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Die Gartenlaube (1879)/Heft 48

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 48. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig• – In Heften à 50 Pfennig.


Verheirathet.
Novelle von H. Wild.
(Fortsetzung.)


Der Arzt hatte die Seebäder von H. als besonders zweckdienlich empfohlen. Urlaub stand dem Professor zur Verfügung, und so nahm er denn Abschied und reiste zur Cur nach H.

„Wenn Du nur,“ klagte seine Mutter, als sie ihn weinend aus ihrer letzten Umarmung ließ, „wenn Du Dir nur eine recht gute Frau aus dem Meere fischen könntest!“

„Die Bibliothek kann er nicht mitnehmen, das Studirzimmer auch nicht – das ist immerhin etwas“ tröstete sie der Arzt.

Die Wandlung that Wunder. Schon der Kraftaufwand, den Walter die Ausführung seines Entschlusses gekostet, hatte ihm wohlgethan, und nun der Wechsel der Eindrücke, die frische, belebende Strömung menschlichen Wirkens und Schaffens, die von allen Seiten bei der unterbrochenen Veränderung des Ortes unaufhaltsam auf ihn eindrang! Ihm war, als erwache er aus einem schweren Traum. Himmel, Erde, Luft, zuletzt Meer und nebenher sein eigenes Selbst erschienen ihm auf einmal in einem neuen, goldenen Licht, und der verdrossene, abgestorbene Melancholiker war, als er erst ein paar Wochen in H. verweilt hatte, wieder ein lebendiger, liebenswürdiger und – für den Augenblick wenigstens – sogar ein glücklicher Mensch geworden.

Wie viel Antheil die Baronin Stoerbeck und ihre anmuthige verwittwete Schwester, zwei durch Distinguirtheit ihres Wesens unter den Badegästen ausgezeichnete Damen, an dieser Umwandlung hatten, das hätte der gelehrte Professor kaum zu sagen vermocht.

Er verkehrte täglich mit den Damen. Sie wohnten mit ihm in demselben Hôtel, in dem sie nur wenige Tage nach ihm eingekehrt waren. Die leichte, anmuthige, immer belebende, wenn auch mitunter ein wenig neckisch-boshafte Unterhaltung der schönen Baronin hatte ihn ungemein angezogen, vom ersten Tage ab, da die Table d’hôte ihn mit den Damen zusammengeführt. Die Baronin war dem Gelehrten, dessen wissenschaftliche Bedeutung sie genau zu kennen schien, mit einer ihn anfangs frappirenden Freundlichkeit entgegengekommen, die fast an Herzlichkeit grenzte und die um so schmeichelhafter für ihn war, als die Baronin, da ihr Gemahl sie nicht hatte begleiten können, sonst so viel wie möglich das Anknüpfen neuer Bekanntschaften mied; hatten sich ihm doch sehr bald sogar die elegant ausgestatteten Räume geöffnet, welche die beiden Damen bewohnten.

In diesem erquickenden Umgang vergingen ihm die Stunden wie Minuten; der Bücherstaub flog ab von der Welt seines Wissens, und wenn er von seinen Reisen und Erlebnissen erzählte, zogen die fernen Gegenden wie sichtbar an dem Geist seiner Zuhörerinnen vorüber und die Blumen, die er beschrieb, blühten und dufteten für sie gleichsam so frisch, wie draußen, wo er sie gefunden.

Daß die Baronin sich sehr gern mit dem Professor unterhielt, konnte keinem Zweifel unterliegen. Viel schwerer schien es, ihrer Schwester geistig näher zu kommen. Die junge Dame war ziemlich schüchtern und hatte dabei etwas so mädchenhaft Keusches und Liebliches in ihrem ganzen Wesen, daß Niemand, dem man es nicht ausdrücklich gesagt, sie für eine Wittwe gehalten haben würde. Sie hatte, wie man wissen wollte, dem geliebten Todten unwandelbare Treue gelobt und bereits mehrere vollkommen passende Anträge zurückgewiesen; der Wunsch, ähnlichen Versuchungen nach Möglichkeit auszuweichen, war – so behauptete man – der Hauptgrund der strengen Zurückgezogenheit, in welcher sie lebte. Im Uebrigen waren diese Zurückgezogenheit sowie die Farbe der Trauer in ihrer Kleidung und die tiefe Schwermuth, welche die anmuthigen Züge überschattete, die einzigen Spuren welche jene herbe Erfahrung ihr hinterlassen, und der Gram hatte ebenso wenig die holde Frische ihrer Jugend, wie ihre kurze Ehe den Reiz süßer verschleierter Jungfräulichkeit von ihrer Erscheinung abzustreifen vermocht.

Dem Professor war sie durch dies Alles ein beständiges liebliches Räthsel, in dessen Lösung er sich, ohne es zu bemerken, immer mehr vertiefte. Eine nie empfundene Ruhe, eine unbeschreiblich harmonische Befriedigung überkam ihn in ihrer Nähe; es war, als habe er lange, unter mühsamer Anstrengung, den Schlußaccord einer bekannten Melodie gesucht und nun auf einmal mühelos, unerwartet gefunden.

Ihre Augen waren wunderbar groß, dunkel und sanft, und der gelehrte Professor blickte so gern hinein; sie hingen so gespannt an seinen Lippen, wenn er sprach – kam die Anregung zu der bezaubernden Unterhaltungsgabe, die er so plötzlich entwickelte, ihm vielleicht gar aus der leuchtenden Tiefe dieser schönen Augen? Diese Augen, sie erinnerten ihn an diejenigen seiner Frau, obgleich er sie doch kaum gesehen. Und es waren nicht die Augen allein; das ganze Wesen der jungen Wittwe rief die Entflohene in seine Erinnerung zurück, so wenig die in blühender Gesundheit prangende Gestalt vor ihm an das zarte Geschöpf mahnte, das Melazzo’s Hand seiner ehelichen Fürsorge aufgezwungen hatte. War es, daß die Erscheinung der reizenden Wittwe ihn wirklich tiefer interessirte und daß ihm darum das Hemmniß in seinem Wege wieder deutlicher in’s Bewußtsein kam? Oder geschah das, weil die wehmüthige Vorstellung, daß all dieses süße, knospende [794] Jugendleben, diese frische, halb verborgene Fülle beglückendster Weiblichkeit unwiderruflich dem Cultus eines Todten gewidmet war, was ihr in seinen Augen eine gewisse Verwandtschaft mit seinem eigenen Schicksale verlieh?

Wie dem auch sein mochte, so viel ist gewiß, daß er noch nie so oft und so liebevoll der Entschwundenen gedacht hatte, wie jetzt, an der Seite Lucia’s.

Die Baronin schien nicht zu merken, wie der trübe Schatten immer mehr von der Stirn ihrer Schwester schwand, wie ihre erste scheue Blödigkeit, zwar langsam und zaghaft, aber doch immer mehr einer holden Vertraulichkeit wich; sie schien es nicht zu sehen, wie lieblich die junge Frau erröthete, wenn der gelehrte Freund eintrat, mit welchem glücklichen Lächeln sie die kleinen Aufmerksamkeiten aufnahm, die er ihr erwies, welch Hangen und Bangen in ihrem ganzen Wesen lag, wenn er einmal gar nicht oder nur später als erwartet erschien – oder wollte sie es nicht sehen? Manchmal, wenn der Professor sich gar zu sehr in der Betrachtung seiner anziehenden Zuhörerin versenkte, sodaß er darüber ganz die Gegenwart der Baronin vergaß, dann beobachtete ihn wohl die liebenswürdige Frau mit einem eigenthümlichen, zugleich warmen und schalkhaften Blick. Und eines Tages begegnete er zufällig diesem Blick der Baronin und wurde davon bis in die innerste Tiefe seines Gelehrtenstubengewissens getroffen. Er fand keine andere Erklärung für diese zärtlich lachenden, in seinen Anblick verlorenen Augen, als die eine zunächstliegende. – –

War es denn möglich? Hatte sie, die Baronin, wirklich seine achtungsvolle Aufmerksamkeit verkannt und ein wärmeres Gefühl für ihn gefaßt, für ihn, der doch an weiter nichts gedacht, als einige Stunden angenehm zu verplaudern? Sie, eine vernünftige Frau von dreißig Jahren, die noch dazu einen solchen Engel von Schwester an ihrer Seite hatte?

Ach, die Schwester! Ja, da saß es! Und mit einem Male wußte der Professor, wie es mit ihm stand. Die Leidenschaft, die bisher ruhig in ihm gelegen wie ein blauer lächelnder See, brauste plötzlich und wie eine Sturmfluth auf und riß Alles nieder, was an Besinnung und Widerstand in ihm noch übrig war. Kein Wunder, daß auch jeder Gedanke an die Herzensverirrung der Baronin total darin unterging.

Ueber diese wäre er ohnedies sehr bald beruhigt worden. Schon bei der nächsten Table d’hôte kam ihm die liebenswürdige Frau in heller Freude entgegen.

„Mein Mann kommt endlich in einigen Tagen!“ rief sie entzückt und drückte dabei dem Schuldbewußten auf das Herzlichste die Hand. „Vor ein paar Stunden kam der Brief – Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin! Und wie freut er sich, Sie kennen zu lernen! Ich und Lucia“ – hier warf sie einen lächelnden Blick auf ihre tief erröthende Schwester – „haben ihm bereits so viel von Ihnen geschrieben – – Aber was haben Sie? Sind Sie krank?“ unterbrach sie sich, ihren Ton plötzlich verändernd. Und auch die junge Wittwe sah ihn so bang und besorgt an, daß er unwillkürlich einen Blick in den Spiegel warf und nun über sein verändertes Aussehen selbst erschrak. Aber vergebens nahm er sich zusammen und suchte seine frühere heitere Unbefangenheit wieder hervorzuzwingen; die Revolution in seinem Innern wollte nach außen ihren Ausdruck haben, und zum ersten Male, seitdem er die Cur begonnen, litt unser Botaniker an Sprach- und Appetitlosigkeit.

Als die Table d’hôte endlich überstanden war, nahm die Baronin scherzend seinen Arm.

„Ich nehme Sie gleich mit,“ sagte sie, „die Luft wird Ihnen wohl thun, und mir ist es Bedürfnis, meine Freude in’s Freie zu tragen.“

Sie verließen das Hôtel und wanderten langsam zum Strande.

„Sie wissen nicht, welch ein prächtiger Mensch mein Lothar ist,“ plauderte die Baronin heiter. „Es ist eigentlich kindisch von einer so alten Frau, nach einer kaum dreiwöchentlichen Trennung von ihrem Ehemanne sich so sehr auf das Wiedersehen zu freuen, aber selbst in meiner Brautzeit hätte ich mich nicht inniger nach ihm sehnen können. Wenn es wahr ist, daß die Ehe die Liebe tödtet, so hat der Himmel mit uns eine gütige Ausnahme gemacht. Ich bin nun zehn Jahre verheirathet, aber ich glaube, gerade jetzt könnte ich die größten Thorheiten begehen, wenn meiner Liebe Gefahr drohte, und ich denke nicht, daß Lothar viel vernünftiger ist. Aber Sie werden ihn ja sehen, und ich bin überzeugt, daß auch Sie Gefallen an ihm finden werden –“

„Und wie wird er sich über Lucia freuen!“ fuhr sie fort, ohne zu beachten, wie der Professor sie ob dieser intimen Beichte verwundert ansah. „Die Seebäder haben Wunder an ihr gethan“ – hier warf sie einen verstohlenen Seitenblick auf den Professor – „haben wir doch lange geglaubt, sie würde sich von dem furchtbaren Schlage niemals erholen, und eigentlich war es viel mehr ihretwegen, daß meine Nerven durchaus der stärkenden Seebäder bedurften. Nun, das Mittel hat angeschlagen,“ lachte sie fröhlich, „und ich hoffe, o, ich hoffe, daß Alles noch gut werden wird.“

Wieder streifte ein bedeutsamer Blick ihren Begleiter, jener Blick, der zugleich ein lustiges Geheimniß und ein warmes Herzensinteresse anzudeuten schien und der ihn gestern so unverständlich berührt hatte.

„Lucia ist so viel besser als ich,“ fuhr die schöne Frau nach einer Pause mit Innigkeit fort. „Ich war immer flatterhaft und voller Launen, und es bedurfte Lothar’s ganzes Erziehungstalent, um eine halbwegs vernünftige Frau aus mir zu machen. Aber mit Lucia war das ganz anders. Sie hat immer etwas Liebes und Ernstes gehabt, selbst als sie noch klein war, und was hat sie nicht Alles schon durchlebt!“

Wieder schwieg sie und sah vor sich nieder, wie in trübe Erinnerungen verloren.

„Es giebt wohl nichts Traurigeres für ein Kind,“ hub sie dann wieder an, „als kein eigentliches Elternhaus zu haben. Verwandte, mögen sie noch so zärtlich sein, ersetzen das nie. Mein leichter Sinn hob mich aber darüber hinweg, und ich habe wenigstens eine glückliche Kindheit gehabt. Als mein Vater starb, war ich acht Jahre alt, und als dann meine Mutter wieder, und zwar in das Ausland, heirathete und mich bei ihren Eltern zurückließ, noch nicht zehn. Sie hatte wenig Freude draußen. Schon die Trennung von mir, mehr noch die rohe Art des Stiefvaters zehrten an ihrem Leben, ein nie verlöschendes Sehnen führte sie langsam dem Grabe zu. Kaum ein Jahr nach Lucia’s Geburt, welche Zeit sie bei den Großeltern verbrachte, weinte ich an ihrer Leiche. Lucia blieb zunächst, wie ich, bei den Großeltern; ihren Vater habe ich seitdem nicht mehr gesehen – Sie können sich denken, was die Kleine für mich war. Eine niedlichere Puppe konnte ich mir gar nicht wünschen, und sie hatte den großen Vorzug, daß sie lebendig war. Uebrigens machte ihr herziges stilles Wesen sie bald zum allgemeinen Liebling, und das nahm zu, wie sie heranwuchs. Hätte mein Stiefvater sie uns doch gelassen! Gott sei Dank! sie hat nichts von ihm, als eine gewisse äußere Aehnlichkeit, im Gemüth, im Charakter gleicht sie ganz unserer sanften, vortrefflichen Mutter. Als sie kaum buchstabiren konnte, nahm der Vater sie von uns weg und ließ sie nach Frankreich in ein Kloster bringen, wo sie erzogen wurde. Bald nachdem sie es verlassen, fand ihre Vermählung statt und –“

Die Baronin stockte, eine tiefe Trauer überschattete ihr sonst so heiteres Gesicht.

„Es ist Schreckliches über das arme Kind gekommen“ fuhr sie nach einer Pause fort: „Ihr Vater starb auch, und so kam sie denn wieder zu uns, als Wittwe, gebrochen an Körper und Seele. Erst glaubten wir, sie werde ihr Unglück nicht überleben. Aber Gott ist gnädig, selbst in seiner Strenge. Er hat meinem Schwesterchen Hülfsquellen gegeben, die er meiner prosaischen Natur gänzlich versagte. Alles unter dem Himmel, Kleines und Großes, macht ihr Freude. Auch dem Unbedeutendsten weiß sie einen Reiz abzulauschen und es ist zum Staunen was sie Alles weiß. Sie sollten nur ihre Bibliothek zu Hause sehen, und besonders für die Botanik hat sie eine ganz eigene Passion.“

Hier blitzten wieder ihre Augen in heiterer Schalkhaftigkeit den Professor an, aber Walter fand noch immer nichts zu sagen.

„Sie hat seitdem immer bei uns gelebt,“ erzählte die Baronin weiter, „und ich kann wohl behaupten, daß sie uns recht unentbehrlich geworden ist. Mein Mann liebt sie fast wie ein eigenes Kind, und was mich betrifft, so weiß ich wirklich nicht recht, wie ich ohne Lucia im Hause fertig werden soll, aber doch würde ich mich von Herzen freuen, wenn endlich auch meiner armen kleinen, vielgeprüften Schwester ein wahres Glück erblühen könnte, wie ich es gefunden und wie sie es so sehr verdient.“

Die Baronin hatte Thränen in den Augen während sie das [795] Letztere sprach – und der Verstockte schwieg noch immer! Was sollte er auch sagen? Konnte er auf all diese deutlichen und so liebevoll gemeinten Winke mit der brutalen Antwort kommen: „Meine Gnädigste, ich verstehe Sie recht gut, aber mir ist es leider unmöglich, Ihrer reizenden Schwester ein solches Glück zu schaffen, denn ich bin seit vollen vier Jahren ein verheiratheter Mann, für den es nicht einmal eine Scheidung giebt, da ihn die Frau mit dem Ehecontract unwiederbringlich verlassen und so in die Lage gesetzt hat, nicht einmal seine Verheirathung beweisen zu können“?

Die Baronin hatte, wie es schien, keine Ahnung von den Qualen, die sie ihrem unglücklichen Zuhörer durch ihre freundlichen Mittheilungen bereitete. Der heilige Laurentius auf seinem Roste war unleugbar, so weit es den Körper betrifft, in einer weit fataleren Lage, als der Professor in diesem Augenblick, allein im Gemüthe bestand zwischen Beiden eine starke Aehnlichkeit, nur daß der Letztere sich mit weit weniger Heroismus in die Verhältnisse schickte. Der Spaziergang wollte dem Professor durchaus nicht bekommen; sobald man das Hôtel wieder erreicht hatte, schloß er sich in sein Zimmer ein und ließ sich für den Abend bei den Damen entschuldigen.

In unbeschreiblichen Herzensqualen verbrachte er die Nacht, und als er am andern Morgen seinen Nachbarinnen bei der Frühpromenade begegnete, starrte ihn die Baronin erschrocken an und die schönen Augen ihrer Schwester füllten sich mit Thränen, die sie nicht ganz zu verbergen vermochte. Ja, sie überwand nach längerem sichtlichem Kampfe ihre Schüchternheit so weit, daß sie plötzlich von freien Stücken ihre Hand in den Arm des leidenden Freundes legte. Unter dem Vorwande, ihm eine eigenthümliche Pflanze zu zeigen, die sie am vergangenen Tage bemerkt, führte sie ihn eine kleine Strecke abseits von der Gesellschaft, und mit welch holder Befangenheit, und zugleich wie innig bat sie ihn während der wenigen Schritte, doch ja auf seine Gesundheit Acht zu geben – es würde gewiß für Schwester und Schwager – und auch für sie selbst, setzte sie leiseren Tones und tief erröthend hinzu, ein großer Schmerz sein, wenn eine Krankheit ihn befallen sollte. Und mit welcher zärtlichen Besorgniß hatte sie dann einen flüchtigen Augenblick zu ihm aufgesehen! Der Professor war gerührt bis in das innerste Herz. Er fühlte es der lieben jungen Frau nach, wie viel der kleine Schritt ihrem zurückhaltenden Wesen gekostet haben müßte, und im festen Glauben, daß man dem verzagten Freier großmütig entgegen kam, empfand er es als heilige Pflicht, den liebenswürdigen Frauen die volle Wahrheit über sich und seine Verhältnisse zu sagen.

Aber dann, wie unendlich lächerlich kam er sich wieder bei der ganzen Geschichte vor! Wie würden sie seine Mittheilung aufnehmen? Würden sie ihm glauben? Und wenn – würde nicht die Baronin, würde nicht vor Allem Lucia sich mit Verachtung von ihm wenden? Er fühlte sich zerschmettert bei der bloßen Vorstellung. Den Gedanken, Lucia aufzugeben, vermochte er nicht einmal auszudenken. Es war ihm, als müsse das Leben für ihn auslöschen, wenn der süße Wohllaut ihrer Stimme, wenn das sanfte Licht ihrer Augen aufhören sollten, es zu verklären. Er dachte sich ihr stilles, umsichtiges häusliches Walten, das sich nie vordrängte, nie geräuschvoll auftrat, das aber immer vorgesorgt hatte, gerade wo es nöthig war. Wie war sie so ganz geeignet, das Leben eines ruhigen Gelehrten zu verschönern, der neben seiner Wissenschaft keine andere Welt suchte und wünschte, als die kleine Welt seiner Familie! Gerade ihre Mängel empfand er als Vorzüge; daß sie bei einer weit gediegeneren Bildung weniger von jenem glänzenden Esprit zur Verfügung hatte, welcher der Conversation der Baronin einen so pikanten Reiz verlieh, war ihm eine werthvolle Bürgschaft für den Frieden seiner Studirstube.

Ruhelos wanderte er den Vormittag über einsam am Strande hin, und das Resultat aller Ueberlegungen und Kämpfe war der feste Entschluß: er wollte beichten.

Es wurde Abend, bevor er den Entschluß ausführte. Die Baronin nöthigte ihn, wie gewöhnlich, nach dem Abendessen auf ihr Zimmer, und dort saß er, zwischen bunten Teppichen, gestickten Polstern, Albums und einem Allerlei von jenen farbigen, luxuriösen Spielereien, welche die elegante Welt zu ihren Bedürfnissen zählt, vor dem gedeckten Theetische. Ihm gegenüber hatten die Baronin und Lucia Platz genommen, jene in heller Sommertoilette, diese in schlichter schwarzer Seide. Die Letztere war angelegentlich mit einer Stickerei beschäftigt, und wie ein Schleier fielen ihr dabei die dunkeln, glänzenden Locken immer wieder eigensinnig in das gesenkte Antlitz.

Endlich – endlich nahm das Gespräch eine Wendung, welche ihm eine Anknüpfung verstattete, und mit wahrer Hast benutzte der Professor den Augenblick.

„Ja, ja! Man kommt zu vielen Uebeln unverhofft, am unverhofftesten manchmal zu einer Frau.“

Bei dieser Bemerkung des Professors hob sich das Gesicht der Stickenden ein wenig böse und leicht erröthend von der Arbeit, als jedoch ihre Augen denen des jungen Gelehrten begegneten, schrak sie mit erneutem Eifer wieder in das Zählen ihrer Stiche zurück. Die Baronin dagegen biß sich auf die Lippen und lachte dann plötzlich hell auf.

„Als unverheiratheter Mann haben Sie eigentlich kein Recht so zu sprechen,“ sagte sie dann, sich mühsam zum Ernst zwingend, „oder waren Sie vielleicht einmal mit dem schweren Uebel bedroht, eine Frau zu bekommen?“

Der Professor zögerte; sein Blick streifte, wie fragend, nach der jüngeren Schwester hinüber, doch sie hatte das Gesicht tiefer gebeugt, und er sah fast nichts als die störenden, verschleiernden Locken. Nur die Hand, mit der sie den Faden zog, zitterte merklich, und es konnte der Arbeit nur zu Gute kommen, daß sie plötzlich, wie ungeduldig, mit dem Nähen inne hielt und das schwierige Muster von neuem nachzuzählen begann.

Die Stirn des gelehrten Mannes umwölkte sich zusehends.

„Nun?“ fragte die Baronin, deren lachende Augen sein verrätherisches Gesicht nicht einen Augenblick verließen.

„Sie fragen, ob ich damit bedroht war? – Es ist weit schrecklicher, Baronin – ich bin verheirathet –“

Die Baronin nahm sich ersichtlichermaßen gewaltsam zusammen, um ihre merkwürdige Lachlust zu bändigen; ein bittender Blick aus Lucia’s Augen half ihr zum Siege.

„Mit welcher Grabesstimme Sie dies sagen!“ sprach sie endlich. „Bedenken Sie auch, wie wenig schmeichelhaft das ist für Ihre liebe Frau? Und wissen Sie außerdem, daß Sie gar nicht ehrlich sind? Was! seit fünf Wochen verkehren wir täglich mit einander, und wir und die ganze hiesige Badewelt hielten Sie noch immer für unvermählt. Haben Sie denn nie bedacht, welches Unheil Sie durch Ihr Schweigen anrichten konnten?“

Die dichten Locken der jungen Wittwe verbargen hülfreich ihr plötzliches heißes Erglühen bei der letzten Anspielung.

Auch der Professor war erröthet.

„Ich habe wirklich nicht daran gedacht,“ versetzte er einfach.

„Männliche Bescheidenheit!“ spottete die Baronin. „Aber warum nie ein Wort über Ihre Frau?“

„Weil ich selbst nichts von ihr weiß –“

„Sie scherzen.“

„Wollte Gott, es wäre ein Scherz!“ erwiderte er gepreßt.

„Sie sind doch nicht geschieden?“

Der Professor zuckte die Achseln.

„Ja und nein. Wenn Sie unter Scheidung Trennung verstehen, so sind wir allerdings geschieden, doch nach dem Gesetze sind wir es nicht.“

„Und das ertragen Sie?“

„Man muß eben ertragen, was man nicht ändern kann.“

„Haben Sie es denn versucht?“

„Nein. Es würde zu nichts führen. Auch wäre für mich allein der Gewinn die Anstrengung nicht werth.“

Die Baronin schüttelte den Kopf.

„Professor, Sie sind ein Schelm,“ sagte sie. „Gestehen Sie nur gleich, daß Sie Ihr Spiel mit uns treiben, und wir wollen Ihnen die Sünde verzeihen unter der Bedingung, daß Sie uns für Ihre lange Verschwiegenheit gebührend entschädigen. Machen Sie uns also zuerst eine bezaubernde Schilderung von Ihrer ersten Begegnung mit Ihrer lieben Frau, dann von dem Hangen und Bangen, das dieser Begegnung folgte, bis zur endlichen beseligenden Gewißheit, oder wir üben Rache, und die Folgen schreiben Sie dann sich selber zu!“

„Sie verlangen mehr, als ich zu leisten vermag,“ versetzte er nach einer kurzen Pause. „In der That, ich weiß nichts von meiner Frau. So unglaublich es klingt, ich habe ihr Gesicht kaum gesehen; ich kenne nicht einmal ihren Namen. Unsere erste Begegnung war ganz anderer Art, als Sie sich dieselbe vorstellen, [796] und das Hangen und Bangen dabei war nichts, als die feige Furcht vor einem drohenden gewaltsamen Tode. Seitdem ist sie mir gänzlich entschwunden. Lebt sie? Ist sie gestorben? Ich weiß es nicht. Das Letztere ist jedoch das Wahrscheinlichere. Nur Eines weiß ich sicher: daß ich leider mit ihr verheirathet bin – das ist aber auch Alles.“

Die hübsche Wittwe hatte, während er sprach, lächelnd den Kopf erhoben; nun strich sie die rebellischen Locken zurück und betrachtete den gelehrten Gast mit einem so heiteren, schelmischen Blick, daß der Professor förmlich zusammenfuhr. Die Baronin spielte indessen gedankenvoll mit ihrem Theelöffel.

„Ich will – ich muß offen sein,“ stieß der Arme endlich heraus. „Sie sollen Alles wissen.“ Und gesenkten Hauptes, als habe er nicht den Muth, die Wirkung seiner Worte zu beobachten, gab er eine wahrheitsgetreue Schilderung seines Abenteuers, in der, wo immer er von der Verschwundenen sprach, seltsamer Weise verrätherisch warme Töne klangen, je weiter zum Schluß hin, desto deutlicher.

Endlich war er am Ende seiner Erzählung, und als er mit fast schüchternem Aufblicke sein Urtheil in den beiden Frauengesichtern lesen wollte, erstarrte er förmlich: der Eindruck, welchen die Erzählung hervorgerufen, entsprach nach keiner Seite seinen Erwartungen. Die satirische Laune der lachlustigen Baronin sprach trotz der traurigen Beichte in Blitzen aus ihren Augen, und auch die reizende Wittwe schien den schweren Schlag mit vieler Fassung zu ertragen, wenngleich ihr Antlitz sich tiefroth gefärbt hatte – der Blick des Professors ruhte auch gar zu forschend auf ihr!

Dieser hätte nun durch die glückliche Gleichgültigkeit sich ungemein erfreut fühlen sollen, allein er empfand etwas ganz Anderes. Enttäuschung, Demüthigung, Zorn gegen sich und gegen sie, die schöne Verrätherin, und mehr noch, ein unaussprechlicher brennender Schmerz wogten wild in seiner Brust, und es war ihm, als müsse er nun aufstehen und gehen – fort von ihr, nur rasch, nur so bald wie möglich.

„Und Sie haben nie wieder etwas von Ihrer armen Frau gehört?“ brachte endlich die Baronin hervor, nachdem sie ein paar Augenblicke das Taschentuch vor ihren Mund gehalten. „Sie haben nie weiter versucht, etwas von ihr zu erfahren?“

„Was sollte ich thun? Ein paar Mal ließ ich Aufrufe in ausländischen Blättern veröffentlichen, allerdings in einer Form, die nur ihr verständlich sein konnte – doch es war ohne Erfolg.“

„O diese Männer!“ rief die Baronin in scherzhafter Entrüstung, „da lassen Sie ein armes Kind, das nichts vom Leben weiß, sich allein in die weite Welt verlieren und meinen, es sei genug gethan mit ein paar Aufrufen in den Zeitungen, als handle es sich um ein verlorenes Portemonnaie – ist das auch recht?“

„Sie vergessen, daß sie mich freiwillig verlassen hat,“ versetzte Walter etwas ärgerlich; „hätte sie es nicht gethan, so würde ich ganz gewiß mich wie ein Bruder ihrer angenommen haben. Sie hat es jedoch vorgezogen, sich ihren Weg allein zu suchen; sie mag dazu ihre Gründe gehabt haben – es thut mir leid – damit endet aber auch meine Pflicht.“

„Aber sie ist nun einmal Ihre Frau!“ warf die Baronin ein.

„Dagegen muß ich entschieden protestiren. Wenn ein paar Worte, unter dem Dolch des Mörders abgerungen, genügen könnten, mich für mein ganzes Leben an ein Wesen zu binden, das ich nicht kenne, das mir vollkommen gleichgültig ist und das, wenn ich es kennen würde, vielleicht weder Theilnahme noch Achtung verdient, dann wäre der Tod, dem ich durch jene haltlose Ceremonie entgangen bin, unter gewissen Umständen einem so traurigen Schicksal bei weitem vorzuziehen.“

„Aber hat Ihnen denn die Unglückliche Veranlassung zu einem so strengen Urtheil gegeben?“ fragte die Baronin.

„Durchaus nicht. Ich sagte Ihnen ja, gnädige Frau, daß ich sie nicht kenne; ich kann also kein Urtheil über sie haben. Ja, das Wenige, was ich von ihr weiß, hatte mich eher günstig für sie gestimmt. Ich stand freilich unter dem Eindruck des Mitleids. Wäre sie nur geblieben, so hätte sich wohl Alles durch eine rasche gesetzliche Scheidung noch zum Guten lenken lassen. Für sie wäre allerdings der Vortheil nur gering gewesen, denn die Aermste war schwer krank und wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, längst gestorben sein.“

„Und wenn sie nicht gestorben wäre, wenn sie jetzt in dies Zimmer träte, gesund und blühend und mit allen Gaben geschmückt, die einen Mann bezaubern und beglücken können, würde da Ihr Herz nicht plötzlich für sie aufflammen, würden Sie nicht aufspringen, ihr die Arme öffnen und die Wiedergefundene mit Jubel als Ihre Frau anerkennen?“

„Nein, Frau Baronin!“ rief Walter beinahe heftig, denn diese Beharrlichkeit der Baronin, die seine Gefühle doch längst durchschaut haben mußte, zu Gunsten einer lästigen Unbekannten zu sprechen und noch dazu in Gegenwart der Geliebten, verdroß ihn über alle Maßen. „Nein! Ich würde mich freuen, daß es ihr wohl geht; ich würde, wenn es in meiner Macht stände, herzlich gern zu ihrem Glück an der Seite eines Andern beitragen, aber ein Mädchen als mein Weib anerkennen, das Monate lang in der Gewalt eines Menschen wie dieser Melazzo gewesen ist – niemals! Und ich glaube nicht, daß irgend ein Mann es thäte, dem seine Ehre heilig ist.“

Hier fühlte er den Tisch wie von einem elektrischen Schlage erschüttert. Die junge Wittwe, welche während der letzten Reden, die Stirn in der Hand gestützt, gedankenvoll gesessen, hatte sich rasch erhoben und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen, oder sich nur nach den Zurückbleibenden umzusehen.

Die Baronin sah ihr erschrocken nach, stand dann ebenfalls auf und mit einer flüchtigen Entschuldigung gegen ihren Gast folgte sie ihrer Schwester.

Auch Walter war in die Höhe gefahren und stand wie vom Donner gerührt. Hatte er sich denn geirrt? War die Ruhe, die ihn so schmerzlich verletzt, nur Verstellung gewesen, und hatte das Gefühl jetzt plötzlich die Oberhand gewonnen und zwar mit solcher Gewalt?

Die Baronin kehrte bald zurück.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht länger zurückhalte!“ sagte sie; „meiner Schwester ist plötzlich sehr unwohl geworden.“

„Großer Gott!“ stammelte Walter.

Alles Blut war nach seinem Herzen zurückgewichen.

„Aber ist es denn möglich?“ rief er. „Kann ich glauben, daß ich –“

„Verzeihen Sie! Ich muß zu ihr,“ unterbrach ihn die Baronin, und sie war schon an der Thür.

Walter nahm seinen Hut; er wollte fort und konnte nicht. Er wartete; er zögerte er horchte. Der Diener kam herein, um das Theegeschirr abzuräumen; der Professor zögerte noch immer. Der Mann kam und ging ein paar Mal und sah den hartnäckig weilenden Besucher verwundert an. Walter fühlte, daß er nicht länger bleiben durfte, und so, noch immer zögernd und auf der Schwelle noch sich umdrehend, entfernte er sich.

In seinem Zimmer wandelte er rastlos hin und her. An Schlaf war nicht zu denken. Alle Qualen, die er in den letzten Tagen und Nächten durchgemacht, kehrten in diesen Stunden mit verzehnfachter Kraft zurück. Er verwünschte seine unselige Heirat, die Feigheit, die ihm den Tod als das schrecklichste Uebel vorgespiegelt – er verwünschte sogar seine Wissenschaft oder vielmehr den Eifer, der ihn, um ihr besser zu dienen, in die Ferne getrieben. Warum war er nicht als prakticirender Arzt daheim bei den mütterlichen Fleischtöpfen geblieben? Er vergaß, daß er dann wahrscheinlich dem Drängen seiner Mutter nachgegeben und das blonde Bäschen heimgeführt hätte. Ach, er dachte so wenig an das blonde Bäschen wie an irgend eine der zahlreichen Blonden und Braunen, mit deren Anpreisung die unermüdlichen Ehevermittler ihn in die Flucht geschlagen – er dachte, fühlte, sann und begehrte nur die Eine, nur Lucia.

Und zwischen all diesem Elende zitterte doch manchmal mit unsagbarer Wonne die Ueberzeugung durch sein Herz, daß er geliebt werde, daß es diesmal keine Täuschung, sondern entzückende Wirklichkeit sei.

Noch nie war ihm eine Nacht so lang erschienen. Tausendmal fühlte er sich versucht, trotz Dunkel und Stille, zu der Baronin zu eilen, und sobald im Hôtel das Leben sich zu regen begann, ließ er sich nach Lucia’s Befinden erkundigen. Die Damen, hieß es, seien noch nicht sichtbar, und Walter mußte sich gedulden. Er benutzte die Zeit, um so viel wie möglich die Spuren seiner qualerfüllten Nacht an seinem Aussehen zu verwischen. Er kleidete sich um, nahm ein Bad, frühstückte, oder versuchte es vielmehr, und da weder die Baronin noch ihre Schwester sich auf der Morgenpromenade sehen ließen, ging er, sobald es die Stunde erlaubte, zu ihnen hinüber.

[797]

Charlotte von Stein.
Corona Schröter.
Käthchen Schönkopf.
Bettina von Arnim.
Friederike Oeser und ihre Schwester.
Christiane von Goethe geb. Vulpius.
Anna Elisabeth Schönemann.
Marchesa Branconi.
Charlotte Kestner.
Frauengestalten aus Goethe’s Leben. Nach alten Originalen.
Aus dem eben erscheinenden Werke: „Goethe’s Leben“ von G. Düntzer Leipzig, Fues’ Verlag (R. Reisland).

[798] Allein die Baronin ließ sich entschuldigen: es sei ihr unmöglich, die leidende Schwester zu verlassen.

Da war leider nichts zu thun – er mußte warten. Auch am Nachmittag ließ er sich melden, erhielt jedoch denselben Bescheid. Koffer, Schachteln, Reisetaschen lagen und standen umher; die Zofe war eifrig mit Packen beschäftigt. Alles deutete auf eine schnelle Abreise. Auf seine Frage erfuhr Walter, daß die Baronin bereits in der Nacht ein Telegramm an ihren Gatten geschickt, um seine Ankunft zu beschleunigen.

Das war also die Antwort auf seine Enthüllung! Lucia betrachtete ihn als einen verheiratheten Mann und dachte nur noch daran, ihn zu fliehen.

Nein, so durfte es nicht enden! Sie mußte erfahren, daß er sie liebe, daß es außer ihr kein anderes Glück für ihn gab – er war sich plötzlich nicht so sicher wie früher, ob nicht eine Möglichkeit existirte, die ihn zum freien Manne machte, und Lucia durfte für ihn nicht verloren gehen, bevor er nicht ganz bestimmt wußte, daß seine Fesseln unlöslich waren.

Er kehrte in sein Zimmer zurück und schrieb an die Baronin. Seine ganze Seele strömte auf das Papier, seine Liebe, seine Kämpfe, die trostlose Vereinsamung seiner Zukunft, wenn er Lucia nicht erringen könne, und er bat zuletzt flehentlich, ihm eine Unterredung zu gewähren.

Beinahe umgehend kam die Antwort: die Baronin erwarte ihn. Mit laut pochendem Herzen und fast schwindelnd vor Aufregung legte er die wenigen Schritte bis zu ihren Zimmern zurück; er mußte sich an einer Stuhllehne halten, während die Zofe ihn zu melden ging.

Es dauerte eine kleine Weile – dann kam die Baronin. Die sonst so heitere Dame sah heute auffallend angegriffen und befangen aus.

„Und – und Lucia – Ihre Frau Schwester –?“ stammelte Walter.

Die Baronin lächelte schwach.

„Es geht besser,“ sagte sie; „hoffentlich wird es nichts von Bedeutung sein.“

Sie schwieg und schien mit sich zu kämpfen.

„Ihre Offenheit zwingt uns zu gleicher Offenheit,“ fuhr sie endlich fort. „Längeres Schweigen wäre ein Unrecht gegen Sie, und Lucia selbst dringt darauf, daß Sie die ganze Wahrheit über sie erfahren. Sie werden nicht vergessen, daß es ein Geheimniß ist, und zwar eines, welches unsere ganze Familie auf das Schmerzlichste berührt – das wir Ihrer Ehrenhaftigkeit anvertrauen.“

Hier machte sie in sichtlicher Verlegenheit eine neue Pause.

„Meine Schwester ist nicht Wittwe,“ sagte sie dann. „Ihr Mann lebt, aber leider lebt er von ihr getrennt.“

Walter erblaßte. Auf eine solche Eröffnung war er allerdings nicht vorbereitet.

„Zur Zeit ihrer Vermählung,“ fuhr die Baronin mit gesenkter Stimme fort, „befand sich meine Schwester mit ihrem Vater in Italien. Sie wissen, wie es vor einigen Jahren dort zuging. Die Trauung fand auf dem Lande statt, aber kaum war die Ceremonie vorüber, als die Kirche von einer Brigantenbande überfallen wurde; mein Stiefvater wurde im Gewühl niedergestochen und Lucia geraubt und in das Gebirge geschleppt; den Bräutigam ließ man ziehen, um für sich und seine Braut das Lösegeld zu beschaffen. Unglücklicher Weise war es uns nicht möglich, die sehr bedeutende Summe sogleich zusammen zu bringen, und als Lucia nach einigen Tagen ihrem Gatten zurückgegeben wurde, weigerte er sich sie aufzunehmen.“

Die Baronin drückte das Gesicht in die Hände, und brach in heftiges Schluchzen aus.

„Schändlich!“ murmelte der Professor. Sie schüttelte nur in stummer Verneinung den Kopf.

„Er handelte nach Grundsätzen; er glaubte, seine Ehre fordere das Opfer von ihm,“ versetzte sie traurig.

„Seine Ehre! Dieser Wicht, der einen solchen Engel so unerhört beschimpfen konnte!“

„Sie vergessen, daß Sie gestern ein ganz ähnliches Urtheil über das Ihnen angetraute Mädchen fällten.“

„Das war ein ganz anderer Fall! Bedenken Sie, welch ein roher gewissenloser Mensch dieser Melazzo war, und übrigens schleppte er jene Unglückliche bereits seit Monaten mit sich herum.“

„Dann war die Arme um so bedauernswerther, sonst ist es wohl ziemlich gleich, ob der Jammer acht Wochen oder nur acht Tage gedauert hat. Was aber die Gewissenlosigkeit betrifft, so dürfte Signor Geronimo, oder wie er sich sonst nennen mochte, jenem Melazzo schwerlich viel nachstehen, und der rohen Gewalt gegenüber sind wir Frauen am Ende Alle wehrlos.“

„Aber Lucia nicht! Wer nur einen Blick in ihre reinen Augen geworfen hat, der weiß, daß sie tausendmal den Tod einer gemeinen Erniedrigung vorziehen würde. Schreckte doch selbst die Gefangene Melazzo’s ihren Peiniger durch die Drohung, sich zu ermorden, siegreich von sich, und der Elende schwur mir, daß sie im Stande sei, es zu thun, wie vielmehr also Lucia!“

„Sie brauchen meine Schwester nicht bei mir zu vertheidigen,“ erwiderte die Baronin mit einem Anflug von Stolz. „Ich kenne Lucia; ich weiß, daß, wenn für sie eine beschämende Erinnerung sich mit jenem traurigen Ereigniß verbände, wir sie niemals wieder gesehen hätten, aber nicht Alle denken so –“

„Weil sie die Macht weiblicher Sittlichkeit nicht verstehen –“

„Und doch verdammten Sie jenes unglückliche Mädchen so schrankenlos,“ entgegnete die Baronin nicht ohne Bitterkeit.

„Weil ich blind, weil ich ungerecht war. Aber was kümmert uns jetzt dieses Mädchen, jetzt, wo –“

„Sehr viel. Denn eben jene schrankenlose Verurtheilung ist es, die meine arme Schwester so furchtbar erschüttert hat. Sie sah in jenem Mädchen, dessen Schicksal mit dem ihrigen eine so seltsame Aehnlichkeit hat, ihr eigenes Spiegelbild; sie sah, daß sogar von den Besten, zu welchen Lucia Sie unbedingt zählt, ihr Unglück ihr als eine Schuld angerechnet werden wird, und daß sie dadurch für immer aus dem Kreise menschlicher Theilnahme und Freuden ausgeschlossen sein wird –“

„Aber ich log ja – ich log,“ rief Walter ganz außer sich. „Was soll ich mehr sagen? Dachte ich denn überhaupt an jenes Mädchen? Es war der Zorn, der aus mir sprach. Man sagt, daß die Männer nicht eitel sind – glauben Sie es nicht, Baronin! In Jedem von uns steckt ein Stückchen dieses Erbübels, das so alt ist, wie das Menschengeschlecht. Ich war verbittert, verletzt – was weiß ich? – durch den lächelnden Gleichmuth, mit welchem Ihre Frau Schwester ein Geständniß anhörte, bei welchem mir das Herz im Stillen blutete. Nein, jenes Mädchen hat in keiner Weise eine harte Beurtheilung verdient – sie hat im Gegentheil in ihrer schwierigen Lage und bei ihrer großen Jugend eine zarte, scheue Weiblichkeit und zugleich eine Entschlossenheit bewiesen, die man von einem solchen Kinde kaum erwarten konnte. Jeder, der sie gesehen, war von ihr eingenommen; sie hatte es selbst den Rohesten wie mit einem Zauber angethan, und sogar ich, der ich sie weder gesprochen oder auch nur gesehen – nein, Frau Baronin, ich war weder gleichgültig noch theilnahmlos für sie. Liebe hatte sie mir allerdings nicht eingeflößt – Liebe kenne ich nur, seitdem ich Ihre Schwester gesehen, aber eine Art brüderlicher Zärtlichkeit lag doch in dem, was ich für das furchtsame kleine Ding empfand. Die Zukunft an ihrer Seite flößte mir kein Entsetzen mehr ein, ja, ich begann sogar zu hoffen, daß sie sich trotz Allem vielleicht für uns Beide noch freundlich gestalten könnte. Ich litt unter ihrer Flucht, unter der Vorstellung, daß sie ohne Freunde, vielleicht von dem Nöthigsten entblößt, ihr junges Leben verschollen in der Fremde enden müßte – ich hätte jedes Opfer gebracht, um wenigstens ihr Loos aus der Ferne erleichtern zu dürfen, und –“

Er schwieg. Die fast vergessene Empfindung war plötzlich so lebendig und scharf zurückgekehrt wie in jener ersten Stunde, wo die Entflohene ihm gleichsam vor den Augen verschwunden war.

„Von dem Allem sagten Sie uns gestern kein Wort,“ bemerkte die Baronin, die ihn aufmerksam beobachtete.

„Weil ich nicht daran dachte, weil ich ganz und gar nur unter dem Druck meiner peinlichen, unerträglichen Verhältnisse stand, die mich momentan auch gegen die unschuldige Ursache derselben reizten. War es denn überhaupt an der Zeit, während all’ mein Denken und Fühlen auf Ihre Schwester gerichtet war, ihr von meiner Empfindung für eine Andere zu sprechen, wenn auch diese Empfindung weiter nichts als ein starkes Mitleid war? Aber wie oft – glauben Sie es mir! – habe ich in den letzten Jahren an die arme Verlorene gedacht! Wie oft den leichten Druck ihrer kleinen Hand, als ich sie in den Wagen hob, im Traume nachgefühlt und auf der Straße nach einer Gestalt gespäht, die in der Bewegung, im Gang, in der netten Zierlichkeit der Füßchen ihr irgend ähnlich wäre! Ja, sogar Ihre Schwester, so unsinnig es klingt, erinnerte mich an [799] sie. Der Ton ihrer Stimme, die Farbe ihres Haares führten mir immer wieder jenes arme Kind zurück; in meiner Phantasie – lachen Sie nicht, Baronin! – nahm sie gegen meinen Willen, gegen alles Einreden meiner Vernunft, immer und immer Lucia’s Züge an; die beiden Gestalten verschwammen förmlich in einander und – wenn ich die ganze Wahrheit sagen soll – indem ich Ihre Schwester liebte, habe ich jenes Schattenbild der Entschwundenen mit in ihr geliebt –“

Er senkte den Kopf immer tiefer, während er sprach, und seine Stimme klang traurig und hatte eine ergreifende Innigkeit. Die Baronin stand mit der Hand vor dem Gesicht, als wolle sie ihre Augen vor dem zu grellen Strahl der Lampe schützen, wer aber hinter diese Hand hätte blicken können, der hätte zu seinem Erstaunen gesehen, daß die Dame lächelte.

Der Professor erhob den Kopf.

„Und nun,“ fuhr er ruhiger fort, „nun ich Ihnen so vollständig gebeichtet und nicht einmal meine eigenen Schwächen geschont habe, zeigen auch Sie Ihre gewohnte Güte, verehrte Frau, verzeihen Sie dem Sünder und sprechen Sie für mich bei dem Engel, den ich, ohne es zu wollen, beleidigte!“

„Das will ich gern thun,“ erwiderte die Baronin mild, „und ich bin überzeugt, daß Lucia Ihnen von Herzen verzeihen wird. Eigentlich gezürnt hat sie Ihnen ja nicht; nur ihrem eigenen unglücklichen Schicksal galten ihre Thränen. Sie kann unmöglich nachtragen, was ohne jede böse Absicht gesprochen war.“

„Und das ist Alles?“ rief Walter enttäuscht.

„Was wollen Sie noch? Sie sind gebunden; meine Schwester ist es; was läßt sich da weiter sagen?“

„Aber Sie sagten doch ein Mal – ich glaubte wenigstens zu verstehen, daß Sie eine neue Verbindung –“

„Allerdings, und das war auch meine Meinung. So wie die Sachen aber jetzt stehen, muß ich bezweifeln, daß Lucia jemals in eine Scheidung willigen würde.“

„Aber, großer Gott! Ist es denn möglich, daß sie jenen Menschen noch lieben kann?“

„Lieben?! Liebe ist ein sehr weiter Begriff, mein Freund. Die Hauptsache ist, daß sie furchtbar – über jede Beschreibung hinaus gelitten hat. Ich hielt sie für geheilt – ich freute mich darüber, allein an ihrem erschütternden Schmerz gestern Abend, an ihrer maßlosen Verzweiflung habe ich wohl erkennen müssen, daß die Wunde nur übernarbt gewesen; und ich weiß nicht, ob sie sich jemals hinreichend schließen wird, um in meiner unglücklichen Schwester auch nur den Glauben an die Möglichkeit eines neuen Glückes wieder zu erwecken.“

„O, wenn sie mich liebte!“ rief Walter glühend. „Wenn ich sie nur sprechen dürfte! Nur dieses eine Glück verschaffen Sie mir, Baronin; daß sie mich anhöre! Ihnen gegenüber sind meine Worte schwach gewesen; zu Lucia gesprochen, werden sie mächtiger sein. Geben Sie mir die Möglichkeit, sie dem Leben, der Freude, dem Glück, dem ihrigen und dem meinigen, wieder zu gewinnen, und wenn es nicht sein soll, lassen Sie mir in meiner Verzweiflung nicht auch noch den Stachel in der Seele, daß ich es nicht wenigstens versucht.“

Ein Geräusch ließ sich im Nebenzimmer vernehmen.

„Ich werde thun, was ich kann – warten Sie hier!“ sagte die Baronin und entfernte sich rasch.

Walter zählte die Secunden ihrer Abwesenheit nach seinen Empfindungen, und jede derselben dünkte ihm eine schmerzende Ewigkeit. Endlich kam die Baronin zurück. Sie war sehr erregt und hatte Thränen in den Augen.

„Lucia willigt ein, Sie zu sehen,“ sagte sie, „doch nur in meiner Gegenwart.“

„In Gegenwart der ganzen Welt, wenn sie es verlangt!“ erwiderte Walter lebhaft, und gleich darauf führte die Baronin ihre Schwester herein.

(Schluß folgt.)




Die Monroe-Doctrin.


Vor wenigen Jahrzehnten, im Anfang der fünfziger Jahre, erscholl durch sämmtliche Staaten der nordamerikanischen Union der Ruf: „Amerika gehört den Amerikanern.“ Man verlangte Abänderung der bisherigen Gesetze über Bürgerrecht-Erwerbung und längere Probezeit für die Einwanderer, welche sich um das letztere bewarben. Zu den Gründen, welche dieses Verlangen wachriefen, zählte in erster Linie der Umstand, daß die Einwanderung von Europa nach Amerika um jene Zeit ungewöhnlich große Dimensionen angenommen hatte; landeten doch während der sieben Jahre von 1851 bis 1858 über zwei Millionen und einmal hunderttausend Fremde an den Küsten der Vereinigten Staaten. Ein großer Theil dieser Einwanderer bestand aus katholischen Irländern, die unwissend, rauflustig und dem Trunke ergeben waren, ihren Geistlichen aber unbedingten, blinden Gehorsam zollten.

Die Agitation gegen das Fremdenelement erreichte ihren Höhepunkt, als der berüchtigte Erzbischof Bedini, ein nach Brasilien bestimmter Legat, von Pius dem Neunten den Auftrag erhalten hatte, die Vereinigten Staaten zu besuchen, um dort nach Kräften für die Förderung und Machtstellung der katholischen Papstkirche zu wirken. Wo immer der genannte Legat erschien, sammelten sich ganze Massen junger Männer, vorzugsweise Deutsche und Amerikaner, welche mit dem Rufe vor seine Wohnung zogen: „Nieder mit Bedini! Nieder mit den Papisten, diesen Erbfeinden der Menschheit!“

So geschah es namentlich in Cincinnati, aber auch in Baltimore, New-Orleans, Boston, New-York und Philadelphia. Die in Cincinnati von Friedrich Hassaurek herausgegebene deutsche Zeitung „Der Hochwächter“ schleuderte die heftigsten Angriffe gegen Bedini und das freiheits- und staatsgefährliche Papstthum, während die Amerikaner, welche nicht gern eine größere Bewegung vorübergehen lassen, ohne daraus politisches Capital zu schlagen, diese Gelegenheit zur Gründung einer besondern politischen Partei benutzten. Die Mitglieder dieser Partei wurden nach der jenseit des Oceans geltenden Sitte, Vereinen und Genossenschaften Spitznamen zu geben „Knownothings“ oder „Nichtswisser“ genannt.

Zu der specifisch amerikanischen Partei der Knownothings gehörte sogar Millard Fillmore, der nach dem frühzeitig verstorbenen Zacharias Taylor den Präsidentenstuhl der Union bestieg.

Unter den leitenden Grundsätzen der Knownothing-Politik sind folgende hervorzuheben:

„In Amerika sollen nur Amerikaner regieren; eingeborene Bürger müssen den Vorzug haben bei der Besetzung aller Aemter der Bundesregierung, der Einzelstaaten, der Counties und der Städte; Niemand soll, mag er ein eingeborener oder ein naturalisirter Bürger sein, zu irgend einer politischen Stellung erhoben werden, wenn er die Oberherrlichkeit irgend einer fremden Macht anerkennt, und dem nicht die nationalen Behörden Amerikas innerhalb ihres gesetzlichen Wirkungskreises als alleinige Richtschnur in allen staatlichen Angelegenheiten gelten.“

Die politischen Grundsätze der Knownothings kehrten ihre Spitze zunächst und hauptsächlich gegen die römischen Katholiken, welche die päpstliche Macht über jede andere Regierung, über alle staatlichen Gesetze stellen. Im Juni des Jahres 1855 sprachen sich die Knownothings in einer zahlreich besuchten Versammlung zu Philadelphia ganz offen in folgender Weise aus:

„Dem römischen Papstthum mit allen seinen Anmaßungen muß der Krieg erklärt werden, da dasselbe gefährlich ist für jedes protestantische Gemeinwesen, für jede Freiheit und nationale Selbstständigkeit. Wenn nicht als Führer, so erscheint doch das Papstthum allenthalben im Gefolge des Despotismus und schwächt mit den von ihm ausgehenden Lehren vom unbedingten Gehorsam die Kraft der Völker. Schon jetzt hat es nicht an Versuchen gefehlt, hier in Amerika einen Staat im Staate zu begründen. Die römische Geistlichkeit und einige von ihr verführte Gemeinden waren kühn genug zu verlangen, man solle ihnen einen Theil der Schuldotationen einzelner Unionsstaaten und Städte hergeben, damit sie mit diesen Mitteln besondere confessionelle Schulen gründen könnten. Ihre Dreistigkeit ging so weit, zu erklären, die öffentlichen Schulen Amerikas untergrüben alle Religion und Sittlichkeit, sie gingen darauf aus, ungläubige und liederliche Menschen heranzubilden. Daß dem nicht so ist, weiß jeder Kundige. Nur Aberglaube, [800] Tyrannei und Pfaffenthum hassen unsere öffentlichen, gemeinsamen Schulen; Einsicht, Freiheit und Fortschritt lieben sie als Stützen einer menschlich freien Bildung.“

Im Laufe der Zeit wurden die Knownothings reine Fremdenhasser; ihre engherzige Betonung der Geburtsrechte trat in geraden Gegensatz zu den humanen Freiheitsprincipien der großen nordamerikanischen Republik, die sich mit Recht rühmen konnte, ein Zufluchtsort für alle aus politischen und religiösen Gründen Verfolgte und Bedrückte zu sein. So kam es denn auch, daß der Knownothingismus immer mehr und mehr an Einfluß verlor, und, wenn er auch nicht ganz schwand, doch die Macht einbüßte, eine selbstständige politische Partei zu bilden.

Der Grundsatz nun, dessen Anwendung auf dem Gebiete der inneren Politik wesentlich das Knownothingthum charakterisirt, daß nämlich „Amerika den Amerikanern“ gehöre, bildet von Haus aus den Kern der so viel genannten Monroe-Doctrin, welche älter als der Knownothingismus ist und einen der vornehmsten Pfeiler der äußeren Unionspolitik bildet. Das Nächere über Ursprung und Geschichte dieser Doctrin ist Folgendes.

Im Beginn der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts, als die spanischen Colonien in Amerika sich von dem Mutterlande losgerissen hatten und ihre politische Unabhängigkeit erkämpften, versuchte die spanische Regierung den Beistand der europäischen Großmächte zu erlangen, um diese Colonien zum Gehorsam zurückzubringen. Während Rußland, Oesterreich, Frankreich und Preußen nicht abgeneigt schienen, dem Verlangen Spaniens nachzugeben, verweigerte England jede darauf bezügliche Hülfe, weil es die Wiederherstellung der alten spanischen Monopole und die nicht geringen Nachtheile fürchtete, welche für den englischen Handel aus der Unterwerfung der Colonien erwachsen konnten. Der Minister Canning machte im August 1823 Herrn Richard Rush, dem damaligen Gesandten der Vereinigten Staaten am Hofe zu St. James, die Mittheilung, daß England dem beabsichtigten Einschreiten der europäischen Großmächte entgegentreten würde, wenn es dabei auf die Mitwirkung der nordamerikanischen Union rechnen könne. Selbstverständlich berichtete Herr Rush über diese wichtige Angelegenheit sofort an seine Regierung, und diese blieb nicht säumig. Wir haben, erzählt John C. Calhoun, der zu jener Zeit unter der Präsidentschaft James Monroe’s das Amt des Kriegsministers bekleidete, die Erklärung Englands im Ministerrathe mit Freuden entgegengenommen. Die Macht der Fürstenallianz schien so groß, daß wir in Washington nicht ohne Besorgniß blieben. Nach Durchführung der Pläne des monarchischen Absolutismus in Südamerika hätte sich die Allianz zweifelsohne auch gegen uns gerichtet. Wir versammelten uns wiederholt und berathschlagten lange und sorgfältig; schließlich wurde eine beifällige Antwort an England und selbst eine öffentliche Kundgebung in diesem Sinne beschlossen.“

Bevor jedoch Präsident Monroe in der beregten Angelegenheit eine officielle Erklärung abgab, wodurch die nordamerikanische Union mit den europäischen Mächten möglicher Weise in Mißhelligkeiten, vielleicht sogar in einen Krieg verwickelt werden konnte, beschloß er den Rath seines berühmten Freundes und Genossen in so manchen wichtigen und heiklen Regierungsfragen, des in Monticello lebenden achtzigjährigen Thomas Jefferson, einzuholen. Er legte demselben alle auf jene Angelegenheit bezüglichen Papiere, sowie seine eigenen Ansichten darüber vor, und Jefferson’s Antwort ging dahin, daß die in Rede stehende Frage eine äußerst wichtige sei, bei deren Lösung als leitender Gedanke für die Regierung der Vereinigten Staaten der Grundsatz gelten müsse: „Europa hat sich in amerikanische Angelegenheiten so wenig wie möglich einzumischen.“ „Großbritannien,“ so ungefähr fuhr Jefferson fort, „welches der nordamerikanischen Union gegenwärtig die Hand bietet, ist die einzige Nation auf Erden, die im Stande ist, uns großes Unheil zu bereiten. Wir sollten die Gelegenheit ergreifen, um eine aufrichtige Freundschaft mit ihm zu schließen. Im Bunde mit England sind wir der ganzen Welt gewachsen. Würde die Erklärung, daß Amerika zunächst und vor Allem den Amerikanern gehöre, auch einen Krieg zur Folge haben, so wäre dies nicht ein europäischer Krieg, nicht ein Krieg für Großbritannien, sondern für uns Amerikaner, für unsere eigene Erhaltung. Wir sollten ‚ein amerikanisches System’ begründen und aufrecht erhalten, alle fremden Mächte von unserem Lande entfernen und nimmer dulden, daß sich Europa in die Angelegenheiten unserer Völker einmische. Canning hat Recht, daß eine solche Erklärung, weit entfernt, einen Krieg hervorzurufen, vielmehr geeignet sei, den Krieg zu verhindern. Die Gelegenheit ist vortrefflich und darf nicht unbenutzt vorübergelassen werden.“

Durch die gewichtige Stimme Jefferson’s in seinen Ansichten bestärkt, fügte nun Präsident Monroe der Botschaft, mit welcher er im December 1823 den achtzehnten Congreß der Vereinigten Staaten eröffnete, die Erklärung bei, welche unter dem Namen der „Monroe-Lehre“ oder „Monroe-Doctrin“ (Monroe doctrine) eine historische Bedeutung erlangte und, etwas modificirt, wiederholt von der amerikanischen Regierung in Anwendung gebracht wurde. Den Ideengang Jefferson’s beibehaltend, erklärte Monroe in der genannten Botschaft:

„An den Kriegen der europäischen Mächte, an Fragen, welche sie selbst unter einander betreffen, haben wir niemals theilgenommen; diese liegen außerhalb der Sphäre unserer Politik. Nur wenn unsere Rechte angegriffen oder ernstlich bedroht werden, dann müssen wir die Beleidigung rächen und Anstalten zur Abwehr treffen. Bei den politischen Bewegungen in unserem Erdtheile sind wir nothwendig mehr betheiligt; die Gründe davon liegen jedem einsichtsvollen und unparteiischen Beobachter klar vor Augen. Das politische System der verbündeten Mächte Europas steht seinem innersten Wesen nach mit dem der nordamerikanischen Union im vollsten Widerspruch. Dies wird durch die Verschiedenheit der Regierungsgrundsätze bedingt. Zur Vertheidigung unserer Staatsform, welche mit Aufopferung von viel Gut und Blut erworben und durch die Weisheit der erlauchtesten Bürger unter glücklichen Auspicien zur Reife gebracht ist, steht die ganze Nation aus freiem Willen bereit. Wir sind es deshalb den auf offener Wahrhaftigkeit begründeten freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen der Union und den alliirten Mächten obwalten, schuldig, zu erklären, daß wir jeden Versuch von ihrer Seite, ihr Regierungssystem in irgend einem Theile Amerikas einzuführen, als gefährlich ansehen, sowohl für unseren Frieden wie für unsere Sicherheit.

In die Verhältnisse der thatsächlich noch bestehenden Colonien und Besitzungen der europäischen Mächte auf unserm Erdtheile haben wir nicht eingegriffen und werden wir nicht eingreifen. Ganz anders verhält es sich aber in Betreff jener Länder, welche ihre Unabhängigkeit erklärten und behaupteten; deren Selbstständigkeit haben wir nach reiflicher Ueberlegung und mit gutem Grunde anerkannt und werden auch solche ferner anerkennen. Jeder Versuch, sie zu unterdrücken oder ihr Geschick gewaltsam zu bestimmen, müßte als ein unfreundliches Benehmen gegen die Vereinigten Staaten selbst betrachtet werden.“

Diese stolze, fast herausfordernde Sprache des Präsidenten Monroe rief wegen ihrer Kühnheit anfangs in der Union selbst vielfach Erstaunen und Verwunderung hervor. Auch das englische Cabinet fand sich durch die kräftige Entschiedenheit dieser Grundsätze keineswegs angenehm berührt, denn die Regierung zu Washington City war viel weiter gegangen, als Canning es gewünscht hatte, aber sowohl Großbritannien wie auch die anderen Großmächte Europas fügten sich, und die von Spanien losgerissenen Colonien behaupteten ihre Unabhängigkeit. Dem nationalen Selbstgefühl des amerikanischen Volkes schmeichelte nun natürlich das feste Auftreten des Präsidenten, der sonst, dem Beispiele seiner Amtsvorgänger folgend, bei auswärtigen Fragen sehr vorsichtig vorging. Und mag man immerhin von einem nüchtern kritischen Standpunkte aus die damalige Aufstellung der Monroe-Doctrin als eine jugendliche Selbstüberschätzung bezeichnen, die auswärtige Politik der Vereinigten Staaten strebte damals große und hohe Ziele an, und wenn sie dieselben nur in geringem Maße erreichte, so lag der Grund weniger darin, daß jene Ziele zu hoch gegriffen waren, als daß die amerikanischen Sclavenhalter jeder wahrhaft freiheitlichen Politik hemmend entgegentraten.

Daß die Monroe-Doctrin auch für die Zukunft kein todter Buchstabe bleiben, sondern praktisch in’s Leben eingeführt werden sollte, hat sich übrigens bei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt. Noch unter der Präsidentschaft Monroe’s wurde bei den Verhandlungen mit Rußland über die Grenzen im nordwestlichen Amerika und bei den Verträgen, die mit den südamerikanischen Republiken abgeschlossen wurden, darauf zurückgegriffen.

Die spanisch-amerikanischen Republiken in Süd- und Mittelamerika, die sich freudig als die jüngeren Schwestern der nordamerikanischen Union proclamirten und von dieser ihre Verfassungen [801] entlehnten, riefen in dem Herzen fast jedes Bürgers der Vereinigten Staaten eine aufrichtige Sympathie und die stolze Erinnerung an seinen eigenen Unabhängigkeitskampf hervor. Wer möchte es tadeln, wenn Monroe’s Amtsnachfolger, der edle und freisinnige Präsident John Quincy Adams, und dessen genialer Minister Henry Clay die auswärtige Politik ihres „amerikanischen Systems“ auf einen Staatenbund sämmtlicher Republiken Amerikas stützen wollten, wenn sie der „heiligen Allianz“ europäischer Fürsten ein „amerikanisches Amphiktyonengericht“ gegenüberzustellen und den monarchischen Congressen von Aachen, Laibach und Verona mit dem Congresse sämmtlicher amerikanischer Freistaaten auf der Landenge von Panama zu antworten suchten? Es lag diesem Streben eine von der Gemeinsamkeit der republikanischen Interessen gebotene Forderung politischer Nothwehr und Sittlichkeit zu Grunde, während die Flibustierzüge eines William Walker, jenes geheimen Werkzeuges der Sclavenhalter, nur aus Länder- und Beutegier hervorgingen. Diese Sclavenbarone der südlichen Unionsstaaten waren es auch, welche den von Adams und Clay geplanten Staatenbund der amerikanischen Republiken vereitelten, indem sie die Beschickung des Congresses von Panama seitens der Vereinigten Staaten durch parlamentarische Streitigkeiten so lange zu verzögern wußten, bis es zu spät war.

Eine andere Gelegenheit, die Monroe-Doctrin in Anwendung zu bringen, boten die centralamerikanischen Streitigkeiten, die zu dem Clayton-Bulwer-Vertrag führten, der seinen Namen von den Ministern, welche ihn im April 1850 schlossen, dem Amerikaner Clayton und dem Engländer Bulwer, erhielt. Dieser zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien abgeschlossene Vertrag, der übrigens erst unter der Präsidentschaft Buchanan’s (1857) im Sinne der Amerikaner Geltung erhielt, bestimmte, daß für alle Durchfahrten vom Atlantischen Ocean nach dem Stillen Meere, mochten dieselben in Nicaragua, zu Panama, Tehuantepec oder an anderen Strecken des centralamerikanischen Isthmus entstehen, die vollste Neutralität zum Grundsatze erhoben werden sollte. „Die Regierungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens erklären“, so lautet ein Passus des genannten Vertrages, „daß keine von ihnen jemals eine ausschließliche Oberherrlichkeit über den Schiffscanal in Anspruch nehmen kann; sie erklären ferner, daß sie niemals in dessen Nähe Festungswerke errichten und Oberherrlichkeitsrechte über Ländergebiete von Nicaragua, Costa-Rica, der Mosquitoküste oder sonstige Theile von Mittelamerika beanspruchen wollen.“ So traten denn auch hier die Vereinigten Staaten nicht ohne Erfolg dem Versuche entgegen, wodurch eine europäische Regierung sich eine größere Machtstellung, als sie bereits in Amerika besaß, hätte erringen können.

Ruhmvoll für die nordamerikanische Union und erschütternd in ihren Folgen ist schließlich noch die Anwendung der Monroe-Doctrin, welche unter der Präsidentschaft Abraham Lincoln’s und seines Amtsnachfolgers Andrew Johnson Platz griff. Als nämlich im Jahre 1861 die südlichen Sclavenritter, um das Institut der Negersclaverei zu verewigen, zur Auflösung der Union schritten, eine eigene Conföderation bildeten und den blutigen Secessionskrieg entflammten, da war es von allen europäischen Souverainen Papst Pius der Neunte allein, der Jefferson Davis als rechtmäßigen Präsidenten der südlichen Conföderation anerkannte. Dieser infallible Träger der dreifachen Krone richtete an seine Prälaten jenseits des Oceans Briefe, in denen er zum Frieden in einer Zeit rieth, wo Friede nichts Anderes bedeutete, als Auflösung der Union; zu dem Ende wünschte er auch die Vermittelung einer europäischen Macht und bot selbst, wie officielle Actenstücke beweisen, seinen eigenen Beistand zu einem Ausgleiche zwischen der Unionsregierung und den Rebellen an. Hat doch die römische Papstkirche es von jeher wohl verstanden, in Revolutionszeiten im Trüben zu fischen.

Daß Abraham Lincoln das päpstliche Anerbieten vollkommen ignorirte, versteht sich von selbst. Anders aber gestalteten sich die Dinge, als Napoleon der Dritte im Bunde mit Pius dem Neunten den unglücklichen Maximilian von Oesterreich zum Kaiser von Mexico machen wollte. Da erhielt Herr Dayton, der amerikanische Gesandte in Paris, im September 1863, als die Union unter den schwierigsten Verhältnissen um ihre Existenz kämpfte, im Auftrag des Präsidenten Lincoln durch den Staatsminister Seward die Anweisung, der französischen Regierung im Hinblick auf die Lehre Monroe’s zu erklären, daß die Vereinigten Staaten das Vorgehen der Franzosen in Mexico nicht ruhig mit ansehen könnten, weil „die freien republikanischen Institutionen in ganz Amerika innig mit einander verbunden seien“.

Im April 1864 faßte das Repräsentantenhaus des Congresses in Washington City einstimmig den Beschluß, daß eine Monarchie in Mexico unter keinen Umständen von den Vereinigten Staaten anzuerkennen sei, und Herr Dayton mußte im Namen seiner Regierung der französischen Regierung hiervon mit dem Bemerken eine Anzeige machen, daß der obige Beschluß „die allgemeine Ansicht des amerikanischen Volkes in Betreff Mexicos feststelle“. Und als die Rebellion der Sclavenbarone zu Boden geworfen war, verlangte der Minister Seward im Februar 1866 die bedingungslose Zurückziehung der französischen Armee aus Mexico und zwar mit bestimmter Zeitangabe der Heimberufung, der Tuilerienhof aber beeilte sich, diesen Forderungen nachzukommen. Der stolze Napoleonide mußte sich dem Willen der Vereinigten Staaten beugen; vergebens flehte die Erzherzogin Charlotte im Schlosse zu Saint-Cloud und im Vatican um Hülfe. Gestörten Geistes verließ sie den päpstlichen Palast und kehrte als eine Wahnsinnige nach Miramar zurück, während ihr Gemahl Maximilian am 19. Juni 1867 seinen kurzen Kaisertraum auf dem Carro vor Queretaro mit dem Tode büßte.

So liefert denn die Geschichte hinlänglichen Beweis, daß die Monroe-Doctrin, der gemäß die amerikanischen Verhältnisse wesentlich im Einklang mit der Regierung der Vereinigten Staaten zu regeln sind, kein leerer Schall gewesen ist. Und wenn auch der Satz, daß Amerika den Amerikanern gehört, nicht in jeder Hinsicht eine praktische Anwendung finden darf, so hat er doch mit dem russischen Panslavismus, dem französischen Chauvinismus, den Bestrebungen der sogenannten Italianissimi wenig oder gar keine Aehnlichkeit. Die geschilderten Grundsätze der Monroe und Adams, der Jefferson und anderer amerikanischer Patrioten und Staatsmänner wurden zwar nach dem verunglückten Unternehmen Napoleon’s des Dritten gegen Mexico von einem Franzosen, und zwar von keinem geringeren als Michel Chevalier, als „eine Versicherung gegen die Civilisation“ bezeichnet. Man darf jedoch nicht vergessen, daß Chevalier von Napoleon dem Dritten nach dem Staatsstreiche vom 2. December 1851 zum Staatsrathe ernannt wurde und seitdem nur das napoleonische Regime als ein „Marschiren an der Spitze der Civilisation“ ansah. Wie weit die Monroe-Doctrin noch in der Zukunft Geltung haben wird, bleibt abzuwarten; die antimonarchischen Bestrebungen in Brasilien aber, welche gegenwärtig wiederholt von sich reden machen, so wie der neueste Plan, die Landenge von Panama zu durchstechen, wären unter Umständen wohl geeignet, diese Frage von Neuem zu einer brennenden zu machen.

Rudolf Doehn.     


Schutzgewohnheiten der Thiere.

Von G. H. Schneider.
1. Mittel und Wege zum Abschrecken stärkerer Feinde.

Es existirt bis jetzt leider noch kein wissenschaftliches Werk, welches alle Thier- und Menschengewohnheiten nach bestimmten Principien etwa in der Weise vergleichend zusammen stellte, wie die Handbücher der vergleichenden Anatomie die einander entsprechenden Formen der Organe.[1] Die vergleichende Psychologie der Willensäußerungen, welche sich jener Aufgabe zu unterziehen haben wird, ist, bis auf sehr wenige anfängliche Versuche, noch eine Wissenschaft der Zukunft, die aber ein weit größeres und [802] allgemeineres Interesse zu erregen verspricht, als dies das vergleichende Studium der Organformen vermocht hat.

Ich will im Nachfolgenden einige Beispiele für das eben Gesagte anführen, indem ich zunächst eine Vergleichung derjenigen Mittel und Wege gebe, deren sich die verschiedensten Thiere, wie nicht minder die Menschen, zum Abschrecken stärkerer Feinde bedienen.

Es ist sehr beachtenswerth, daß solche Thiere, welche sich niemals vertheidigen, sondern nur flüchten oder sich willenlos in ihr Schicksal ergeben und höchstens im tödtlichen Schmerze sich krümmen und zucken, auch niemals den Versuch machen, ihre Feinde abzuschrecken. Letztere Gewohnheit, insbesondere das Drohen, steht zum Vertheidigen in unmittelbarer Beziehung und bildet gewissermaßen die erste Stufe desselben, auf welcher denn auch eine ganze Anzahl Geschöpfe ausschließlich stehen bleibt.

Weder bei Urthieren und Pflanzenthieren, noch bei Würmern, Muscheln und Schnecken ist die Gewohnheit des Abschreckens zu beobachten; dagegen findet sie sich bei allen höher organisirten, intelligenteren Wesen, bei den Wirbel- und Gliederthieren und in der Gruppe der Weichthiere bei den Kopffüßlern, unter letzteren am ausgebildetsten bei den Pulpen (Polypen). Drohend entrollen sie beim Herannahen eines gleichstarken Gegners ihre schlangenförmigen Arme, blähen sich auf und bilden durch ungleiche Zusammenziehung der Haut eine Menge unregelmäßiger Höcker, insbesondere zwei größere Pickelhauben auf dem Kopfe über den beiden Augewülsten, durch welche sie sich ein furchtbar kriegerisches Aussehen geben.

Die Gliederthiere können sich ihrer Organisation nach sehr wenig oder gar nicht aufblähen; dagegen suchen einige Insecten den Angreifer dadurch zurück zu schrecken, daß sie diesem einen ganz unerwarteten Anblick bieten, was in der That oft nicht ohne Wirkung sein wird, da gerade unvermuthete Erscheinungen am meisten geeignet sind, Thiere stutzig und mißtrauisch oder gar furchtsam zu machen. So stülpt die Schwalbenschwanzraupe, sobald sie angefaßt wird, unvermuthet aus dem Nacken gabelförmig zwei Fleischzapfen hervor, und ein Weichkäfer (Melachius) drückt bei Berührung aus den Seiten des Brustkastens und Hinterleibs mehrere rote Wülste heraus.

Auch von der Feuerkröte ist ein ähnliches Mittel bekannt, welches sie in der letzten Verzweiflung anwendet. Kann sie das schützende Wasser nicht mehr erreichen, so schlägt sie plötzlich Kopf und Beine zurück und zeigt dem Verfolger die orangeroth gefleckte Bauchseite, und da hiernach das Thier unvermuthet ein ganz anderes geworden zu sein scheint, so mag gar oft der hungerige Räuber stutzig werden und sich anderweitig nach Beute umsehen.

Derartige Kunstgriffe scheinen indessen verhältnißmäßig selten vorzukommen. Allgemeiner ist dagegen die Gewohnheit verbreitet, dem Feinde durch Erheben und Ausbreiten der Gliedmaßen und der Hautgebilde, durch Aufrichten des Körpers und womöglich durch Aufblähen desselben, also durch scheinbare Vergrößerung der Gestalt, sowie durch ein wildes, furchterregendes Aussehen zu imponiren und ihn dadurch zurückzuschrecken, wie das schon von dem Polypen bemerkt wurde. Alle Fische erheben zu diesem Zwecke ihre Rückenflossen und breiten die Brustflossen aus. Der kleine Seeschmetterling weiß sich durch plötzliches Aufrichten seiner unverhältnißmäßig großen segelförmigen Rückenflosse bei stärkeren Fischen Respect zu verschaffen. Der Kugelfisch bläht sich durch Aufnahme von Wasser und Luft zu einer großen Kugel auf, wodurch er sich scheinbar bedeutend vergrößert und zugleich seine sonst anliegenden Stacheln aufrichtet.

Die breite Halskrause der Krauseneidechse sowie die Rückensegel und Kämme der Segelechse, der Leguane, Helmbasilisken und Kammanolis, welche Hautgebilde bei jedem Herannahen irgend eines Feindes sofort erhoben werden und den Thieren ein besonders gefährliches Aussehen geben, scheinen lediglich den Zweck des Abschreckens zu haben. Das Aufblähen ist bei fast allen Reptilien und Amphibien in einer Weise ausgebildet und verbreitet, wie bei keiner anderen Thiergruppe, weil es dort einen zweifachen Schutz bildet. Einmal können sie mit der vergrößerten Körperform mehr imponiren, und dann erschwert die Vergrößerung das Verschlungenwerden, ja macht es geradezu unmöglich. Viele Eidechsen, insbesondere die Leguane und Flugdrachen, haben bekanntlich stark erweiterte Kehlsäcke respective Kehlwammen, die sie durch Luftaufnahme ungemein anschwellen. Auch die Schlangen suchen den Feind durch Aufblasen des Halses abzuschrecken; ich erinnere hierbei an die Brillenschlange, welche ihren Hals zu einem breiten Schilde zu erweitern vermag. Die Frösche und Kröten treiben sich zu ihrem Schutze derart zu dicken Trommeln auf, daß die Fabel, wie bekannt, einen Frosch sogar schließlich platzen läßt.

Bei den Vögeln spielt das Aufblasen des Halses als Abschreckmittel ebenfalls noch eine wichtige Rolle; insbesondere suchen sich die Reiherarten und einige Schwimmvögel, z. B. der Alk, damit zu schützen. Zur weiteren Vergrößerung der Körperumrisse sträuben außerdem alle Vögel, sobald sie angegriffen werden, das Gefieder, heben den Schwanz, schlagen mit demselben ein Rad, breiten die Flügel aus, und solche, welche besondere Hauben, Kronen oder Federbüschel am Kopfe haben, was bei einem sehr großen Theil der gefiederten Welt der Fall ist, suchen sich durch Erheben und Ausbreiten derselben ein besonders kühnes und furchterregendes Aussehen zu geben. In ähnlicher Weise sträuben sich mehr oder weniger bei allen Säugethieren, namentlich auffallend aber bei Huf- und Raubthieren, wenn schreckenerregende Gefahr droht, die Haare, vornehmlich die Rückenhaare; ja in gewissem Grade verblieb auch dem Haar des Menschen diese Eigenschaft. In zoologischen Gärten kann man beispielsweise beobachten, wie Hyänen, wenn sie sich um einen Knochen zanken, die Rückenhaare sträuben und, was noch auffälliger ist, die Haare des erhobenen kurzen Schwanzes büschelförmig ausbreiten. Indeß erfolgt das Sträuben der Haare ohne Einfluß des Willens, während bei den Vögeln das Aufrichten der Schwanz-, Schopf- und Haubenfedern augenscheinlich ganz willkürlich ist. Eine Ausnahme von der Regel bilden unter den Säugern die Stachelschweine und Igel, insofern bei diesen das Erheben der zu Stacheln umgebildeten Haare ein willkürliches ist; es kommt dies daher, daß bei ihnen diese Schutzorgane zur directen Vertheidigung angewendet werden, weshalb hier die kleinen Haarmuskeln besser ausgebildet sind.

Ein Aufblähen findet auch bei den Säugethieren insofern statt, als sich dieselben, wie alle höheren Thiere von den Reptilien an aufwärts, sobald sie einem Feinde imponiren und ihn dadurch zurückweisen wollen, hoch aufrichten, wobei dann stets durch erhöhte Luftaufnahme die Brust hoch gewölbt wird. Hierin zeichnet sich der Mensch ganz besonders aus, und der Ausdruck „aufgeblasener Frosch“ ist für einen eitlen, wichtig thuenden Protzen äußerst bezeichnend. Manche Raubthiere, wie z. B. der Musang, ebenso Affen blasen dazu oft die Backen auf, und der Mensch thut unwillkürlich dasselbe, wenn er in Wuth geräth.

Eine weitere sehr allgemeine Gewohnheit zum Abschrecken des Feindes ist das Drohen mit den Waffen, welche den betreffenden Thieren zu Gebote stehen. Dieselben werden nicht nur gezeigt, sondern auch kräftig bewegt, um dadurch kund zu thun, wessen man fähig ist und was man beim thatsächlichen Angriffe zu thun gedenkt.

Schon die Krebse strecken jedem sich nahenden Feinde ihre Scheeren entgegen, und manche Krabben schlagen dieselben laut klatschend zusammen. Auch die mit größeren zangenartigen Kiefern versehenen Insecten bewegen diese oft drohend gegen einander. Oeffnet man einen Termitenhaufen, so erscheinen sofort die Soldaten des Insectenstaates und schlagen die Kiefer unter hörbarem Geräusche zum Abschrecken zusammen. Die Fische, welche mit stachligen Rückenflossen versehen sind, erheben diese zur Drohung, und sämmtliche Reptilien, Vögel und Säugethiere haben übereinstimmend die Gewohnheit, den Rachen respective Schnabel aufzureißen und, wo es vorhanden, das Gebiß zu zeigen. Reihervögel namentlich suchen den Angreifer mit drohenden Bewegungen des Schnabels abzuschrecken, indem sie den Kopf zurücklegen und dann vorschnellen, als seien sie gewillt, den Gegner gleich aufzuspießen. In großer Wuth und Gefahr wird von den Säugethieren das ganze Gebiß entblößt und laut auf einander geschlagen, wie das an Affen, Dachsen und jungen Bären besonders gut zu beobachten ist, und Hunde, sowie katzenartige Raubthiere zeigen jedem Feinde oder Nahrungsconcurrenten, den sie erblicken, sofort die Zähne. Hat der Feind noch keinen thatsächlichen Angriff gemacht, dann wird das Gebiß durch Fletschen entblößt, aber nicht geöffnet, und ist die Gefahr noch sehr fern, so legt die fletschende Oberlippe nur einen Eckzahn bloß.

Der Mensch zeigt auch hierin wieder, wie nahe er dem Thiere steht. In großer Wuth reißt er den Mund auf und zeigt alle Zähne. Frauen strecken nicht ganz selten die zum Kratzen gekrümmten [803] Finger vor, und Männer drohen mit der geballten Faust. Wenn wir, beleidigt, unsere Verachtung und unseren Hohn ausdrücken wollen, so heben wir unwillkürlich auf der Seite, auf welcher sich der Angreifer befindet, die Oberlippe nach dem Nasenflügel hin und legen dadurch den Eckzahn bloß, ganz wie der fletschende Hund. Diese Bewegung reducirt sich noch mehr beim Ausdruck der Geringschätzung, welcher durch leichtes Heben der Oberlippe, ohne einen Zahn sehen zu lassen, erzeugt wird, wie das recht stolze Damen meist sehr gut verstehen. Sowohl der Ausdruck des Hohns wie derjenige der Geringschätzung, zu deren Charakterisirung Darwin die beiden so ausdrucksvollen Photographien in sein Werk „Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen“ aufgenommen hat, sollen den Angreifer, respective den Lästigen abschrecken und ein Schutz gegen weitere Annäherung sein.

Dabei denkt etwa eine feingebildete Dame sicher nicht daran, den nicht würdig erachteten Aufdringling gleich zu beißen, und doch ist diese Bewegung der Lippe, welche ganz unwillkürlich erfolgt, da sie eine durch viele Generationen vererbte Gewohnheit ist, noch ein Ueberbleibsel der thierischen Gewohnheit, mit den Zähnen zu drohen. Wie in jeder sich steigernden Leidenschaft der Mensch eine vorübergehende Rückbildung nach dem Thiere hin durchmacht, so braucht auch die Geringschätzung nur zum leidenschaftlichen Hohn, zur Verachtung und zu großer Wuth gesteigert zu werden, um die Lippen sich nach und nach so weit öffnen zu sehen, bis alle Zähne gezeigt und dieselben in äußerster Wuth sogar auf einander geschlagen werden, ganz wie bei den höheren Thieren. Diese interessante Stufenfolge leidenschaftlicher Drohung habe ich nirgends so gut beobachten können, wie bei sich streitenden neapolitanischen Fischerweibern. Zuerst geht man stolz mit geringschätzend erhobener Oberlippe an einander vorüber; dann bleibt man stehen, stemmt die Arme in die Seite, wippt mit dem einen Fuße, macht sich in leidenschaftlichem offenem Hohne das Compliment: „Ah, wie schön Du bist!“ und die Oberlippe läßt jetzt bei dem verächtlichen Anschauen von der Seite den einen Eckzahn sehen. Die Rede steigert alsdann die Leidenschaft und deren Ausdruck. „O, Du abscheuliches Gesicht!“ schreit man sich nun mit vorgestrecktem Kopfe einander zu, und die sämmtlichen Zähne werden sichtbar. „O, daß ich Dich in’s Gesicht beiße!“ kreischen endlich die heiser geschrieenen Stimmen bei vorgestreckten, zum Kratzen gekrümmten Fingern, weit geöffneten Augen und aufgerissenem Munde mit den drohenden fletschenden Zähnen. Noch eines jener derben Schimpfwörter und, nachdem man einander die Pantoffeln, dann die umstehenden Gläser, Krüge und Stühle zugeworfen, fällt man in der That mit kratzenden, zerrenden Händen und beißenden Zähnen einander an – und das Thier ist fertig.

Ein solches „Ende vom Liede“ zeigt deutlich genug, welche Bedeutung auch beim Menschen das Zähnefletschen hat, und zwar ist dasselbe bei uns so instinctiv, daß es schon erfolgt, wenn wir uns einsam nur in Gedanken mit Jemandem streiten.

Entsprechend dem Entrollen der Arme des Polypen, dem Vorschnellen des geöffneten Rachens bei Schlangen und Eidechsen, dem Vorstoßen des Schnabels und dem Schlagen mit den Flügeln bei den Vögeln und dem Aufstampfen und Emporschleudern des Sandes mit den Hörnern bei den Wiederkäuern, schnellt der Mensch die geballten Fäuste vor und schwingt seine künstlichen Waffen. Die Wilden schlagen oft zum Zeichen ihres Muthes mit der Keule auf den Boden.

Mit dem Bewegen der Waffen wird sehr häufig sowohl von Krebsen wie von allen Wirbelthieren eine rasche Ortsbewegung nach dem Feinde hin, ein „Daraufzufahren“ verbunden, welche Bewegung aber nicht zum Zwecke eines thatsächlichen Angriffes, sondern nur zum Abschrecken ausgeführt wird. An feigen Hunden kann man das am meisten beobachten, und auch der Mensch bedient sich dieses Mittels, insbesondere wenn er nicht gerade lebensgefährliche Thiere verjagen will.

Der „H“-Laut, welchen der Mensch in der Wuth bei geöffnetem Munde hervorstößt, entspricht ganz und gar dem Fauchen, welches wir so oft an katzenartigen Raubthieren, etwa an gefangenen und gereizten Löwen, beobachten, und all den ähnlichen Lauten, welche in den verschiedensten Formen, als „Zischen“, „Fauchen“, „Brausen“, „Schnarchen“, „Schnauben“, „Knurren“ etc., von allen Reptilien, Vögeln und Säugethieren in der Wuth zum Abschrecken des Feindes ausgehaucht werden. Es ist dies Fauchen wohl zu unterscheiden von dem Brüllen und Schreien, durch welches die Vögel und Säugethiere, vorzüglich die Walrosse und Seelöwen, ihre Angreifer abzuschrecken suchen, wie nicht minder die Menschen: soll es doch vorgekommen sein, daß ein Löwe einen gepackten Knaben, durch dessen fürchterliches Schreien erschreckt, wieder hat fallen lassen. Das Brüllen und Schreien spielt in den Kämpfen der wilden Völker als furchterregendes Mittel eine sehr wichtige Rolle, und auch die alten Germanen haben es bekanntlich an Schlachtgeschrei nicht fehlen lassen. Sucht doch auch jetzt noch der civilisirte Soldat durch ein laut schallendes „Hurrah“ bei Erstürmung einer Position auf den Feind entmuthigend einzuwirken, und sicher nicht ganz ohne Erfolg. Auch bei jedem rohen Zweikampfe sucht der Mensch seinen Gegner durch Anschreien und Anbrüllen, das heißt durch überlautes Hervorstoßen seiner Worte zu entmuthigen.

Wo die Stimme der Menschen nicht ausreicht, erzeugt er anderen Lärm zum Abschrecken. Bei heftigem Streite schlägt er mit der Faust oder dem Stocke laut dröhnend auf den Tisch. Nilpferde und Tiger verscheucht er durch Trommeln und leckere Vögel und Flederhunde durch klappernde Windmühlen. Viele höhere Säugethiere, namentlich Affen, suchen auf ähnliche Weise durch Schütteln der Baumäste, andere, wie die Hufthiere, durch Aufstampfen drohenden Lärm zu erzeugen, und wenn wir im Zorne ganz unwillkürlich, ohne irgend welchen Gedanken dabei, also instinctiv, mit dem Fuße aufstampfen, so entspricht das ganz und gar der analogen Bewegung der Thiere, um Lärm zu erzeugen, und je lauter die Fußtritte schallen, desto mehr entsprechen sie unserem Zorne, desto mehr sind wir davon befriedigt.

So sehen wir also bei jeder Gewohnheit, daß die Bewegungen des Menschen ein ebenso inniges Geflecht von instinctiven, beziehentlich vererbten Gewohnheiten und auf Bewußtsein des Zweckes beruhenden Willensäußerungen sind, wie dies bei jedem Thiere der Fall ist.

Nur einige wenige Mittel zum Abschrecken stehen allein dem Menschen zu Gebote. Er vermag seines Gleichen mit Worten zu drohen und durch künstliche Gebilde, durch Vogelscheuchen, sowie durch Feuer viele Thiere von sich fern zu halten. Andrerseits kommt bei den Thieren kaum ein Schreckmittel vor, welches nicht auch der Mensch anwendete.

„Nicht aller Mensch ist im Thiere, aber alles Thier ist im Menschen.“ (Scheitlin.)

Drohende Thiere sind im Allgemeinen wenig zu fürchten, die Versuche, den Feind durch Aufblähen oder Drohen mit den Waffen abzuschrecken, meist ein Zeichen der Schwäche, der Unsicherheit und Feigheit, während muthige Thiere wenig mehr Gebrauch vom Drohen machen. Man kann selbst sagen, daß unter einer Thiergattung, welche im Ganzen eine energische thätliche Vertheidigung übt, diejenigen Individuen, welche die feigsten sind, am meisten das Schreckmittel des Drohens anwenden.

„Hunde, die viel bellen, beißen nicht –“ dieses Wort bewährt sich in all den genannten Thiergewohnheiten.


Die Stedinger.

Ein Blatt aus dem Schuldbuche der Hierarchie.
Mit Illustrationen vom Verfasser.

Da, wo sich jetzt die Marschen der Unterweser ausbreiten – ein von den Geest- und Dünenbildungen in weitem Bogen nach Ost und West begrenzter alter Meerbusen – erstreckten sich einst Wüsteneien von Moor, Sumpf und schilfbewachsenen Inseln, kleine und große, welche theils von der in viele Arme sich spaltenden Weser, theils von den die Geest herabkommenden Wasserläufen gebildet wurden. Wie sehr sich das Landschaftsbild aus jener Zeit von dem der Gegenwart unterscheidet, darauf deutet eine Ueberlieferung [804] aus der spätern Zeit der Bebauung, welche erzählt, daß die Weststedinger (ungefähr das jetzige Stedingen) zu den Oststedingern (jetzige Osterstade) ohne Schiffe, unter Benutzung von Brettern und Stegen über die Weser, gelangen konnten.

Wenige Ansiedelungen abgerechnet, auf welche uralte Baulichkeiten und Knüppeldämme hindeuten, führte erst die Völkerbewegung des zwölften Jahrhunderts in Deutschland auch diesem Bruchlande der Weser die Colonisten zu, die es zur Heimath eines tüchtigen thatkräftigen Volkes umgestalten sollten. Es war ein Mischvolk, das sich hier zusammenfand, theils aus eigener Initative heranziehend, theils durch Unternehmer herbeigerufen – Friesen, Holländer, Sachsen, Westfalen, sowie Bewohner der umliegenden Geest – ein kräftiges, freies Bauernelement, welches der jungen Colonie eine gedeihliche Entwickelung versprochen hätte, wären nicht die politischen Verhältnisse der umliegenden Geest gewesen, die sich nicht wie Sumpf und Moor überwinden ließen und der jungen Colonie verhängnißvoll werden sollten.

Die Kirche des heiligen Gallus zu Süderbrok.

Auf das neucultivirte oder zu cultivirende Land erhoben nicht nur anwohnende Grafen, namentlich die von Oldenburg, die angrenzenden Klöster und Stifter, sondern vor Allem auch der Erzbischof von Bremen Anspruch, welcher das fragliche Bruchland von dem Grafen Udo dem Zweiten von Stade erworben hatte und, als er die Bebauung vorschreiten sah, der Sicherheit halber sich diesen Erwerb noch vom Kaiser Friedrich dem Ersten bestätigen ließ. In Folge der sich kreuzenden Interessen zeigten auch die grundrechtlichen Verhältnisse ein buntes Gemisch: Hollerbauern, Lehnpflichtige, Meier, Ministerialen, Alles war vertreten, den Kern bildete aber ein freier Bauernstand. Anfänglich hatten diese Rechtsverhältnisse keine sonderliche praktische Bedeutung; das Erzstift erhob einen geringen Zehnten und begann erst Rechte geltend zu machen, als die Macht der Stedinger zu einem Factor herangewachsen war, mit dem es bei seinen auf Macht und Gewinn gerichteten Plänen rechnen mußte.

Die Grafen von Oldenburg waren es zuerst, welche im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts[WS 1] die Stedinger zwangen, den Pflug mit dem Schwert zu vertauschen. Diese Grafen besaßen an der Westgrenze Stedingens zwei feste Plätze und wollten dieselben jedenfalls als Operationsbasis für ein allmähliches Vordringen in die Marschen benutzen. Ihre Besatzung benahm sich gegen die Bauern übermüthig und gewaltthätig, raubte Frauen und erpreßte Lösegeld; da hielten die Bauern einen Thing ab und beschlossen, beide Burgen zu gleicher Zeit zu überrumpeln. Der Sturm gelang; die Besatzung wurde niedergemacht; Wälle und Mauern wurden geschleift. Der Erzbischof Hartwig unternahm einen Zug gegen die Stedinger, unterbrach ihn aber sofort, als man ihm die rückständigen Zehnten und Zinsen auszahlte.

Die Stedinger hatten ihre Bedeutung erkennen gelernt, und die nun folgende Zeit sollte das Ihre dazu beitragen, ihre Schlagfertigkeit, ihren Einfluß zu erhöhen und vor Allem auch das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit der West- und Ost-Stedinger schärfer auszuprägen. Die Kämpfe zwischen Welf und Waibling nämlich zwangen die Stedinger zum ersten Male, Antheil an den politischen Verhältnissen und Ereignissen im Reiche zu nehmen, und hierbei finden wir dieselben immer auf der Seite, welche das Recht für sich hatte, erst auf Seiten des Königthums, sowohl gegen die Fürsten wie gegen die Hierarchie, dann auf der reichstreuen Seite. Ihr erstes Auftreten war glänzend genug, indem sie dem staufischen Erzbischof Waldemar, der nach der Ermordung Philipp’s durch den Wittelsbacher sogar von den eigenen staufischen Ministerialen im Stiche gelassen wurde, ihre Unterstützung angedeihen ließen, Stade stürmten und die mit den Welfen verbündeten Dänen hinauswarfen. Von da ab finden wir die Stedinger mit wechselndem Kriegsglücke vollständig in die Kämpfe der Parteien verwickelt, bald dem Vertreter ihrer Partei den Rücken deckend, bald selbstthätig vorgehend, bald auch lediglich durch ihre Macht einen Druck ausübend. Denn sie [805] waren in der That eine Macht geworden, mit der Alle, welche in Niederdeutschland Politik trieben, zu rechnen hatten. Der Erzbischof von Bremen, Gerhard, welchem sie schließlich zum Siege verhalfen, war ihnen zu Danke verpflichtet, und so schlossen die Wirren mit einer für die Stedinger günstigen Lage der Dinge, die freilich nur so lange Bestand hatte, wie jener lebte.

Das Stedinger-Denkmal auf dem Schlachtfelde von Altenesch.

Im Jahre 1219 starb er, und sein Nachfolger, der bisherige Probst zu Paderborn, Gerhard, Edelherr von der Lippe, ein energischer, schlauer Prälat, kam rasch genug mit dem bäuerlichen Gemeinwesen in Conflict, welches so dicht vor den Thoren seines Bischofssitzes jedem Schritte, um die kirchliche Macht im niederdeutschen Gebiete auszubreiten und zu festigen, ein Hemmniß war. Ueberdies brauchte er Geld; den Bremern gegenüber war er mit dem Versuche einer Zollerpressung auf der Weser übel angekommen – und gerade in dieser Hinsicht boten die Stedinger ihm eine Handhabe zum Eingreifen.

Das Schlachtfeld von Altenesch.

Hatten die Stedinger Zehnten und Zinsen dem Erzbischof früher schon mit Widerstreben gegeben, so unterblieb dies ganz unter dem Regimente des verstorbenen Bischofs.

Jetzt trat Erzbischof Gerhard mit der Forderung der Zehnten an die Stedinger heran, welche als Antwort darauf seine Boten einfach vor die Thür warfen. Das wollte der Erzbischof nur – er rüstete zum Angriff, zog seine Ministerialen heran und rief seinen Bruder Hermann von der Lippe zu Hülfe. Die Stedinger hatten keine Bundesgenossen; nicht einmal die Friesen, ihre Nachbarn und natürlichen Verbündeten, rührten sich – doch sie sollten auch keine Bundesgenossen nöthig haben. Es war am Weihnachtsabend 1229 – da trafen die Heere auf einander – zum ersten Male hoben die Stedinger im Kampfe um ihre Existenz die Hand gegen die Macht der Kirche auf – und mit aller Schwere sollte der Bischof sie auf sein Haupt niederfallen sehen. Die Stedinger siegten glänzend, nicht nur wurde das Heer vernichtet, sondern auch der Bruder des Erzbischofs, Hermann zu Lippe, lag erschlagen auf dem Schlachtfeld. Die Stedinger hatten den Sieg, zugleich aber einen Kirchenfürsten zum gefährlichen Todfeinde gewonnen.

Doch tritt bei diesem ersten Zuge gegen die Stedinger jener widerliche brutale Mißbrauch kirchlicher Institute noch nicht, wie später, hervor – es ist eben ein Kampf, wie er zwischen Herren und Bauern um diese Zeit allenthalben ausgefochten wurde. [806] Uebrigens schien über dem Geschlechte Derer von der Lippe ein ganz besonderes Verhängniß zu schweben; 1227 wurde Gerhard’s Bruder, Bischof Otto, erschlagen, 1228 wurde sein Bruder Dietrich, welcher Probst in Deventer war, von den Bauern scalpirt, und 1229 fiel sein Bruder Hermann gegen die Stedinger.

Gerhard brütete über Racheplänen – aber er sah ein, daß er noch zu schwach war, sie auszuführen. Er mußte sich nach mächtigerer Hülfe umsehen, und das „Wo“ – nun das war eben Rom. Stehen wir doch hier inmitten jenes Ringens zwischen kaiserlicher und päpstlicher Macht. Das „Wie“ konnte ebenso wenig zweifelhaft sein: es war jene schreckliche Zeit, wo solche Bestien im Priestergewand, wie der (für seine Schandthaten heilig gesprochene) Conrad von Marburg, mit ihrer Rotte Korah in majorem Dei gloriam sengend und brennend, mordend, Weiber schändend und plündernd unser armes Vaterland durchzogen, wo unter Häresie nicht mehr, wie früher, ein wirkliches Abfallen vom Glauben verstanden wurde, vielmehr die bloße Bethätigung des Selbsterhaltungstriebes gegenüber einer Gewaltthat der Kirche genügte, um sofort als verdammter Ketzer mit Feuer und Schwert verfolgt zu werden. Wenn die Bauern, deren Langmuth von der kirchlichen Gewalt auf eine zu harte Probe gestellt wurde, Handlungen begangen hätten, welche man als wirkliche Schändung des Heiligen bezeichnen konnte – nun, so gab das doch immer noch einen scheinbaren Grund für die Kirche ab, sie als Kirchenschänder und Ketzer hinzustellen. Aber gegen die Stedinger lag nichts dergleichen vor; ihre angeblichen Missetaten, wie das Erschlagen eines Priesters durch einen Bauer, weil jener, mit dem Beichtgroschen von dessen Frau unzufrieden, ihr denselben statt der Hostie in den Mund gesteckt habe, oder gar die blödsinnigen Berichte über einen Teufelscultus bei den Stedingern, sind Erfindungen – hatten sie doch noch vor Kurzem sogar das Kreuz genommen und sich mit den Friesen, ihren Nachbarn, an einem Zuge in’s gelobte Land betheiligt. Ihre einzige Ketzerei war – ihr Freiheitssinn.

Der Erzbischof wußte Rath, einen Weg, den Andere schon mit den besten Resultaten beschritten hatten. Waren die Stedinger keine gräulichen Ketzer, nun so machte man sie dazu, damit war die erste Position erreicht – die Erlaubniß des Papstes, das Kreuz zu predigen, war die zweite – als Drittes blieb dann noch immer die Aufgabe, das Kreuzheer in Wirklichkeit zusammenzutrommeln.

Gerhard berief also zunächst im März 1230 eine Diöcesansynode nach Bremen, um durch diese die Verketzerung und den Bannfluch über die Stedinger aussprechen zu lassen. Der Mangel an Kirchen in den Marschen wurde als Beweis mangelnder Religiosität, Aberglaube, wie er noch heute bei uns auf dem Lande zu Hause ist, wurde als heidnische Ketzerei ausgelegt, Zerstörungen von Klöstern und Kirchen und Mißhandlungen von Geistlichen während des Krieges wurden als Sacrilege hingestellt, auch allerhand dazu gelogen, und gestützt hierauf beschloß die Diöcesansynode, eine Versammlung von Ja-Brüdern, welche die verschiedenen Gründe hatten, dem Erzbischof nicht zuwider zu sein, genau das, was er wollte.

Nun galt es weiter vorzugehen und die Intriguen bei der Curie zum Zweck des Kreuzzuges zu beginnen. Zur Vorbereitung gründete der Erzbischof bei Bremen ein Cistercienserinnenkloster, gewann die Dominicaner für sich, die sich in Norddeutschland eines großen Ansehens erfreuten, und wiegelte auch die weltlichen Kreise auf, sodaß einstimmig von allen Seiten Klagen über die Stedinger in Rom ertönten. Nächstdem begann er seine Agitation bei der Curie selbst, allerdings zunächst mit wenig Erfolg. Erst in der Mitte des Jahres 1231 erließ Gregor der Neunte an den Prior der Dominicaner in Bremen eine Bulle, in welcher er, gestützt auf die schon bei der Diöcesansynode vorgebrachten Gründe, den Religionskrieg gegen die Stedinger erlaubte. Obschon die Dominicaner die rechten Leute für die Agitation waren, fand diese doch wenig Anklang bei den hauptsächlich in Frage kommenden Grafen; die einen wollten die Macht des Erzbischofs nicht ausdehnen helfen, die anderen, den Stedingern zunächst wohnenden hatten einen noch triftigeren Grund, nämlich – die Furcht vor diesen.

Die Sache ging nicht recht vom Flecke, und der Papst selbst ordnete noch eine neue Untersuchung über die Ketzerei der Stedinger an. Das Verhalten des sonst die Ketzerverfolgungen begünstigenden Papstes gestattet den Schluß, daß derselbe von der völligen Unhaltbarkeit der Stedinger-Anklage sehr wohl Kenntniß hatte und so lange ziemlich lau vorging, wie der Widerstand der Bauern nicht ein bedenkliches Moment für ihn selbst wurde.

Inzwischen war wieder einmal geschehen, was so oft sich in der Geschichte wiederholt: Macht hatte der Macht die Hand gereicht, und die Schwachen mußten die Kosten tragen – Kaiser und Papst hatten Frieden geschlossen, und als Preis des Bündnisses wurden gemeinsam schauderhafte Ketzergesetze erlassen, mit specieller Nutzanwendung auch auf die Stedinger, welche zugleich in die Reichsacht erklärt wurden. Und so hielt denn auch am 29. October 1232 Gerhard die päpstliche Bulle in der Hand, welche ihm gestattete, das Kreuz gegen die Stedinger zu predigen, „die,“ wie es in jener Bulle heißt, „nicht Gott, nicht Menschen scheuend, die Lehre unserer heiligen Mutter, der Kirche, für Tand achten, der Kirche Freiheit antasten und, ihrer Blutgier fröhnend, wie an wilder Thiere Brüsten genährt, keines Geschlechtes schonen und keines Alters. Mehr noch – Blut wie Wasser vergießend, zerreißen sie, gleich Raubthieren, Priester wie Mönche – verfahren mit dem Leibe des Herrn abscheulicher, als der Mund aussprechen darf, begehren von bösen Geistern Auskunft, bereiten von ihnen wächserne Bilder, erholen sich Raths von wahrsagerischen Frauen in schändlichen Zusammenkünften und treiben andere Werke der Verruchtheit etc.“ – eine Schilderung, die so wenig den armen Stedingern entsprach, wie sie vortrefflich auf die wüste Priesterwirthschaft jener Tage paßte. Der Bulle fehlte jedoch ein wesentliches Ingrediens: der volle Ablaß für die Kreuzträger, ein sehr wichtiger Umstand. Die Kreuzpredigt, namentlich durch die Bettelmönche, begann aber dennoch, und es lief Volks genug zusammen.

Die Stedinger, sobald sie von ihrer Verketzerung erfahren hatten, schritten vor allen Dingen dazu, die wenigen Punkte, welche nicht durch Deiche und Moore vor einem Angriff geschützt waren, zu befestigen; namentlich da, wo die Marsch an die Dünen stieß, lag kein Moor vor; nur der Hemmelskamper Wald bot eine Schutzwehr. Hier wurde eine Befestigung angelegt, ein tiefer Graben gezogen, den die Ochtum mit Wasser speiste, die Brücke über die letztere, auf welche die Heerstraße von Bremen zuführte, wurde verschanzt, und noch anderweite kleinere Deckungen wurden hergestellt. So bietet sich uns jetzt ein dramatisches Bild voll scharfer Contraste – hier die stille friedliche Marsch mit den freundlichen Höfen, den grünen Wiesen und flüsternden Schilfgräben, an der Grenzmark waffenerprobte Männer, in trotziger Ruhe des Angriffs harrend, entschlossen, ihre Heimath und ihre Freiheit bis zum letzten Athemzuge zu vertheidigen – draußen dagegen ringsum im Lande eine wüste Agitation fanatischer Kuttenträger, Lüge und Verleumdung, Haß und Fanatismus, Intrigue und Raublust, von machtgierigen Priestern zu Bundesgenossen erwählt!

Schon war, wie oben gesagt, das Kreuzheer zusammengezogen: da fuhren die Bauern dazwischen, brachen hinter ihren Verschanzungen hervor, zerstörten den halbfertigen Bau des Schlüttenberges, griffen die Oldenburger Veste an und hätten sie genommen, wenn nicht Verrätherei in ihrer Mitte dies gehindert hätte. Die Kreuzzügler richteten nichts aus – der Feldzug war verloren, und die Stedinger blieben die Herren des Augenblicks. Nunmehr aber griff der Papst selbst in die Hetzerei ein, indem er sowohl die zunächst betheiligten Bischöfe zum Handeln trieb, wie ganz besonders die Stadt Bremen auf Seite der Hierarchie zu bringen suchte, denn die Gefahr lag nahe, daß diese schließlich als Bundesgenossin der Stedinger auftreten möchte. Gerhard sah sich genöthigt, den Bremern weitgehende Zugeständnisse zu machen, wodurch die wichtige Bundesgenossenschaft der Stadt für die Stedinger verloren ging.

Die Kreuzpredigt hatte sich über ganz Norddeutschland verbreitet und neue Schaaren dem Kreuzheere zugeführt, das nun zunächst gegen Oststedingen losbrach, und zwar zu Lande und zu Wasser. Das langgestreckte, schmale, zur Vertheidigung höchst ungünstig gelegene Oststedingen, von zwei Seiten angegriffen, konnte nicht lange Widerstand leisten – nicht nur die Männer, sondern auch die Weiber und Kinder wurden niedergemacht; es wurde gesengt und geplündert, und – wie hätten die Priester sich den pikanten Genuß entgehen lassen können! – die Gefangenen wurden lebendig verbrannt. Oststedingen war vernichtet.

Nachdem inzwischen der Papst, dem der Widerstand der verketzerten Stedinger höchst bedenklich zu werden begann, einen vollen Ablaß für alle Kreuzfahrer gespendet hatte, welcher sie mit den Kreuzfahrern in das gelobte Land auf eine Stufe stellte, bereitete [807] man sich – es war im Jahr 1233 – zum dritten Kreuzzuge vor. Graf Burchard von Oldenburg beschloß mit seinen Schaaren den Hasberger Paß anzugreifen; am Hemmelskamper Walde kam es zum Kampfe, und wie einst Hermann von der Lippe, so mußte jetzt Graf Burchard den Zug gegen das brave Bauernvolk mit dem Leben büßen; außer ihm fielen zweihundert Mann unter den Streichen der Stedinger; das Heer wurde in die Flucht geschlagen, und zum dritten Male blieben die Stedinger Sieger.

Dies sollte aber auch ihr letzter Erfolg sein.

Durch einen gewandten Schachzug hatte der Erzbischof den einzigen Bundesgenossen der Stedinger, den Welfen Otto von Lüneburg, mit dem er bisher in Fehde lag, auf einige Zeit matt gesetzt; die Friesen, auf deren Hülfe die Stedinger doch vor Allem rechnen durften, ließen sie in thörichter Kurzsichtigkeit im Stiche; die Ministerial- und Edelleute, welche vordem auf Seiten der Stedinger gestanden, hatten sich nach dem Bannfluch zurückgezogen, ja selbst die Hülfe, welche ihnen aus der Opposition der Fürsten und zum Theil selbst der Cleriker gegen die wahnsinnige Ketzerwirthschaft Gregor’s zu erwachsen schien, zerrann in Nichts – so standen sie da, verlassen von aller Welt, nur auf Gott, ihren starken Arm und ihr gutes Recht vertrauend. Auf der andern Seite aber wuchsen die Kräfte höchst bedrohlich an. Die Aufhetzung gegen die freien Bauern hatte eine immer gewaltigere Ausdehnung genommen; von der Elbe bis zum Rhein wurde von fanatischen Mönchsschaaren das Kreuz gepredigt; von Kloster zu Kloster wanderten aufregende Schreiben; die Marschlande, damals wie heute noch der unbekannteste Theil unseres Vaterlandes, wurden in der Phantasie des Volkes zu einer fremden, mit einer bestialischen Ketzerrasse angefüllten Gegend – von allen Seiten fing die Menge an herbeizuströmen: verblendetes Volk, das sich den Himmel mit Todtschlagen der Ketzer erwerben wollte, raublustige Ritter, alte Kreuzsoldaten, die sich überall unnütz im Lande herumtrieben, abenteuerliches Gesindel, Grafen und Herzoge, z. B. Graf Heinrich von Oldenburg, Graf Ludwig von Ravensberg mit seinen Mannen, Graf Otto der Dritte von Geldern, Graf Florentin von Holland, Herzog Heinrich der Jüngere von Brabant, Adolph der Siebente von Berg, Wilhelm der Vierte von Jülich, Dietrich von Cleve und Andere mehr – eine so noble Räuberbande, wie sie die Geschichte nicht häufig beisammen gesehen.

Im Frühjahr 1243 war das Kreuzheer in Bremen versammelt, und am 27. Mai, am Sonnabend vor Himmelfahrt, brach man gegen die Marsch auf.

Wir stehen vor dem letzten Verzweiflungskampfe dieses vielgeprüften tapferen Bauernvolkes. Man hatte seine Waffen oft genug empfunden, um nicht zu wissen, daß bei einem Sturm auf die Befestigungen des Hasberger Passes die Entscheidung trotz der gewaltigen Uebermacht des Kreuzheeres eine sehr zweifelhafte werden konnte; hatte man doch gerade hier erst eine Niederlage erlitten. Man benutzte daher die vielen vorhandenen Schiffe zur Herstellung einer Schiffsbrücke über die Ochtum und entwickelte somit in freiem Felde die ganze Uebermacht. Bei Altenesch, zwischen der Ochtum, Ollen und Lintow standen die Bauern, an die zweitausend, in tiefem Ernste des Angriffs harrend. Sie wußten wohl, daß es der Entscheidungskampf für ihre höchsten Güter war, der ihnen bevorstand, aber: „Lieber todt als Sclave!“ – das war ihr einziger Gedanke. An ihrer Spitze regten die drei Führer Bolke von Bardenflet, Tammo von Huntdorf, Detmar von Dieke den Kampfmuth durch Hinweis auf die siegreiche Vergangenheit noch mehr an. So standen sie in schlagfertigen Schaaren wohlgeordnet da, ausgerüstet mit nichts als einem Lederschild, Spieß und kurzem Schwerte – reckenhafte Männer müssen es gewesen sein, in denen die ganze deutsche Kampfeswuth lebendig war, und deren Heldengröße erst recht deutlich hervortritt, wenn man bedenkt, daß diese kleine Schaar leicht bewaffneter Bauern auf offenem Felde einer Uebermacht von zehntausend meist eisengepanzerten kriegsgeübten Streitern zu Fuß und zu Pferd sich gegenüberstellte. Gegen Mittag begann der Angriff unter dem Befehl des Herzogs von Brabant. Von sicherer Höhe aus stimmte die Clerisei das alte, damals vielgesungene Lied an: „Media vita in morte sumus!“ („Mitten wir im Leben sind von dem Tod umschlungen“); die goldnen Kreuze und Fahnen leuchteten aus ihrer Mitte herüber, und durch diesen Gesang und Anblick noch mehr fanatisirt, warf sich das erste Treffen unter der Führung Florentin’s von Holland auf die Stedinger, von denen es mit grimmigen Hieben empfangen wurde. Ein wilder Kampf begann – zwischen das Schlachtgeschrei und Getöse erklangen die frommen Lieder der Mönche. Furchtbar wüthete die Hand der Bauern unter den Kreuzträgern und edeln Herren – Graf Heinrich von Oldenburg wurde vom Pferde gerissen und zusammengehauen. Bis zum Abend dauerte das blutige Ringen freier Männer gegen Pfaffenwuth und Raubgier, ja die Stedinger hieben so furchtbar ein, daß das Kreuzheer in’s Schwanken gerieth; aber die Uebermacht war zu groß – die Stedinger wurden überflügelt, und als nun der Graf Dietrich von Cleve mit frischen Truppen ihnen in den Rücken fiel, war ihr Schicksal entschieden; nur eine sehr kleine Anzahl entkam durch die Flucht, fast die ganze waffenfähige Mannschaft lag erschlagen auf dem Schlachtfelde.

Als die blauen Abenddünste der Marsch emporstiegen und die Sonne am Deich hinabsank, da blickte sie auf verwaiste friedliche Höfe, wo blaue Kinderaugen vergeblich nach dem Vater ausspähten, der bleich und starr in der blutigen Ebene lag – ihre letzten Strahlen aber trafen auf ein Kreuz, das Zeichen der ewigen Liebe, das ein triumphirender Priester in blutigen Händen hoch empor hielt, während die Schaaren ringsum heilige Lieder anstimmten und, den Namen Gottes lästernd, ihr wüstes Treiben mit seinem Willen deckten. Nun folgte der zweite Act des Dramas, das Plündern, Sengen und Morden im Lande – den Genuß von Ketzerverbrennungen mußten sich die Priester entgehen lassen, da keine Gefangenen gemacht worden waren.

Neben den erschlagenen Stedingern aber, unter denen sich auch viele Frauen befanden, lagen über viertausend Kreuzfahrer, darunter viele vornehme Herren. Der Haufen der Gefallenen war so groß, daß die Leichen der Ketzer und Kreuzfahrer nicht geschieden werden konnten, sondern in gemeinsamen Gräbern bestattet werden mußten. Ueber der Grabstätte der auf dem Schlachtfelde selbst Beerdigten wurde die Capelle des heiligen Gallus errichtet, die Kirche zu Süderbrok, welche unser Bild zeigt. Von den Edeln wurde eine große Zahl in den Kirchen zu Warfleth und wahrscheinlich auch zu Berne und Elsfleth bestattet. Da aber eine Scheidung von Ketzern und Kreuzfahrern nicht stattgefunden hatte, mußten Kirchen und Grabstätten von Neuem geweiht werden.

So hatte denn Gerhard sein Ziel erreicht – das freie Bauernvolk war vernichtet; in der Marsch herrschte die Ruhe des Kirchhofes. Wie viel Niedertracht und Lüge, wie viel blutige Niederlagen und Opfer selbst aus seiner eigenen Familie es gekostet, was kümmerte es ihn? Die heilige alleinseligmachende Kirche hatte gesiegt, und sie mußte siegen, denn sie muß herrschen oder untergehen. Und so stiftete Gerhard eine Gedächtnißfeier, aus Procession und Messe bestehend, die alljährlich am Sonnabend vor Himmelfahrt „als Gedenkfeier an den Sieg über die Stedinger zu Ehren der heiligen Jungfrau“ abgehalten wurde. Drei Jahrhunderte lang stiegen diese Jubelhymnen in der Peterskirche zu Bremen empor, mahnend an eine der schändlichsten Thaten der Hierarchie, welche die Geschichte je verzeichnet hat, bis endlich die Wogen der Erkenntniß im Volke immer höher schwollen, bis der Geist der Reformation hier seinen Einzug hielt.

Die Tragödie der Stedinger blieb nicht ohne Nachspiele.

Diejenigen Stedinger, welche aus der Altenescher Schlacht entkommen waren und bei den Friesen Aufnahme gefunden hatten, schürten in deren Mitte zum Kampf gegen die Oldenburger Grafen, welche hauptsächlich in Oberstedingen Besitz genommen hatten – der Zweck war die Befreiung Niederstedingens. In der Mitte des Jahrhunderts griffen die Rustringer und Niederstedinger zu den Waffen, erlitten aber eine Niederlage durch den Grafen Johann von Oldenburg. Da öffneten die Stedinger ihre Siele – und sieben Jahre lang war das Land eine Wüste; Wölfe nährten in der Kirche von Elsfleth ihre Brut und – damit der Tragödie die Komik nicht fehle – die biederen Benedictiner in Rastede mußten ihren Convent auflösen, weil sie in Folge jenes Zustandes nichts mehr zu beißen hatten. Und als die Oldenburger nun in Rustringen eindrangen, wurden sie auf dem Boitwardener Moor auf’s Haupt geschlagen. Erzbischof Hildebrand drohte jetzt, zu Gunsten der Oldenburger Grafen einzugreifen, aber die Bremer nahmen Stellung gegen ihn, und so zog er es vor, im Jahre 1260 einen Frieden herzustellen, welcher sich auf einen gemeinsamen Vertrag zwischen Friesen, Oldenburgern, Bremern und dem Erzstift gründete und der den Niederstedingern für alle Zeiten eine Unabhängigkeit gewährte, welche ihnen gestattete, ihre Angelegenheiten selbst zu ordnen.

[808] In Oberstedingen war der Erzbischof fortan unbeschränkter Herr und belohnte die Grafen und Edeln, die Mönchsorden und Kirchen, kurz alle seine Helfershelfer mit den Gütern der Bauern; dabei hütete er sich aber wohl, die zurückgebliebenen Arbeitskräfte außer Land zu treiben, denn bekanntlich zog es die Kirche stets vor, Andere für sich arbeiten zu lassen. Auf die verwaisten Höfe setzte er als Meier herbeiziehende Fremde, namentlich Friesen, weshalb die neue Bevölkerung immerhin äußerlich einen der alten verwandten Charakter bewahrt hat. In den letzten Jahren des dreizehnten Jahrhunderts machten auch die Oberstedinger einen Versuch, das Joch abzuschütteln und ihre Selbstständigkeit wieder zu erringen – der Versuch mißglückte aber in Folge von Verrath vollständig.

Sechshundert Jahre nach dem Schlachttage von Altenesch, am 27. Mai 1834, setzte eine pietätvolle Generation dem Andenken der Stedinger ein einfaches, würdiges Denkmal auf dem Schlachtfelde selbst, wo jenes tapfere Bauernvolk, den Streichen der römischen Curie erliegend, den Heldentod starb, und wohl ziemt es uns, den Glücklicheren, die wir im hellen Tageslichte einer neuen Zeit wandeln, derjenigen zu gedenken, welche im Kampfe mit den finsteren Mächten des Mittelalters, um die Fahne der Freiheit geschaart, heroisch kämpfend untergingen. Und mit dem schönen Worte, mit welchem Arnold Schloenbach sein Epos[2] über die Stedinger endet, wollen auch wir schließen:

„Jedes Kämpfen für die Freiheit
     Geht der Menschheit nie verloren,
Und aus jedem ihrer Gräber
     Wird sie mächt’ger stets geboren.
Alles Blut, was ihr geflossen,
     Tränkt allewig ihre Saat;
Jede That der Weltgeschichte
     Zeugt auch wieder eine That.“

F. Lindner.




Nach siebenzig Jahren.
Ein Rückblick auf das Wirken des Vaters der deutschen Genossenschaften.[3]


Wer den westlichen Theil der Leipzigerstraße in Berlin zur Zeit der Reichstagssessionen in den Morgenstunden zwischen zehn und elf Uhr durchschreitet, dem wird unter all den ausdrucksvollen Gestalten der Volksvertreter ein nicht zu hoch gewachsener Greis mit mächtigen Schultern auffallen, welcher mäßigen, aber festen Schrittes, ein wenig vornüber gebeugt, dem Eingang des Parlamentes zugeht. Die hohe Stirn, der kraftvolle Mund, welchen leicht ein humorvolles Lächeln umspielt, schneeweißes Haar und gleichgefärbter Bart, blaue, gleichsam funkensprühende Augen, welche in ihrer Jugendlichkeit die Anzeichen des Alters Lügen zu strafen scheinen, vereinigen sich zu einem ebenso wohlthuenden, wie bedeutsamen Ganzen. Mit freundlichem Blick und Dank den häufigen ehrfurchtsvollen Gruß, der ihm vorzüglich von anscheinend dem kleinen Bürgerstande angehörigen Männern zu Theil wird, erwidernd, schreitet Dr. Hermann Schulze-Delitzsch der Versammlung zu, welche er so oft mit der gewaltigen Kraft seiner Rede hingerissen und für seine Gedanken gewonnen hat. Doch, wie groß auch die Zahl seiner parlamentarischen Erfolge ist, wie mächtig sich auch der Einfluß offenbart, welchen die unentwegte Stütze der Fortschrittspartei auch auf die politischen Gegner übt – diese Seite der Thätigkeit Schulze’s hat den geringeren Antheil an seiner Bedeutung. Um mit dem gelehrten französischen Schriftsteller Nefftzer im Pariser „Temps“ zu sprechen: „Gehörte Hermann Schulze-Delitzsch auch nicht dem Landtage von Berlin und dem Parlamente des Nordbundes an, so würde er nichts desto weniger allein durch den Werth seiner Wirksamkeit eine der ersten und mächtigsten Persönlichkeiten Deutschlands sein.“

Von all den Vielen, welche sich berufen glauben, die Lösung der socialen Frage zu ihrem Lebenszweck zu machen, ist Schulze, der Vater der auf Selbsthülfe gegründeten Genossenschaften, einer der Auserwählten, welcher für seine Ideen die am schwersten wiegenden praktischen Erfolge in die Wagschale zu werfen vermag. Aus der Delitzscher Rohstoffassociation der Schuhmacher und dem Vorschußverein, welche Schulze im Jahre 1849 und 1850 mit einer Handvoll Anhänger in das Leben rief, sind dem Jahresbericht von 1878 zufolge im deutschen Reiche 3146 nachweisbare Genossenschaften mit mehr als einer Million Mitglieder emporgewachsen. Nach den Schlüssen, welche aus den vorliegenden Geschäftsergebnissen des letzten Jahres gezogen werden müssen, sind in demselben von den Genossenschaften für über 2000 Millionen Mark Geschäfte gemacht, 160 bis 170 Millionen eigener Capitalien in Antheilen und Reserven angesammelt und über 400 Millionen Mark verzinsliche Anleihen zum Geschäftsbetrieb aufgenommen worden. Allein von der Hälfte sämmtlicher Creditgenossenschaften ist den eigenen Mitgliedern eine Summe von 1456 Millionen Mark an Vorschüssen gewährt worden. Diese ungeheuren Zahlen sprechen für sich selbst und lassen nur noch mehr die kaum glaubliche Arbeitskraft des Mannes bewundern, der diese Riesenelemente beherrscht.

Denn: um die Centralorganisation der Genossenschaften zu ermöglichen, hat Schulze den „Allgemeinen Verband der auf Selbsthülfe beruhenden deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften“ gegründet, dessen Geschäfte er selbst als besoldeter Anwalt mit einem förmlich eingerichteten Bureau führt. Die 1100 Vereine, welche bereits dem Verband beigetreten sind, beschicken alljährlich mit Deputirten den „Allgemeinen Vereinstag“, der die gemeinsamen Lebensinteressen der Genossenschaften zu wahren berufen ist. Als Mittelglieder zwischen diesem Centralorgan und den Einzelvereinen bestehen Unter- oder Landes-Verbände von bald größerem, bald kleinerem Umfang, zur Zeit 32 an der Zahl. Ihre Vorstände bilden den engeren Ausschuß, der, zumal in Finanzfragen, dem Anwalt zur Seite steht. Welch hohe Bedeutung die durch den Verband geschaffene Wechselwirkung der Vereine haben muß, liegt auf der Hand: durch Capitalaushülfe wird die Creditfähigkeit der Vereine gehoben und Stockungen begegnet; durch gegenseitigen Commissions- und Incassoverkehr werden die Kosten desselben auf ein möglichst geringes Maß zurückgeführt.

Doch auch die Großbankverbindung wußte Schulze seinen Schöpfungen dienstbar zu machen. 1864 gründeten die verbündeten Vereine in der „Deutschen Genossenschaftsbank“ von Sörgel, Parisius u. Comp. zu Berlin ein Centralgeldinstitut mit einem Commanditantheilscapital von gegenwärtig 9 Millionen Mark. Im Jahre 1871 wurde zur Erleichterung des Geldverkehrs der süddeutschen Genossenschaften eine Commandite der Bank in Frankfurt a. M. eröffnet.

Daß die Gesetzgebung dieser ungemeinen Ausdehnung der Genossenschaften gegenüber nicht unthätig bleiben konnte, war eine unmittelbare Folge einerseits der rechtlichen Eigenart dieser Schöpfungen, andrerseits der rastlosen Thätigkeit Schulze’s auch auf diesem Gebiet. Nachdem der preußische Staat bereits dem Bedürfniß nach legislatorischer Regelung, wenn auch widerwillig, durch das Gesetz vom 27. März 1867 nachgekommen war, gelangte im folgenden Jahre das norddeutsche Genossenschaftsgesetz vom 4. Juli 1868 zur Annahme, welches seit der im Januar 1875 erfolgten Einführung in Baiern nunmehr für das gesammte deutsche Reich Gültigkeit hat.

Die grundlegenden Elemente dieses Gesetzes offenbaren sich vor Allem in der Fähigkeit jeder Genossenschaft, durch Eintragung in ein gerichtliches Register ohne das Erforderniß der Staatsgenehmigung das Recht der juristischen Persönlichkeit zu erlangen. Mit ihr ausgestattet, ist die Genossenschaft als solche Eigenthümerin ihres Vermögens, erwirbt Rechte und übernimmt Pflichten unter [809] ihrer Firma. Ferner ist in dem Gesetze das strenge Princip der Solidarität durchgeführt, indem jeder Genossenschafter bei eingegangenen Verbindlichkeiten für die Aufbringung der ganzen Schuldsumme, also nicht nur für die ihn bei der Vertheilung treffende Quote, sondern zugleich für die auf seine Mitverhafteten fallenden, dem Gläubiger mit seinem ganzen Vermögen aufkommen muß.

Dieser Punkt der Genossenschaftsgesetzgebung ist, wie leicht erklärlich, derjenige, welchen die Gegner vorzüglich als Bresche für ihre Angriffe auszunutzen suchen. Doch gerade die Solidarhaft ist die Creditbasis des ganzen Genossenschaftswesens. Denn um dem in Folge seiner geringen Mittel Creditlosen die Creditfähigkeit zu verschaffen, muß derselbe, nach den unanfechtbaren Grundsätzen von Leistung und Gegenleistung, einen Einsatz machen, und wie die Creditfähigkeit für ihn unbedingt Lebensfrage ist, so wirft er mit Fug und Recht sein gesammtes Hab und Gut für sie in die Wagschale. Außerdem aber – und dies ist durchaus kein unwesentliches Moment – erhöht die Solidarhaft das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Genossen und wirkt so fördernd auf die sittliche Seite der Vereinigung. Nicht nur die Hoffnung auf den Gewinn, sondern auch die Sorge vor einem wenn auch unwahrscheinlichen Verlust läßt den Einzelnen ein wachsames Auge auf die Geschäftsleitung lenken und veranlaßt ihn erforderlichen Falls zu gemeinsamem Vorgehen mit den Genossen.

So weit es mit seinen Grundsätzen vereinbar war, hat außerdem das Gesetz selbst die Folgen der Solidarhaft durch die weitgehenden Rechte der Mitglieder zur Berufung von Generalversammlungen, zur Stellung von Anträgen in denselben sowie durch die dem Genossenschafterausschuß zustehende Befugniß zur Suspension der Vorstände beschränkt. Auch hat das deutsche Genossenschaftsgesetz, abweichend von dem ehemaligen preußischen, den Vereinen die Möglichkeit gegeben, durch executivische Zwangsumlagen vor Beendigung des Concursverfahreus den Ausfall zu decken und so die Schuldsumme zu vertheilen.

Selbstständigkeit und Solidität – so nennen sich die beiden Grundsteine, auf welchen Schulze sein durchdachtes System aufbaut und die ihm den sichersten Schutz für etwaige Unfälle bieten, und diesen Grundsätzen getreu trat er mit voller Energie in seiner Schrift: „Die Abschaffung des geschäftlichen Risico durch Herrn Lassalle“ ebenso dem berühmten Agitator und seiner Forderung, daß der Staat für die Associationen die nöthigen Capitalien unter seiner Garantie schaffen solle, entgegen, wie er neuerdings die Raiffeisen’schen Darlehnscassen bekämpft, welche die Bildung der Geschäftsantheile durch allmähliche Beisteuern verwerfen und durch die Beschaffung ihrer Betriebsfonds mittelst Anleihen von dritten Personen den streng soliden Boden verlassen. Daß diese Principien zu einer tief innerlich gesunden Entwickelung der Genossenschaften geführt haben, lehrt der Erfolg. Die schwere Geschäftskrisis, welche seit nunmehr bald sieben Jahren auf dem Markte mit erdrückender Wucht lastet, ist, wenn auch nicht spurlos an den Genossenschaften vorübergegangen, so doch von ihnen überstanden worden. An Concursen, einschließlich der bloßen Auflösungen im Wege der Liquidation, wurden die Genossenschaften in einem Zeitraume von über 20 Jahren von etwa 100 bis 120 betroffen, einer im Verhältniß zu den fallirten Unternehmungen handelsgesellschaftlicher Natur wahrhaft verschwindenden Summe.

Nach den Rechnungsabschlüssen des letzten Jahres von 948 Creditvereinen, welche in dieser Hinsicht statistische Erhebungen ermöglichen, ist bei 743, also fast vier Fünfteln derselben, aus dem Reingewinn eine Dividende von 6 Procent und darüber an die Mitglieder von der Summe ihrer Geschäftsantheile gezahlt worden, während der durchschnittliche Dividendensatz dieser Vereine 71/5 Procent beträgt. Trotzdem sind von denselben Genossenschaften dem Reservefonds fast 2 Millionen Mark überwiesen worden.

Die Creditgenossenschaften, auf welche diese Ziffern sich beziehen, stellen allerdings, insbesondere ihrer 1841 Vereine umfassenden Zahl nach, den blühendsten Zweig des gesammten Genossenschaftswesens dar. Doch ist damit die Wirksamkeit der Genossenschaften keineswegs erschöpft: die bekannten Consumvereine (621) besorgen den gemeinsamen Einkauf von Lebensbedürfnissen im Ganzen in möglichst guter und durch den Großbezug dennoch billiger Qualität und lassen dieselben in kleinen Posten an ihre Mitglieder ab; die Baugenossenschaften (49) stellen, abgesehen von einigen Vereinen, die ihren Mitgliedern Baucredite gewähren, Häuser mit einer Anzahl Wohnungen zum Vermiethen an die Genossen her; die Rohstoffgenossenschaften (211) vermitteln den Großbezug der Rohstoffe für die Handwerker und verschaffen so ihren Mitgliedern eine um mindestens 10 bis 20 Procent billigere Waare; die landwirthschaftlichen Werkgenossenschaften (135) schaffen theuere Maschinen an, deren Benutzung von den Genossen nach Zeit und Raum bezahlt wird; die Magazingenossenschaften (54) richten gemeinsame Verkaufsläden ein, in welchen die Mitglieder ihre Waaren auf eigene Rechnung verkaufen, und verbinden diese Unternehmung häufig mit einem Rohstoffgeschäft für die Genossen; die Productivgenossenschaften endlich (198), nach Schulze selbst die höchste Stufe seiner Schöpfungen, vereinigen eine Anzahl von Kleinmeistern oder von Lohnarbeitern zum Geschäftsbetriebe auf eigene Rechnung und Gefahr.

Schon die Aufzählung dieser so verschiedenen Arten der Schulze’schen Vereine weist darauf hin, zu wessen Gunsten dieselben hauptsächlich geschaffen sind. Der kleine Landwirth, der selbstständige Handwerker, der Fabrikarbeiter und Kleinkaufmann nehmen ist gleichem Maße an dem Segen dieser Institutionen Theil. Der über 706 Vorschuß- und Creditvereine vorliegenden Mitgliederstatistik zufolge gehören in denselben unter 347,000 Genossen 92 Procent dem männlichen und 8 Procent dem weiblichen Geschlechte an. Von der Gesammtzahl sind 111,336 Personen, also fast ein Drittel, als selbstständige Handwerker thätig, während 80,401 Personen, also beinahe ein Viertel, als selbstständige Landwirthe, Gärtner, Förster und Fischer sich bezeichnen. Es folgen die selbstständigen Kaufleute mit 35,151 und die Fabrik-, Bergarbeiter und Handwerksgesellen mit 16,779 Personen. Anders stellt sich das Verhältniß bei den 145 zur Beurtheilung kommenden Consumvereinen dar. Hier sind von 79,106 Mitgliedern 88½ Procent männlich und 11½ Procent weiblich. Die Fabrikarbeiter etc. machen mit 29,199 Personen über ein Drittel, die selbstständigen Handwerker mit 13,303 etwa ein Sechstel der Gesammtsumme aus. Es folgen als neues Element die Aerzte, Apotheker, Lehrer, Künstler, Schriftsteller und Beamte mit 10,048 Personen. Die übrigen Arten der Genossenschaften entziehen sich leider durch die Spärlichkeit der eingegangenen Verzeichnisse der Beurtheilung.

Daß ein Mann wie Schulze seinen von den socialistischen Agitatoren vielverketzerten Grundsatz: „Die Fähigkeit der Capitalansammlung bei den Menschen ist gleichbedeutend mit ihrer Culturfähigkeit“ nicht in dem niedern, gänzlich aus dem Zusammenhang gerissenen Sinne, in welchem man ihn auszubeuten suchte, verstanden wissen wollte, hat er durch seine neueste Schöpfung, an welche er seine volle Kraft setzt, durch die Gründung der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung bewiesen.

In ähnlicher Weise, wie Schulze bei den Genossenschaften die Centralisirung durch den Allgemeinen Verband hergestellt hat, beabsichtigte er mit dieser Gesellschaft den Mittelpunkt für die vielfachen bisher von einander unabhängigen und in ihrer Vereinzelung schwachen Vereinsbestrebungen für die Hebung der Volksbildung zu schaffen. Die noch junge Schöpfung nimmt bereits den erfreulichsten Aufschwung: am Ende des Jahres 1878 zählte die Gesellschaft 4339 persönliche und 772 körperschaftliche Mitglieder, von welchen die letzteren wiederum zum größten Theil eine bedeutende Anzahl von Personen umschließen.

Der Vorstand, welcher aus Schulze selbst, den bekannten Abgeordneten Löwe (Calbe) und Hammacher, dem Justizrathe Makower und dem Generalsecretär der Gesellschaft Lippert besteht, ist unablässig bemüht, für die segensreiche Institution immer weiteren Boden zu erkämpfen. Wanderlehrer ziehen von Ort zu Ort, um vornehmlich der Culturgeschichte und Wirthschaftslehre entnommene Gegenstände in öffentlichem Vortrag zu besprechen, während die Einzelvereine selbst außerdem geeignete Vortragskräfte für diese Bemühungen gewinnen. So wurden allein in einem der acht verschiedenen Provinzial- und Bezirksverbände, dem Preußischen, in dieser Art 826 Vorträge gehalten.

Das in neun Abtheilungen nach Wissensgebieten geordnete Volksmuseum wird den Einzelvereinen zur Veranschaulichung geliehen, vor Allem aber den Volks- und Vereinsbibliotheken die ausgiebigste Unterstützung zu Theil. In gleichem Sinne fördert die Gesellschaft die Pflege der Fortbildungsschulen insbesondere für Lehrlinge und Mädchen der arbeitenden Classen mit Rath [810] und That. Wie wohlthätig diese Einrichtungen wirken, erhellt wohl am besten aus dem unter den zahlreichen statistischen Erhebungen herausgegriffenen Nachweis, daß allein in dem Zweigverein Leipzig 51,184 Bücher gelesen wurden, während in der Fortbildungsschule zu Frankfurt am Main sich im Ganzen 645 Schüler an 29 Cursen betheiligten.

Trotz all dieser großartigen Unternehmungen Schulze’s ist derselbe eine jener seltenen Naturen, bei welchen der Mensch nicht im öffentlichen Leben aufgeht, sondern, so oft er es vermag, im Frieden seiner Häuslichkeit dem Freunde ein stets herzliches und gastfreies Willkommen entgegenruft.

In seinem nahe der russischen Colonie in Potsdam gelegenen Hause in der Spandauerstraße denkt und schafft der greise Volksfreund in unerschöpflicher Frische für das Wohl der kommenden Geschlechter. Wer ihn hier gesehen, wie er in dem prächtigen Garten sorgsam seine Blumen pflegt, wie er mit stolzen Augen den reichen Fruchtsegen betrachtet, der ihm von Baum und Strauch freundlich entgegen grüßt, wer ihn gesehen, wie er mit leuchtender Miene lauscht, wenn der ihm nahe befreundete Capellmeister Taubert dem Flügel die ergreifenden Töne einer Beethoven’schen Sonate entlockt – dem wird klar, was für den Forscher aus jeder Zeile seiner Werke, aus jedem Gedanken seiner Schöpfungen spricht, daß hier ein edler Mann, voll Empfänglichkeit für alles Gute, Wahre und Schöne, seine Stätte aufgeschlagen.

Und doch sind am 29. August 1878 schon siebenzig Jahre über sein im reichsten Schaffen ergrautes, vom edelsten Erfolg gekröntes Haupt dahingerauscht. Alle die Vielen, welche an diesem Tage dem durch plötzliches Leiden in die Krankenstube gebannten Vater der Genossenschaften ihre Liebe und Verehrung bethätigen wollten, konnten nur in Vereinen und Kreisen sein Ehrenfest feierlich begehen. Mit Stolz hörte dort das Volk, seine große Familie, von ihm, von seinem Schaffen und Wirken und ließ im Herzen das Wort des größten Briten wiederklingen:

„Er ist ein Mann – nehmt Alles nur in Allem.“

Max Ring.




Blätter und Blüthen.


Bitte für „Friederiken-Ruhe“. Von Albert Grün in Straßburg, dem alten treuen Freunde Ernst Keil’s und der „Gartenlaube“, ist uns eine „Bitte an die Deutschen“ zugesandt worden, welche offenbar dem Gefühl entsprungen ist, daß gern Jedermann etwas beitrüge, um durch freundliche Erinnerung gut machen zu helfen, was einst der stolze, prächtige Frankfurter Advocatensohn der armen Sesenheimer Pfarrtochter Leides angethan. Die Bitte lautet im Auszug so:

„Die Erinnerung an jene Idylle, welche Goethe in Sesenheim erlebt und später so wundervoll beschrieben hat, wird Jedem am Herzen liegen, der deutsche Dichtung kennt und liebt. Ihr ein angemessenes Denkmal zu weihen, ist schon vor mehr als zwanzig Jahren im Elsaß beabsichtigt worden. Es war der Plan, den Hügel, auf dem einst ‚Friederiken-Ruhe’ lag, anzukaufen und auf’s Neue durch eine Laube, der ehemaligen möglichst gleich, zu krönen. Wer das friedlich stille Dorf durchwandert, im Pfarrhause, dessen Abbildung wir beifügen, die dort treu gehegten Erinnerungen aufgesucht hat, wird auch nach jenem traulichen Plätzchen fragen, auf dem einst Goethe mit Friederike Hand in Hand saß; es wird ihn betrüben, an dieser Stelle nur ein Ackerfeld vorzufinden.


Das Pfarrhaus zu Sesenheim.


Wie anders, wenn ‚Friederiken-Ruhe’ wieder erstünde, die hier nach allen Seiten sich öffnende freundliche Aussicht in vier Laubrahmen faßte und zugleich im kühlen Schatten den Blick in die Vergangenheit zu werfen einlüde!

Jetzt, wo ja die Blicke der Deutschen mit anderen Augen nach dem Elsaß herüberschauen, ist es möglich, diesen Wunsch zu erfüllen. Der dankbaren Verehrung für den großen Dichter wird es um so leichter sein, die erforderliche Summe für den Ankauf des Grundstücks und die Herstellung der Anlagen (etwa dreitausend Mark) zu beschaffen, da ein Drittheil derselben bereits in früherer Zeit aufgebracht worden ist. Weitere Beisteuern bitten wir an den Kassier des Comités, Herrn Notar Haug in Niederbronn, einzusenden. Ueber die eingegangenen Beiträge wird seiner Zeit wohl auch die „Gartenlaube“ öffentlich Rechenschaft ablegen. [4] Sollte sich ein Ueberschuß ergeben, so wird er, den Vorschlägen des früheren Comités gemäß, als ,Friederiken-Stiftung’ der Gemeinde Sesenheim zum Besten armer Mädchen in derselben überwiesen werden.

Straßburg, im Herbst 1879.“




Goethe’s Frauenbekanntschaften. Wir führen unseren Lesern, wie die Unterschrift unter der Portraitgallerie auf Seite 797 anzeigt, einige „Frauengestalten aus Goethe’s Leben“ vor, welche in größerer Anzahl das dort erwähnte Düntzer’sche Buch schmücken. An der Spitze unserer liebenswürdigen Gesellschaft steht diejenige, welche im Leben den galanten Dichter allein haben wollte; und wohl eben deshalb wendet sie sich sogar noch im Bilde stolz von all den anderen ab: Frau Charlotte von Stein ist die Dame, diese Frau mit dem weitesten Herzen; denn es konnte einen Gemahl, sieben Kinder und noch den ganzen Goethe dazu in sich aufnehmen. Ihre Nachbarin zur Rechten ist das berühmte „Kind“ Bettina von Arnim, geborene Elisabeth Brentano. Als Dritte in der obersten Reihe erscheint Elisabeth Schönemann, die schöne Frankfurter Bankierstochter, die Goethe als seine „Lili“ feierte, mit der er sich am 23. April 1775 sogar verlobte; nach der Verlobung kam die gegenseitige Entfremdung und Goethe’s Abreise nach Weimar.

Die Mitte der zweiten Reihe nimmt das Schwesternpaar Oeser ein, deren frisches kunstbelebtes Wesen Goethe’s Leipziger Studentenzeit verschönte. Sein besonderer Liebling war Friederike, welche auf unserm Bilde ein Buch in der Hand hält; die Lautenspielerin war die Gattin eines Kupferstechers Geyser. Ueber Goethe’s Verhältniß zum Vater Oeser vergl. „Gartenlaube“ 1868, Nr. 9. Zur Linken und Rechten sind den Schwestern zwei Schönheiten ersten Ranges zugesellt: Corona Schröter und die Italienerin Marchesa Branconi, des damaligen Herzogs von Braunschweig „heimlich angetraute“ Gemahlin. In dem untersten freundlichen Gesichtchen links begrüßen wir das brave Käthchen Schönkopf, von welchem die „Gartenlaube“ 1865, S. 742 Ausführliches erzählt hat. Ihr gegenüber erinnert Charlotte Kestner, die als Lotte Buff eine Flamme des verliebten jungen Wetzlarer Juristen war, an Werther’s Leiden. Es bleibt uns zum Schluß nur noch die wohlconservirte Dame in der ovalen Umrahmung zu betrachten übrig. Das ist Christiane Vulpius, die in den überreichen, von glühendster Poesie strahlenden Liebesblumenstrauß des großen Dichters als ehrsame Kornähre gesteckt wurde, indem sie, die Dreiundvierzigjährige, dem Siebenundfünfziger, nachdem sie achtzehn Jahre dessen treue Geliebte gewesen, als Frau von Goethe angetraut wurde.




Die Pfirsichcultur in Nordamerika. Um die Anpflanzung des Pfirsichbaumes in den Vereinigten Staaten hat sich der verstorbene Dr. S. Hull, Präses des Horticulturdepartements im Staate Illinois, besondere Verdienste erworben. Sein gegenwärtig dem Sohne gehöriger Garten bei Alton, der einige hundert Acker umfaßt, lieferte in manchen Jahren eine Bruttoeinnahme von mehr denn 30,000 Dollars und beschäftigte das ganze Jahr hindurch eine nicht unbedeutende Anzahl von Arbeitern, zur Zeit, wenn die Frucht abgepflückt werden mußte, oft täglich mehr denn 150. Da seine Methode der Anpflanzung wie seine Art, die Pfirsiche auf den Markt zu bringen, in ganz Nordamerika als mustergültig anerkannt ist, so dürfte ein Bild seiner Fruchtfarm und der darauf herrschenden Thätigkeit auch für das Ausland nicht ohne Interesse sein.

Parallel laufende, etwa 100 Meter von einander entfernte, dicht an einander gepflanzte Edeltannen schützen gleich einer von Südwest nach Nordost gezogenen Mauer die dazwischen gepflanzten Pfirsichbäume gegen die rauhen, im Winter hier herrschenden Nordweststürme. Jeden Herbst, wenn die Ernte vorüber und so lange es die Witterung erlaubt, wird der Boden gepflügt, um erst kurz vor der Ernte abgeeggt zu werden. Ferner werden die Wintermonate dazu benutzt, die Bäume auszuästeln, die zur Verpackung und Versendung aus dünnen, von Fabriken schon in die passenden Längen und Formen geschnittenen Holztafeln zu Körben und Kisten zusammen zu nageln, wie überhaupt alle zur Ernte nöthigen Geräthschaften in Stand zu setzen. Gegen das Frühjahr, wenn der Boden noch gefroren ist, wird derselbe um die Bäume herum mit Sägemehl oder einem anderen, die Wärme schlecht leitenden Material bedeckt, um denselben so lange wie möglich gefroren zu erhalten; damit soll möglichst verhindert werden, daß der Saft vor Aufhören der Nachtfröste in die Knospen tritt. Später gilt es, den Baum vor Insecten und [811] Raupen zu schützen, zu welchem Zwecke man sich eines auf zwei Rädern liegenden Balkens bedient, dessen eines Ende mit einer Guttaperchaplatte bekleidet ist; an diesem Ende ist ferner ein Schirm befestigt, vorn mit einer Spalte versehen, die es zuläßt, daß der Baum mit dem Ende des Balkens gestoßen werden kann, während der Schirm gleichzeitig den Stamm umgiebt; in Folge der durch die Stöße bewirkten Erschütterung fallen Raupen und Käfer auf den Schirm herab, worauf sie zusammengefegt und dem Feuertode übergeben werden.

Wächst die Frucht, so werden die abfallenden unreifen Früchte täglich aufgelesen und vernichtet, um die darin enthaltene Insectenbrut zu zerstören; durch dieses Verfahren wurde allmählich dem Insectenschaden fast gänzlich vorgebeugt.

Die Pfirsiche an und für sich zerfallen der Farbe nach in rothe, weiße und gelbe, der Beschaffenheit nach in Free Stones, solche, deren Kern bei eintretender Reife sich leicht von dem ihn umgebenden Fleische loslöst, und Cling Stones, solche, deren Kern mit dem Fleische fest verwachsen ist; erstere Sorten werden mehr zum frischen Genuß gezogen, letztere mehr zum Einmachen für den Winter gebraucht; endlich unterscheidet man noch frühe und späte Pfirsiche. Hull cultivirte etwa vierzig verschiedene Sorten, deren früheste er schon zu Ende Juni auf den Markt bringen konnte, während die andern Sorten successive zur Reife gelangten, bis die letzten Ende October zum Verkauf kamen.

Sind die Pfirsiche zur Reife gelangt, so werden die Bäume täglich gemustert und die reifen Früchte abgepflückt. Jeder Arbeiter erhält Marken mit seinem Namen, deren eine er jedem gepflückten Korbe beilegt. Auf diese Weise läßt sich zugleich Dreierlei controlliren: erstens, ob der Arbeiter fleißig war, zweitens, ob er nicht etwa unreife Früchte gepflückt hat, und drittens, ob er vollkommen den Baum abgelesen hat. Sofortige Entlassung trifft den, welcher gegen diese drei Haupterfordernisse des Pflückens fehlt. –

Die nun gepflückten Pfirsiche werden nach dem Verpackhause gebracht; die wurmstichigen nebst den vom Boden aufgelesenen, welche an Destillerien zur Fabrikation des bekannten Peach Brandy verkauft werden, legt man in große Fässer bei Seite, die weniger beschädigten wandern in das Präservirungshaus, von wo sie in hermetisch verschlossenen Blechbüchsen in den Handel kommen, die übriggebliebenen ganz fehlerfreien werden dann nach ihrer Größe wieder in zwei Theile, und endlich jeder dieser Theile nochmals in reifere und noch etwas grüne Pfirsiche geschieden, von denen die ersteren für näher gelegene, die letzteren für entferntere Märkte bestimmt sind.

Jetzt werden die Früchte in Holzkörbe gepackt, deren etwa zehn einen preußischen Scheffel fassen, alsdann hübsch mit Eichenlaub, welches sich lange grün hält, verziert, endlich die rothen Pfirsiche mit rothem, die gelben mit gelbem Flor überzogen, des schöneren Aussehens wie der Insecten wegen. Je zwei solcher Körbe werden durch dünne Latten zusammengehalten und sind dann für den Versand fertig, der alle Abende durch besonders für diesen Zweck von der Eisenbahn gestellte Züge geschieht. Der Preis des Arbeitslohnes für einen guten Pflücker ist etwa fünfviertel Dollar pro Tag, der für ein Paar Körbe erzielte Marktpreis schwankt zwischen anderthalb Dollar und fünfzig Cent, je nach dem Ausfall der Ernte.

Im Allgemeinen werden in Nordamerika die Pfirsiche in Körben von je einem halben Bushel, etwa dreiviertel Scheffel, in ganzen Eisenbahnzügen unsortirt nach den Handelscentren New-York, Philadelphia, Baltimore etc. gesandt, und die Staaten Delaware und Süd-Carolina haben den Markt in guten Jahren schon so überfüllt gehabt, daß Commissionäre aus Furcht, die dafür auszulegende Fracht zu verlieren, die Annahme verweigerten und daß dann die Eisenbahnen ganze Wagenladungen in das Meer oder den Fluß werfen ließen. Jetzt hat der Absender die Fracht zu zahlen, was zur Folge hat, daß er vorsichtiger in der Wahl des Marktes ist und nur bessere Qualität versendet. Trotzdem ist die Anpflanzung des Pfirsichbaumes immer noch sehr lohnend für den, der es richtig anzufangen versteht.




Ein vermißter Schulknabe. Am 23. October ist in Halle an der Saale ein dreizehnjähriger Knabe, aus Schamgefühl vor einer Schulstrafe, nicht in das Vaterhaus zurückgekehrt. Am 24. und 25. October hat man ihn noch in Oberröblingen am See und in Eisleben gesehen; seitdem ist er spurlos verschwunden. Der Knabe, Friedrich Hupe, der Sohn des Kaufmanns Adolph Hupe (Wallstraße 1, in Halle an der Saale) ist von schlanker, schmächtiger, doch seinem Alter entsprechender Figur, hat blasses Gesicht mit Sommersprossen, graue Augen, röthlichblondes Haar, am Kopfe auf dem Wirbel als Ueberbleibsel eines bei der Geburt gehabten Geschwürs eine wenig bemerkbare Erhöhung. Bekleidet war er mit bereits gebrauchtem, jetzt jedenfalls sehr defectem Jacquet, mit Beinkleid und Weste aus gleichem graubraunem Stoff, leinenem Hemd, grau-wollenen Strümpfen, Stiefeln mit langen Schäften, blauer, sogenannter österreichischen Mütze. In der Tasche des Jacquets hat er Bleistift und Federhalter bei sich geführt. Sein Wesen ist ein offenes, zutrauliches, gesprächiges, und sein Benehmen ein über sein Alter hinaus verständiges und ernstes. Wir bitten dringend Jedermann, dem eine Kunde über das Schicksal des vermißten Kindes zukommt, sie uns oder den unglücklichen, trostlosen Eltern sofort mitzutheilen.
D. Red.




Kleiner Briefkasten.

M. Kl. Poststempel Crimmitzschau. Sonderbarer Schwärmer! Sie glauben also wirklich, es gehöre zu den Pflichten einer Redaction, jede Frage zu beantworten, die irgend ein unbekannter X. Y. an sie zu stellen beliebt? Und Sie bilden sich wirklich ein, daß X. Y. ein Recht hat, uns „als Abonnent“ mit brüsken Mahnungen zu belästigen, wenn wir uns nicht bereit gefunden haben, seinem vermeintlichen Anspruche auf einen gemüthlichen Gedankenaustausch mit uns in schuldiger Dienstbeflissenheit zu genügen? Wo in aller Welt haben Sie denn Ihre curiosen Vorstellungen von dem Geschäftskreise einer Redaction sich hergeholt? Allerdings wird bei uns viel Zeit und Kraft auf die Beantwortung von Privatbriefen aus dem Publicum verwendet. Es geschieht dies aber immer nur nach sorgfältiger Prüfung der Gegenstände, und meist nur aus rein humanen Beweggründen in solchen Fällen, wo dem Wohle des Fragenden durch Rath oder Auskunft gedient werden kann. Von einem Zwange aber und einem Rechte auf Erwiderung kann auch hier nicht die Rede sein, geschweige daß wir im Stande wären und uns dazu herbeilassen könnten, auch noch in ernstlicher Correspondenz auf alle die brieflichen Expectorationen, kindischen Einfälle, abgeschmackten Rath- und Vorschläge, kurz auf alle die gänzlich müßigen, zum großen Theil sichtlich aus frivolem Zeitvertreibungsbedürfniß hervorgegangenen Anfragen uns einzulassen, welche die Post im Laufe eines Jahres tausendweise an uns zu befördern hat. Wir haben gegen solche Behelligungen nur ein Schutzmittel, den Papierkorb, und können Ihnen daher für die „Geduldprobe“, die Ihnen unser Stillschweigen auferlegte, nur den Trost geben, daß Sie recht viele Leidensgefährten haben, wenn sie auch nur selten so unbescheiden sind und an so wunderlichen Vorstellungen leiden, wie Sie.

Abonnent in Russland. Das von Ihnen zum Gegenstand einer Anfrage gemachte ärztliche Bureau in Leipzig ist natürlich reiner Humbug ebenso das R.’sche Buch.

Sanin. Die Schlegel-Tieck’sche Uebersetzung.

D. N. in Hersford. Auf Kritik läßt die „Gartenlaube“ sich grundsätzlich nicht ein, weder brieflich noch an dieser Stelle.

Abonnent in B. Ist bei häufiger Reinigung durchaus unschädlich.

Mehreren Fragestellern zur Antwort, daß allerdings das von uns bereits empfohlene Pensionat der Frau Mathilde Beta in Berlin (Schellingsstraße 16) fortbesteht und in recht gedeihlicher Entwickelung begriffen ist.

F. R. Nicht geeignet und daher dem Papierkorbe bereits übergeben.

W. F. N., S. Adlr. in Wien und A. H. Ungeeignet! Verfügen Sie gefälligst über das Manuscript.

Mignon in Dresden. Robert Burns.



Zu Festgeschenken geeignete Artikel aus dem Verlage
von Ernst Keil in Leipzig.

Lumpenmüllers Lieschen.

Roman

von

W. Heimburg

Verfasserin von „Aus dem Leben meiner alten Freundin“.

Broschirt. Preis 5 Mk.

Die Verfasserin, eine unserer talentvollsten Novellistinnen und durch ihr Erstlingswerk „Erinnerungen meiner alten Freundin“ bereits vortheilhaft bekannt, hat mit obigem in der „Gartenlaube“ veröffentlichten zweiten Romane einen so entschiedenen Erfolg errungen, daß die Herausgabe desselben in Buchform in allen Kreisen lebhaftes Interesse erwecken wird.




Ernst Scherenberg:

Gedichte.

2. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt.

Preis 5 Mk. 25 Pf.

Scherenberg’s Gedichte werden sich auch in dieser neuen Ausgabe durch ihre freisinnige patriotische und religiöse Tendenz ohne Frage eine erhebliche Anzahl neuer Verehrer erwerben. Politik und Vaterlandsliebe, Lenz und Liebe und was sonst das menschliche Herz bewegt – all die alten Themata der Poesie erhalten hier in dem Spiegel einer fein angelegten Dichternatur einen neuen ansprechenden Ausdruck, der nicht verfehlen kann in der deutschen Leserwelt ein starkes Echo zu finden.




Feuerseelen.

Erzählungen

von

E. Werber.

broschirt. Preis 5 Mk.

Frau E. Werber entrollt in ihren geist- und stimmungsvollen Novelletten „Charlotte Venloo“, „Ein Meteor“ etc. Seelengemälde von packender Schönheit, hinreißender Leidenschaft und tiefer psychologischer Bedeutung. Die Verfasserin überragt durch die Eigenart ihrer Weltanschauung, wie durch das, meist düstere, Colorit ihrer gedankentiefen Prosadichtungen die Mehrzahl der heutigen Novellisten um Haupteslänge.




[812]

Marlitt, E. Goldelse. 12. Auflage. Eleg. brosch. Preis 3 Mk. – Pf.
Die zweite Frau. 2 Bände. 5. Aufl. Eleg. brosch. 7 Mk. 50 Pf.
Das Geheimniß der alten Mamsell. 2 Bände. 9. Aufl. Eleg. brosch. 6 Mk. – Pf.
Das Haideprinzeßchen. 2. Bde. 4 .Aufl. Eleg. brosch. 9 Mk. – Pf.
Im Hause des Commerzienrathes. 2. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 8 Mk. – Pf.
Thüringer Erzählungen. 4 .Aufl. Eleg. brosch. 4 Mk. 50 Pf,

Wenn in unseren Tagen Novellendichtungen jemals ein sensationelles Aufsehen erregten, so sind es diejenigen E. Marlitt’s. Der poetische Glanz der Schilderung und die überzeugende Plastik der Situationsmalerei, die künstlerische Rundung der Composition und die durchaus charakteristische Färbung der Diction sind neben der geschickten Handhabung der spannenden Momente die glänzenden Vorzüge Marlitt’scher Prosadichtung. Nach diesen Seiten des Schaffens hin steht die Dichterin nahezu unerreicht da, und bei deren beispielloser Beliebtheit in weitesten Kreisen bedarf es wohl kaum eines Wortes der Empfehlung ihrer älteren, neuen und neuesten Erzählungen. Die Marlitt-Gemeinde reicht so weit, wie die deutsche Zunge klingt.


Albert Traeger:

Gedichte. 13 neuvermehrte Auflage, In gepreßter Decke elegant gebunden.

Preis 5 Mk. 25 Pf.

Unter den neueren Lyrikern ist nur wenigen die Gunst des Publikums in dem Maße zu Theil geworden, wie Albert Traeger; denn fast jedes Jahr bringt eine neue Auflage seiner Poesien. In Traeger’s Versen gehen mit der melodischen Form die Innigkeit des Gefühls und die Wärme der Ueberzeugung Hand in Hand; die Liebe, besonders die zur Mutter, hat dem Dichter die am tiefsten empfundenen Lieder dictirt. Aber auch für die Armen und Unterdrückten hat er ein mitfühlendes Herz, und dem Vaterlande huldigt er in schwungvollen Gesängen.


Deutsche Pickwickier.

Komischer Roman von Ferdinand Stolle. 3 Bände. 3. Auflage.

Preis 3 Mark.

Unsere Literatur ist arm an guten humoristischen Schöpfungen. Zu den wenigen werthvollen Erzeugnissen auf diesem Gebiete gehören Stolle’s Deutsche Pickwickier, und eben deshalb senden wir diese dritte Auflage des in so weitem Kreise beliebt gewordenen Buches mit der Zuversicht hinaus, daß dadurch das Andenken an den heimgegangenen Dichter in recht vielen Herzen erneuert werde.


Wilhelmine v. Hillern,

geb. Birch, Aus eigner Kraft. 3 Bände.

Elegant broschirt. Preis 9 Mk.

Die Verfasserin hat sich auf dem Felde belletristischer Literatur schon durch ihren „Arzt der Seele“ so rasch und allgemein Bahn gebrochen, daß eine Buch-Ausgabe des obigen in der „Gartenlaube“ erschienenen Romans, die noch vielfach revidirt und umgearbeitet wurde, Freunden schönwissenschaftlicher Literatur eine fesselnde Erscheinung sein muß.


Emil Rittershaus:

Neue Gedichte. Vierte Auflage. 20 Bogen in eleg. Salon-Ausstattung.

Preis 6 Mk. 50 Pf.

Emil Rittershaus, unzweifelhaft einer der talentvollsten Dichter der Gegenwart, fehlt nie mit seinem Liede, wenn es gilt, ein Ereigniß der Zeit zu erfassen und in allen Schichten des Volkes zur verständnißvollen Geltung zu bringen; neben seinen politischen und patriotischen Gedichten sind es namentlich die der stillen Welt des Hauses gewidmeten dichterische Kundgebungen, welche ihm die Liebe des deutschen Volkes längst gesichert haben, aber die größte Popularität dankt er ohne Zweifel denjenigen poetischen Schöpfungen, welche den Ereignissen der Jahre 1870 und 1871 ihre Entstehung verdanken.


Carl Maria von Weber.

Ein Lebensbild von Max Maria von Weber. Drei Bände,

Elegant broschirt. Preis 20 Mk. 50 Pf.

Carl Maria von Weber hat den besten Biographen in seinem Sohne Max Maria von Weber gefunden. Derselbe ist bei Ausarbeitung dieses wichtigen Buches mit großer Objectivität verfahren, und sein Werk ist nichts weniger als eine Lobschrift auf seinen Vater. Außer den Familientraditionen, Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen, die sich schon in seinem Besitze befanden, hat er durch siebenjähriges Sammeln ein ganz ungemein reiches, noch nie veröffentlichtes Material an Correspondenzen und Mittheilungen zusammengebracht, das ihm theils auf zahlreichen deshalb unternommenen Reisen, theils auf briefliche Aufforderungen von Behörden und Privatleuten mit einer Bereitwilligkeit geliefert worden ist, durch die sich das warme Interesse an dem volksthümlichen Componisten und der pietätvollen Unternehmung des Sohnes deutlich documentirt hat.


Rudolf Gottschall:

Janus. Friedens- und Kriegsgedichte. 16. Eleg. geb. mit Goldschnitt.

Preis 4 Mk. 50 Pf.

In dieser Gedichtsammlung offenbart sich der auf dem Felde der Literaturgeschichte und Kritik in den weitesten Kreisen bekannte Verfasser als ein Lyriker von tiefem Gedankengehalt, als ein Odensänger großen Stils und ein feinsinniger dichterischer Interpret der Zeit und des Lebens. Der Name des Autors bürgt für die Gediegenheit seiner Friedens- und Kriegsgedichte.


E. Marlitt:

Goldelse. Roman. Illustrirt von Paul Thumann. Salon-Ausgabe. 2. Auflage.

Preis eleg. geb. mit Goldschnitt 10 Mk. 50 Pf.

Die ganz außerordentlichen Erfolge der Marlitt’schen Goldelse, die nun schon in 24000 Exemplaren verbreitet ist, haben den Verleger bereits vor Jahren veranlaßt, eine illustrirte Salon-Ausgabe dieses Werkes zu veranstalten, welche unter den literarischen Festgeschenken für Freunde der Marlitt’schen Muse sowohl, wie für alle Liebhaber einer guten artistisch reich ausgestatteten Lectüre eine vielbegehrte Erscheinung bleiben dürfte.

Dieselbe ist auf Tonpapier in Lexikon-Octav elegant und splendid gedruckt und mit 36 Text- und 10 Vollbildern von der bewährten Meisterhand Paul Thumann’s illustrirt. Der Einband mit Goldpressungen nach Zeichnungen von W. Georgy entstammt der renommirten Buchbinderei J. R. Herzog in Leipzig.


Werner, E., Am Altar. 2. Bde. 2. Aufl. Eleg. brosch. 6 Mk. – Pf.
– Gesprengte Fesseln. 2. Bde. 2. Aufl. Eleg. brosch. 7 Mk. – Pf.
– Gartenlaubenblüthen. 2. Bde. 2. Aufl. Eleg. brosch. 6 Mk. – Pf,
– Glück auf! 2. Bde. 2. Aufl. Eleg. brosch. 7 Mk. 50 Pf.
– Um hohen Preis. 2. Bde. Eleg. brosch. 8 Mk. – Pf.
– Vineta. 2. Bände. 2. Aufl. Eleg. brosch. 7 Mk. 50 Pf.

Klarheit und Originalität der Erfindung, Schärfe und Lebenswahrheit der Charakterzeichnung, Sicherheit und Feinheit in der Führung der Handlung haben die Erzählungen E. Werner’s hoch über das Niveau literarischen Mittelgutes hinaus gehoben und sie dem Besten angereiht, was die Neuzeit auf dem Gebiete des Romans aufzuweisen hat. Möge der Kreis der Werner-Verehrer, der sich bisher von Jahr zu Jahr erweitert hat, auch fernerhin wachsen und so der geistvollen Verfasserin, von der die „Gartenlaube“ in ihrem neuen Jahrgange eine eben vollendete Erzählung publiciren wird, frische Anregung zu rüstigem Weiterschaffen geben! E. Werner’s Schöpfungen verdienen ein Eigenthum des deutschen Volkes zu werden.


Robert Prutz:

Buch der Liebe. 4. Auflage.

Eleg. geb. mit Goldschnitt. Preis 5 Mk. 25 Pf.

Diese Gedichte gehören zu den schönsten lyrischen Erzeugnissen der Neuzeit und gereichen der deutschen Lyrik zur besonderen Zierde – ist doch Robert Prutz, was Klarheit des Gedankens, Tiefe der Empfindung und Schmelz der Form betrifft, eines der glänzendsten Talente auf dem deutschen Parnaß.

Robert Blum.

Ein Zeit. und Charakterbild für das deutsche Volk. von Hans Blum. Mit R. Blum’s Portrait in Stahlstich und einem Facsimile.

8°. Eleg. brosch. Preis 6 Mk.

So weit auch die Zeit vor 1818, infolge der großen Ereignisse der letzten zwölf Jahre, hinter uns liegt, so darf doch mit Recht hehauptet werden, daß das deutsche Volk dem Namen Robert Blum’s als des Repräsentanten der Idee einer freiheitlichen und nationalen Gestaltung Deutschlands ein treues Andenken bewahrt hat. Das vorliegende Buch, in welchem der Sohn auf Grund reichhaltigen Materials und wichtiger Familienpapiere den Lebensgang des Vaters, seine Entwickelung, seine Kämpfe und sein thatsächliches Eingreifen in die Geschicke seines Vaterlandes zeichnet, ist zugleich von hohem Werth für die Geschichte der deutschen Bewegung vor und bis 1848.


Ferdinand Stolle:

Palmen des Friedens. Eine Mitgabe auf des Lebens Pilgerreise. Dichtungen. 5. vermehrte Auflage.

Prachtvoll gebunden 4 Mk. 50 Pf

Das Publicum, welches mit so großem Beifalle die vor Jahren in der „Gartenlaube“ mitgetheilten Proben dieser Sammlung – wir erinnern an die schönen Lieder:

„O könnte mir ein Lied gelingen, wie Gott es selbst in’s Herz mir schrieb etc.“ – „Wenn eine Mutter betet für ihr Kind etc.“ – „Was ist das Herz – es ist ein Blumengarten etc.“ –

begrüßte, wird diesen herrlichen Blumenstrauß, in welchem sich der klare Geist, das lautere Gemüth Stolle’s in schöner Form widerspiegeln, auch ferner willkommen heißen. Die „Palmen des Friedens“ sollten unter den poetischen Geschenken, die sich Freundschaft und Liebe einander darbieten, einen der ersten Plätze einnehmen.


Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Verfasser obigen Artikels, dessen Aufsätze über „Das Leben und Treiben auf dem Meeresgrunde“ in Nr. 41 und 42 des vorigen Jahrgangs so lebhaften Anklang gefunden, veröffentlicht soeben ein solches Werk unter dem Titel: „Der thierische Wille. Systematische Darstellung und Erklärung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwickelung und Verbreitung im Thierreiche als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre“ (Leipzig, Ambr. Abel). Schneider ist ein talentvoller Schüler Häckel’s.
    D. Red.     
  2. Vergl. Gartenlaube 1864, S. 783.
  3. Obigen Artikel veröffentlichen wir im Hinblick auf den im vorigen August gefeierten siebenzigsten Geburtstag des ehrwürdigen Volksmannes dessen die „Gartenlaube“ bereits früher (1859, S. 719; 1863, S. 517) eingehend gedacht hat, sowie im Hinblick auf das soeben erschienene Werk „Schulze-Delitzsch. Leben und Wirken“ von A. Bernstein (Berlin, Max Bading). Wir benutzen die sich hier bietende Gelegenheit, um auf die genannte Biographie des großen Organisators, welche die Geschichte seines Wirkens in der Geschichte seines Lebens wiedergiebt, empfehlend hinzuweisen; der geistvolle A. Bernstein giebt den deutschen Lesern mit dieser dankenswerthen Arbeit ein echtes Volksbuch in die Hand.
    D. Red.
  4. Soll gern geschehen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jahrhunders