittelbarer Nähe Nürnbergs, eine wandernde Künstlergesellschaft verweilte, bei der er gesehen worden sein soll. Der Knabe war blond, sehr schlank und im Gesicht voll Blatternarben. Da der Vater, ein armer Handwerker, bisher nicht die Mittel erschwingen konnte, um kostspielige Nachforschungen nach dem Verschollenen anstellen zu lassen, so wollen wir es auf diesem Wege versuchen, der durch die Theilnahme unserer Leser schon manchmal zum Ziele geführt hat.
D. Red.




„Ein helfender Hausfreund“ ist mit Recht das Werk genannt worden, durch welches unser heimgegangener Karl Ernst Bock sich den Dank von Tausenden verdient hat: sein „Buch vom gesunden und kranken Menschen“. Wie die heutige Beilage zur „Gartenlaube“ anzeigt, auf die wir für diesen Fall ausnahmsweise hinweisen, erscheint es nunmehr in der zwölften Auflage, nachdem bereits anderthalbhunderttausend Exemplare desselben in den Händen des deutschen Volkes sind. Wenn auch der Erfolg nicht immer der richtige Werthmesser einer Sache oder Erscheinung ist, so wird doch hier, wo nicht die schwankenden Richtungen des Geschmackes, sondern einfach die Erfahrungen von der Nützlichkeit des Werkes das Urtheil bestimmen, dem außerordentlichen Erfolg auch der außergewöhnliche Werth desselben zur Seite stehen. Bock hat in seinem Berufe als Arzt und Schriftsteller nie eine Zeile geschrieben, mit welcher es ihm nicht heiliger Ernst gewesen wäre, etwas Gutes durch Lehre, Warnung oder Mahnung zu wirken, und diese Ehrlichkeit seines Strebens ist es, die im Volke erkannt worden ist und dem Worte des Mannes das volle Vertrauen noch lange nach seinem Tode sichert.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vorlage: 2 x „ob“
  2. Die Leser der „Gartenlaube“ sind über Zwecke und Ziele der „deutschen Forschungsreise nach Westsibirien“ bereits unterrichtet worden. Sie wissen, daß es die Bremer „Gesellschaft für Nordpolforschung“ war, welche uns, die Mitglieder der Forschungsreise, ausrüstete und aussandte; es bedarf daher meinerseits keines Vorwortes bezüglich der Reise selbst. Nur das Eine will ich noch bemerken, daß die Gesellschaft für Nordpolforschung inzwischen sich in eine „Geographische Gesellschaft“ umgewandelt, also erweitert hat und ihr reges Streben unter Anderem auch durch Herausgabe einer von Lindeman geleiteten trefflichen Zeitschrift bethätigt, welcher ich allgemeinere Aufmerksamkeit zuwenden möchte.
    D. Verf.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: En