Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1878)/Heft 2

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[21]
Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)

Werner schien entschlossen und rief den Knaben herein, der mit dem Enkel der alten Ursel gespielt hatte. Aber es dauerte diesmal sehr lange, bis er die Sachen zusammenfand, und endlich, als der Junge schon bepackt war, nahm er sie ihm doch wieder ab und sagte: „Laß es für heute! Mir ist nicht ganz wohl. Komm’ morgen um diese Zeit wieder! Das für Deine Mühe!“ Er warf ihm ein Geldstück zu, so groß wie es der arme Bursche noch selten in der Hand gehabt hatte.

Es zog ihn doch hinab zur Stadt, sich Gewißheit zu verschaffen. „Ist Elise, ist Frau von der Wehr wirklich in der Nähe,“ monologisirte er nun aus einer anderen Tonart, „und war ihre Tochter hier in meinem Hause, warum ihnen feige aus dem Wege gehen? Nach so langen Jahren, unter so veränderten Umständen – wir werden einander sehr ruhig und gesetzt begegnen. Die gnädige Frau belächelt wahrscheinlich lange schon die Verirrung ihres kindischen Herzens, wenn sie überhaupt noch daran denkt. Ich habe sie nicht ausgesucht, aber wenn es sein soll – ich hätte den Muth, sie zu sehen. Neben dem Herrn Gemahl … gut! Auch das – um so besser! Am Ende ist doch eine Visite der anderen werth. Eine Visite – was weiter?“

Er machte zu steigender Verwunderung der alten Haushälterin sorgfältige Toilette und sagte, er wollte zur Stadt. So etwas mochte seit langer Zeit nicht passirt sein.

Werner lief mehr, als er ging. Der innere Zwang wurde so mächtig in ihm, daß er jeden weiteren Versuch einer Rechtfertigung vor sich selbst aufgab. Als er zum See hinabkam, fuhr in einiger Entfernung das Dampfboot vorüber. Er warf nur einen flüchtigen Blick darauf und eilte am Flusse hin nach der Stadt. Er erkundigte sich im Fremdenbureau nach Gästen des Namens von der Wehr. Es wurde ihm eine Pension genannt. In dem alleingelegenen Hause, an das sich ein schattiger Garten anschloß, antwortete man ihm: „Die Damen bewohnen die obere Etage, sind aber augenblicklich im Pavillon.“

Er war am Ziel.

Mit klopfendem Herzen durchschritt er den Laubgang. Die Glasthüren des Pavillons standen offen. Es saßen in demselben zwei schwarzgekleidete Damen. Die eine zeichnete und hielt dabei den Kopf über das Blatt gebeugt; die andere hatte eine Stickerei unter den Händen. Wie der Fremde sich mit immer rascheren Schritten näherte, blickte diese auf, erst flüchtig, dann plötzlich gespannt aufmerksam. Die Stickerei fiel ihr in den Schooß; sie erhob sich, trat schnell bis zur Schwelle und streckte dem Heraneilenden die Hände entgegen. „Max Werner!“

„Elise!“ Er ergriff ihre Hände und küßte sie stürmisch. „Sind Sie es, sind Sie es wirklich? O, daß ich diesen Tag erlebe!“

Irmgard hatte erschreckt aufgeschaut. Ein fremder Mann mit einem wilden Barte – und ihre Mutter empfing ihn so sonderbar erregt – und er erlaubte sich gar, sie beim Vornamen zu rufen? Frau von der Wehr schien wirklich die gewohnte Haltung ganz verloren zu haben. Ihr sonst so bleiches Gesicht war wie mit Purpur übergossen. Thränen standen ihr in den Augen, und sie mußte sich vor Rührung abwenden, als der Gast, selbst kaum eines Wortes mächtig, zitternd die Frage an sie richtete: „Darf ich denn wirklich eintreten – finde ich noch …“

Jetzt bemerkte sie die Unruhe, die sich ihrer Tochter bemächtigt hatte. Sie suchte sich gewaltsam zu fassen, winkte ihr zu und sagte: „Ein lieber Freund Deiner Mutter, Irmgard – einst ihr Lehrer – Herr Max Werner, Maler.“

Irmgard erinnerte sich nicht, den Namen schon gehört zu haben. Sie stand auf, verneigte sich kühl und klappte ihre Mappe zu, als fürchtete sie, er könnte bei seiner Dreistigkeit gleich eine Besichtigung ihrer Zeichnungen vornehmen wollen. Er aber betrachtete den aschblonden Kopf aufmerksam und hielt ihr die Hand hin. „Sie hätte ich kaum irgendwo verkennen können, mein Fräulein, die Aehnlichkeit mit Ihrem Herrn Vater ist erstaunlich,“ bemerkte er.

Irmgard sah nicht auf und wickelte die Bänder der Mappe um den Finger. In die dargebotene Hand schlug sie nicht ein.

„Aber wie erfuhren Sie,“ nahm die Mutter ablenkend das Wort, „daß wir –“

Der Maler nickte lächelnd, hielt aber den Blick auf Irmgard gerichtet. „Diese junge Dame thut, als ob ich ihr ganz fremd wäre,“ scherzte er, „und doch hat sie mir die erste Visite abgestattet, wofür ich ihr nicht genug dankbar sein kann.“

Irmgard schrak zusammen. „Ich, mein Herr?“

„Sie! Wenn Sie wirklich Irmgard von der Wehr heißen und wenn dies …“ er griff in die Brusttasche, „wenn dies Ihre Karte ist. Hoffentlich entgeht mir nun auch die Bekanntschaft Ihres Begleiters, des Referendars Hell, nicht, den ich mir als einen sehr liebenswürdigen jungen Mann vorstelle.“

Irmgard drückte die kleinen Zähne in die Unterlippe und maß ihn mit einem kriegerischen Blick. „Meine Karte – allerdings … es war sehr unbesonnen,“ stammelte sie, die Farbe wechselnd. „Sie also wohnen –“

„In dem stillen Hause oben auf dem Berge, das Sie gestern

[22] Abend mit einem Besuche beehrten. Ich merke nun wohl, daß Sie nicht ahnten, wen Sie durch dieses Kärtchen herabbeschwören würden. Machen Sie aber nur gute Miene zum bösen Spiel und nehmen Sie mit dem struppigen Menschen vorlieb, der sich Ihnen vorstellt!“

Er trieb den Scherz in dieser Weise weiter, um sich über seine eigene Beklommenheit hinwegzuhelfen, aber auf Irmgard verfehlte die leichte Art der Sprache ganz die gehoffte Wirkung. Sie hatte ihrer Mutter von dem Zurücklassen der Karte nichts gesagt und benahm sich nun wie ein Kind, das über einem dummen Streich ertappt wird und dem Angeber zürnt. Der Aerger trieb ihr Thränen in die Augen. „Warum ließ ich mich auch überreden!“ schmollte sie.

Ihre Mutter begriff nun den Zusammenhang. „Das hat sich wundersam gefügt,“ sagte sie leise, sehr wundersam. „Aber warum weinst Du, Närrchen? Herr Max Werner ist ja, wie ich Dir sagte, ein lieber Freund.“

Irmgard löschte mit den feinen Fingerspitzen die herabrollenden Thränen von der Backe fort. „Ich weine auch nicht,“ entgegnete sie trotzig, „es hat mich nur so erschreckt, weil ich Dir nicht … Ich gehe auf mein Zimmer. Hast Du etwas im Hause zu bestellen?“

„Nichts weiter, als daß ich das Frühstück hier im Pavillon aufgestellt wünsche.“

„Und wenn Sie die Güte haben wollten, mein Fräulein, mich Ihrem Herrn Vater zu melden,“ setzte der Maler hinzu, in der Meinung, eine Pflicht der gesellschaftlichen Höflichkeit nicht versäumen zu dürfen.

Das Mädchen blickte mit scheuer Verwunderung zurück. „Meinen Vater? Sie wissen nicht …“

Auch Frau von der Wehr schien peinlich berührt, sie legte die Hand auf den Mund, als ob sie um Schweigen bitten wollte.

Werner wurde erst jetzt auf die schwarzen Kleider der Damen aufmerksam. „Ach, mein Gott –“ stammelte er ganz verschüchtert, „sollte sich etwas ereignet haben, wovon ich in meiner Einsiedelei …“

Irmgard eilte fort, dem Hause zu. „Mein Mann wurde bei Gravelotte schwer verwundet,“ sagte Frau von der Wehr nach einer Pause mit so leiser Stimme, daß die Worte dem Maler kaum verständlich wurden; „er ist wenige Wochen darauf – verstorben.“

Werner griff an seine Stirn. „Todt!“ rief er. „Ihr Mann todt – und Sie sind Wittwe.“

„Nun schon seit Jahren.“

Er rieb mit der flachen Hand die Stirnhaut, als müßte er die plötzlich abgespannten Nerven durch ein äußerliches Reizmittel wieder zur Thätigkeit zwingen. „Seit Jahren,“ wiederholte er, „seit Jahren. Und ich wußte nichts – erfuhr nichts. Wie konnte ich auch? Ich hatte ja geflissentlich jede Verbindung – mit der Heimath abgebrochen. Seit meiner Schwester Tod – erhielt ich keinen Brief mehr von dort … mein Neffe stand im Kriege bei der Südarmee. Ich wollte – für Sie verschollen sein, Elise, um nicht Ihre Ruhe …“

Die schöne Frau senkte den Blick. „Sie hatten Ihren Zweck vollkommen erreicht,“ bestätigte sie. „Ich kannte Ihren Aufenthalt nicht, hätte Sie gar nicht unter den Lebenden gewußt, wenn nicht von Zeit zu Zeit auf Ausstellungen ein Bild mit Ihrem mir bekannten Malerzeichen –“

„Sie erinnerten sich meiner,“ rief er, „Sie hatten mich nicht vergessen? O, wie Sie mich heute empfangen haben – nein, nein! Sie hatten mich nicht vergessen!“

„Gewiß nicht,“ sagte sie, „die Glücklichen vergessen.“

„Und Sie waren - nicht …“

„Fragen Sie nicht – jetzt nicht!“

„Sie trauern noch immer …“

„Um ein verkümmertes Leben. Ich glaubte nie mehr froh werden zu können.“

„Ihr Gemahl –“

„Er war ein Ehrenmann und ist auf dem Felde der Ehre gestorben – Ehre seinem Andenken!“

„Ehre seinem Andenken – todt! todt – der Mann todt –“ Er schien in sich hineinzuträumen, bis sein Auge den Blick völliger Starrheit annahm. Dann raffte er sich auf. „Ich nehme Abschied für heute,“ sagte er; „und wenn ich auch morgen noch nicht den Muth haben sollte … lassen Sie mir Zeit, mit diesen Geschehnissen fertig zu werden, die auf einmal Alles – Alles – Leben Sie wohl! Ich sehe Sie wieder, Elise!“ Er stürmte fort.

3.

Werner hielt sich erst eine Weile auf dem Wege, der nach seinem Hause führte. Als er aber an der Felsecke vortrat, wendete er sich links und stieg einen steilen Bergpfad hinauf, ohne Ausruhen höher und höher. Die Mittagssonne brannte heiß aus das kahle Gestein. Sobald er den Wald erreicht hatte, gab er den Fußpfad auf und streifte wegelos durch das dichte Laubholz. Als er aus der oberen Lichtung hinaustrat, waren viele Stunden vergangen.

Nun zwang ihn die Ermüdung doch zur Rast. Er setzte sich auf einen Stein, stützte das Gesicht an die Hände und blickte träumerisch über die grünen Baumwipfel weg nach der Stadt in der Tiefe. Als die Sonne unterging, rief er ihr zu: „Morgen, wenn Du aufgehst, soll ein neues Leben beginnen.“ Er fand nicht weit vom Waldrande ein üppiges Mooslager, darauf legte er sich und überließ sich seinen Gedanken. Während seiner einsamen Wanderung war ihm vieles Vergangene wieder gegenwärtig geworden. Er hatte sich nun damit gleichsam von Neuem abzufinden gehabt.

Die Tage seines bisherigen Lebens, was waren sie anders als die alte, ewig neue Geschichte von gescheiterten Hoffnungen, von Liebesnoth und Liebesleid? Seine Wiege stand in einem saarländischen Bauernhause. Bei dem Pfarrer in dem Kirchdorfe Heiligen-Kreuz sah er einige Bilderwerke, die ihn zum Zeichnen anregten. Man wurde auf seine Talente aufmerksam und gab ihn zu einem Malermeister in Königsberg in die Lehre. Bald war er seinem Meister über den Kopf gewachsen. Der brave Mann dachte menschenfreundlich genug, seine Kunstfertigkeit nicht für sich auszunützen. Er stellte ihn in der Akademie vor und ließ ihm mehrere Stunden des Tages zu seinen Studien und Uebungen frei. Als er das Handwerk ausgelernt hatte, beschloß er, sich ganz der Kunst zu widmen. Es fehlte ihm bald auch nicht an eigenem Verdienste, da ihn der Director der Anstalt wohlhabenden Familien als Lehrer empfahl. So kam er in das Haus des reichen Kaufmanns Fränkel. Elise, die Tochter des Hauses, die er unterrichten sollte, war damals erst dreizehn Jahre alt, aber sie wurde sechszehn, während er die Stunden regelmäßig fortsetzte, und der Ton zwischen Lehrer und Schülerin blieb der vertraulichste, daß sie einander liebten, war Beiden gewiß, ehe noch diese gegenseitige Neigung sich in Worten ausgesprochen hatte. Erst als Elise in die Gesellschaft eingeführt wurde, regte sich bei Werner das eifersüchtige Gefühl, sich den Besitz der Geliebten zu sichern. Er sagte ihr Alles und beschwor sie, ihm für’s Leben anzugehören.

Sie ließ ihm keinen Zweifel, daß sie ihn liebe, aber doch bemächtigte sich ihres Wesens eine Bangigkeit und Unruhe, die ihn seines Glückes nicht froh werden ließ. Die Frage des ängstlichen Mädchens: „Was wird der Vater dazu sagen?“ brachte ihn ganz außer Fassung.

Als Max Werner bei dem Vater seinen Antrag anbrachte, lachte dieser ihn aus. „Sie sind ein Narr!“ Und nun bot Fränkel Alles auf, jede Beziehung seiner Tochter zu dem Maler abzuschneiden, und als dieser Versuch, wenn er auch äußerlich gelang, an der beharrlichen Liebe des Mädchens scheiterte, kam der reiche Mann eines Tages in die Werkstatt des Künstlers. „Gut,“ sagte er, „ich will nachgeben, wenn ich die Gewißheit erhalte, daß beide Theile sich über ihr Gefühl nicht täuschen. Lassen Sie meiner Tochter zwei Jahre Zeit, ihr Herz zu prüfen. Aber die unumgängliche Bedingung ist, daß bis zum Ablauf dieser Zeit jede Verbindung zwischen Ihnen und ihr aufhört. Unternehmen Sie eine Studienreise nach Italien – es wird mir eine Ehre sein, einem so lebensvollen Manne dazu die reichlichen Mittel zu gewähren.“

Werner durfte an dem Ernst der Worte Fränkel’s nicht zweifeln, leider glaubte er auch an die Aufrichtigkeit seiner Gesinnung und stimmte zu. Er wußte ja jetzt, daß Elise ihn nicht aufgegeben hatte. So reiste er nun mit leichterem Herzen ab. Nach zwei Jahren – es war in Rom, wohin er sich gewandt hatte – erhielt Werner einen Brief: Elisens Verlobungsanzeige.

Er kannte ihren Verlobten, den Hauptmann von der Wehr; [23] er gehörte zu den stolzesten Officieren des Corps, aber auch zu den tüchtigsten, galt allgemein für einen schönen und trotz seiner rauhen Art liebenswürdigen Mann.

Werner’s gekränkter Stolz verbot ihm, an Elise zu schreiben. Mit den Jahren aber wurde seine Stimmung milder, mitleidiger. Er nannte nun nicht mehr Verrath, was nur Schwäche gewesen sein konnte; er stellte sich vor, wie schwer man dem weichherzigen Mädchen den Kampf gemacht habe. Aber er kehrte nicht mehr in die Heimath zurück; eine tiefe Melancholie bemächtigte sich seiner und trieb ihn unstät in den einsamsten Gegenden Italiens und Siciliens um. Er verzichtete auf jedes Lebensglück, malte nur, um sich den nothwendigsten Unterhalt zu erwerben und die unerträglich langsam schleichende Zeit zu tödten. Erst als seine Schwester sich mit der Bitte an ihn wandte, sich ihres begabten Sohnes anzunehmen, der zu studiren wünsche, erwachte wieder lebendiger in ihm der Thätigkeitstrieb. Es freute ihn, nun doch einen Lebenszweck zu haben. Er wanderte nach der Schweiz und entdeckte das einsame Haus; der Eigenthümer, dem es wegen seiner Entlegenheit von der Stadt keinen Nutzen gebracht hatte, überließ es ihm gern für eine geringe Summe. Seine Bedürfnisse blieben auch hier die bescheidensten. Aber er malte nun eifriger, um seinen Neffen unterstützen zu können, der ihn dann auch besuchte und wegen der Aehnlichkeit mit seiner verstorbenen Mutter seine ganze Neigung gewann.

Das waren die Schicksale des Malers gewesen, den Irmgard, jenem dunkeln Zuge des Herzens folgend, der mitunter so wundersam leitet, aus seiner Klause herausgestöbert hatte, um ihm ein ungeahntes Wiedersehen zu bereiten.

Langsam ging er in seine Einsiedelei zurück und schlief bis an den hellen Morgen. So wohl und frisch wie lange nicht, stellte er sich sogleich an die Staffelei und malte fleißig einige Stunden lang. Die alte Ursel hörte ihn singen und schüttelte verwundert den Kopf dazu. Das war ihr wieder etwas Neues an ihrem sonst so grämlichen Herrn.

Er hatte eigentlich erst am nächsten Tage wieder nach der Stadt gehen wollen. Nun, gegen Abend, überlegte er doch, ob er nicht schon ruhig genug sei, Elise wiedersehen zu können. Es geschah so ganz unabsichtlich, daß er vor dem Spiegel stehen blieb und sich mit einer Art von Neugierde betrachtete. „Alt und grau,“ klagte er mit selbstquälerischer Uebertreibung, „weit über meine Jahre alt und grau. Oder zähle ich falsch? Wäre ich wirklich alt – zu alt für mein junges Glück? Wenn früh der Herbst gekommen ist, was nützt dem welken Laub der Sonnenschein! Hat Alles seine Zeit – auch der Widerstand gegen die Zeit? Nein, noch will ich hoffen. Hoffnung ist Jugend.“

Er nahm wieder das Medaillonportrait aus der Schublade, trat an’s Fenster und betrachtete es mit liebevoll prüfenden Blicken. „Sie ist’s nicht mehr,“ murmelte er, „und ist’s doch noch. Dieses Auge, ja, ja, so schlag sie’s wieder auf, als sie mich freundlich begrüßte. Wie schön sie ist – und jetzt wie vornehm in ihrer ganzen Haltung!“ Das gab ihm zu denken. „Ob sie zurückkehren kann, wie ich? Ob sie damals wirklich nur dem Zwange folgte, als sie … Und dann war sie eines Andern Frau, und saß an seinem Sterbebette, und – und die Tochter! Vielleicht blieb ich wirklich nur – der alte Freund, der gekränkte Freund, dem sie nun milde begegnet, da sie sich ihm verschuldet weiß. Sie kann nicht empfinden wie ich. Und doch, dieses Auge, es leuchtete darauf eine Freude auf, die vom tiefsten Herzen kam. Muth – Muth!“

Er eilte hinab in die Stadt und kehrte erst spät in seine Klause zurück. –

Nun änderte sich seine ganze Lebensweise. Bald war er nur noch Schlafgast in seinem Hause. Wenige Morgenstunden brachte er arbeitend vor seiner Staffelei zu; den größten Theil des Tages verlebte er unten in der Stadt in der Gesellschaft der beiden Damen. Stundenlang saß er im Pavillon, sah Elise auf die Hand, wenn sie arbeitete, lauschte entzückt ihren Worten, wenn sie sprach, und studirte mit heimlichen Blicken ihr Gesicht, wenn sie schwieg. Dann begleitete er sie und Irmgard bei weiten Spaziergängen und bei Fahrten auf dem See. Sie wurden unzertrennliche Gefährten, und es schien sich ganz von selbst zu verstehen, daß jeder folgende Tag sein müsse, wie der eben vergangene.

Bei alledem gewöhnte sich Irmgard nicht leicht an den sonderbaren Menschen, der ihrer Mutter so auffallend zugethan war und von dem sie doch vorher nie gesprochen hatte. Je mehr Mühe er sich gab, dem scheuen und doch wieder so selbstständigen Kinde Vertrauen einzuflößen, desto eigensinniger zog sie sich von ihm zurück. Der erste Eindruck schien bestimmend bleiben zu sollen. Der Mann, der viele Jahre wie außer der Welt gelebt hatte und mit seinen Erinnerungen an eine Zeit anknüpfte, über die für sie ein undurchdringliches Dunkel gebreitet war, behielt ihr etwas unheimlich Räthselhaftes. Der Machteinfluß, den seine Persönlichkeit so sichtlich auf die Mutter übte, beängstigte ihr so leicht erregbares Gemüth.

Ihre Mutter war wirklich eine ganz Andere geworden. Die ernste, immer nachdenkliche, oft schwermüthige Frau, die mit dem Leben abgeschlossen zu haben schien, die sich nur noch als ein Werkzeug betrachtete, das schwere Loos ihrer Mitmenschen zu mildern und Fremder Glück zu fördern, zeigte sich nun heiter und unternehmungslustig, ermunterte Irmgard zum Frohsein, betheiligte sich lebhaft bei der Unterhaltung über die weltlichsten Dinge, scherzte und lachte gern. Unrd warum modelte sie nun gar ihren Anzug? Es war Irmgard ein Stich in’s Herz, als sie eines Morgens von ihrem Kleide die schwarze Halskrause trennte und sie durch ein weißes Krägelchen ersetzte. Als dann gar nach einigen Tagen ein farbiges Band folgte, wurde sie ganz irre an ihrer Mutter. Sie wagte nicht ihrer Befremdung Worte zu geben, aber sie hielt sich den ganzen Tag über von ihr fern, zeigte ein finsteres Gesicht und gab mürrische Antworten, wenn sie doch nicht ausweichen konnte.

Weitere Ausflüge wurden unternommen, Dampfschifffahrten über die Seen, Bergtouren in’s Oberland; mitunter war man Tage lang unterwegs. Immer war Max Werner ihr Begleiter und Führer. Was Irmgard ein wenig mit der Nothwendigkeit versöhnte, sich seine Gesellschaft gefallen lassen zu müssen, war die reiche Ausbeute von landschaftlichen Skizzen, die sie jedes Mal nach Hause zurückbrachte. Er wußte so sicher die Standpunkte zu bezeichnen, von denen eine günstige Aufnahme zu erwarten war, daß ihr viel öfter als früher etwas gelang. Hätte sie ihm dafür nur dankbar sein können!

Wiederholt kreuzten sie auch die Spuren des Gerichtsraths Pfaff und der beiden lustigen Brüder. Endlich traf man auch mit ihnen zusammen, als sie eben die letzte Station machten, um dann geradesten Wegs in die nordische Heimath zurückzukehren. Der Referendar hatte diesmal mit seiner Galanterie gegen das Fräulein noch viel weniger Glück als beim ersten Begegnen. Irmgard ließ ihn empfinden, daß er recht eigentlich ihre Mißstimmung verschuldete. Warum hatte er ihr auch zugeredet, das Kärtchen im Atelier des fremden Malers zurückzulassen? Den Grund ihrer üblen Laune erfuhr er natürlich nicht. Als die Reisenden klagten, daß die schönen Ferien so schnell zu Ende gegangen seien, sagte sie dem Gerichtsrathe, der sich nicht genug über seiner verehrten Cousine frisches Aussehen freuen konnte: „Ich wünschte, Mama entschlösse sich, mit Ihnen zugleich aufzubrechen und nach Hause zurückzukehren.“ Die Aeußerung fiel so laut, daß sie von Frau von Wehr nicht überhört werden konnte. –

Eines Vormittags kündigte Werner an, daß sein Bild diesen Morgen fertig geworden sei, und lud feierlich zur Besichtigung ein. Er hatte früher nie den Wunsch ausgesprochen, Elise möchte sein stilles Heim besuchen. Nun schien die Erklärung dafür gegeben: er hatte abwarten wollen, bis er ihr ein würdiges Werk seiner Hand zeigen könnte. Sie sprach ohne Rückhalt ihre Freude über die Einladung aus und sagte ihr Kommen schon für diesen Nachmittag zu. Das hatte er so vorausgesetzt. Es sei zu ihrem Empfange alles bereit, versicherte er lächelnd, nur müsse sie versprechen, nichts Anderes zu sehen, als das Bild. Irmgard klagte über Kopfweh. Sie wollte damit ihr Zurückbleiben entschuldigen. Aber ihre Mutter erklärte nun, daß dann der Spaziergang überhaupt unterbleiben müsse. Das wollte sie doch nicht zu verantworten haben.

So stiegen die Drei nun in die Berge hinauf. Werner war in der heitersten Stimmung. Er reichte Frau von der Wehr den Arm und führte sie die bequemsten Wege zur Höhe. Irmgard folgte abseits allein, eine kleine Mappe in der Hand, und betheiligte sich wenig am Gespräch. Auf der Wiese, nicht [24] weit von der Villa, bat sie um die Erlaubniß, zurückbleiben und das Haus mit seinen Umgebungen zeichnen zu dürfen; beim Rückwege werde man nicht auf sie warten wollen. Der Maler wählte ihr die günstigste Stelle neben einem großen Stein aus, der die Mappe stützen konnte, und gab ihr Weisungen, wie sie das Blatt einzurichten habe. Ihre Mutter widersprach nicht.

An der Thür stand die alte Ursel mit ihrem Enkel, Beide in Kirchentoilette. Sie eilte, nachdem sie die Dame begrüßt hatte, voran in’s Haus und öffnete ein Zimmer linker Hand gerade über dem Atelier. Es war ganz neu, aber im Geschmacke der alten Ledertapete, der Stuckarbeit an der Decke und des Parquets möblirt. Auf einem mit feinstem Linnen gedeckten Tische in der Mitte waren drei Couverts von buntem Porcellan hergerichtet; einige Flaschen Wein und Schüsseln mit kalten Speisen standen darauf, zum Gebrauche einladend.

Elise trat an’s Fenster und prüfte die Aussicht. „Wenn’s Ihnen genehm ist,“ sagte sie, „so setzen wir uns nicht eher zu Tische – falls diese gedeckte Tafel wirklich auf uns wartet – bis Irmgard mit ihrer Aufnahme fertig ist und uns folgt. Zunächst verlangt mich’s, Ihr Bild zu sehen; darin ist mir meine Tochter voraus, und bis ich das Versäumte nachgeholt habe, ist sie da. Dann dürfen wir auch einen Rundgang um die Terrasse nicht unterlassen; die Aussicht hier von halber Höhe ist bezaubernd.“

Er nickte ihr verständnißvoll zu und führte sie, ohne etwas zu entgegnen, nach seiner Werkstatt hinüber. Auch diese hatte ein verändertes Aussehen. Die Spinnengewebe waren aus den Ecken fortgefegt, Vorhänge von feinem Stoffe hingen in gefälligen Falten an Fenstern und Thüren; einige Bilder in Goldrahmen zierten die Wand; die Studien waren besser geordnet, und vor der Staffelei lud ein kleines Sopha zum Sitzen und behaglicheren Beschauen des neuen Werkes ein. Ueber das Bild auf der Staffelei war eine grüne Decke gehängt. Er bat „die gnädige Frau“ Platz zu nehmen und zog die Hülle dann fort. Ein Ausruf der freudigsten Ueberraschung belohnte ihn. Er galt nicht dem Gegenstande, den sie ja aus der Beschreibung kannte, sondern der lebendigen Wirkung der Malerei. Ihre Befriedigung darüber äußerte sich mit so warmem Enthusiasmus, daß an der Aufrichtigkeit ihres Gefallens kein Zweifel bleiben konnte. Dann folgten einige Minuten stillen Beschauens, und dann hatte das Auge so viele liebenswürdige Motive gefunden, daß nun der Mund nicht länger mit lebhafter Anerkennung der einzelnen Theile der Composition zurückhalten konnte.

Werner hatte anfangs seinen Platz neben der Staffelei behalten, er konnte so am besten von ihrem Gesichte den Eindruck seines Werkes ablesen. Nun aber war er längst schon einen Schritt vorgetreten und hatte, während er ihre Erklärungen bestätigte oder ergänzte, die Partien, auf die sie sich bezogen, mit der Hand umzirkelt und abgegrenzt. Je mehr das Bild sie fesselte, desto mehr beschäftigte es auch ihn. Er ließ es in allen Figuren wieder in sich und vor ihr entstehen, und dann stellte er sich in einige Entfernung davon hinter das Sopha, gleichsam um nun selbst nachzusehen, ob es gelungen sei. Er stützte sich dabei auf die Polsterlehne und berührte ihre Schulter. Das Blut rann heiß durch seine Adern zum Herzen.

„Was ich nicht am wenigsten bewundere,“ sagte sie, bald auf das Bild, bald mit einer reizenden Wendung des Kopfes zu ihm halb zurückschauend, „ist ein Umstand, den nur Ihre vertrautesten Freunde würdigen können.“

„Und der wäre?“ fragte er gespannt.

„Wer die traurige Lage kennt, in der Sie sich nach Ihrer eigenen Schilderung bis vor Kurzem befunden haben, das Gefühl der trostlosesten Verlassenheit, das Ihre Stimmung beherrscht haben muß, wird Ihren Muth bewundern, einen so heiteren Gegenstand zu wählen, und Ihre Fähigkeit, ihn so echt humoristisch auszuführen. Der Widerspruch ist nicht leicht zu beseitigen.“

„O doch!“ antwortete er, sich vorbeugend, sodaß er ihr Profil sehen konnte. „Es ist freilich ein sehr erklärlicher Irrthum, daß der Mensch und der Künstler im Moment des Schaffens dieselbe Person sind – aber doch ein Irrthum. In jedem Künstler liegt nicht nur ein bestimmtes Maß des Könnens, sondern auch eine bestimmte Anschauungsform, in der er leistungsfähig ist. Er giebt sie sich nicht – sie ist in ihm; sie beherrscht und zwingt ihn unter ihr Gesetz. Es giebt für ihn nur die Wahl, so zu schaffen, wie ihm die Bedingungen von der Natur vorgeschrieben sind, oder – gar nicht zu schaffen. Wohl ist eine Störung seiner rein menschlichen Empfindungen denkbar, die jeden Schaffenstrieb aufhebt – das ist ein entsetzlicher Zustand, der auch mir nicht fremd geblieben ist – aber wenn dieser Störung keine Zerstörung folgt, wenn eine Selbstrettung durch Thätigkeit möglich ist, dann wird auch jedes künstlerische Schaffen eine Befreiung von der Angst und Noth der den Menschen bedrückenden Stimmung, und leicht geschieht es, daß er gerade zum Gegensatz strebt, um sich leichter von sich weg zu helfen.“

„So ist es wieder ein schönes Vorrecht des Genies,“ antwortete sie, „Heilmittel zu besitzen, die uns gewöhnlichen Sterblichen nicht zu Gebote stehen.“

„Sollte denen, die Sie gewöhnliche Sterbliche nennen, der Weg zu diesem Heil wirklich verschlossen sein?“ fragte er. „Befreiung in meinem Sinne ist Hingabe, volle Hingabe an ein Anderes, Uebermächtiges. Wer das findet –“

„Sie haben Recht,“ fiel sie ein. „Auch wir können das Vergessen eigenen Leides suchen, indem wir mit ganzer Hingabe bemüht sind, die Thränen unserer Mitmenschen zu trocknen. Wohlthun – das ist etwas. Aber ist dies sein Grund, so bleibt doch immer etwas zurück: es fehlt die rechte Liebe.“

„Wie dort in der Kunst!“ rief er, „und nur die rechte Liebe schafft das Liebenswürdige. Glauben Sie mir, auch dem Bilde da fehlte vor einigen Wochen noch viel zu dem vollen Leben, das Ihnen jetzt daraus entgegenlacht. Alle die Linien und Farbzusammenstellungen waren da – ich hätte kaum noch etwas hinzuthun können. Und fertig ist’s doch erst geworden, seit ich Sie fand, Elise, und durch Sie wieder ein anderer Mensch geworden bin. Da erst sind diese hellen, lachenden Lichter aufgesetzt worden; da erst lernten alle diese Augen sprechen, aus geschickt gruppirten Puppen wurden Figuren mit dem künstlerischen Schein des Lebens.“

Die schöne Frau stand auf und trat näher an die Staffelei heran, als wollte sie das Einzelne genauer betrachten. Aber ihr klopfte stürmisch das Herz. Er hatte das Gespräch auf sie selbst hingelenkt – wo hinaus sollte es, wenn die Wogen seiner Empfindung höher gingen? Und Irmgard kam noch nicht.

Er folgte ihr mit einem Blick, der ganz sehnsüchtiges Verlangen war, die hohe Gestalt in sich hineinzuziehen. Die Hand krampfte sich auf der Brust zusammen. Entschlossen trat er an sie heran. „Elise,“ sagte er mit bewegter Stimme, „sollen zwei Menschen, die wissen, daß sie sich einander in allem Heiligsten angehören, auf der Erde für immer getrennt und glücklos hinwandern müssen? Sollen sie ihr kümmerliche Heil nur in der Kunst des Vergessens suchen? Giebt es für sie nicht eine Befreiung von allem Leid, das sie sich auf den Irrwegen des Lebens selbst zufügten, in der vollsten und reinstes Hingabe an einander? Sagen Sie nicht, es sei zu spät! Nie kommt zu spät, was eine ewige Dauer haben soll. Elise, wenn Sie mich doch liebten – doch –“

Er umfaßte sie und zog sie an sich. Sie widerstand nicht, lehnte die glühende Stirn auf seine Schulter und weinte still. „Man hatte mir ja gesagt, Sie hätten mich aufgegeben,“ schluchzte sie, „und ich mußte es wohl glauben, denn mein Vater … Nein, keine Anklage! Meine Schwäche war’s – meine Muthlosigkeit und dann meine Gleichgültigkeit gegen Alles, was über mich bestimmt wurde.“

„Keine Anklage!“ wiederholte er und küßte ihr die Thränen vom Auge fort. „Ich war geliebt – ich bin geliebt. Was dazwischen lag, ist verronnen wie ein wüster Traum. Fort mit der Erinnerung daran! Hier ist Glück; hier ist Leben.“

Er blickte, trunken von Seligkeit, in ihre schönen Augen, die nun ganz freudige Verheißung waren.

So standen sie eine Weile. Da wurde hinter ihnen die Thür geöffnet und gleich wieder, wie mit einem heftigen Ruck geschlossen.

Sie blickten erschreckt auf und zurück. Es war Niemand eingetreten. „Die Ursel wahrscheinlich,“ sagte er.

„Oder Irmgard.“

[25] 

Das Well- und das Wetterhorn im Berner Oberland.
Originalzeichnung von Ludwig Hofelich in München.

[26] „Irmgard!“ Er schien sich erst jetzt zu besinnen, daß zu ihrem Bunde noch ein Dritter gehörte. „Sie wird überrascht sein. Sie hat eine merkliche Scheu vor mir.“

„Vielleicht ahnt sie längst –“

„Ah, aber das wäre doch kein Grund –“

Elise schwieg. Sie war nachdenklich geworden. Sie gingen Arm in Arm im Zimmer auf und ab. Was hatten sie nicht Alles einander zu sagen! Eine Stunde verging; sie glaubten wenige Minuten allein gewesen zu sein.

Endlich beunruhigte sich Elise doch wegen Irmgard’s Ausbleiben. „Vielleicht wartet sie auf uns drüben,“ gab sie zu bedenken.

Sie war nicht dort. Nun traten sie auf die Terrasse hinaus. Ueber dem großen Stein war Niemand zu bemerken. Sie könne sich dahinter gestellt haben, meinte Werner, um noch eine andere Aufnahme zu versuchen. Sie gingen bis dahin, fanden aber die Stelle leer.

Ursel wurde befragt. Sie hatte gar nicht zum Fenster hinausgesehen, sondern sich nur mit ihrem Spinnrocken beschäftigt. Aber ihr Enkel behauptete, das Fräulein sei schon vor einer langen Weile in’s Haus eingetreten. Er hatte sie neugierig beobachtet, so lange sie zeichnete. Dann war auch er seinen Geschäften nachgegangen.

Elise beschlich eine Ahnung, die sie beunruhigte. „Ich muß hinab nach der Stadt,“ sagte sie. „Sicher ist Irmgard schon voraus, und es ist mir ängstlich, sie allein zu lassen.“

„Wir hätten zusammen so froh das Verlobungsfest feiern können,“ klagte Werner. „Es giebt heute einen Sonnenuntergang, wie wir ihn noch nie erlebt haben.“

„Man muß nicht zu viel auf einmal fordern,“ begütigte sie, sich zum Rückwege rüstend. „Ging uns doch nur eben die Sonne auf.“

„Ja, wenn Du’s so verstehst …“

Sie verabschiedeten sich von Ursel. „Ich denke, die gehen anders, als sie gekommen sind,“ knurrte die Alte. Sie revidirte das Eßzimmer. „Die liebe Gottesgabe ganz unberührt! Nun hat’s keinen Zweifel.“

(Fortsetzung folgt.)



Erinnerungen aus dem Kriege mit Frankreich.
Von Moritz Busch.
6. Tischreden und Theegespräche in Ferrières. – Allerlei Besuch. – Fort nach Versailles.
Nachdruck verboten.

Ich lasse im Folgenden wieder großenteils mein Tagebuch reden. Mittwoch d. 21. Sept. bei Tische mißbilligte der Minister, als von der Besteckung des alten Fritz vor den Linden mit schwarz-roth-gelben Fahnen die Rede war, daß man die Aufrührung des Streites über die Farben zugelassen. „Für mich ist die Sache abgemacht, seit die norddeutsche Fahne einmal angenommen ist,“ sagte er. „Sonst ist mir das Farbenspiel ganz einerlei. Meinethalben grün und gelb und Tanzvergnügen, oder auch die Fahne von Mecklenburg-Strelitz. Nur will der preußische Troupier nichts von schwarz-roth-gelb wissen“ – was ihm, wenn man sich an die Berliner Märztage und an das Erkennungszeichen der Gegner im Mainfeldzuge von Anno 1866 erinnert, von Billigdenkenden nicht übel genommen werden wird. Der Chef sprach hiernach davon, daß der Friede noch fern sei, und fügte hinzu: „Wenn sie nach Orleans gehen, so folgen wir ihnen nach, und wenn sie noch weiter gehen, auch bis an’s Meer.“ Er las darauf die eingelaufenen Telegramme vor, darunter die Liste der in Paris befindlichen Truppen. „Es sollen zusammen 180,000 Mann sein, es sind aber kaum 60,000 Mann wirkliche Soldaten dabei. Die Mobil- und Nationalgarden mit ihren Tabatieren sind nicht zu rechnen.“ Die Rede kam dann nach anderen ernsten Gegenständen auf das Essen, wobei man unter Anderem hörte, daß Humboldt, der ideale Mensch unserer Demokratie, „ein ungeheurer Esser“ gewesen, der bei Hofe „ganze Berge von Hummersalat und anderen schwerverdaulichen Delicatessen auf seinen Teller zusammengehäuft und dann in seinen Magen versenkt“ habe. Wir hatten zuletzt Hasenbraten, und der Chef äußerte dabei: „So ein französischer Hase ist doch eigentlich gar nichts gegen einen pommerschen, hat keinen Wildgeschmack. Wie anders unser Schmandhase, der sich von Haidekraut und Thymian seinen Wohlgeschmack holt!“ – ein Thema, welches er dann weiter variirte.

Nach halb elf Uhr Abends ließ er herunterfragen, ob noch Jemand beim Thee. Man meldete ihm: „Doctor Busch.“ Er kam, trank ein paar Tassen Thee und aß auch ausnahmsweise etwas kalte Küche. Später nahm er sich eine Flasche voll kalten Thee mit, den er als Nachttrunk zu lieben scheint, da ich ihn früher und später mehrmals des Morgens auf seinem Tische sah. Er blieb bis nach Mitternacht, und wir waren die erste Zeit allein. Er fragte, woher ich gebürtig. Ich erwiderte, aus Dresden. Welche Stadt mir besonders lieb wäre, wohl meine Geburtsstadt? Ich verneinte das und sagte, nächst Berlin wäre Leipzig die Stadt, in der mir am wohlsten wäre. Er erwiderte lächelnd: „So, das hätte ich nicht gedacht. Dresden ist doch eine schöne Stadt.“ Ich gab ihm Gründe an, weshalb es mir trotzdem nicht gefiele. Er schwieg dazu. Ich fragte, ob wegen des Kanonen- und Gewehrfeuers, welches man aus den Pariser Straßen her gehört haben wollte, telegraphirt werden solle. „Ja,“ sagte er, „thun Sie das!“ - „Ueber die Besprechung mit Favre aber wohl nicht?“ - „Doch,“ und dann fuhr er fort: „Haute Maison bei - wie heißt es doch gleich? - Montry erste, dann in Ferrières denselben Abend zweite, dann andern Mittag dritte Besprechung, aber sowohl wegen Waffenstillstand als wegen Frieden ohne jeden Erfolg. Auch von Seiten anderer französischer Parteien sind Unterhandlungen mit uns eingeleitet worden,“ worüber er dann einige Andeutungen gab.

Der Chef lobt den auf dem Tische stehenden Rothwein aus dem Schloßkeller, von dem er dann ein Glas trinkt, und schilt darauf wieder auf das ungebührliche Benehmen Rothschild’s: der alte Baron hätte mehr Lebensart besessen. Ich spreche von dem Fasanengewimmel im Park. Ob man da nicht eine Jagd anstellen werde? „Hm, es ist zwar verboten, im Parke zu schießen. Was will man aber machen, wenn ich hinausgehe und ein paar hole? Arretiren is nich; denn da haben sie Niemand, der den Frieden besorgt.“ Er kommt später auf Jagd überhaupt zu reden und sagt unter Anderem: „Wenn ich jetzt mit dem König in Letzlingen jage, so ist’s der alte Wald unsrer Familie. Burgstall ist uns vor dreihundert Jahren abgedrückt worden - rein der Jagd wegen. Es gab dort wohl noch einmal so viel Wald wie jetzt. Es war zu der Zeit nicht viel werth, mit Ausnahme der Jagd; heutzutage ist es Millionen werth.“ - „Rechtsverletzungen, Einsperrung bei salzigen Speisen ohne Getränk, als der Besitzer nicht wollte. Die Entschädigung war unbedeutend, nicht der vierte Theil des Werthes, und jetzt ist’s fast ganz zu Wasser geworden“ etc.

Ein anderer Gegenstand brachte ihn auf Schützengeschicklichkeit, und er erzählte, wie er als junger Mann ein so gutes Pistol gehabt, daß er damit Papierbogen auf hundert Schritt getroffen und den Enten auf dem Teiche die Köpfe abgeschossen habe. Wieder ein anderes, von ihm oft behandeltes Thema ließ ihn bemerken: "Wenn ich tüchtig arbeiten soll, so muß ich gut gefuttert werden. Ich kann keinen ordentlichen Frieden schließen, wenn man mir nicht ordentlich zu essen und zu trinken giebt - das gehört zu meinem Gewerbe."

Die Unterhaltung lenkt, ich weiß nicht mehr wie, auf die alten Sprachen ab. „Als ich Primaner war,“ sagte er, „da konnte ich recht gut lateinisch schreiben und sprechen; jetzt würde es mir schwer fallen, und das Griechische habe ich ganz vergessen. Ich begreife überhaupt nicht, wie man das so eifrig betreiben kann. Es ist wohl blos, weil die Gelehrten nicht viel mehr wissen und doch etwas wissen wollen.“ Ich erlaubte mir an die disciplina mentis zu erinnern und bemerkte, die zwanzig oder dreißig Bedeutungen der Partikel ἀν wären doch auch etwas sehr Schönes für den, der sie an den Fingern herzählen könne. Chef: Ja, aber das ist im Russischen, wenn man an die disciplina mentis beim Griechischen denkt, doch noch viel schöner. Man könnte statt des Griechischen gleich das Russische einführen, das hätte auch einen unmittelbaren praktischen Nutzen. Da giebt’s eine Menge Partikeln, die bei der Unvollkommenheit der Conjugation

[27] aushelfen müssen, und die achtundzwanzig Declinationen, die man früher hatte, waren auch etwas für’s Gedächtniß. Jetzt giebt’s zwar nur noch drei, aber dafür um so mehr Ausnahmen. Und wie werden die Stämme dabei verwandelt – von manchem Worte bleibt kaum ein Buchstabe.“

Wir reden von der Behandlung der schleswig-holsteinischen Frage beim Bundestage. Graf Bismarck-Bohlen, der inzwischen dazugekommen ist, bemerkt, das müsse doch zum Einschlafen gewesen sein. „Ja,“ sagt der Chef, „in Frankfurt schliefen sie bei den Verhandlungen mit offenen Augen. Ueberhaupt eine schläfrige, fade Gesellschaft, die erst genießbar wurde, als ich als der Pfeffer dazu kam.“ Er erzählt dann eine anmuthige Anekdote von Rechberg, die sich später einmal mittheilen lassen wird.

Ich frage darauf nach der „berühmten Cigarrengeschichte“. – „Welche meinen Sie?“ – „Die, wo Excellenz, als Rechberg Ihnen etwas vorrauchte, sich auch eine Cigarre ansteckten.“ – „Graf Thun, wollten Sie sagen. Ja, das war einfach. Ich kam zu ihm, als er arbeitete und dazu rauchte. Er bat mich, einen Augenblick zu verziehen. Ich wartete eine Weile, als es mir aber zu lange wurde und er mir keine Cigarre anbot, nahm ich mir eine und ersuchte ihn um Feuer, das er mir mit etwas verwunderten Gesichte auch gab. – Aber es ist noch eine andere Geschichte der Art zu erzählen. Bei den Sitzungen der Militärcommission hatte, als Rochow Preußen beim Bundestage vertrat, Oesterreich allein geraucht. Rochow hätte es als leidenschaftlicher Raucher gewiß auch gern gethan, getraute sich’s aber nicht. Als ich nun hinkam, gelüstete mich’s ebenfalls nach einer Cigarre, und da ich nicht einsah, warum nicht, ließ ich mir von der Präsidialmacht Feuer geben, was von ihr und den anderen Herren mit großem Erstaunen bemerkt zu werden schien. Es war offenbar für sie ein Ereigniß. Für diesmal rauchten nun blos Oesterreich und Preußen. Aber die anderen Herren hielten das augenscheinlich für so wichtig, daß sie darüber nach Hause berichteten und um Verhaltungsbefehle baten. Die ließen auf sich warten. Die Sache erforderte reifliche Ueberlegung, und es dauerte wohl ein halbes Jahr, daß nur die beiden Großmächte rauchten. Endlich begann auch Schrenth, der baierische Gesandte, die Würde seiner Stellung durch Rauchen zu wahren. Der Sachse Nostitz hatte gewiß auch große Lust dazu, aber wohl noch keine Erlaubniß von seinem Minister. Als er indeß das nächste Mal sah, daß der Hannoveraner Bothmer sich eine genehmigte, muß er, der eifrig österreichisch war – er hatte dort Söhne in der Armee – sich mit Rechberg verständigt haben; denn er zog jetzt ebenfalls vom Leder und dampfte. Nun waren nur noch der Württemberger und der Darmstädter übrig, und die rauchten überhaupt nicht. Aber die Ehre und Bedeutung ihrer Staaten erforderten es gebieterisch, und so langte richtig das folgende Mal der Württemberger eine Cigarre heraus – ich sehe sie noch; es war ein langes, dünnes, hellgelbes Ding – und rauchte sie als Brandopfer für das Vaterland wenigstens halb.“

Am nächsten Tage früh, bevor der Chef aufgestanden, Ausflug in den Park. In einem großen Gehege links ein starkes Rudel weidender Rehe. Weiter draußen eine prachtvolle Volière, in deren geräumigen Drahtkäfigen eine Menge ausländischer Vögel, darunter chinesische, japanesische, neuseeländische, seltene Tauben, Goldfasanen und dergleichen, auch eine Wachtelzucht. Zurückgekehrt, begegne ich Keudell im Corridor. „Krieg!“ ruft er. „Brief von Favre, der Alles ablehnt.“ Bei Tische, wo Tauffkirchen, der in Reims angestellt werden soll, und Oberpostdirector Stephan Gäste des Chefs sind, erzählt Letzterer, daß die Dörfer weiter nach Paris hin sammt den dortigen Schlössern und Villen alle verlassen und großenteils furchtbar verwüstet sind. In Montmorency, wo sich eine schöne Bibliothek und eine Münz- und Alterthumssammlung befunden, seien die Gold- und Silbermünzen gestohlen und nur die kupfernen zurückgeblieben, alles Uebrige zerfetzt, zerschlagen und herumgestreut. Der Chef sagt: „Das ist kein Wunder, wo die Regierung Leute, die sonst nur auf einen Tag weggelaufen und wiedergekommen wären, von den Mobilgarden und Chasseurs d’Afrique mit Säbelhieben hat fortjagen und zur Strafe für ihren Mangel an Patriotismus ihre Häuser hat verwüsten lassen. Unser Troupier stiehlt keine Münzen und zerreißt keine Bücher. Das haben die Mobilen gethan, die größtentheils Gesindel sind. Unser Troupier, der nimmt sich zu essen und zu trinken, wo man ihm nichts giebt, und das ist sein Recht, und wenn er beim Suchen darnach eine Thür oder einen Schrank zusammenschlägt, so ist auch nichts dagegen zu sagen. Wer heißt sie weglaufen?“

Am Sonnabend kam der Minister bei Tische unter Anderem auf die Prunksachen oben im großen Saale zu reden, die er sich erst jetzt angesehen hatte, und unter denen sich, wie man hört, auch ein Thron oder Tisch befindet, welcher einem französischen Marschall in China oder Cochinchina unversehens an den Fingern hängen geblieben und dann von ihm an unsern Baron verkauft worden ist – eine Merkwürdigkeit, die ich bei unserem Besuch des Zimmers unbilliger Weise nicht beachtet hatte. Das Urtheil des Chefs über diese Luxusentwickelung lautete ungefähr wie das vorhin abgegebene: Alles recht theuer, aber wenig schön und noch weniger behaglich. Er fuhr dann fort: „So ein ausgebautes fertiges Besitzthum, wie das hier, könnte mir keine Befriedigung gewähren. Es wäre von Andern gemacht, nicht von mir. Es ist zwar Vieles daran recht schön, aber es fehlt die Freude des Neuschaffens, des Umgestaltens. Auch ist es etwas ganz Anderes, wenn ich fragen muß: sollst du fünf- oder zehntausend Thaler auf diese oder jene Verbesserung verwenden? als wenn man nicht auf die Mittel zu sehen hat. Immer genug und mehr als genug haben, ist langweilig zuletzt.“ Wir aßen heute Fasanen (ungetrüffelt) und der Regisseur bethätigte in Betreff des Weins, daß die Besserung seines inneren Menschen guten Fortgang genommen. Ferner meldet der Oberproviantmeister des mobilen Auswärtigen Amtes, den dasselbe in Graf Bismarck-Bohlen verehrte, daß ein Berliner Wohlthäter dem Chef eine Liebesgabe von vier Flaschen Curaçao gewidmet, von dem dann eine Probe gereicht wurde. „Der Steinhäger aber wird alle,“ schloß der Graf seinen Bericht. Der Kanzler fragte: „Kennst Du (Name unverständlich)?“ – „Ja.“ – „Nun, dann telegraphire ihm doch: Alter Nordhäuser ganz unentbehrlich im Hauptquartier. Zwei Kruken sogleich.“

Am folgenden Tage nahm der Leibarzt des Königs, Dr. Lauer, am Diner theil. Man erfuhr dabei, daß das Lieblingsobst des Kanzlers die Kirschen sind, und daß er nächst ihnen „auf die blaue Bauernpflaume große Stücke hält“. Der Karpfen, welcher einen der Gänge bildete, bringt den Chef auf seine Stellung zur Welt der eßbaren Fische, über die er sich eingehend ausläßt. Unter den Flußfischen giebt er den Maränen, nicht mit den Muränen zu verwechseln, und den Forellen den Vorzug, von welchen letzteren er in den Gewässern bei Varzin sehr schöne hat. Sonst mag er die Seefische lieber, und unter diesen zieht er den Dorsch allen anderen vor. „Doch ist auch eine gutgeräucherte Flunder nicht übel, und selbst den ganz gemeinen Hering möchte ich, wenn er frisch ist, nicht verachtet wissen.“ Man geht zu dem Capitel Austern über, wobei der Minister sagt: „Ich habe mir um die Bewohner von Aachen in meinen jungen Jahren ein Verdienst erworben, wie Ceres durch Erfindung des Ackerbaues um die Menschheit. Nämlich dadurch, daß ich ihnen lehrte, Austern zu braten.“ Lauer erkundigt sich nach dem Recepte, welches ihm ausführlich mitgetheilt wird: wenn ich recht verstand, bestreut man die Thiere mit geriebener Semmel und Parmesankäse und bratet sie in ihrer Schale auf einem Kohlenfeuer. Alle Aeußerungen des Kanzlers waren und sind mir Evangelium und werden es bleiben. Hier bedauere ich, mit gebührender Bescheidenheit, aber fest, überzeugungstreu und gesinnungsvoll (man kann sich dazu Miene und Geberde des seligen Waldeck denken) einmal Protest erheben zu müssen. Hier ist nicht Ceres, sondern die Ferse Achill’s. Die Gründe findet man in meinem Büchlein: „Der gerechte und vollkommene Austernesser“ (Hannover, C. Rümpler), wie ich hoffe, überzeugend entwickelt. Frisch in ihrem Wasser und ohne Zuthat – das ist das einzig wahre Recept.

Abends mehrmals zum Chef hinaufgerufen, um Aufträge zu empfangen, erfahre ich unter Anderem, daß der Bericht Favre’s über seine Unterredungen mit dem Kanzler zwar das Bestreben wahrheitsgetreu zu sein bekundet, aber nicht ganz genau ist, was unter den obwaltenden Umständen und bei drei Besprechungen nicht Wunder nehmen kann. Namentlich tritt darin die Waffenstillstandsfrage zurück, während sie doch im Vordergrunde gestanden hat. Von Soissons ist nicht die Rede gewesen, sondern von Saargemünd. Favre war zu einer erheblichen Geldentschädigung bereit. Die Waffenstillstandsfrage bewegte sich [28] zwischen der Alternative: Erstens, Einräumung eines Theiles der Befestigung von Paris, und zwar eines die Stadt beherrschenden Punktes, an uns und dafür Freigebung des Verkehres der Pariser mit der Außenwelt; zweitens, Verzicht auf jene Einräumung, aber Uebergabe von Straßburg und Toul. Das Letztere beanspruchten wir, weil es in den Händen der Franzosen uns die Zufuhr unserer Bedürfnisse erschwert. Ueber Abtretung von Gebiet sprach sich der Bundeskanzler dahin aus, daß er sich über die Grenzen derselben erst erklären könne, wenn sie im Princip anerkannt sei. Der Waffenstillstand sollte zum Zweck der Befragung der Volksrepräsentation abgeschlossen werden.

Am nächsten Tage, wo der Fürst Radziwil und ein Herr von Knobelsdorff vom Generalstabe mit uns aßen, äußerte der Minister in dieser Beziehung außer einigen anderen Bemerkungen noch: „Als ich etwas von Straßburg und Metz fallen ließ, machte er ein Gesicht, als ob das Scherz von mir wäre. Ich hätte ihm da erzählen können, wie mir einmal – wie heißt er gleich? – der große Kürschner in Berlin sagte. Ich ging mit meiner Frau hin, um nach einem Pelze zu fragen, und da nannte er mir für den, der mir gefiel, einen hohen Preis. ‚Sie scherzen wohl?‘ versetzte ich. ‚Nein,‘ erwiderte er, ‚in de Geschäfte, da scherze ich nich.‘“ Man sprach dann noch von der Einnahme Roms durch die Italiener, die wir Tags vorher erfahren, und vom Papste, der im Vatican zurückgeblieben. Der Kanzler äußerte über Letzteren unter Anderem: „Ja, Souverän muß er bleiben. Nur fragt sich’s: wie? Man würde mehr für ihn thun können, wenn die Ultramontanen nicht überall so gegen uns aufträten. Ich bin gewohnt, in der Münze wieder zu zahlen, in der man mich bezahlt.“ Beim Essen fehlte Abeken; er hatte einen Schlaganfall gehabt und lag zu Bette. Nach Tische kam der amerikanische General Burnside mit noch einem alten Herrn, der ein rothes Wollenhemd und einen Papierkragen trug. Der General, ein ziemlich großer, wohlbeleibter Mann mit dicken, buschigen Augenbrauen und auffallend hübschen weißen Zähnen, konnte mit seinem abgezirkelten, kurzgehaltenen Wilhelmsbarte für einen ältlichen preußischen Major gelten. Der Chef setzte sich mit ihm auf das Sopha links vom Fenster im Eßzimmer und unterhielt sich lebhaft mit ihm bei einem Glase Kirschwasser, während Fürst Radziwil mit dem Andern sprach. Nachdem der Minister dem General bemerkt, daß er etwas spät zu unserer Campagne käme, und dieser das erklärt, setzte er ihm auseinander, daß wir nicht entfernt den Krieg gewollt und, als wir mit der Kriegserklärung überrascht worden, nicht an Eroberung gedacht hätten. Unsere Armee sei vortrefflich für Vertheidigungskriege, aber zur Ausführung von Eroberungsplänen nicht zu verwenden; denn das Heer sei das Volk, und das Volk sei nicht ruhmbegierig; es brauche und wolle den Frieden. Eben deshalb aber, um der Erhaltung des Friedens willen, müßten wir jetzt einem ehr- und eroberungssüchtigen Volke, den Franzosen, gegenüber auf Sicherheit für die Zukunft bedacht sein, und die fänden wir nur in einer Defensivstellung, die besser wäre, als die bisherige. Burnside schien das einzusehen und lobte höchlich unsere vortreffliche Organisation und die tapferen Thaten unserer Truppen. Abends erfuhren wir noch, daß Straßburg sich unserer Belagerungsarmee übergeben habe.

Als der König am Mittwoch, den 28., früh zu einer Truppenbesichtiguung in die Cantonnements bei Paris gefahren, gingen der Chef, Moltke und Podbielski ein paar Stunden auf die Fasanenjagd „in den Wäldern im Norden und Nordosten außerhalb des Parks“; denn in letzterem hatte Seine Majestät alles Schießen und Jagen untersagt. Während der Minister fort war, frühstückte ein ältlicher Franzose in grauem Rocke und grauem Butterglockenhut, mit schneeweißem Haare, stark gebogener Nase und grauem Schnurr- und Kinnbarte mit uns. Es war, wie man später erfuhr, der nach dem Kriege von den Zeitungen viel besprochene Reynier, der in dieser Zeit – wie es schien, halb und halb auf eigene Hand – zwischen der Kaiserin Eugenie und Bazaine den Vermittler spielte. Bei Tische, wo der Adjutant des Königs, Graf Lehndorff, der Landrath Graf Fürstenstein in der Uniform eines hellblauen Dragoners mit gelbem Kragen und ein Herr von Katt mit uns speisten, von welchen die beiden Letzteren Präfecten in eroberten französischen Gebieten werden sollten, erzählte uns der Chef, daß er diesmal in Folge von zu schwachen Patronen auf der Jagd kein Glück gehabt, da er nur einen Fasan erlegt und drei oder vier zwar angeschossen, aber dann nicht gefunden habe. Früher sei es ihm hier besser ergangen, wenigstens mit den Fasanen. Mit anderem Wilde wäre das allerdings nicht der Fall gewesen, dagegen habe er bei Dietze in der Magdeburger Gegend einmal an fünf bis sechs Stunden hundertundsechszig Hasen geschossen.

Nach den Essen war der Großherzog von Weimar oben bei dem Bundeskanzler, dann Reynier und zuletzt Burnside nebst seinem Begleiter vom gestrigen Tage.

Ich überspringe wieder eine Woche und das, was ich von ihr aufzuzeichnen hatte, und komme zu unserer Abfahrt von Ferrières.

Wir verließen, nachdem am Tage vorher Lothar Bucher und der Chiffreur Wiehr als Verstärkung eingetroffen waren, das Schloß am 5. October früh nach sieben Uhr und fuhren, meist auf Dorfwegen, die aber vortrefflich waren, durch einen großen Wald, dann durch verschiedene, fast völlig von ihren Bewohnern verlassene Dörfer, auf die Seine im Südosten von Paris zu. Das wohl angebaute reiche Land war voll von Villen und Schlössern. In den Ortschaften war erst württembergische, dann preußische Einquartierung. Um acht Uhr waren wir, nachdem ein schrecklich steiler Weg passirt war, den man durch einen Weinberg geführt hatte, und auf welchem nur sehr geschicktes Laviren unsere Wagen vor dem Umschlagen bewahrte, in dem anmuthigen Städtchen Villeneuve St. George, in dessen Villen eine gräuelvolle Verwüstung herrschte. In mehreren derselben waren die Spiegel zerschlagen, die Polstermöbel zerbrochen und aufgeschlitzt, Wäsche und Papiere umhergestreut etc. Von hier ging es über einen Canal oder Nebenfluß hinaus auf’s Feld und dann auf einer Pontonbrücke über die klare, grüne, an der Mitte ziemlich tiefe Seine, die hier etwa so breit wie die Elbe bei Pirna ist.

Jenseits des Flusses kamen wir zunächst nach dem hochgelegenen Villeneuve Le Roi, wo die Insassen unseres Wagens in einem Bauernhofe vor dem Düngerhaufen das mitgebrachte Frühstück verzehrten. Aus der Mauer des Hauses fließt ein klarer Brunnen, über welchem eine Tafel besagt, daß der Sieur X. und Frau an dem und dem Tage dieses Wasser fanden und es durch eine Pumpe dem Publicum zugänglich machten. Darunter steht ungefähr: „Die Wohlthäter werden vergessen; ihre Wohlthaten bleiben“. Ein Weißbart in der landesüblichen Blouse und der hohen grauen Zipfelmütze des französischen Bauern humpelte auf Holzschuhen heran, klopfte mich auf die Schulter und fragte, ob das nicht hübsch gesagt sei, und ich erfuhr dann von ihm, daß er selbst die männliche Hälfte des Wohlthäterpaares war, welches die Tafel der Nachwelt zu dankbarem Andenken empfiehlt. „Man muß sein Licht nicht unter den Scheffel stellen,“ sagte der Franzose – da setzte er sich selber ein Denkmal.

Weiterhin durch ein Dorf, bei dem Infanterie, in Bataillonen neben dem Wege gelagert, den König zu einer Besichtigung erwartet. Ein Stück davon auf dem Felde, neben einem Wäldchen vier Cavalleriedivisionen, grüne, braune, rothe Husaren, Ulanen und Kürassiere. Schon lange hoffte ich auf einen Blick nach Paris hin. Aber auf der Seite rechts, wo es liegen muß, versperrt ein ziemlich hoher bewaldeter Hügelzug, auf dem dann und wann ein Dorf oder ein weißes Städtchen sich abhebt, die Aussicht. Endlich kommt eine Senkung in dem Höhenkamm, ein Thälchen, über dem eine gelbliche Erhöhung mit scharfem Rand, vermuthlich ein Fort, und links davon erheben sich über einer Wasserleitung oder einen Viaduct in Rauchsäulen, die aus Fabrikschornsteinen aufsteigen, die bläulichen Umrisse eines großen Kuppelbaues. Das Pantheon! Hurrah! wir sind vor Paris. Es kann kaum mehr als anderthalb Meilen von hier bis dahin sein.

Noch eine Stunde auf der großen gepflasterten Kaiserstraße, noch zwei Dörfer, und wir fahren durch ein eisernes Gitterthor mit vergoldeten Spitzen in eine breite Straße hinein, dann quer über eine noch breitere Allee mit alten Bäumen, darauf durch eine engere Gasse mit dreistöckigen Häusern und wieder über eine große Allee, um in eine Seitenstraße einzubiegen, wo für uns Quartiere besorgt sind. Wir sind in Versailles und zwar auf der Rue de Provence, wo wir dann fünf volle Monate verbleiben.

[29]
Bei der Madonna von Dietrichswalde.

Es war an einem großen Erscheinungstage der „Frau der Welt und der Königin des Himmels“, deren persönlichem Eingreifen die römische Kirche in diesem Jahre eine so reiche Ausbeute triftigster Wunder und wichtigster Offenbarungen verdankt, als ich des Morgens zum Zweck der Reise nach dem neuesten Wunder- und Heilsorte, Dietrichswalde, auf dem Bahnhofe in Deutsch-Eylau eintraf. Perron und Wartesaal waren ganz ausnahmsweise von einem Publicum belebt, welches, abgesehen von vielleicht einigen Handelsreisenden, zumeist den gläubigen Menschenschichten angehörte.

Da war zunächst eine Gesellschaft von eleganten, in vierspännigen Carossen angelangten Polinnen, welche an großen kirchlichen Tagen herkömmlich niemals zu verabsäumen pflegen, die heilige Jungfrau mit frommem Schaugepränge um eine vertrauliche Auskunft darüber anzuflehen, welche glänzenden Culturziele dem Polenvolke wohl noch bei seiner besonders glücklichen Beanlagung zum Wallfahren in Aussicht stehen. Da war auch in übersichtlicher Gruppirung um einen frommen Caplan „der liebliche Reigen der Jungfrauen“ aus der mittleren Gesellschaftsclasse im Alter zwischen siebenzehn und zwanzig Jahren, mit sehr entwickelten, auf’s Knappste in moderne Roben gezwängten Formen und dem von der römischen Geistlichkeit so überaus geschätzten frommen Taubenblick. Alle aber harrten in andachtsvoller Hoffnung des nächsten Bahnzuges, welcher sie der großen Heilsverkündigung zuführen sollte.

Als dieser nun, mit zwei Maschinen voraus, zischend und brausend herankam, da war er mit heilsbedürftigen Pilgern, zumeist des engelgleicheren Geschlechts, bis zum letzten Platz gefüllt. Es mußte erst noch eine Anzahl Wagen angehängt werden, bevor ich mit dem vorerwähnten geistlichen Herrn und acht von den seiner frommen Leitung überlassenen „schönen Kindern“ ein angenehmes Unterkommen fand. Es gewährte ein hübsches, freilich etwas modernes Wallfahrtsbild, als wir zu fünf und fünf, der Geweihete mir schräg gegenüber und einem Jeden von uns vier im Engelsschmucke der Unschuld prangende Jungfrauen zur Rechten, dem heiligen Erscheinungsbaume zusausten. Der geistliche Führer, sei es, daß meine Anwesenheit seine vorhin so muntere Conversationslaune zügelte, oder daß, was wohl wahrscheinlicher, die erhabene Bedeutung des heutigen Tages plötzlich seinen Geist ganz erfüllte, setzte sich mit würdevollem Ernst in seiner Ecke zurecht, zog ein Proprium de Sanctis aus der Tasche und versank bald tief in die gewiß andächtigsten und apostolischsten Betrachtungen. So langten wir auf dem Bahnhofe in Osterode an.

Obgleich hier Stadt und Umgegend durchweg evangelisch ist, herrschte doch, wohl aus allgemein christlicher Theilnahme, eine sehr gehobene katholische Feiertagsstimmung, die freilich mehr einem derben Humor der Entrüstung über das Unerhörte dieses Vorganges ähnlich sah. Namentlich zeigte die männliche Seite der Bevölkerung einen für die hochgelobte Jungfrau äußerst schmeichelhaften Wallfahrtsdrang, der in seinem unzügelbaren Eifer durchaus entschlossen schien, heute ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. So wurden denn nach einem weihevollen, festfreudigen „Hurrah“ auf die großen Bierfässer, welche zur Verladung nach der Wallfahrtsstätte auf dem Perron anlangten, die Waggons um einen – wenn auch nur – Stehplatz förmlich erstürmt, wobei es natürlich hin und wieder zu vielfachen mündlichen wie handlichen Achtungsversicherungen kam. Unser andächtiges Coupé rettete vor dieser Ueberfallsnoth nur meine schnell in die Thür verpflanzte Körperbreite, wofür man mich zwar mit dem freundlichen Titel „Wallfahrtsvater“ bereitwillig ehrte, dagegen die unschuldvollen Kinder hinter mir mit der kränkenden Bezeichnung „Grünfutter für Pfaffen“ und „Schwindelrekruten“ an ihrer Ehre empfindlich und ohne alle Motivirung verletzte. Doch plötzlich intonirte in einem vorderen Wagen ein schon etwas herabgekommener Männerchor den bekannten Schlußrefrain: „Wir fahren auf der Eisenbahn, so lang’ es uns gefällt,“ und unter den Klängen dieses auf Wallfahrtszügen bisher noch wenig gebräuchlichen Liedes glitt der Zug zum Bahnhofe hinaus und bis Station Bisellen, von wo Dietrichswalde zu Fuß in fünfviertel Stunden bequem erreicht werden kann.

Der kleine, mehr für ein stilles und beschauliches Leben geschaffene Bahnhof in Bisellen gewährte ein Bild der äußersten Aufgeregtheit. Hunderte von Menschen lagerten rings umher auf Perron, Plätzen, Straßen und rasteten von weitem Marsche oder verlangten nach einer Stärkung, welche ihnen die Bahnhofsrestauration gewähren sollte. Allein in diese überhaupt nur hineinzudringen und dann noch den Menschenschwall bis zum begehrten Genußmittel zu durchfurchen, gehörte so sehr in den Bereich der Unmöglichkeit, daß es selbst meinem frommen Coupégefährten nicht gelang, über die hinterste Queuereihe hineinzukommen. Und obschon derselbe im Vertrauen auf die hier nun schon wieder wehende katholische Luft und das in dieser gemeinhin so vollwiegende priesterliche Ansehen mit ehrwürdigstem Gebahren auftrat, so standen heute doch weder die priesterliche Erhabenheit, noch das fromme, schwarze Kleid in ihrem sonstigen hohen Werthe. Er mußte nach allseitig vergeblichen Anstrengungen mit unbefriedigten Wünschen wieder in den Kreis seiner frommäugigen Schützlinge zurückkehren, und bald sah man ihn mit diesen den Weg zum Baume der Offenbarung andächtig hinwandeln. Auch ich hatte weiter keine dringende Veranlassung, mich dem Wellenschlage des hochgehenden Glaubensenthusiasmus vorzuenthalten, that gänzlich von mir den Dünkel der Weltweisheit und brach auf, die Wunder des Tages zu schauen.

Aus der Landstraße über das nahe Dorf Podleiken und von da über die Passargebrücke nach Dietrichswalde pilgernd, war ich bald ein Tropfen in dem unendlichen Pilgerstrome, der zu Fuß und zu Wagen rauschend dahinfloß. Nach wenigen Minuten schon wurde Podleiken erreicht, wo von Westen her in den unseren ein anderer Strom unter mehr oder minder ernsten Verstopfungsfällen einfiel. In diesem schienen einige gar gottselige Gruppen zu schwimmen, deren machtvoller Lobgesang die Herzen der gläubigen Waller um mich sichtlich erschütterte. Als ich aber jenseits der Passargebrücke, schon nicht mehr allzufern vom heiligen Orte, einen rechts am Wege belegenen Hügel bestieg, da hatte ich vor mir das lebensvolle Bild einer wahren Völkerwanderung. Alle Wege zum Wunderorte waren ununterbrochene Menschenströme und unzählig die Menge, welche Dorf und Umgebung schon weithin bedeckte. So zogen wohl einstens die Juden jährlich aus gen Jerusalem, ihr großes Fest der Flucht aus Aegypten, das Passah, zu feiern. Freilich war das alte Passah nur ein pures historisches Erinnerungs- und allenfalls Dankfest der Juden und schon kaum mit einem christlichen Feste überhaupt, geschweige mit der heutigen so verheißungsvollen Erscheinungsfeier zu vergleichen. Denn heute kommt ja die hohe Himmelskönigin selber daher, steigt in hingebender Selbstverleugnung auf den unbequemen Ahorn und dictirt von diesem unscheinbaren Thronsitze herab durch zweier unschuldiger Kinder Mund dem Herrn Pfarrer Weichsel die allerneuesten und wichtigsten göttlichen Regierungsabsichten direct in die Stahlfeder. Wahrlich, ein christliches Fest von erhabenster Bedeutung, voll unbemessener Inbrunst und staunenswerthester Wunder!

Im Wiederanschluß an meinen lebendigen Strom gelangte ich langsam in die Nähe des Dorfes, noch langsamer hinein und endlich sogar bis an eine freundlich einladende Schankbude, wo ich, die frommen Pilgerreihen verlassend, bei einem Glase „Osteroder Bairisch“ die heiß begehrte Erquickung fand.

Die hier bereits angesiedelte Gesellschaft, anscheinend beamtete Städter und ländliche Besitzer, war sichtlich bemüht, die göttliche Erscheinung des Tages nicht von ihrer hohen, übernatürlichen Bedeutung, sondern mehr von dem lockern Standpunkte einer weltlich-fröhlichen Herbstbelustigung aus zu würdigen. Vornehmlich war es ein wohlbeleibter, katholischer Herr, welcher mit einer der erhabenen Tagesfeier offenbar feindlichen Kritik seine spottfreudigen Biergenossen unerschöpflich belustigte. So betitelte dieser wohl freimaurerische und schlimme Mann das heutige Offenbarungsfest „einen lustigen Civilisationsscherz“, die hehren und göttlichen Baumerscheinungen „lucrative Gauklervorstellungen“, jene frommen, die göttlichen Offenbarungen so getreulich aufzeichnenden Priester sogar „Mogelcollegen“, und die aufgestellten großen Opferbüchsen „große Gründertaschen“. Auch das heute doch so glückselige Volk verspottete er als „stumpfsinnig“, nannte es „betrogen, mißleitet, ein Spielzeug der Habsucht und Gleißnerei“, [30] Doch es war ein Uhr und das Festprogramm versprach auf diese Stunde die zweite Tageserscheinung. So erhob ich mich denn und watete langsam im fußhohen Schlamm den himmlischen Ueberraschungen entgegen.

Der seit Kurzem für die ganze päpstliche Welt so interessante heilige Ahorn von Dietrichswalde befindet sich nebst der Kirche und dem Pfarrhause innerhalb einer Umzäunung auf dem Scheitel einer mäßigen Anhöhe, die im Westen und Süden von der breiten Dorfstraße begrenzt wird. Kirchhof, Bergböschung und Straße fand ich schwarz bedeckt mit erwartungsseligen Menschen, deren überaus anspruchsloses religiöses Gefühl meist eine bloße kirchliche Ceremonie schon befriedigt, deren fromme Einbildungskraft die bunte Welt der guten und bösen Geister, der glücklichen Seligen und der vielvermögenden Heiligen so schön bevölkert und deren im Glauben gebeizter, vornehmster Gedankenniederschlag ein nächster Ablaß ist mit seiner bewährten Garantie der himmlischen Wonnen und seinen so züchtigen irdischen Freuden. –

Eine gewaltige Aufregung pochte sichtlich an die Herzen all dieser Tausende von Menschen. Man trug soeben einen bleichen, kranken Mann zur Wunderstätte, und es gelang mir, hinter diesem Leidenszuge bis an die Umzäunung vorzudringen. Hier hatte ich nun in geringer Entfernung vor mir den so hoch begnadeten Baum, den Gegenstand des Wohlgefallens der heiligsten Jungfrau und Mutter, dieser jetzt einzigsten Verkehrsvermittlerin zwischen Himmel und Erde. Von ganz unscheinbarem, sogar etwas dürftigem Aeußeren gabelt er sich bei etwa zweieinhalb bis drei Meter Höhe in zwei lange, spierige Aeste, welche eine nur spärliche Krone tragen. Die Stelle, wo die Gebenedeite im einfachen, himmelblauen Kleide ihren erhabenen Verkündigungssitz einnimmt, ist mit Kränzen verziert und ein kleines, quadratisches Staket, mit vielen Lappen, Flaschen und Bildern, wohl zum Zwecke der Heiligung dieser Gegenstände, fromm behängt, sichert ihn gegen etwaige reliquiensüchtige Beschädigung. Die gläubige Menge bestand dreiviertel aus dem zarteren Menschengefüge, aus frommen Frauen. Die schon ausgebildeten wahrhaft Heiligen waren vorn am Wunderbaume, die von erst geringerer kirchlicher Zucht mehr zurück und die Männer bescheiden am Zaune gruppirt. Alles aber knieete oder lag gar in Kreuzesform starr auf der schlammigen Erde.

Da trat feierlich aus der weit geöffneten Pfarrhausthür eine hochwürdige Schaar päpstlicher Priester, zwei festlich geschmückte, der Muttergottes ansichtig gewordene Mägdlein geleitend, und knieete gottselig nieder mit den Kindern im Angesichte des heiligen Wunderbaumes. Alle die Tausende aber richteten in Scheu und Furcht ihr Antlitz zum göttlichen Sitze empor, während die feierlichste Stille diesen weihevollen Augenblick beherrschte. – Nach nur kurzer Zeit erhoben sich voller Geheimnisse wieder die Kinder, wurden von den geistlichen Herren bei den Händen erfaßt und unter heiligen Gebräuchen in das Pfarrhaus zurückgeleitet. Das im Innersten durchbebte Volk aber schluchzte und weinte in der Freude seines empfundenen Heilglückes und erhob einen jubelnden Lobgesang, welcher nur von dem Klingen und Klappern der vielumdrängten Opferbüchsen noch übertönt wurde. Das war die zweite Wundererscheinung dieses heiligen Offenbarungstages.

Welche göttlichen Kundgebungen aber die frommen Priester von den auserkorenen Mägdlein erforschten, das verkündeten dann nach einigen Tagen die frommen Caplanzeitungen mit weihevollen Worten. So hatte es sich diesmal um zwei für das Christenthum überaus wichtige Fragen gehandelt: ob nämlich das in der Dietrichswalder Kirche vorhandene Bild einer schwarzen Muttergottes wohl wunderthätige Kraft besitze, und ob auch dieselbe göttliche Eigenschaft einem Quellwasser beiwohne, welches dem dortigen Pfarrlande entspringt. Beides wurde in gnädigster und leutseligster Weise bejaht. Ebenso zufriedenstellend soll die Beantwortung der gleichfalls durch die Kinder vermittelten Fragen einzelner Frommen hinsichtlich der Krankheiten ihrer Schweine, Ziegen, Hühner etc. ausgefallen sein, sodaß an diesem gesegneten Tage ein glänzendes Offenbarungsresultat erzielt und die Beschwerden und Kosten der weiten Reisen wohl reichlich aufgewogen wurden.

Auch geschah ein großes Zeichen und Wunder zwar nicht an einem der vielen Kranken und Krüppel, wohl aber an einem der wichtigsten und nothwendigsten Bekleidungsstücke eines geweihten Priesters. Denn als der fromme Pfarrer Bieber[1] aus Pronikau nach heißem, inbrünstigem Gebete vor dem heiligen Baume sich vom Knieen aus dem tiefen Schmutze erhob, da hatte die Hochgelobte in höchst schmeichelhafter Sorge um seine so keusche und unschuldsvolle Priesterhose diese vor Befleckung gänzlich bewahrt. Wahrlich, ein Zweig des göttlichen Wunderschaffens von der verhängnißvollsten Bedeutung!

Während nun die frommen Priester die so wichtigen Offenbarungen und das schöne Wunder niederschrieben und begeistert von all dieser Gnade den Antrag um einen päpstlichen Ablaßbrief für den gottgefälligen Ahornbaum entwarfen, gewann das Treiben an der Kirchbergsböschung und auf der Dorfstraße wieder ein mehr weltliches Gepräge. Zwar blieb der Kirchhof auch außer den auf sieben Uhr Morgens, ein Uhr Mittags und sieben Uhr Abends feststehenden Erscheinungen mit wechselnden Andächtigen gefüllt und die heiligen Gebräuche nahmen ununterbrochen den ganzen Tag ihren Fortgang, doch außerhalb der Umwährung kam wieder mehr das rein menschliche Bedürfniß vor dem seelischen zur Geltung. Im Weggehen von der heiligen Stätte vernahm ich noch das plattdeutsche Zwiegespräch zweier halbwüchsigen ermeländischen Bauernjungen über den Erscheinungsvorgang:

     „Hest Du sei seihn, Josepp, de heilig Jungfru?“

     „Nee, ’t was all vorbi, as ick ankamm.“

     „Wur mag sei eintlich up dem Bohm sitten?“

     „Je, dor wur de Kräns’ hängen dauhn!“

     „Na, wenn sei dorhen ruppeklawwern (hinaufklettern) deiht, ward sei sick ok scharp (sehr) fasthollen möten.“

Die Verkaufsbuden machten gewiß ein glänzendes Geschäft, schienen aber auch auf’s Reichhaltigste und Beste ausgerüstet zu sein. Da war die Muttergottes in Bildern mit und ohne Glas, auf Leder, Zeugen und Papier, sie war vorhanden in Metall, Gyps und Holz, aus Guttapercha, Pfefferkuchen und Seife. Der letzte Artikel – „aus Seife“ – ging am schlechtesten, wohl weil die frommen Pilger heute größtentheils Polen waren. Neben den Heiligenbildern waren Perlenschnüre mit Kreuzen oder Amuletten aus den verschiedensten Grundstoffen, Crucifixe, Lämmer Gottes und Gebetbücher die gangbarsten Handelsartikel. Die deutsche Sprache, worin letztere geschrieben waren, galt bei den Polen als weiter kein erhebliches Ankaufshinderniß, insofern sie des Lesens überhaupt unkundig sind. Eine ältliche Frau hatte ihren Hals schon mittelst vier Ketten mit Kreuzen und Marienmedaillen geschmückt, sodaß sie klapperte wie ein Frachtpferd. Hier traf ich auch aus meinem Heimathsorte unsern sogenannten „Herrgottshändler“. Wenn schon dem Manne, als orthodoxem Juden, sein ganzer Kram gewiß ein Gräuel war, so schien dieser Affect doch seine Stimmung nicht zu trüben, worauf wohl „ein gutes Geschäft“, wie er mir mit vergnügtem Augenblinken zuraunte, nicht ohne Einfluß sein mochte.

In den Häusern, Scheunen, Buden und auf den Straßen war überall Schmutz und ein brausendes Leben. Hier kamen, dort gingen fortwährend fromme Wallfahrtszüge, zumeist unter Gesängen und kirchlichem Gepränge. Daneben hatte man freilich auch in den bekannten lebhaften Wallfahrtsfarben die wechselvollen Bilder der erlösungsbedürftigen Menschennatur und des den Himmel ererbenden Stumpfsinns. Der menschlichen Vernunft aber macht es gewiß alle Ehre, trotz der feindlichen Maßregeln des Zweifels, des Unglaubens und der Teufelsmacht doch auch in den Offenbarungen zu Dietrichswalde die ewigen, wahrhaft beseligenden Heilswahrheiten richtig zu erkennen und daran zu glauben.

Eine Stunde etwa verweilte ich noch an der heiligen Stätte dieser schönen Gottseligkeit; dann sehnte ich mich aus diesem Sumpfe hinweg, gewann ein Fuhrwerk und kehrte zum Bahnhofe zurück.

R. K.
[31]

Thier-Charaktere.

Von Adolf und Karl Müller.
Ein geharnischter Harmloser.

Wir sind gewohnt, ritterliche Thaten mit Vorliebe aus dem Leben unserer eigentlichen Raubthiere zu verkünden, Thaten der Kraft und des Muthes, der Großmuth und aufopfernden Mutterliebe, Kämpfe der Eifersucht und Nebenbuhlerschaft, Raubzüge verwegener Kühnheit und nächtliche Ueberfälle. Im „Löwenritt“ ist die Reitkunst des Wüstenkönigs durch den Dichter verherrlicht worden; seine Stärke gipfelt in dem bewunderten Sprunge, den er, das zweijährige Rind im Maule, über den drei Meter hohen Zaun des Krâls macht, und unsere Anerkennung schlägt ihn gleichsam zum Ehren- und Königsritter. Die Riesensprünge der Katzen vom Königstiger herab bis zum Luchs, des letzteren Geduld und Ausdauer im Lauern und auf meilenweiten Raubgängen – sie sind Beurkundungen bevorzugter Thierfamilien von edlerem Stande. Selbst der Sprung des Edelmarders in den Nacken des Rehes vom Baume herab erscheint uns als ritterliche That. Und sehen wir gar, wie der gnomenhafte Dächsel, schon rühmlich bewährt in der Feste Malepartus durch Mißachtung der Prankenschläge und Bisse Meisters Grimmbart, dem Tiger lautgebend sich entgegenstellt, fürwahr, dann können wir nicht anders, als von einer ritterlichen Großthat reden. Ehre, dem Ehre gebührt!

Aber ich möchte auf die Erfahrungsregel hinweisen, daß die Welt vor allem Anderen geneigt ist, die großartige, imponirende Gestalt der That anzuerkennen und dafür das, was im Kleinen sich groß erweist, die Leistung im Stillen und Niederen, welche nicht in die Augen springt, zu übersehen. Solche verborgene, nur der mühsamen Forschung zugängliche Großthaten treten aber innerhalb der Ordnung der Insectenfresser oder Kerfjäger (Insectivora) zahlreich auf, ohne daß sie in der Oeffentlichkeit Aufsehen erregen.

Was will die Muskelstärke des Berberlöwen im Verhältniß zu derjenigen des Maulwurfs bedeuten? Die Last, welche der Nacken des Maulwurfs hebt, die Stoffmasse, welche seine Hände unermüdlich nach hinten schaufeln, der Erfolg, mit welchem der Knorpelrüssel wühlt: das ist mehr als ritterliche That, das ist Herculesarbeit. Was will das Gebiß des furchtbarsten Raubthierkiefers gegen dasjenige des Maulwurfs und der Spitzmaus gelten? Ich antworte mit Karl Vogt’s Vergleich: „Das Gebiß einer Spitzmaus, zu den Maßen desjenigen eines Löwen vergrößert, würde ein wahrhaft schauderhaftes Zerstörungswerkzeug darstellen.“ Man sollte meinen, die Instrumentenmacher hätten dem Insectivorengebiß das Muster zu ihren Bohr-, Schneide- und Säge-Instrumenten entlehnt. Und neben diesen Verwüstungswerkzeugen, welch ein Verdauungsvermögen, welch ein Stoffwechsel! Das Gewicht der beiden genannten Insectivoren entspricht dem Gewichte dessen, was sie täglich fressen. Der „Löwenritt“ ist weltberühmt, der Ritt einer Wasserspitzmaus aber auf dem Kopfe eines mehrere Pfund schweren Karpfens, dem die nadelspitzen Zähnchen die Augen zerfleischen und das Gehirn anbohren, zumal im Wasser, dem Elemente des Fisches – ist er auch kein dichterischer Stoff für einen Freiligrath gewesen, ihn soll doch die Feder des Thierkundigen rühmend verzeichnen als Großthat des Zwerges in sammetschwarzem Pelzmantel mit Silberperlenverbrämung.

Doch heute haben wir es mit einem anderen Kerfjäger zu thun, den der Künstlergriffel leibhaftig in dem Bilde verherrlicht, das die Unterschrift trägt: „Igel und Kreuzotter“.

Dort liegt aus dem Stoppelacker am Feldrain eine eirunde Stachelkugel. Ich trete hinzu, und ohne Gewaltmittel in Anwendung zu bringen, streiche ich die Menge starrender Stacheln von vorn nach hinten, fasse, so geschützt vor Verletzung, den Stachelklumpen und trage ihn auf eine überhängende Felsplatte. Es vergeht eine Zeit von fünfzehn Minuten, ehe ein leises Zucken an dem Panzer sichtbar wird, dann aber streckt sich unter mehrmals wiederholtem Rucke zu gleicher Zeit der vordere und hintere Theil desselben, und vorsichtig prüfend taucht zuerst eine rüsselförmige Schnauze und alsdann das finster blickende Gesicht hervor. Ist es wirklich drohender Zorn, unheilverkündender Rachegedanke, der in dem faltenreichen Gesichte geschrieben steht? Wie doch die äußere Miene täuschen kann!

Der entrollte Igel läßt das Auge prüfend in die Umgebung blicken und rollt dann linkisch dem Rande der Platte zu. Täppisch poltert er hinunter, aber, im Nu wieder zusammengerollt, fällt er als Kugel zu Boden, ohne im Mindesten sich weh zu thun. Fällt er doch so von hohen Mauern nieder, ohne sich zu beschädigen.

Eine so merkwürdige Einrichtung, welche das Thier plötzlich in eine gänzlich veränderte Gestalt umzuwandeln vermag, verdient eine genauere Untersuchung. Ein stark entwickelter Hautmuskel, welcher theils als Fortsetzung der dicken Faserschicht des Hinterkopfs erscheint, theils an dem Nasen- und Stirnbeine entspringt, umgiebt gürtelartig die beiden Seiten des Igelleibes. Das nach hinten zu beiden Seiten seiner Seitenabschnitte breit verlaufende, am Bauche dick, nach dem Rücken zu dünn werdende Muskelband hängt mit der Haut des Stachelpanzers von dessen Ursprung am Bauche bis zum Rücken zusammen. Die Seitenhälften des Muskels verbinden sich auf dem Stummelschwanze des Igels miteinander. Sobald er nun den Muskel zusammenzieht, wird der Panzer verkürzt und seine Stacheln richten sich folgerecht empor. Es tritt zugleich die Mithülfe von Bauchmuskeln hinzu, sodaß die Panzerhaut gleich einem Strupfbeutel die am Bauche vereinigten Füße sammt Kopf und Schwanz umhüllt. Nur in der Mitte des panzerlosen Bauches bleibt eine kleine, schmale Naht. Beim Entrollen der Stachelhaut sind zwei Muskelpartien thätig, die vordere, welche in strahlig auf der Rückenseite verlaufenden Muskelbündeln der Haut über Stirn- und Nasenbein wie an den Ohrmuscheln und am Halse einverleibt sind und durch Zusammenziehen das Vordertheil, die Kapuze, entrollen, und ein hinteres Muskelpaar, welches in den mittleren Schwanzwirbeln seinen Ursprung hat, im Verlaufe der Fasern der Bauchseite sich vereinigt und in den Rückenrändern des großen Hautringmuskels endet.

Ausgerollt und gestreckt, steht ein plumpgestaltetes, ohne das 2,5 Centimeter messende Stummelschwänzchen 30 Centimeter Länge und etwas über 12 Centimeter Höhe einnehmendes Thier vor uns mit gelbröthlichgrauem Kopfe und glänzend schwarzen Augen, schwarzbraunen „Läufen“, weißgrau grundirter und röthlichgelb überflogener Brust- und Bauchpartie und mit Stacheln bewaffnet, deren Grund und Spitze braun, deren Mitteltheil aber gelblichweiß erscheint und die ihrer Länge nach abwechselnd feingefurcht und mit erhabenen Leisten versehen sind. Wir gönnen dem geharnischten Harmlosen seine Freiheit und ertheilen ihm unbedenklich Absolution bezüglich seiner vereinzelten Angriffe auf Vogelnester am Boden und junge Häschen im Grase oder auch Mordversuche im Hühnerhofe, wo er erfolglos unter die ihren Augen kaum trauenden und ob der Verwegenheit langhälsig staunenden Hennen springt und dieselben zum erschreckten Auffluge veranlaßt. Wir sehen dem Sohlengänger unter der Zusicherung unseres unwandelbaren Protectorats wohlwollend nach und suchen ihn zu gelegener Zeit wieder auf.

Wo sind sie, die einsamen Plätze alle an den Waldrändern, an Dornrainen, in heckenreichen Feldgärten, in kleinen Feldgehölzen und in Parkanlagen, wo auf meinen Beobachtungsgängen und Ständen der Igel mich Blicke thun ließ in seinen Wandel, sein Wesen und Familienleben?

Es will allmählich Abend werden. Leiser Wind lispelt im Gezweige und fächelt erquickend die Augustschwüle. Ein Rascheln auf dem Laubboden lenkt mein spähendes Auge nach jenem aufgeschichteten Heckenreisig im Gebüsche. Dort regt es sich an mehreren Stellen, und deutlich tritt zunächst ein alter Igel in den Abendsonnenschein. Die Nase gesenkt und nach allen Richtungen hin Blätter, Wurzelausschläge, bemooste Steine und Vertiefungen beschnüffelnd, rückt er dem zwischen Bosquetpartien sich hinschlängelnden Wege näher. Da gewahrt er eine Maus. Wie eine Bildsäule steht er stille, mit gespanntem Gehöre und haftendem Blicke, bis die Beute nur noch einen Meter von ihm entfernt ist. Dann springt er, rascher zufahrend, als das seither beobachtete täppisches Auftreten vermuthen läßt, der im Zickzack ausweichenden Maus behende nach und hält im nächsten Augenblicke [32] den quiekenden Nager zwischen den Zähnen. Nun raschelt es lebhafter im Laube und auf einen leisen Murkston der Igelmutter kommen hintendrein fünf halbwüchsige Igelchen, von denen die beiden Vordersten sich über die entgegengebrachte Beute hastig, aber keineswegs friedlos herstürzen. Während diese die Maus zerreißen, mischen sich die drei nachkommenden Geschwister unter die Schmausenden. Unterdessen hat sich, von sichtlicher Unruhe getrieben, die Igelmutter wieder nach dem Platze begeben, wo sie soeben die Maus gefangen. Das Rüsselschnäuzchen ist emsig thätig und wühlt jetzt im Laube am Rande des Weges; unter der Beihülfe der scharfnageligen, grabenden Füße hebt sich die Erde und jetzt erfolgt ein zufahrender Ruck des Vorderleibes und dann wird das Quieken einer Maus hörbar. Wirklich, eine zweite Maus hängt am Gebisse des Räubers und ist zu Tage gefördert. Das Verkriechen im unterirdischen Gange hat ihr nicht geholfen; der aufmerksame Igel hatte sie beim Fange ihrer Gefährtin bemerkt, und darum trieb ihn der Eifer sogleich zur Fortsetzung der Jagd. Diesmal wird die Maus von dem gleichzeitig der Mutter entgegenkommenden „Geheck“ in dichtem Knäuel im Beisein der Versorgerin verzehrt. Da knackt unter meinem Fuße ein dürres Reis, und wie ein elektrischer Schlag durchzuckt es die Panzermuskeln der Igelfamilie, und da liegen sechs zusammengerollte Kugeln vor mir. Noch weiche ich nicht vom Platze und stehe regungslos. Nach wenigen Minuten entrollt die Alte ihren Stachelmantel, und vertraut folgen ihrem Beispiele die Kleinen, die erst seit Kurzem befähigt sind, den Mantel über die verletzbaren Körpertheile zu ziehen, der Familienwohnung zutrippelnd. Hier wurden indessen die Jungen nicht geheckt. Ihre Geburtsstätte war ein seit Jahren unterhöhlter Hügel, ungefähr hundert Schritte von dieser Wohnung entfernt, mitten im Gestrüppe, Gestein und Genist. Dort hatte ich die tagalten Kleinen entdeckt. Beim Untersuchen der Wohnung hörte ich die ängstlich besorgte Mutter ein trommelartiges Knurren ausstoßen, ähnlich wie es der Dachs hören läßt. Die nackten Jungen mit verschlossenen Ohren und Augen konnten kaum 17 Centimeter lang sein, und die in weichzelliger, dehnbarer Hautunterlage steckenden weißen Stacheln waren eben im Durchbruche begriffen. Das Nest, welches äußerlich aus einer festeren Laub- und Moosschicht bestand, war inwendig mit feineren Gras-, Genist- und Moosstoffen ausgelegt. Ich griff zur Schonung des Gehecks sehr behutsam in das Familienheiligthum ein und entfernte mich alsbald wieder, nachdem ich die äußere Ordnung hergestellt hatte.

Nach einigen Tagen sah ich zum zweiten Male nach den Igeln und fand die Stacheln der Jungen schon ziemlich weit der Haut entwachsen. Acht Tage später zeigte sich mir das Nest leer. Nach längerem Suchen fand ich die ganze Familie hier in neu errichtetem, aber sehr lose und nachlässig geformtem Nachtlager. Die besorgte Alte hatte ihre Jungen in Sicherheit gebracht, unzweifelhaft im Maule hierhergeschleppt. Sehr rührig war die Pflegerin, die mehrere Wochen alten Kleinen mit von außen zugetragener Nahrung zu versehen, obgleich ihnen das Gesäuge noch lange nicht entzogen wurde. Hier wurde Puppe, Käfer, Schnecke und Wurm erbeutet, dort nach Engerlingen und Mäusen gewühlt, dort endlich Grille, Heuschrecke, Eidechse und eine Blindschleiche gefangen. Bei allen diesen Unternehmungen bekundet sich ein scharfer Geruch- und Gehörsinn. Unter treuer Mühewaltung, Pflege und Anleitung bis zum Herbste gelangen die jungen Igel zur vollkommenen Selbstständigkeit und gehen nun getrennt ihre Wege.

Nimmt man im Verhältniß von Alt und Jung und im geschwisterlichen Verbande nur Friedfertigkeit wahr, so findet man ein rühmliches Gegenstück auch im Verhältniß der beiden Geschlechter zu einander, zur Zeit der Werbung und Paarung. Zwar legt der Regel nach jedes stachelbewehrte Individuum der Igelsippschaft sein eigenes Nest an, aber es sind Fälle beobachtet worden, daß das Paar ein und dieselbe Wohnung in Zärtlichkeit theilte. Immer aber kommen Beide, wenn sie auch getrennt wohnen, häufig an stillen Plätzen auf nächtlichen, wie auch auf Tagausgängen zusammen. Hartnäckige, erboste Raufhändel und schneidige Liebesduelle zwischen borstigen Nebenbuhlern habe ich niemals gesehen.

Oft findet man Weibchen, welche den Sommer über, umgeben von Männchen, ohne Nachkommenschaft bleiben; sie sind einjährige Igel, welche, noch nicht fortpflanzungsfähig, in Abgeschiedenheit und Abneigung gegen Geselligkeit ihren Haushalt eingerichtet haben und beim Begegnen von Ihresgleichen so fremd erscheinen, wie Nachbarn in großen Städten, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, daß sie neben einander, vielleicht unter einem Dach wohnen.

In gewissen Jahren treten die Igel viel zahlreicher auf, als in andern. Wesentlichen Einfluß auf ihr Gedeihen hat der Charakter des Winters, zumal des Spätherbstes. Tritt der strenge Nachtfrost bei vorausgegangener Nässe frühzeitig ein, so sterben die jungen Igel in großer Anzahl. An einem Octobermorgen fand ich nach scharfem Nachtfroste auf dem Wege zwischen einem Bach und dem von ihm gespeisten Teich sechs junge Igel an den Bosqueträndern starr hingestreckt. Diese Thiere sind gegen die Kälte außerordentlich empfindlich. Wohl ihnen darum, wenn sie zeitig als wohlgenährte, fettstrotzende Winterschläfer sich winterlich einrichten! Zu diesem Zweck tragen sie Laub, Moos, Heu und Stroh in Menge ihren geschützten Schlupfwinkeln zu und geben diesen Stoffen im Innern eine sorgfältige Polsterwandung. Nach Lenz wälzt sich der Igel und spießt die Stoffe massenhaft an seine Stacheln, um dann beladen der Wohnung zuzuwandeln. Hier hält er einen tiefen Winterschlaf, aus welchem ihn erst die Märzluft weckt. Uebrigens erwacht er zuweilen, bei gelindem Wetter, auch in Wintermonaten.

Nirgends finde ich indessen diese Angabe in den naturgeschichtlichen Werken; selbst in den besten und neuesten fehlt diese Beobachtung. Mitten im Januar habe ich die Fährte eines Igels, welcher in dem Nothbau eines Dachses, tief unter einer verzweigten Baumwurzel sein Winternest angelegt hatte, von der Röhre aus in die Wiese und an den das Thal durchfließenden Bach verfolgt. Hin und zurück gingen so viele Fährten, daß ein breites Pfädchen getreten war und mir anfänglich die Vermuthung nahe lag, es habe hier ein Iltis seinen regelmäßigen Wechsel. Ein Durchschlag vor dem vorliegenden Dächsel förderte den zusammengerollten Igel sammt dem Neste zu Tage. Trotz einer langsam schmelzenden Schneedecke herrschte damals eine ungewöhnlich milde Witterung anhaltend vierzehn Tage lang, Dieses eine Beispiel läßt den allgemeinen Schluß zu, daß der Igel, wenn auch in einen wirklichen Winterschlaf vertieft, doch vom Witterungseinfluß zum zeitweisen Erwachen und nächtlichen Ausgang veranlaßt wird. Wenn dies in der Nähe des am nordwestlichen Abhang des Vogelsberges gelegenen Alsfeld sich ereignet hat, wie vielmehr lassen sich ähnliche Erscheinungen in milder gelegenen Gegenden der Ebene erwarten!

Des Mäuse- und Rattenfanges wegen suchen Hausbesitzer Igel einzufangen und setzen sie in Keller und Kammern. Möglich, daß das nächtliche Gepolter, welches das Thier im Hause verursacht, zur Entstehung mancher Spukgeschichte Anlaß gab. Einen Weinrausch bringt man dem Igel als Mittel der Zähmung hier zu Lande nicht bei, wie dies denen empfohlen wird, welche mit ihm in ein intimes Verhältniß treten wollen. Es bleibt bei der Einkerkerung, wo ihm keine Nahrung gereicht wird, er vielmehr zu dem ewigen Kampf mit den nagenden Plagegeistern verurtheilt ist. Natürlich stirbt er hier Hungers, wenn er nicht zu seinem Glück einen Ausweg in’s Freie findet. Im Freien aber ist der Schauplatz seiner nutzbringenden Thaten. Gefräßig von Natur, zieht er Fleischnahrung der immerhin nicht unbeliebten Obstnahrung entschieden vor, und dies treibt ihn immer von Neuem zur Jagd auf Kerbthiere, Schnecken, Würmer und Mäuse an. Zur Bewältigung selbst gefährlicher, boshafter Thiere betritt er aber auch als wahrhaft ritterlicher Streiter den Kampfplatz. Dies beweist seine Jagd auf die ihm liebste unter allen von ihm gesuchten Beuten, die Kreuzotter, deren Gift ihm merkwürdiger Weise nicht schadet, wenn ihm auch wüthende Bisse in die Lippen und die Zunge beigebracht werden.

Die glänzenden Siege, welche der Igel in den Kisten des Naturforschers Lenz im Kriege mit Hamstern und Kreuzottern erfochten hat, machen ihn würdig, daß man ihm, statt ihm mit dem Stock mordend in die Weichtheile zu stoßen oder ihn, in Lehm gewickelt, am Bratspieß des Zigeuners über ein höllisches Heidenfeuer zu halten, den Lorbeer auf seine Stacheln steckt und ihn mit heiler Haut überall seine harmlosen Wege gehen läßt.

Hören wir aber, da mir hierin die eigene Beobachtung abgeht,

[33]

Der Igel im Kampfe mit der Kreuzotter.
Originalzeichnung von F. Specht.

[34] wie sich der Tapfere nach Lenz ruhmeswerth im Kampfe mit der wohlbewaffneten Otter benahm.

„Am 30. August,“ sagt unser Naturforscher, „ließ ich eine große Kreuzotter in die Kiste des Igels, während er ruhig seine Jungen säugte. Ich hatte mich im Voraus davon überzeugt, daß diese Otter an Gift keinen Mangel litt, da sie zwei Tage vorher eine Maus sehr schnell getödtet hatte. Der Igel roch sie sehr bald, erhob sich von seinem Lager, tappte unbehutsam bei ihr herum, beroch sie, weil sie ausgestreckt dalag, vom Schwanze bis zum Kopfe und beschnupperte vorzüglich den Rachen. Sie begann zu zischen und biß ihn mehrmals in die Schnauze und in die Lippen. Ihrer Ohnmacht spottend, leckte er sich, ohne zu weichen behaglich die Wunde und bekam dabei einen derben Biß in die herausgestreckte Zunge. Ohne sich beirren zu lassen, fuhr er fort, das wüthende und immer wieder beißende Thier zu beschnuppern, berührte sie auch öfters mit der Zunge, aber ohne anzubeißen. Endlich packte er schnell ihren Kopf, zermalmte ihn, trotz ihres Sträubens, sammt Giftzähnen und Giftdrüsen zwischen seinen Zähnen und fraß dann ruhig weiter bis zur Mitte des Leibes.“

Von einer andern Otter erhielt derselbe Igel zehn Bisse in die Schnauze. Dennoch wich er nicht und besiegte die Wüthende. „Seitdem,“ so berichtet Lenz weiter, „hat der Igel oftmal mit demselben Erfolge gekämpft, und dabei zeigte es sich, daß er den Kopf jedesmal zuerst zermalmte, während er dies bei giftlosen Schlangen ganz und gar nicht berücksichtigte.“

So ist’s recht: gerade dem gefährlichsten Gegner zeigt man offenes Visir. und der Angriff in’s Gesicht ist allein wahrhaft ritterlich. Harmloser Igel, du trägst deinen Panzer mit Ehren.

Karl Müller. 


Auf Waltersburg.
Novelle von J. D. H. Temme.


1. In Schloßhof und Park.

Auf dem Schloßhofe der Waltersburg standen zwei Männer beisammen, die man auf den ersten Blick für Herren aus dem Schlosse hätte halten können, die sich aber bei näherer Betrachtung als Diener desselben darstellten. Sie befanden sich beide in vorgerücktem Alter; dem Einen war, wie von der Bürde des Alters, der Rücken bereits gekrümmt, und sein Haupt glänzte silberweiß; dem Anderen war das blonde Haar, das er gescheitelt und hinter den Ohren sorgfältig geringelt trug, nur erst grau gemischt; bei gerader Haltung hatte er ein behäbiges Ansehen, während an Jenen die den Körper austrocknenden Tage des Alters schon seit ein paar Jahren herangetreten sein mußten. Die Kleidung Beider war eine sorgfältige, schwarz vom Kopfe bis zu den Füßen, nur die Halsbinden waren weiß, schneeweiß, wie die baumwollenen Handschuhe, mit denen ihre Hände bekleidet waren. In dem Gesichte des Aelteren gewahrte man nur die stille Ergebenheit des Dieners, dem die Treue ein Lebenselement, der Gehorsam zur Lebensgewohnheit geworden. Er war der Diener der Schloßherrin, der Jüngere der des Schloßherrn.

Das Schloß Waltersburg hatte in früheren Zeiten der Stein von Waltershausen geheißen; bis in diese alte Zeit leitete der gegenwärtige Besitzer des Schlosses seinen Stammbaum zurück, wie auch seine Gemahlin einem alten Geschlechte angehörte. Die Ehe war kinderlos.

Die beiden Diener standen in lebhafter Unterhaltung wartend vor dem Portale des Schlosses. Sie waren die einzigen lebenden Wesen, die man auf dem weiten Schloßhofe sah. Auf diesem und in dem großen Prachtschlosse, wie in den Nebengebäuden herrschte die tiefste Stille, und diese Einsamkeit und Stille bildeten den Gegenstand der Unterhaltung der Beiden.

„Lange wird es hier nicht so bleiben,“ bemerkte der Jüngere.

Der Aeltere schwieg.

„Heute Abend schon,“ fuhr Jener fort, „vielleicht noch früher, wird es hier unruhig genug aussehen.“

Der Aeltere hatte auch darauf keine Erwiderung.

„Es war immer so still und ruhig hier, und nun auf einmal dieser Lärm, diese Angst –“

„Immer?“ unterbrach ihn der Aeltere. „Es gab auch Zeiten hier –“ Er brach ab.

„Ja, ja,“ stimmte der Andere bei, um sofort doch zu widersprechen. „Es gab hier wohl Zeiten, in denen kein rechter Friede da war –“

„Um den Unfrieden im Hause darf der Diener sich nicht kümmern,“ fiel der Aeltere ein, „am wenigsten aber soll er davon sprechen.“

Er sprach strenge. Der Andere gab sofort nach.

„Ich wollte nur sagen, daß die Ruhe hier im Schlosse niemals gestört wurde. Das Leben ging immer seinen ruhigen Gang, den einen Tag wie den anderen. Und nun auf einmal soll das vorbei sein –“

Nochmals unterbrach ihn der Aeltere und diesmal strenger als vorher.

„Soll? Hast Du darüber zu bestimmen?“

„Aber,“ entgegnete der Jüngere, „Sie können doch nicht leugnen, Friedrich, daß die Bauern rund um uns her nahe daran sind, zu revoltiren, daß sie die Edelsitze stürmen und plündern und auch Schloß Waltersburg von ihnen bedroht wird. Der Bauernadvocat wühlt schon seit drei Tagen unten im Dorfe, macht die Bauern unruhig, widerspenstig. Selbst der Pfarrer, der die Liebe Aller hat –“

Der alte Friedrich mußte doch noch einmal darein reden.

„Liebe!“ sagte er. „Liebe der Bauern! Der Bauer muß durch Furcht in Ruhe und Gehorsam gehalten werden, und wenn er die Säbel und Karabiner der Husaren sieht, so – und er wird sie hier oben finden.“

Der Jüngere mußte sein Recht behalten.

„Wir müssen,“ sagte er, „doch die Husaren haben, und da ist es mit der Ruhe hier vorbei.“

Die Unterredung der Beiden wurde abgebrochen, da ein Herr aus dem großen Portale des Schlosses trat. Er war ein hübscher Mann, vielleicht in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, zart gebaut und von frischem, gesundem Aussehen. Sein feines, fast mädchenhaftes Gesicht zeigte Gutmüthigkeit in jedem Zuge. Er schien einen Spaziergang machen zu wollen, denn er blickte beim Heraustreten in den Schloßhof zum Himmel hinauf, wie um das Wetter zu prüfen, richtete dann den Blick in die Ebene hinunter, die weit ausgebreitet vor ihm lag, und stützte sich dabei auf ein spanisches Rohr, das ihm zum Spazierstock diente. Der stattliche Mann war der Schloßherr, Freiherr Adalbert von Waltershausen, auch Stein von Waltershausen genannt.

Bei seinem Erscheinen hatten die beiden Diener sich getrennt. Der alte Friedrich, der Kammerdiener der Schloßherrin, trat zur Seite nach dem Schloßportal zurück, wohl um seine Herrin zu erwarten, während Konrad sich zu seinem Gebieter, dem Schloßherrn begab, um dessen Befehle in Empfang zu nehmen. Es entstand dann auf dem Schloßhofe eine bewegungslose Stille. Der Baron rührte sich nicht, die beiden Diener rührten sich nicht, und erst nach einer Weile wurde die Stille unterbrochen.

Ein feingebauter, noch junger Mann trat aus dem Schlosse in den Hof. Auf den ersten Blick glaubte man, er stehe erst in den zwanziger Jahren, gar in deren Anfange, dann aber mußte man ihn älter finden. Die knabenhafte Röthe seines glatten Gesichts und eine kindliche Gutmüthigkeit in den weichen Zügen gaben ihm ein jugendlicheres Aussehen, einzelne Umrisse um den Mund und in den Augenwinkeln ließen freilich auf ein reiferes Alter schließen. Er war der Baron Kurt von Waltershausen, der jüngste Bruder des Schloßherrn. Alles an ihm war gewählt und elegant. Freundlich grüßend ging er an dem alten Diener Friedrich vorbei zu dem wartenden Schloßherrn.

„Hört man noch nichts?“ fragte er den Bruder.

„Es ist Alles ruhig,“ war die Antwort.

„Es wird schon kommen,“ versicherte mit einer eigenthümlichen Bestimmtheit und Wichtigkeit der Baron Kurt.

Der Schloßherr achtete auf die Worte nicht.

„Du kommst allein?“ fragte er. „Ohne Emma?“

[35] „Wir werden sie im Parke finden,“ erwiderte er.

Der Schloßherr, der Baron, wie er ohne Hinzufügung seines Taufnamens genannt wurde, zeigte Verwunderung über diese Antwort.

„Wer sagte es Dir?“ fragte er.

„Ihre Kammerfrau, als ich sie in ihrem Zimmer suchte, um sie zu der Promenade abzuholen.“

„Sie war nicht in ihrem Zimmer?“

„Sie sei schon vorausgegangen, theilte die alte Lene mir mit.“

„Sonderbar!“ sprach der Baron für sich. „Konrad,“ wandte er sich dann zu seinem Kammerdiener zurück, „rufe den Friedrich hierher!“

Konrad ging zu dem alten Friedrich, der noch wartend an dem Portal stand, und kehrte mit ihm zurück.

„Ging meine Frau aus?“ fragte der Baron den alten Diener.

„Die gnädige Frau,“ antwortete dieser, „befand sich nicht ganz wohl, bedurfte der frischen Luft und suchte den Park auf.“

„Allein?“

„Allein, Euer Gnaden! Wenn die gnädige Frau ihre Migräne hat, so fühlt sie das Bedürfniß, sich von jeder Gesellschaft zurückzuhalten.“

„Ja, ja! Ertheilte sie Ihnen keine Befehle?“

„Sie befahl mir nur, wenn der gnädige Herr nach ihr fragen werde, zu berichten, daß sie den Park aufgesucht habe. Sie hoffte aber vor der Promenadenzeit schon zurück zu sein.“

Um drei Uhr Nachmittags wurde im Schloß die Tafel aufgehoben, und um vier Uhr fand eine gemeinschaftliche Promenade der Herrschaft statt, welche etwa eine Stunde zu dauern pflegte. Das Leben im Schlosse war ein nach der Uhr geregeltes.

„Um welche Zeit,“ fragte der Baron noch, „ging die gnädige Frau aus?“

„Es ist noch nicht sehr lange her.“

Die Antwort wurde mit einer gewissen Befangenheit gegeben, wie denn das Benehmen des alten Kammerdieners von Anfang an nicht ohne Befangenheit gewesen war. Mit bekümmertem Gesicht zog er sich wieder auf seinen Posten am Schloßportale zurück.

„Mich wundert nur,“ nahm Baron Kurt das Gespräch wieder auf, „daß es noch immer so still bleibt.“

Der ältere Bruder antwortete darauf nicht.

„Die Bauern,“ fuhr der Andere fort, „sind doch schon seit dem Morgen versammelt, und zum Abend soll es losgehen. Da müßte man etwas von ihnen hören.“

„Wenn es losgeht, werden wir es schon hören,“ entgegnete der Baron.

„Mögen wir es nur nicht zu spät hören!“

Der Baron schwieg darauf wieder.

„Ja, ja,“ meinte der jüngere Bruder, „Du bist immer so ruhig. Ich kann es nicht sein.“

„Sei auch Du ruhig, Kurt!“

„Bei der Gefahr, die uns droht?“

„Ja! Du bist nicht der Mann, darin zu handeln, und auch ich bin es nicht. Ueberlassen wir Alles Emma und dem alten Bannhart! Emma ist klug und muthig, und unser Haushofmeister hat schon manchen Krieg mitgemacht und in blutigen Schlachten gekämpft; er wird den Kopf nicht verlieren.“

Der Baron hatte mit einer Energie gesprochen, die um so mehr auffallen mußte, je mehr sie gegen sein sonstiges schlaffes, apathisches Wesen abstach.

„Was nur Emma in dem Parke macht?“ fragte Baron Kurt. „Gerade jetzt?“

„Sie wird Anordungen zu treffen haben,“ meinte der Baron.

„Allein?“

„Mit Bannhart, der schon vor längerer Zeit das Schloß verließ.“

„Ja, sie hat Muth.“

„Machen wir jetzt unsere Promenade!“ forderte dann der Baron den Bruder auf.

Kurt hatte auf einmal Bedenken.

„Hm, lieber Adalbert, auch heute die Promenade? Bleiben wir doch lieber im Schlosse!“

„Warum?“ fragte der Baron.

„Dem Schlosse könnte Gefahr drohen.“

„Welche Gefahr?“

„Ein Ueberfall der Bauern.“

„Wir Beide könnten ihn nicht abwenden, Bruder Kurt.“

„Nein, nein! Aber draußen sind wir noch weniger sicher. Wir könnten bei jedem Schritt überfallen werden.“

Es lag wohl keine Logik in dem Einwande des guten Baron Kurt. Der Baron Adalbert dachte dennoch über ihn nach.

„Gehen wir doch!“ sagte er. „Zu Emma! Sie könnte in Gefahr gerathen. Sie ist allein mit Bannhart fort.“

„Könnten wir ihr helfen?“ fragte jetzt Kurt.

„Wir müssen doch den Muth haben.“

Der jüngere Bruder sann einen Augenblick nach.

„Ja, Adalbert!“ sagte er dann entschlossen. „Wir wollen den Muth haben. Es ist ein Ritterdienst gegen eine Dame. Die Chronik unseres edlen Hauses –“

Er schwieg.

„Gehen wir!“ forderte der Baron Adalbert ihn auf.

„Wohin?“

„In den Park.“

„Ah, und wo finden wir sie in dem Park? Er ist groß.“

„Wir suchen sie.“

Der Baron sagte das, indem er nach dem Parke hin sich in Bewegung setzte, und Kurt konnte nicht zurückbleiben. Beiden folgte der Kammerdiener Konrad.

Schloß Waltersburg war ein Prachtgebäude. Ausgeführt in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, trug es nicht den Baustil jener Zeit und war dadurch zu einem einfachen, edlen und großartigen Bau geworden, bestimmt für die Dauer von Jahrhunderten, für jedes Jahrhundert ansprechend. Es lag auf einer vorspringenden Anhöhe, die lange Façade frei, mit einem weiten Blick über den größten Theil des Parkes hinweg, in ein längeres Thal, auf das Dorf Waltershausen, auf Fluren und Weiden, auf den hohen Wald hinter dem Dorfe, auf die blauen Berge, die hinter dem Wald am fernen Horizont sich erhoben. Seine drei anderen Seiten waren von dichter Waldung umgeben, und ein geräumiger vergitterter Hof umzog das Schloß mit seinen Nebengebäuden nach allen Seiten.

Die beiden Brüder hatten den Park betreten; sie gingen schweigend weiter, den Diener immer in der gemessenen Entfernung von zehn Schritten hinter sich. Rings um sie her herrschte tiefe Stille, in der Nähe, wie in der Ferne, in dem Schlosse hinter ihnen, in dem Dorfe, das vor ihnen im Thale lag. Wühlte da unten der Bauernadvocat, so war es bis jetzt nur ein stilles Wühlen, das freilich um so gefährlicher werden, um so größeren Lärm, um so dringendere Gefahr nach sich ziehen konnte.

Die beiden schweigenden Spaziergänger lenkten ihre Schritte dem Dorfe zu. Sie kamen an Alleen, an grünen Rasenplätzen, an blauen Weihern, an dunklen Bosquets vorüber. An der Mündung einer Allee machte der Baron plötzlich Halt, er hatte hineingeblickt; ein einzelner Mann kann darin näher.

„Bannhart!“ sagte der Baron verwundert. „Allein? Ohne Emma? Erwarten wir ihn!“

Sie warteten auf denn Nahenden. Der Mann ging langsam, in Gedanken, wie es schien, aber auf einmal stand er still, er hatte die beiden Brüder gesehen – er stutzte.

„Was hat Bannhart?“ fragte sich der Baron.

„Gehen wir ihm entgegen!“ meinte Kurt.

„Wir erwarten ihn,“ entschied der Schloßherr.

Der Haushofmeister setzte sich wieder in Bewegung und erreichte bald die Herrschaft. Er war eine ganz eigene Persönlichkeit. Daß er nahe an siebenzig Jahre zählen mußte, konnte man ihm nachrechnen, wenn auch Niemand, er selbst vielleicht eingeschlossen, sein Geburtsjahr kannte. Bei der Husarenschwadron, in welcher der Freiherr von Waltershausen, der Vater der auf der Waltersburg lebenden Brüder, als Lieutenant gestanden hatte, diente Bannhart als Unterofficier. Der tüchtige und erfahrene Mann wurde der Unterweiser des jungen, unerfahrenen Lieutenants. In den vielen blutigen Kriegen jener Zeiten hatten sie manche gemeinschaftliche Gefahr zu bestehen, und bald hieb der Unterofficier den Lieutenant, bald der Lieutenant den Unterofficier heraus. Der Unterofficier wurde Wachtmeister, und der Lieutenant [36] avancirte zum Rittmeister – sie blieben verbunden, der Rittmeister wurde etatsmäßiger Stabsofficier, zuletzt Oberst und Commandeur des Regiments, aber der Wachtmeister konnte nicht weiter avanciren. Verbunden blieben die Beiden gleichwohl auch jetzt, und als der Oberst mit dem Charakter als General seine Entlassung nahm, erbat er auch für den Wachtmeister Bannhart den Abschied mit dem Gesuch, ihm den Grad eines Lieutenants zu verleihen, was dem tapferen und angesehenen General von Waltershausen nicht abgeschlagen wurde – er und sein Lieutenant blieben weiter mit einander verbunden. Sie gingen nach der Waltersburg, der General machte hier seinen alten Waffen- und Kriegsgefährten zu seinnem Haushofmeister, damit er von den Strapazen des langjährigen Kriegsdienstes ausruhen konnte, und der Lieutenant konnte, auch wenn die vornehmste Gesellschaft da war zur Tafel und zu anderen Haus- und Familienfesten zugezogen werden. Freilich mußte er immer seinen Soldatenrock tragen, gewöhnlich die Interimsuniform, wie auch der General sie trug.

Die Stellung des Lieutenants im Schlosse erlitt durch den Tod des Generals keine Veränderung; denn sie war eine gewohnheitsmäßige und Allen unentbehrliche geworden. Der alte Herr hinterließ drei Söhne, von denen wir zwei kennen gelernt haben, sie bedurften einer kräftigen, zuverlässigen männlichen Stütze, welche sie an dem Lieutenant Bannhart auch fanden. Ein dritter Bruder war noch da, der zweitgeborene, Freiherr Ottokar, er wurde dem Soldatenstande gewidmet, gleich seinem Vater, und ihm wurde der alte Bannhart zugleich Instructeur.

Kehren wir in den Park zurück!

Der Haushofmeister hatte die beiden Freiherren erreicht. Er war trotz der Mitte seiner sechsziger Jahre eine derbe, kräftige, hochaufrechte Wachtmeister-Gestalt, der Rücken ungebeugt, das Gesicht starkknochig, das etwas struppige Haar grau, nicht weiß, die Haltung stramm, der Gang fest, die Interimsuniform von unten bis oben zugeknöpft. Es mußte heute etwas Ungewöhnliches an ihm wahrzunehmen sein; denn der Baron Adalbert fragte ihn sofort:

„Was ist Dir begegnet, Bannhart?“

Die beiden Brüder durften „Du“ zu ihm sagen – eine Gewohnheit aus ihrer frühesten Knabenzeit. Für alle anderen Bewohner des Schlosses war er „der Herr Lieutenant“, der Schloßherrin gegenüber hatte er freilich wieder eine besondere Stellung.

In dem knorrigen Gesichte des Lieutenants zeigte sich bei dieser Frage eine gewisse Verlegenheit; er schlug die Augen nieder.

„Begegnet ist mir wohl nichts, Herr Baron, aber muß man nicht in jeder nächsten Minute etwas erwarten?“

Er sprach ungewiß, die Augen konnte er noch nicht wieder erheben.

„Vernahmst Du etwas?“ fragte der Baron.

„Noch ist es ruhig da unten im Dorfe – es scheint wenigstens so.“

„Sahst Du meine Frau? Wir suchen sie.“

Die Verlegenheit des alten Mannes steigerte sich durch diese Worte des Barons zu einer auffallenden Angst.

„Gehen Sie nicht weiter, Herr Baron!“ ermahnte er, bat er.

Der Baron blickte ihn verwundert an.

„Aber warum nicht? Ist sie im Park? Sahst Du sie?“

Bannhart hatte sich gefaßt, in der Einsicht, daß er durch Unvorsichtigkeit etwas verrathen hatte, was er sorgfältig hatte verbergen wollen.

„Herr Baron,“ erwiderte er, „ich bitte Sie, kehren Sie um! Jeder Schritt weiter kann Sie in Gefahr bringen. Der Bauernadvocat ist schon seit drei Tagen im Dorfe, wühlt und hetzt die Bauern auf, und jetzt sind sie im Dorfkruge beisammen, schon den ganzen Tag. Jeden Augenblick können sie sich gegen das Schloß in Bewegung setzen. Ihr nächster Weg ist durch den Park, und sie haben hier zugleich den Vortheil, sich unbemerkt nähern zu können. Bedenken Sie, wenn die Menschen betrunken, aufgeregt, Ihnen hier begegneten!“

Die Mahnung war nicht ohne Wirkung geblieben. Der Baron Adalbert sann still nach. Kurt aber rief lebhaft:

„Laß sie kommen! Es sind Bauern. Sie sollen Respect vor ihrer Herrschaft haben.“

Der eigenthümliche Muth des zarten Herrn mit dem knabenhaften Gesichte konnte zwar den älteren Bruder nicht entflammen, kaum seine natürliche Ruhe stören, aber sie weckte die Erinnerung in ihm an den Zweck, der ihn in den Park geführt, den er wenigstens dem Bruder angegeben hatte.

„Meine Frau ist im Park, und sie könnte in Gefahr gerathen. Wir müssen sie aufsuchen.“

„Ja, ja!“ bestätigte der Baron Kurt.

Die Angst des alten Lieutenants hatte sich vermehrt.

„Sie werden sie nicht im Parke finden,“ erwiderte er ängstlich. „Kehren Sie mit mir um! Ich versichere Sie, es ist am besten so.“

Seine Dringlichkeit schien den Baron um so zäher gemacht zu haben.

„Ich kann meine Frau nicht im Stich lassen.“

„Und ich meine Schwägerin nicht,“ rief der Baron Kurt.

„Aber wo wollen Sie die gnädige Frau suchen?“

„Zunächst im grauen Pavillon. Sie geht am liebsten dahin.“

Durch das Gesicht des Lieutenants zog eine flüchtige Blässe. „Sie werden sie dort nicht finden,“ rief er.

„Und woher weißt Du das?“

Der Lieutenant hatte keine Antwort.

„Gehen wir zu dem Pavillon!“ drängte der Baron Kurt den Bruder und nahm dessen Arm. Beide gingen weiter in die Allee hinein, aus welcher der alte Bannhart gekommen war, und der Diener folgte ihnen. Bannhart sah ihnen mit den Zeichen des Schrecks nach. Nach einer halben Minute setzte er seinen Weg fort, dem Schlosse zu. – –

Der alte Bannhart hatte wohl Veranlassung gehabt, die beiden Brüder, besonders den Baron Adalbert, von einem Aufsuchen der Baronin in dem grauen Pavillon zurückzuhalten. Eine Viertelstunde vorher hatte in der Nähe dieses Pavillons sich etwas zugetragen, von dem der alte Soldat, wenn auch nur zum Theil, so doch immerhin genugsam Zeuge geworden war, um sich zu sagen, daß großes Unheil entstehen müsse, wenn außer ihm noch irgend Jemand Kenntniß davon erhalte.

Eine einsame Dame ging in der Nähe des grauen Pavillons unter hohen Bäumen und zwischen dichten Gebüsch auf und ab, eine auffallend schöne Frau, eine hohe Gestalt, die Gesichtszüge fein und edelgeformt. Sie war nicht mehr ganz jung; die erste Hälfte der zwanziger Jahre hatte sie jedenfalls überschritten, und für Augenblicke konnte man sie sogar für älter halten. Wie das Glück verjüngt, so machen Kummer, Schmerz und Gram den Menschen vor der Zeit alt. Kann doch eine einzige Nacht voll Angst und Schmerz den rüstigsten Mann in einen Greis verwandeln.

Die ganze Erscheinung der Dame verrieth einen tiefen inneren Schmerz, aber sie verrieth noch mehr, aus den großen dunkeln Augen, aus der Gluth, die sich plötzlich durch ihre bleichen Wangen ergoß, leuchtete eine wilde, unbezähmbare Leidenschaft hervor, die dieses schöne Weib zu verzehren drohte. Sie schritt unruhig, hastig umher. Plötzlich machte sie eine Pause; sie horchte auf, sie glaubte einen Schritt, ein Geräusch zu vernehmen. Jähe Gluth durchströmte ihr Gesicht. Allein Niemand näherte sich – sie hatte sich getäuscht, ihre Wangen wurden wieder bleich, und um ihre Mundwinkel zuckte der Schmerz. Unruhig, hastig schritt sie weiter.

In diesem Moment hatte der alte Bannhart sie gesehen und eine Weile beobachtet. „Arme, unglückliche Frau!“ mußte er sich mitleidig sagen und dabei doch mißbilligend das graue Haupt schütteln. Er durchstreifte den Park, um sich von der Bewegung und den etwaigen Schritten der Bauern zu überzeugen, von denen noch zum Abend ein Ueberfall erwartet wurde.

Lange stand er unschlüssig, ob er seine Gegenwart der Dame zu erkennen geben, ob er sie anreden, sie mit sich zum Schlosse zurücknehmen solle. Sie war die Schloßherrin, die Gemahlin des Freiherrn Adalbert.

„Nein,“ sagte er sich zuletzt. „Ich würde Oel in diese wilde Flamme gießen.“

Er konnte aber auch nicht zurückkehren; denn er mußte wissen, was sich weiter begeben werde. Der Hufschlag eines Pferdes wurde laut. Er ertönte aus dem Dickicht der Waldung, und zwar von einem Wege her, der zum Abholen des Holzes aus dem Walde diente und meistens nur den Arbeitsleuten des Schlosses, freilich auch den Gutsjägern, bekannt

[37]
Illustrationen zu deutschen Classikern.

„Anders,
– – –, als sonst in Menschenköpfen,
Malt sich in diesem Kopf die Welt.“
   (Schiller, „Don Carlos“.)
Originalzeichnung von M. Kaltenmoser in München.

[38] war. Die Schloßherrin wußte, wer ihn jetzt ritt. Der Weg war holperig, mitunter steil; er führte aus dem Thale, in das hinein sich die Waldung erstreckte, zu der Anhöhe hinauf, wo Wald und Park sich vereinigten. So konnte denn das Pferd nur langsam näher kommen. Die Schloßherrin eilte ihm entgegen, mit klopfendem Herzen, mit fliegendem Athem, mit wogender Brust. Bei einer Biegung des Weges stand sie vor dem Pferde, vor dem Reiter.

„Ottokar!“

Die Stimme versagte ihr, und ihr Gesicht war schneeweiß, alles Blut war ihr zum Herzen gedrungen – sie war dem Umsinken nahe.

Der Reiter sprang vom Pferde, er warf dem Thiere die Zügel über den Hals und fing die Sinkende auf. Beide lagen einander in den Armen.

Sie waren ein schönes Paar, die Freifrau von Waltershausen und der Husarenrittmeister Freiherr Ottokar von Waltershausen. Sie, die feine, elegante, bleiche Dame, er, der gewandte, kräftige, elastische Soldat, dem die knappe Uniform wie angegossen saß, aus dessen Augen die Kühnheit blitzte, dessen ganzes Aeußere den sicheren männlichen Muth zeigte. Sein Gesicht trug die Formen und Züge seiner beiden Brüder, aber wie war er ein ganz Anderer, als diese, von denen der Eine träge Apathie, der Andere gar den Mangel an Geist zu Tage legte!

„Ottokar!“

„Emma! Endlich durfte ich Dich wiedersehen. Jahrelang warst Du grausam.“

„Ich war es nur gegen mich.“

„Gegen uns Beide war es das Geschick.“

„Es wird, es muß es bleiben, so lange wir leben. Aber laß uns diesen Augenblick genießen, Ottokar! Die nächste Stunde gehöre nur uns!“

Sie führte ihn auf dem Wege unter die Bäume des Waldes zurück. Sie gingen fest umschlungen und das Pferd folgte auf ein Zeichen des Officiers klug und gehorsam in einer Entfernung von wenigen Schritten.

Emma von Bartenfeld war die Nichte der verstorbenen Generalin von Waltershausen und eine Waise, ihr Vater war als armer Officier gestorben, und ihre Mutter hatte sie schon früher verloren. Die Tante nahm sich der Waise an, nahm sie zu sich. Emma wuchs auf und wurde mit ihren beiden Vettern Adalbert und Kurt erzogen. Die Brüder, in geistiger Beziehung von der Natur stiefmütterlich ausgestattet, konnten eine öffentliche Laufbahn nicht verfolgen und waren nur für ein stilles, zurückgezogenes häusliches Leben bestimmt. Dafür suchte die Mutter sie auszubilden; dazu gab sie ihnen die stille, gemüthvolle, mit reichen Geistesgaben ausgestattete Nichte zur Gesellschafterin und Erzieherin, aber dem Erbherrn Adalbert sollte sie später noch mehr werden. Bei seiner Unselbständigkeit bedurfte er einer verständigen und willenskräftigen Führerin.

„Emma,“ sagte die Tante eines Tages, „willst Du ihm die sichere, treue Lebensgefährtin werden? Willst Du, kannst Du mir und ihm dieses Opfer bringen?“

„Dir könnte ich jedes Opfer bringen, liebe Tante; denn Dir verdanke ich Alles. Aber Adalbert hat ein stilles, bescheidenes, genügsames Herz, die selbstlose Gutmüthigkeit, und ich bringe kein Opfer, wenn ich seine Gattin, Deine Tochter werde.“

Die Generalin umarmte die Nichte, die künftige Schwiegertochter. „Möge er auch Deinem Herzen theuer werden können, meine Emma!“ sagte sie.

„Ich werde ihn lieben.“

„Versuche es!“

Ich werde ihn lieben. Das achtzehnjährige Mädchenherz hatte es versprochen, hatte den Willen, das Versprochene zu halten. Da brachte der General seinen zweiten Sohn Ottokar auf Urlaub mit sich nach Hause. Er war Officier, junger Lieutenant in dem Regimente seines Vaters, und als Nachgeborener sollte er, gemäß der Gewohnheit des Adels, eine militärische Laufbahn einschlagen, worauf ihn sein ganzes Wesen auch hinzuweisen schien. Er hatte eine kräftige, gewandte, wohlgebaute Gestalt, einen kühnen Muth, ein feuriges Temperament und verband damit Geist und Edelmuth.

So sah Emma ihn; so sah sie ihn im Contraste zu seinen Brüdern. Und Ottokar Waltershausen konnte in dem still waltenden, verständigen und anspruchslosen schönen Mädchen nur das Opfer erblicken, das einer gewiß wohlgemeinten, aber unglücklich ersonnenen Combination gebracht wurde.

War es ein Wunder, daß die Beiden sich liebten, um so inniger und heißer sich liebten, als sie ihre Gefühle nicht austauschen, nicht einmal zeigen dürften, um so gewaltiger und verzehrender sich liebten, als endlich doch in einer glücklichen und doch so unglücklichen Stunde die Herzen sich fanden, sich einander entdecken mußten? Wohl trennten sie sich dann mit dem Schwure, sich ewig zu lieben, aber sich nie wiederzusehen. Den Schwur hielten sie. Sie sahen sich in vielen Jahren nicht wieder, und ihre Liebe war um so inniger geblieben, zu einer stillen verschwiegenen, um so süßeren Sehnsucht angewachsen.

Da wurde auch die Waltersburg von einem jener Bauernüberfälle bedroht, die damals wie eine furchtbare Volksepidemie durch das ganze deutsche Land sich zogen, die mit ihren Gewaltthätigkeiten, Plünderungen, Zerstörungen noch heute in dem Gedächtnisse Vieler leben. Man mußte sich bei Zeiten dagegen zu sichern suchen. Der Rentmeister, der erste Beamte des Schlosses, begab sich zu seinem Herrn.

„Herr Baron, überall im Lande haben die Bauern sich gegen ihre Gutsherrschaften empört, sie überfallen die Schlösser, plündern sie, stecken sie gar in Brand, verlangen Erlaß aller Abgaben, Befreiung von Diensten –“

„Man liest es in den Zeitungen,“ unterbrach der Baron den Beamten. „Aber unsere Bauern haben sich noch völlig ruhig verhalten.“

„Nichts, Euer Gnaden, steckt mehr an, als der Geist des Aufruhrs. Es dürften daher mindestens Vorsichtsmaßregeln geboten sein.“

„Ich denke,“ unterbrach ihn nochmals der Baron, wir sind hier sicher. „Das Schloß ist fest, denn es ist auf allen Seiten von dem vergitterten Hofe eingeschlossen.“

„Wir dürften doch in einer gefährlichen Lage sein, Euer Gnaden. Das Gitter würde dem ersten Anpralle weichen, und die entfesselte Menge, einmal im Schloßhofe, könnte schon an Thüren und Fenstern Verwüstung genug anrichten.“

„Sie hätten nichts davon, Heimann.“

„Sie hätten ihre Zerstörungswuth befriedigt, Rache ausgeübt.“

„Aber, mein lieber Heimann, die Bauern sind ja noch vollkommen ruhig.“

„Aeußerlich, Euer Gnaden. Der durch seine Hetzereien berüchtigte Bauernadvocat ist schon seit drei Tagen im Dorfe.“

„Heimann,“ sagte der Baron, „lassen Sie den Menschen arretiren! Geben Sie sofort dem Dorfschulzen den Befehl dazu!“

„Gnädiger Herr, wir würden dadurch den Aufruhr in helle Flammen treiben.“

„Aber was fangen wir denn an?“

„Dürfte ich mir erlauben, Euer Gnaden einen Vorschlag zu machen, so würde ich unterthänig anheim geben, zur Sicherheit des Schlosses von der Regierung ein Militärcommando hierher zu erbitten.“

„Ah, mein Bruder Ottokar!“ rief der Baron.

Der Rentmeister hielt den neuen Gedanken seines Herrn fest, er hatte damit einen Anker für seinen Zweck gewonnen.

„In der That!“ sagte er. „Wenn Euer Gnaden mir den Befehl ertheilen würden, so könnte ich noch heute abreisen, den Oberpräsidenten um das Commando bitten und zugleich den Wunsch Eurer Gnaden zu erkennen geben, daß das Commando unter den Befehl des Herrn Baron Ottokar gestellt würde.“

„Thun Sie das, besorgen Sie Alles, lieber Heimann!“

„Darf ich noch eine Bitte unterthänig hinzufügen?“

„Sprechen Sie!“

„Kein Dritter darf von der Sache wissen. Wir liefen sonst Gefahr, daß die Aufrührer etwas erführen und sofort losbrächen.“

„Sie haben Recht, Heimann. Kein Wort darüber soll über meine Lippen kommen, nicht einmal Kurt gegenüber. Darf auch meine Frau nichts wissen?“

„Es würde die gnädige Frau unnöthig beunruhigen.“

„Ja, ja!“

„Ich darf also unverzüglich abreisen?“

„Auf der Stelle, und kommen Sie sobald wie möglich zurück!“

(Fortsetzung folgt.)

[39]

Hieronymus Lorm.[2]

     Mein Lied.

Ich klage nicht, daß mir kein Ruhm erblüht;
Die Welt belohnt nur, was von Weltluft glüht.
Ich singe nicht als Wachtel im Getreid’;
Ich singe wie der Hirsch nach Wasser schreit.

Wer mich vernimmt, dem ist das Auge naß;
Er holt tief Athem, vor Erregung blaß.
Die Welt vernimmt mich nicht – sie findet schnell
Und mühelos im Sumpf der Freude Quell.

Wär’s anders – ich verstummte. Denn mein Lied
Ist nur der Geist, vor dem die Welt entflieht,
Der, wenn sie schläft im Dunkeln, still erwacht –
Der Mutterschooß des Sternes ist die Nacht.






     Der Waldmann.

Im Walde haust ein alter Mann,
Der kaum sein Leben fristen kann.
Er trinkt vom Quell; er pflückt sich Beeren;
Sein Kleid will nicht dem Winter wehren.

Er hat kein Glück in dieser Welt
Und keinen Gott im Himmelszelt.
Er hat kein Weib, kein Kind und Keinen,
Der mit ihm möchte lachen, weinen.

Vor seiner Höhle traf ich ihn –
Da kam die Frage mir zu Sinn:
Warum, o Himmel! lebt dies Leben
Und hat sich nicht den Tod gegeben?

Als ich die Worte laut gewagt,
Hat er die Antwort mir gesagt:
„Mir ist kein Baum noch vorgekommen,
Der selbst die Axt zur Hand genommen.

Ich lebe wie der Baum: ich muß.
Ich lebe nach des Schicksals Schluß,
Und kann ich nicht versteh’n das harte –
Es hat mich hergepflanzt – ich warte.

Hab’ mir das Leben nicht bestellt
Und nicht verlangt auf diese Welt,
Gesorgt nicht, daß ich sei auf Erden,
Und sorg’ nicht, was soll weiter werden.“



Blätter und Blüthen.


Ein wälscher Ballhorn hinter ehrbarer Maske. In der Verlagsbuchhandlung von Baillière und Sohn in Paris erscheint gegenwärtig ein Buch unter dem Titel: „A. E. Brehm. Wunder der Natur. Der Mensch und die Thiere“. („Merveilles de la nature. L’Homme et les animaux.“) Die erste Lieferung, welche mir vorliegt, enthält in wörtlicher Uebersetzung folgende Sätze:

Seite 13. „Das Knochen- und Muskelsystem, von übertriebener Ausbildung, giebt ihrem (der Süddeutschen) Körper etwas Schwerfälliges in seinen Formen. Ihre Nase ist breiter und weniger vorstehend (als bei den Celten); ihre Backenknochen sind stark hervortretend; ihre Kinnladen endlich zeigen eine Ausbildung, welche im Verhältnisse steht zu den Bedürfnissen ihres Magens, obwohl die Eßlust dieser Bevölkerungen gar nicht zu vergleichen ist mit derjenigen der Norddeutschen. … Schwaben erzeugt nicht viel mehr als Hafer und Kartoffeln, dennoch aber leben die Einwohner der Ueberzeugung, daß ein Fremder, welcher sich einige Zeit bei ihnen aufhält, dies nur aus dem Grunde thut, sich einmal recht satt zu essen. Diese Naivetät geht natürlich Hand in Hand mit dem tiefsten Aberglauben. Die württembergischen Bauern z. B. haben die Gewohnheit, bei jedem Neubaue einen lebendigen Hahn unter dem Grundsteine einzumauern. Dieser Aberglaube hat bis jetzt durch nichts erschüttert werden können. Gewohnheit stellt sich bei ihnen jedem Fortschritte entgegen.“

Seite 14. „Die Formen der Norddeutschen sind noch massiger, als die der Süddeutschen. Eine körperlich so gebildete Race mußte naturgemäß mit einem riesigen Appetite begabt sein, und dem ist auch so. Der Kauapparat hat bei ihnen eine ungewöhnliche Entwickelung erlangt. – Die Sinnlichkeit herrscht bei den Norddeutschen vor, aber diese Sinnlichkeit ist weniger auf geschlechtliche Verhältnisse gerichtet, als der Verdauung zugewendet, sodaß die Sitten ziemlich rein geblieben sind. Thatkräftig, zähe, thätig, richtet der Deutsche seine Verstandesgaben nicht auf das Ideal, sondern auf die Sinnlichkeit und sucht das Nützliche mehr als das Schöne. Er ist bestimmt, praktisch und wunderbar begabt für die materielle Seite der Gesittung. Daraus folgt, daß die Künste auf die tiefste Stufe gestellt werden. – Der mecklenburgische und holsteinische Bauer arbeitet oft fünfzehn Stunden des Tages. Aber welche ungeheure Menge von Nahrung vertilgt er auch dabei! Wahr ist freilich, daß auch diejenigen Individuen, welche nicht arbeiten, nichts desto weniger eine wahrhaft wunderbare Menge von Nahrung zu sich nehmen.“

Seite 17. „Wir müssen noch etwas sagen über die Preußen, das heißt über die Bewohner Mecklenburgs, Pommerns, Brandenburgs und Schlesiens. Man verwechselt gewöhnlich die Preußen mit den Deutschen, aber schon vor einigen Jahren hat Herr Gordon, welcher sie genau kennt, gesagt: ‚Die Preußen sind weder Deutsche noch Slaven – sie sind Preußen.‘ - Sie sind das Ergebniß eines Gemenges von ureingeborenen Völkern mit Slaven und Finnen. Später vermischten sich einige germanische Völker mit ihnen, und zuletzt, nach Widerrufung des Edictes von Nantes, fand in Preußen eine französische Einwanderung statt. Diese Verschiedenheit des Ursprungs erklärt uns die Verschiedenheit, welche man zwischen den Sitten und dem Charakter der Preußen und der Deutschen beobachtet. Wir haben die Rohheit der ersteren, ihre Grausamkeiten, ihre Raubsucht kennen gelernt. Die Rauhheit der preußischen Sitten erinnert an die Slaven des Nordens und trennt die preußische und germanische Race vollständig.“

Die Leser, welche mein schriftstellerisches Wirken verfolgt haben, erkennen in vorstehend wiedergegebenem sinnlosem Geschwätz sicherlich ohne weiteres eine grobe Fälschung, denjenigen aber, welche mit meinen Schriften nicht vertraut sind, erkläre ich hiermit; daß ich niemals etwas Aehnliches geschrieben oder auch nur zu ersinnen vermocht habe, wie dies in dem genannten, erbärmlichen Machwerke mir unterstellt wird, daß ich mit Herrn Baillière niemals in Verbindung gestanden, noch solche anzubahnen versucht habe, daß ich endlich weder den kindischen Schreiber, welcher sich unter meinem Namen an dem gesunden Menschenverstande versündigt, kenne, noch bis zu dem Augenblicke, welcher mir die „Wunder der Natur“ in die Hand spielte, etwas von dem Erscheinen eines derartigen Buches gewußt habe.

Ich bin gewohnt, unter den rauhen Händen der Jünger und Nachfolger Ballhorn’s Spießruthen zu laufen und in Folge dessen ziemlich unempfindlich geworden. Ich habe erlebt und ertragen, daß mein „Thierleben“ in einer mich anwidernden Gestalt denen geboten wurde, für welche ich das Beste kaum für gut genug erachte; ich erfahre ohne Kümmerniß, wenn meine Werke von Halbwissern und Vielschreibern aller Art als verborgen, aber ergiebig fließende Quelle angesehen und ausgebeutet werden; ich lese mich oft und meist so, daß ich mich selbst kaum wieder erkenne; ich gestatte wohl oder übel, daß eines meiner Werke französischen Leserkreisen in einer Umwandelung geboten wird, wie sie der Uebersetzer der französischen Bildung für angemessen halten mag: aber ich gestehe Niemand die Berechtigung zu, unter meinem Namen, also gewissermaßen durch meinen Mund, mein eigenes Volk zu schmähen oder zu verunglimpfen, und ich trete der maßlosen Dreistigkeit Desjenigen entgegen, welcher solches versucht. Denn ich gehöre meinem Volke an mit jeder Faser meines Seins und achte, ehre und liebe es wie meine Mutter.

Aus diesem Grunde brandmarke ich den namenlosen wälschen Schreiber und seine Helfershelfer, welche sich des Namens eines geachteten deutschen Schriftstellers bedienten, um ihrem bedeutungslosen Grolle auf Deutschland und die Deutschen Luft zu machen, als ehrlose Fälscher und Verleumder.

Ich wünsche dieser meiner Erklärung die weiteste Verbreitung zu geben und ersuche deshalb alle Redactionen deutscher Zeitungen und Zeitschriften, meine Abwehr unterstützen zu helfen. Die Redactionen französischer Zeitungen aber, welche einem Deutschen gegenüber die Begriffe der Ehre noch nicht verlernt haben, fordere ich auf, in meinem Namen zu erklären, daß der Wechselbalg, welcher bei Herrn Baillière das Licht der Welt erblickt hat, französischen, nicht aber deutschen Ursprungs ist, ich wenigstens unschuldig bin an der Geringschätzung französischer Durchschnittsbildung, welche ein so klägliches Erzeugnis von in Deutschland undenkbarer Unwissenheit und Geschmacklosigkeit in jeder Zeile bekundet.

Berlin, am Neujahrstage 1878.
A. E. Brehm.




Torpedos und Anti-Torpedos. Es giebt eine Classe von Lustspielen, die man Intriguenstücke zu nennen pflegt und deren allgemeiner Charakter in der Devise: „List über List“ ausgedrückt werden kann. An diese Uebertrumpfungen des Gegners durch immer neue, die Machinationen desselben noch überbietende Künste erinnert, freilich in mehr tragischer Richtung, die jetzige Ausbildung des Torpedo-Krieges. Schon in dem satirischen Artikel: „Die Aussichten zum ewigen Frieden“, welchen die Gartenlaube im vergangenen Jahre veröffentlichte[WS 1], wurden Andeutungen über die neuesten Vervollkommnungen der Angriffstorpedos gegeben. Dieselben sind nunmehr so weit gediehen, daß so ein mechanisches Kunstwerk, wie sein Taufpathe, der Zitterroche (Raja Torpedo), die elektrische Batterie, mit der er zu dem vernichtenden Schlage ausholt, in seinem Hohlleibe trägt, mittelst comprimirter Luft oder Kohlensäure, die ihm als Proviant mitgegeben wird, sich in einer gewissen Wassertiefe bewegt, um die Panzerschiffe von unten, an ihren verwundbaren Weichtheilen anzugreifen etc. Höchst einfache Listen sind dabei zum Theil angewendet worden, um diese Bestien erst bissig werden zu lassen, nachdem sie eine gewisse Zeit im Wasser geschwommen sind, damit nämlich das Schiff, welches sie aussendet, und oft mittelst eines elektrischen Zügels wie ein Reitpferd steuert, nicht durch eine verfrühte Explosion in Gefahr gerathen kann, was in den Jugendjahren dieser Erfindung viele Menschenleben gekostet hat. Bei dem sogenannten „Bonbon-Torpedo“ steckt man der Bestie, um mich dieser bildlichen Sprache weiter zu bedienen, einen Bonbon in’s Maul, der sie so lange am Beißen verhindert, bis sich dieser Bonbon im Wasser aufgelöst hat, was eine gewisse Zeit erfordert. Der Bonbon sperrt nämlich die elektrische Leitung für den Zündstrom in einfach mechanischer Weise, und der Strom kann keinenfalls eher wirken, als bis er aufgelöst ist.

In Portsmuth ist eine besondere Torpedoschule eingerichtet worden, in welcher junge Seeleute für den gefahrvollen Umgang mit diesen Bestien einexercirt werden, andererseits aber auch, um sie unschädlich zu machen. Hierfür hat namentlich der Marinecapitain Arthur allerlei

[40] sinnreiche Mittel und Listen ausgedacht. Das Drahtnetz, von dem in dem obigen Artikel die Rede war, hat sich zur Abhaltung der Stürmer nicht bewährt, da es die Bewegungen der Panzerschiffe zu sehr behindert, und es ist, sofern diese Art von Angreifern insbesondere des Nachts gefährlich werden, für das Beste befunden worden, die Meeresfläche rings um derartige Kriegsschiffe hell zu beleuchten, um jedes Schiff, welches solche Angreifer aussenden könnte, schon in der Ferne zu gewahren. Zu diesem Zwecke sind die Panzerschiffe theils mit elektrischer Beleuchtung versehen worden, theils schießt man nach allen Seiten in kleinen Pausen große Massen einer Leuchtcomposition, die sich im Wasser, auf dessen Oberfläche sie schwimmt, von selbst entzündet und dasselbe mehrere Minuten lang weithin mit hellem Glanze überstrahlt, ein Mittel, welches man sonst dem edleren Zwecke bestimmt, Schiffbrüchige in der Nacht aufzusuchen. Eine sehr geniale List bringt Capitain Arthur in Anwendung, um in einem Hafen oder in einer Flußmündung verankerte Stoßtorpedos unschädlich zu machen. Wie man einen vollkommen systematischen Festungskrieg ausgebildet hat, so hat er Mittel gefunden, diese Bestien systematisch auszurotten. Abgesehen von elektrisch gesteuerten Puffern, welche Torpedos, deren Lage bekannt ist, anzurennen bestimmt sind, um sie zur Explosion zu bringen, hat er auch eine List erfunden, um unbekannte Torpedos zum Losschießen zu bringen. Dieses Mittel gründet sich auf die vor einigen Jahren von Champion und Pellet entdeckte Eigenschaft der Explosivstoffe, durch die Erschütterungswelle einer Explosion desselben Stoffes schon aus der Entfernung zum Mitexplodiren gebracht zu werden, wie eine Saite mitklingt, wenn ein dem ihrigen sympathischer Ton in einiger Entfernung angeschlagen wird. Ein durch einen elektrischen Zügel gelenkter Torpedo wird in die Region gesendet, wo man Torpedos vermuthet, und dort losgefeuert. Je nach der Menge der Schießwolle oder des Dynamits, die es in seinem Innern enthielt, bringt es dadurch sämmtliche in einem Umkreise von einhundertzwanzig Metern und darüber versenkte Torpedos zur Mitexplosion, sodass durch Wiederholung dieses Verfahrens bald eine bestimmte, zum Angriffe auserkorene Fläche von diesen heimtückisch lauernden Feinden gesäubert und klar gemacht werden kann. Vielleicht führt die durch solche Gegenlisten verminderte Sicherheit der Wirkung dieser sehr kostbaren Kriegsmaschinen zu einem Aufgeben des gesammten Torpedokampfes, in welchem der grelle Contrast des geistigen Vermögens und des thierischen Vernichtungstriebes im Menschen zum beschämendsten Ausdruck gelangt ist.



Zwei Künstlerlieblinge des Berner Oberlandes. (Mit Abbildung auf S. 33.[WS 2]) Ein Mann, der es verstehen muß, weil sein Name an der Stirn des von uns bereits besprochenen kunst- und prachtreichsten Buches über „Das Schweizerland“ steht, Woldemar Kaden, sagt in diesem Werke:

„Beginnt die Reihe der ‚erheblichen‘ und ‚interessanten‘ Leistungen auf alpinischem Gebiete erst bei einer Höhe von zwölftausend Fuß, so giebt es doch unter diesem Maße noch eine Menge Gipfel von besten Namen, Gipfel, die auch durch ihre Lage oft interessanter werden, als die ungleich höheren. Dazu gehört nun in erster Linie das berühmte Massiv der Wetterhörner. Es entsteigt wild und schroff der östlichen Ecke des Grindelwaldthales und läßt aus seinen Hochfirnen drei scharf gesonderte Gipfel herauswachsen. Von diesen drei Gipfeln: Hasli-Jungfrau, Mittelhorn und Rosenhorn, springt die erstere als Rivalin der eigentlichen Jungfrau durch edle Kühnheit der Formen und Schärfe der Profile am meisten in die Augen. Ihrer Höhe fehlt ein Fuß zu elftausendvierhundert. So sehr es jetzt Modesache geworden ist, die Saison für Hochgebirgstouren mit einer Ersteigung des Wetterhorns zu eröffnen, so spät hat doch gerade dieses seinen ersten Besteiger gefunden. Denn wenig mehr als ein Vierteljahrhundert ist seit der Expedition auf das Rosenhorn durch die Herren Desor, Dollfuß, Dupasquier und Stengel verflossen. Es wurde bis dahin für unbesteiglich gehalten. Jetzt sind auch Damen oben gewesen, und gegenwärtig, denn auch Berge werden als Modeartikel behandelt, erfreut sich das Wetterhorn mit seinem Nachbar Wellhorn, das seinen Ruhm vielleicht nur dem vertrauten Umgange mit der weltberühmten Größe des Wetterhorns verdankt – Eckermann und Goethe! – großer Beliebtheit und der größten Verbreitung im Kunsthandel.“

Trotz dieses nicht ganz harmlosen Fingerzeigs auf den Modetriumph der beiden Berge hat Kaden von seinen neunzig Tondruckbildern der Schweizer Alpenwelt ihnen nahe an ein halb Dutzend gewidmet und selbst von den etwa vierthalbhundert Textbildern noch einige dazu hergegeben. Um so mehr fühlen wir uns verpflichtet, die Versäumniß des ersten Vierteljahrhunderts der „Gartenlaube“ in dieser Hinsicht sofort gut zu machen, indem wir die von der Meisterhand Ludwig Hofelich’s eigens für unsere Zeitschrift hergestellte Originalzeichnung des Well- und des Wetterhorns in unserem Holzschnitt mittheilen. Dagegen müssen wir das Wellhorn in Schutz nehmen gegen den Kaden’schen Vergleich. Kommen wir von Rosenlaui–Bad her, den Weg zum Reichenbachthal verfolgend, so steht, wenn wir wohl eine Viertelstunde im Wald gewandert sind, plötzlich die thurmartig aufstrebende Felswand des Wellhorns vor uns. Wir staunen freudig seine Herrlichkeit und Erhabenheit an, und wenn hinter ihm das Wetterhorn seine Dreizackkrone noch so stolz in ewigem Lichte strahlen läßt, so ruht der Gletscherarm des Schwarzwalds, den Wetterhorn-Goethe zum Nachbar ausstreckt, durchaus nicht auf eines Eckermann’s Schulter. Auch wenn, im Weitergange, die Brochbrücke überschritten ist und das Wetterhorn in immer gewaltigeren Massen uns entgegentritt, so sinkt der Nachbar nicht dermaßen zusammen, daß zwischen beiden die Ebenbürtigkeit wiche: sie sind zwei Könige des Gebirgs; den Eckermann haben wir dort nicht gesehen.

Für die Nimrode der Gegend ist das Wetterhorn als Heimstätte unzähliger Gemsen ein gesuchtes Bergrevier; sentimentale Wanderer aber versetzte der im Lande hochberühmte Alphornist Rudolf Schlunegger am Fuße des Wetterhorns oft in feierlichste Stimmung, wenn das Echo der Felsen die einfachen Töne seines Instruments in Orgelklänge verwandelte.


Mime und Friseur. Eine Erinnerung an Bogumil Dawison. Der große Dawison hielt seine goldene Ernte auf der Bühne des Stadttheaters zu New-York, das nie glänzendere Zeiten gesehen hatte. Dreimal allwöchentlich waren die Räume zum Ersticken gefüllt, kein Stehplätzchen mehr zu vergeben. Heute sollte Richard der Dritte aufgeführt werden. Aber während sich die Zuschauer der freudigsten Erwartung hingaben ob des zu erwartenden Kunstgenusses, spielte sich hinter den Coulissen eine ärgerliche Scene ab, die beinahe die Vorstellung unmöglich gemacht hätte, und zwar in dem Ankleidestübchen des großen Tragöden. Becker, der Friseur des Theaters, hatte durch seinen Gehülfen eine falsche Perrücke geschickt; er selber war durch anderweitige Beziehungen zurückgehalten worden. „Ich spiele nicht,“ rief der aufgebrachte Mime, „ich spiele nicht.“ Umsonst waren die rührendsten Bitten des Directors Haman; ohne die rechte Perrücke kein Richard möglich. Becker wohnte weit außerhalb der Stadt, jenseits des Hudson, sodaß es nicht thunlich war, das Versäumte nachzuholen.

Schon war die festgesetzte Zeit des Beginnes der Vorstellung überschritten worden, das Publicum ungeduldig und lärmend, Haman in Verzweiflung. Da stürzte Becker athemlos herein, die rechte Perrücke in Händen. Er hatte das Versehen durch Zufall entdeckt und jagte vermittelst seiner langen Beine und aller möglichen Fahrgelegenheiten daher, das geahnte Unheil abzuwenden. Aber der Tragöde hatte sich in solche Gereiztheit hinein gearbeitet, daß er den abgehetzten Becker auf nicht allzu zarte Weise empfing und ebenfalls in Zorn brachte. Ein Wort gab das andere, bis sich Dawison zuletzt so weit vergaß, zu einer Ohrfeige auszuholen. Das war zu viel der Kränkung für den auf Künstlerehre haltenden Friseur. Er glaubte sich selbst für eine Art Artisten halten zu dürfen, da er nicht nur Charakterstriche in die Gesichter der Mimen zu ziehen verstand, sondern auch selber mit dem Pinsel an den Bildern einer kleinen ihm zu eigen gehörenden Gemäldegalerie herumretouchirte und corrigirte. „Herr, was unterstehen Sie sich?“ rief er voll Wuth, ergriff blitzgeschwind Richard’s Schwert und hielt es dem verblüfften Mimen drohend entgegen. „Wer Sie auch sein mögen – ich bilde mir eben so viel ein wie Sie. Rühren Sie mich an, so fährt Ihnen die eigene Waffe in den Leib.“ Dawison sah ein, daß er zu weit gegangen, und brachte schweigend die Perrücke in Ordnung; die Vorstellung begann.

Noch war er nicht ganz im Gleichgewichte, denn als ein Diener dem sich zum Kampfe rüstenden Richard die Rüstung ungeschickt umschnallte und nicht zu Ende kommen konnte, erhielt er die für Becker bestimmte schallende Ohrfeige auf offener Scene, ohne sich wie dieser wehren zu dürfen. Becker war bald versöhnt durch freundliches Entgegenkommen Dawison’s; seine Freude kannte keine Grenzen, als bald nach der Rückkehr des großen Mimen nach Deutschland dessen Photographie eintraf nebst huldvollem Begleitbriefe. Becker lief auf alle Zeitungsofficinen deutscher Zunge, damit ja Jedermann an der ihm widerfahrenen Ehre Theil nehmen könne; nebenbei wurde er nimmer müde, von der Freigebigkeit und Hochherzigkeit Dawison’s zu reden, die derselbe besonders minder glücklich situirten Collegen und Theaterbediensteten bewiesen.

G. Heß.



Die photographische Gesellschaft in Berlin, welche sich seit Jahren das Verdienst erworben, die vorzüglichsten Leistungen auf dem Gebiete der deutschen Malerei photographisch und geschmackvoll wiederzugeben und dadurch zur Veredelung des Geschmackes des großen Publicums, dem die Originale meist nicht erreichbar, wesentlich beizutragen, hat auch die jetzige, wie die früheren Berliner Kunstausstellungen in reichlichstem Maße zur Herstellung eines Albums benutzt, das die besten Gemälde photographisch wiedergiebt. Es sind dies einige siebzig Bilder, die in verschiedenen Formaten zu haben sind und den früheren Besuchern eine schöne Erinnerung, denen aber, welche die Ausstellung nicht gesehen, einen schätzenswerthen Ersatz für den ihnen unerreichbaren Genuß der Originale selbst bieten werden. Von Jahr zu Jahr hat die Zahl der Künstler, welche ihre Erlaubniß zum Copiren gegeben, zugenommen und die diesjährige Sammlung enthält die bedeutendsten Namen, wie: Alma-Tordema, Amberg, Angeli, Karl Becker, Breitbach, Conrad, v. Heyden, F. Kaulbach, Lüben, Gustav Richter, Rosenthal, Steffeck, Vautier, A. v. Werner und viele Andere.




Bock’s Buch – in Heften - 12. Auflage.

Dieses schon bei seinem ersten Erscheinen mit allgemeinem Willkommen begrüßte, jetzt bereits in 150,000 Exemplaren verbreitete Werk:

Das

Buch vom gesunden und kranken Menschen.

Von Professor Dr. Carl Ernst Bock.

Mit gegen 142 feinen Abbildungen und dem Portrait des Verfassers in Stahlstich.

hat sich in 11 Auflagen bereits als Hausschatz der Familie bewährt. Dasselbe erscheint wieder in zehn, je 5–6 Bogen starken Heften à 75 Pfennig, und sind jetzt bereits 5 Hefte ausgegeben.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.

  1. Hat es auch selbst in der „Germania“ erzählt.
  2. Proben aus den durch eigenartige Weltanschauung und ergreifende Innerlichkeit ausgezeichneten „Neuen Gedichten“ (Dresden, E. Pierson) des geistvollen Dichter-Philosophen, dem wir in unserer Nr. 35, 1877, ein freudig anerkennendes biographisches Denkmal gesetzt haben. Die in der eben erwähnten Sammlung niedergelegten lyrischen Poesien Lorm’s werden sicherlich die verdiente allgemeine Verbreitung finden.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der Artikel ist in Heft 24, Jahrgang 1876 abgedruckt.
  2. Gemeint ist offensichtlich Seite 25.