Die Gartenlaube (1881)/Heft 4
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No. 4. | 1881. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Amtmanns Magd.
(Fortsetzung.)
Das Mädchen wandte sich ab, als hörte sie kaum auf das, was Fritz sagte, und nahm das weiße Tuch von der Bank, um es wieder über den Kopf zu werfen.
„Aber mir geht das Rebelliren im alten Hirschwinkel doch an’s Herz,“ setzte er hinzu. „Das Vorwerkshaus steht auch nicht fester als die Schneidemühle – der beste Vorwand, kurzen Proceß zu machen.“
„Mag er!“ sagte das Mädchen rauh, während sie die Tuchzipfel mit hastigen Händen unter dem Kinn zusammenknüpfte. „Mag er uns auf den Bettel schicken! Mag’s sein – immer hin! Ich zermartere mir Nachts nur immer den Kopf, wie wir die Kranke fortbringen wollen –“ die Stimme versagte ihr.
„Aber das ist doch das Wenigste,“ meinte er mit seinem treuherzigen Lächeln in dem bärtigen Gesicht. „Halten Sie mich denn für so ’nen Schneider, daß ich nicht einmal das abgezehrte, schwache Weibchen auf dem Arme forttragen könnte? Stundenweit will ich sie tragen, die gute, alte Dame, und sie soll weder Ruck noch Zuck verspüren in ihren schmerzhaften Gliedern. Und so weit ist’s ja auch noch lange nicht bis zu dem Hause da. Die schöne Eckstube auf der Südseite ist groß und hell – da kann ihr Bett stehen, und sie sieht von zwei Seiten in’s Grüne; das wird ihr gut thun. Und der alte Herr hat’s hier am Fenster auch viel hübscher als auf dem Vorwerk; es fährt und geht ja doch dann und wann ein Bischen Menschentreiben vorbei – auf dem Vorwerk sieht er nur den öden Hof, wo die paar übriggebliebenen Hühner krakeln und scharren.“
„Sie sind treu wie Gold, Fritz, aber –“
„Und das Giebelstübchen da oben,“ fuhr er fort, ohne ihren Einwurf zu beachten, und zeigte mit dem Daumen nach dem Fenster, vor welchem die Vogelbauer hingen – „das ist das schönste im ganzen Hause; ich lasse einen kleinen Ofen hineinsetzen, und da kann eine junge Dame im Sommer und im Winter malen und in ihrer freien Zeit hübsches Geld verdienen. Also mit dem Bettel ist’s noch nichts, noch lange nicht. … Nur immer den Kopf oben behalten – das ist die Hauptsache.“
„Ja, das werde ich,“ sagte sie fest und nicht ohne einen gewissen Trotz. „Es soll dem tückischen Schicksal schwer werden, mich niederzuwerfen. Noch weiß ich nicht, was Seelenmüdigkeit ist, und dazu fühle ich die Kraft der Jugend in meinen Händen. … Und ansehen soll mir’s gewiß Keiner, wenn das Bischen Selbstgefühl einmal nicht so pariren will, wie es soll und muß. – Im Uebrigen sind Sie ja da, Fritz, meine treue Stütze.“
Sie griff nach dem Handkorbe. „Nun muß ich heim – da wartet noch ein tüchtiges Stück Arbeit auf mich. Und nebenbei muß ich noch plätten – die arme Kranke soll und muß morgen frischgewaschene Bettgardinen haben, aber ich bin mit meinem Tannenzapfen-Vorrath zu Ende“ – ein Lächeln huschte wie Sonnenlicht über ihr Gesicht – „und da habe ich den unverschämt großen Korb da mitgebracht.“
Er lachte, nahm den Korb und zugleich das Brod vom Sims und beeilte sich, das Haus aufzuschließen. Gleich darauf kam er beladen zurück. Durch den Wald wenigstens werde er ihr die Last tragen, sagte er abwehrend, als sie darnach griff, und nun schritten sie einträchtig neben einander, zwei prächtige Gestalten, die zusammenpaßten. Und der Hund trabte auf der andern Seite neben dem Mädchen, als sei sie das Eigenthum seines Herrn, das sie Beide eifersüchtig und schützend in ihre Mitte nehmen müßten.
Herr Markus sprang aus dem Gebüsch und sah ihnen nach, starr und unverwandt, bis sie auf der Biegung des Weges verschwanden. Dann fuhr sein Blick verdüstert über das Haus. … Wie lange dauerte es noch, da hingen hübsche Gardinen an den kahlen Fenstern, und ein schönes junges Weib sah heraus – eine lächerliche Zusammenstellung, die der feinen Welt abgelauschten Manieren und das Teigkneten, das Waschen und Scheuern der zukünftigen Frau Forstwärterin!
Aber es war trotz alledem so. Diese beiden Menschen arbeiteten und sorgten mit vereinten Kräften für ihre verarmte Herrschaft, und aus der treuen Cameradschaft wurde schließlich der Ehebund – selbstverständlich! … Was wollte auch die Dienende, von weither Gewanderte im ärmlichen Arbeitskittel mehr? Sie trat in die gesicherte Stellung der Frau, bekam ein schönes Heim im Walde und einen stattlichen Mann, der noch dazu nach Bildung und Belehrung strebte und „die Nase in naturwissenschaftliche Bücher steckte“.
Dieses unbegreifliche Mädchen mit seiner beispiellosen Hingebung hatte dann die geliebten Hülflosen im eigenen Hause. Sie bediente nach wie vor Fräulein Gouvernante und behütete ihr die letzten silbernen Löffel, auf daß kein gemeiner Blechlöffel ihre verwöhnten Lippen berühre. Und droben im schönen Giebelstübchen sollten die schönen Feldblumensträuße gemalt werden, hatte der Forstwärter gesagt. … Zum Teufel, nein, Herr Grünrock, so weit war es noch lange nicht. „Der Herr vom Geldsack mit seinem brüsken Officierston“ ließ sich nicht beschämen, auch nicht vom wohlbestallten Forstwärter Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht, und [58] machte ihm noch viel weniger die Freude, den zahlungsunfähigen Pachter schleunigst aus dem Hause zu werfen, auf daß die Hochzeit mit Amtmanns Magd – mit diesem merkwürdigen Mädchen, bei welchem man oft plötzlich denken mußte, nicht die Manieren seien geborgt, sondern der Arbeitskittel – um so rascher in Scene gesetzt werden konnte. Darin irrte sich der Herr Forstwärter denn doch gewaltig! …
Mit einem elastischen Sprung in das Dickicht kehrte Herr Markus dem stillen Hause den Rücken und ging den Weg zurück, den er gekommen.
Inzwischen war das goldgrüne Wald-Abendlicht nahezu erloschen und mit ihm der sänftigende Zauber der durchleuchteten Einsamkeit. Der unter dem Gebüsch hinkriechende tiefe Schatten verdunkelte auch die Menschenseele – Herr Markus konnte seiner heutigen tiefen Verstimmung noch weit weniger Herr werden, als vorher, und wehe der naseweisen Haselgerte, oder den herabhängenden Baumzweigen, die es wagten, sein finsteres Gesicht zu streifen – sie wurden zornig abgeknickt und weithin geschleudert.
Da machte er es nun wie tausend andere Egoisten auch. Nach den Anforderungen der Religion und vielleicht auch einer Art von allgemeiner schläfriger Menschenliebe sind sie geneigt, Almosen von dem Ihren zu geben – aber nur ja keine Berührung mit den Leuten selbst, denen geholfen werden soll! Sie machen einen weiten Bogen um die unangenehmen Verhältnisse, auf daß keiner der fremden Schicksalsfäden an ihren Kleidern hängen bleibe, und schieben die unbequeme Aufgabe sacht und beharrlich aus dem Wege, um – plötzlich mitten in die Situation hineinzuspringen, wenn ihre Eigenliebe in’s Spiel gezogen wird. Oder war es nicht die aufgestachelte Eigenliebe, die ihn trieb, dem widerwärtigen Forstmann mit seinen humanen Absichten um jeden Preis zuvorzukommen? Wäre er nicht am liebsten jetzt gleich, stehenden Fußes, nach dem bisher gemiedenen Vorwerk gegangen, um sich „dem alten Verschwender, dem Prahlhans, dem notorischen Spieler und Schlemmer“ und den Seinen vorzustellen, und sie Alle zu bitten, doch ja um Gotteswillen nichts Schlimmes von ihm zu denken? Nichts, als die liebe Eitelkeit und das Zorngefühl gegen den Grünrock, der so treu wie Gold sein sollte – hatte das Mädchen nicht so gesagt? – und sich doch nur auf den Opferungsvollen spielte, um dabei zu fischen, was er sich wünschte. …
In ärgerlicher Hast bahnte er sich weit rascher als vorher einen Weg durch das Unterholz und schritt bald auf einem der gebahnten, schmalen Stege, welche auf die nach dem Gute laufende Fahrstraße mündeten, und als er heraustrat, da sah er Frau Griebel von der Schneidemühle herkommen.
Sie trug auch ein Fischnetz am Arm. An dieser Stelle sah es nun freilich nicht so poetisch aus, wie es neulich der schlanken Prüden angestanden; auch zerrte sichtlich eine weit größere Last an den Maschen, als das schmale, für die Kranke bestimmte Fischlein gethan.
„Ja, da kommen Sie mir nun ein wenig in die Quere, Herr Markus!“ rief sie ihm in unverhehltem Verdruß entgegen. „Konnten Sie sich denn nicht noch ein Bischen im Walde aufhalten, bis ich glücklich zu Hause war und meine Forellen ausgeweidet hatte? – Nun müssen Sie warten und sich am gedeckten Tisch langweilen; ich kann Ihnen nicht helfen. – Na ja, gucken Sie nur her! Gesehen haben Sie’s ja doch nun einmal – es giebt richtig Forellchen heute Abend, die schönsten, die der Sägemüller in seinem Fischkasten hatte. Luischen hatte frische Butter geschlagen, und vor einer halben Stunde kamen sie an – neue Kartoffeln nämlich. Ein guter Freund von uns, der Schloßgärtner, wo mein Mann bis vor drei Jahren Verwalter war, hat mir aus alter Liebe und Freundschaft ein Gerichtchen für Sie abgelassen. … Herr Markus, neue Kartöffelchen um die Zeit!“ – Sie unterbrach sich plötzlich und blieb stehen.
„I was – da haben wir ja wieder einmal noblen Besuch an der Landstraße!“ sagte sie grimmig und zeigte mit dem ausgestreckten Arm nach einer Gestalt, die, mit dem Rücken an den Stamm einer Buche gelehnt, quer über die Fahrgeleise hingestreckt lag. „’S ist doch eine gräuliche Zeit jetzt! Die betrunkenen Handwerksburschen liegen wie die Fliegen am Wege, und man muß sich nur immer in Acht nehmen, daß man keinen todt tritt. Das war früher nicht so! Und wenn Sie zehnmal selber ein Fabrikant sind, Herr Markus, ich sag’s doch – das Fabrikgetreibe macht’s und das ewige Kriegsgetute in die Welt ’nein. Es müssen deshalb zu Viele spazieren gehen, wenn sie auch nicht wollen, und da haben sie die scheußliche Lasterhaftigkeit an sich, sie wissen nicht wie. Und da wird nachher gegen die Verderbtheit gedonnert und zur Umkehr commandirt – ach ja, mit sattem Magen spricht sich das gar leicht.“
Sie waren inzwischen dem am Boden Liegenden näher gekommen, und Herr Markus bog sich nieder und sah in das blasse Gesicht des Menschen, der mühsam die Lider von den erloschenen Augen hob, um einen scheuen, verstörten Blick auf die Sprechenden zu werfen.
„Aber der Mann ist ja gar nicht betrunken,“ sagte Herr Markus und fühlte rasch an den Puls der schlaff hingesunkenen Hand.
„Meiner Treu, das seh’ ich jetzt auch! … Du lieber Gott, ich spreche von neuen Kartoffeln, und da verhungert Einer! Ja, ja, wie ich immer sage, die Gottesgaben sind wunderlich vertheilt in der Welt.“
Sie fuhr mit der Hand in die Tasche, brachte eine Semmel zum Vorschein und hielt sie dem Mann an den Mund. „Heda, guter Freund, beißen Sie einmal herzhaft da hinein – das wird Ihnen so gut thun, wie wenn man frisches Oel auf eine Lampe schüttet.“
Eine schwache Röthe schoß in die Wangen des Erschöpften, wie schon vorhin bei dem Wort „verhungert“, und seine Hand hob sich matt abwehrend.
„I sperren Sie sich doch nicht wie eine Jungfer!“ schalt Frau Griebel ärgerlich. „Ihnen sieht man den Hunger auf tausend Schritt an, und da wollen Sie Einem wohl auch noch weiß machen, Sie hätten womöglich Lampreten zu Mittag gespeist! … Essen Sie nur von der Semmel da! Das hilft Ihnen einstweilen so weit auf die Beine, daß wir Sie nach Hause bringen können; und da hab’ ich noch vom Mittag eine schöne, kräftige Fleischsuppe stehen, und ein gutes Bett sollen Sie auch haben.“
„Versuchen Sie zu essen!“ sagte Herr Markus mit freundlicher Bitte; darauf hin nahm der Mann das Gebäck, und nun, mit dem ersten Bissen, war er nicht mehr Herr seiner selbst; er aß mit unbeschreiblicher Gier und schien Alles um sich her zu vergessen.
Er war ein hübscher, junger Mann mit einem voll und lang auf die Brust herabfallenden, röthlich blonden Bart. Seine Kleidung war abgetragen, aber man sah, daß er auf Sauberkeit hielt – für den neuen, schneeweißen Papierkragen am Halse hatte er vielleicht seine letzten Pfennige hingegeben.
„Ja ja, wenn das manchmal so eine arme Frau zu Hause wüßte!“ sagte Frau Griebel mit einem bezeichnenden Kopfneigen nach dem Essenden. „So einer Mutter ist manchmal kein Bett weich genug und kein Essen zu kräftig für ihren Jungen, und nachher –“
Sie verstummte unwillkürlich; denn so hastig, wie seine Schwäche es zuließ, griff der junge Mann nach seinem Hute, der ihm beim Niedersinken entfallen sein mußte, und drückte die breite Krempe tief in die Stirn, als wolle er sein Gesicht den Dastehenden entziehen.
„Na, junger Mann, das brauchen Sie nicht gleich krumm zu nehmen,“ meinte Frau Griebel in ihrer unzerstörbar gleichmüthigen Sprechweise. „Es hat schon Mancher draußen bei anderen Leuten gefochten oder mit hungrigem Magen im Chausseegraben campirt und ist nachher doch zu Hause ein gemachter Mann geworden. Das bleibt nicht an Ihnen kleben, wenn Sie sonst ein ordentlicher Mensch sind. … So, nun wollen wir einmal sehen, ob wir Sie auf die Beine bringen können.“
„Ich habe sechs Wochen lang im Spital krank gelegen,“ murmelte er fast unverständlich, „und komme –“
„Ja, das sieht man Ihnen an, daß Sie krank gewesen sind,“ unterbrach ihn die Frau, „und woher Sie kommen, und was Sie weiter vorhaben, das brauchen wir gar nicht zu wissen. Sie bleiben die Nacht auf dem Gute – ein Bischen Schlaf ist Ihnen so nöthig, wie das liebe Brod, und morgen wollen wir weiter sehen. … Also, Courage! Probiren wir’s einmal!“
Sie faßte ihn kräftig unter den Arm, und auf der anderen Seite half Herr Markus; es gelang – der junge Mann kam auf die Füße, aber er war doch noch zu schwach, um ohne Stütze [59] gehen zu können. Völlig willenlos ließ er sich fortbringen, daß er sich aber seines erbarmungswürdigen Zustandes vollkommen bewußt war, das sah man an der stillen Verzweiflung, die sich in seinen Zügen malte.
Auf dem weiten Wiesenplan vor dem Gutshause war das Gras gemäht worden. Ganze Wolken süßen Heuduftes wirbelten in den Lüften, während zwei Mägde vom Gute die dörrenden Halmlasten mit dem Rechen auf kleine Haufen zusammenschoben.
Die Mädchen hielten mit offenem Munde inne, als die seltsame Gruppe langsam daherkam, und Luise, die im Rosakleide und weißen Latzschürzchen unter der Hofthür stand und nach Mama und den Forellen ausschaute, flog erschrocken und so behende den Kommenden entgegen, daß die langherabhängenden, flachsblonden Zöpfe auf ihrem Rücken tanzten.
„Mama, ist er verunglückt?“ fragte sie mit stockendem Athem, und ihre hübschen, blauen Augen blickten in entsetzensvollem Mitleiden unter die breite Hutkrempe.
Das bärtige Gesicht des jungen Mannes erröthete in Scham unter diesem Blicke, und mit übermenschlicher Anstrengung versuchte er, sich strammer aufzurichten und allein weiterzugehen – ein vergebliches Bemühen!
Frau Griebel rief einer der gaffenden Mägde zu, ihren Platz an der Seite des hülflosen Fremden einzunehmen, damit sie selbst das Nöthige im Hause zu seiner Aufnahme vorbereiten könne. Das Mädchen kam wohl auf einige Schritte herbei, aber sie murrte und entgegnete tückisch, es sei ihr noch von keiner Herrschaft zugemuthet worden, die Bettelleute von der Straße aufzulesen, und einen betrunkenen Handwerksburschen wie einen Prinzen nach Hause zu führen – sie habe frischgewaschene Kleider an und wolle sie nicht beschmutzen.
Ein Stöhnen rang sich aus der Brust des Fremden.
Auf diese Laute hin streckte Luise sofort ihre runden, weißen Arme aus, um den Samariterdienst zu übernehmen.
„Geh nur weg, Du Flederwisch!“ wehrte Frau Griebel, halb lachend und doch mit einem zärtlich entzückten Blicke auf die leichte, zierliche Gestalt ihrer Einzigen, die Hülfe ab. „Du wärst mir auch die Rechte mit Deinen Puppenärmchen – ’s ist gerade, wie wenn ein Rothschwänzchen daher gehüpft käme. … Flink, lauf’ in’s Haus, rücke schnell den Suppentopf von heute Mittag auf’s Feuer und stecke das große Bett in der Soldatenkammer in frische Ueberzüge! Und mit Dir werde ich heute noch ein Wörtchen reden!“ rief sie der störrischen Magd zu, die schon wieder nach ihrem Rechen griff. „Heute über vier Wochen hast Du im Hirschwinkel nichts mehr zu suchen – daß Du’s weißt!“
Nach einer halben Stunde lag der Erschöpfte in einem guten Bett. Durch das große, helle Fenster der sogenannten Soldaten-Logirkammer im Erdgeschoß guckte der grüne Birnbaum im Hofe herein; der Abendwind kam durch die Waldwipfel mit leisem Fächeln daher und hauchte das saubere Stübchen voll Kühle und Laubduft; die kollernden Truthühner waren zur Ruhe gebracht, und nur auf der Mauer, welche die beiden Höfe trennte, saß ein weißes Kätzchen und putzte sich.
Zum ersten Mal hatte Herr Markus selbst die Schlüssel aus dem Wandschränkchen im Erkerzimmer genommen und war in den Weinkeller der seligen Frau Oberforstmeisterin hinabgestiegen, um eine Flasche von dem köstlichen alten, nur für die Armen und Bedürftigen angeschafften Krankenwein aus ihrer dunklen Ecke zu holen. Der Kranke hatte gegessen und auch von dem Madeira getrunken, aber über seine Lippen war kein Wort gekommen, und je mehr ihm Nahrung und Stärkung die schon halb entflohenen Lebensgeister in das frischer kreisende Blut zurückriefen, desto verzweiflungsvoller sah er aus. Sein Blick hing sehnsüchtig am offenen Fenster, und der Gutsherr dachte im Stillen, die erste selbstständige Kraftäußerung dieses armen Menschen werde ein Sprung aus dem niedrigen Fenster sein; er werde auf Niewiedersehen verschwinden, um die Erinnerung an ihn und sein Elend in den barmherzigen Seelen so schnell wie möglich zu verwischen.
Aber ein wenig später machte die erschöpfte Natur ihr Recht gebieterisch geltend – er fiel in einen tiefen Schlaf, und Herr Markus verließ das Stübchen, um den Gartenpavillon aufzusuchen, in welchem Frau Griebel das Abendbrod für ihn servirt hatte. Er aß wenig und dachte grollend an das frischgebackene Schwarzbrod, das der Forstwärter heute auf seinem Tische hatte…. Wie diese Leute doch treu und zärtlich für einander sorgten, bei aller Armuth! – Frau Griebel war eine brave Frau, eine wackere Seele, und sie hatte das Herz auf dem rechten Flecke, aber die „Forellchen“ und die „Kartöffelchen“ kosteten ihm doch sein gutes Geld; der alte Sägemüller hatte die Fische ganz gewiß nicht aus purer Liebe für ihn gegeben, und der Herr Schloßgärtner ebenso wenig seine Frühkartoffeln. Und um das Maß des Verdrusses voll zu machen, hantirten die zwei Mägde mit ihren Heurechen gerade jetzt draußen an der Gartenecke, nahezu unter dem Häuschen auf der Mauer, und schnatterten unaufhörlich.
„Was Du nur willst – ich scheere mich viel drum, ob mir die Alte gekündigt hat, oder nicht!“ sagte die grobe Magd, welcher vorhin der Dienst aufgekündigt worden war. „Wer seine Arbeit so kann, wie ich, der kriegt alle Tage eine andere Herrschaft –“
„Aber um die Zeit nicht!“ fiel die Andere ein. „In ganz Tillroda ist jetzt keine Stelle offen. Nachher kann Dir’s auch passiren, daß Du bei Leuten unterkriechen mußt, wie die auf dem Vorwerke – keinen Heller Lohn und die wahre Knechtsarbeit auf dem Felde!“
„Ach was – die Jetzige hat’s doch so schlimm nicht. Der hilft der Forstwärter, wo er kann – die kann lachen. Und mit dem Lohn mag’s auch nicht so windig aussehen, wie die Leute sagen. Sie hat doch immer hübsche, knappe Lederstiefelchen an – so viel habe ich gesehen, wenn sie auch den Menschen immer auf zehn Schritt aus dem Wege geht und thut, als hätte Unsereins Gift an sich.“
„Ja, eine Eingebildete ist sie,“ bestätigte die Andere. „Ich will nur sehen, wie die’s treibt, wenn sie erst einmal drüben im Grafenholz zu Hause ist – Die hat Glück. So eine Hergelaufene setzt sich in das schöne, warme Nest.“
„Na, meinetwegen! Was geht denn mich die ganze Sippschaft an, wenn ich aus dem Hirschwinkel fort bin?“ murrte die Gestrafte ergrimmt und schleuderte einen Rechen voll Halme auf den nächsten Heuhaufen. „Mich ärgert nur das dumme Gethue von der Alten. Bringt da den ersten, besten Strolch, der am Wege liegt, angeschleppt, legt ihn wie ein Wickelkind in’s Bett, und den besten Wein, der im Keller aufzutreiben ist, gießen sie ihm in die Biergurgel – das läßt sich der freilich gefallen. – Eine verrückte Gesellschaft auf dem Gute da! Unsereins wird angeschnurrt wie ein Hund, wenn einmal eine Thür offen bleibt – von wegen der Stehlerei – und da holen sie sich die Spitzbuben selber in’s Haus. Ich lachte mich todt, wenn der morgen in seiner Tasche irgend ’was mitgehen hieße – das gönnte ich der Alten. Nicht zehn Thaler nähm’ ich für den Spaß.“
Der Gutsherr schlug klirrend das Pavillonfenster zu, und die zwei Lästermäuler duckten sich wie erschreckte Wachteln hinter die nächsten Heuhaufen und scharrten da so emsig die letzten Halme zusammen, als könnten sie vor lauter Arbeit kein Wort über die Lippen bringen.
Es war ein stiller, engumgrenzter Waldwinkel, der kleine Erdenfleck da, und auch da litten sie nicht, daß der süße Friede einmal ausruhend seine Flügel zusammenschlage – Neid und Bosheit nämlich, und so ziemlich alle dämonischen Regungen der Menschenseele, welche auf dem großen Welttheater agiren.
Am andern Morgen wurde es sehr früh laut vor dem Gutshause. Herr Markus sah durch’s Fenster die kleine hübsche Luise über die gemähte Wiese hinirren. Sie war im hellen Morgenröckchen, und ihr dickes, blondes Haar steckte in einem weißen Netz mit blauen Bandschleifen.
Das junge Mädchen suchte offenbar nach einem verlorenen Gegenstand; sie schob die dünne Halmlage aus einander, die der Nachtwind wieder auf den Grasstoppeln zusammengeblasen hatte, und schüttelte selbst die zunächstliegenden Heuhaufen aus einander. Und die beiden Mägde, die jedenfalls im Begriff waren, auf den Acker zu gehen – denn sie hatten die Kartoffelhacke in den Händen – standen dabei und lachten.
„Nicht mit einem Schritt sind Sie gestern Abend auf die Wiese gekommen, Fräulein Luise – ich werd’s doch wissen,“ sagte die entlassene Magd. „Sie brauchen gar nicht weiter zu suchen – schade um die Zeit! So blind ist keine von uns, Ihren Henkelducaten nur so mit dem Rechen wegzuraffen – solch ein goldenes Ding [60] blinkt doch, und ein ellenlanges schwarzes Sammetband wird auch Einer sein Lebtag nicht für einen dürren Heuhalm ansehen. … Und ich hab’ doch auch mit meinen eigenen Ohren gehört, wie Sie zu Ihrer Mama sagten, Sie hätten gestern Abend, wie immer, den Henkelducaten in die Glasschale auf der Kommode gelegt. Nun soll’s auf einmal nicht wahr sein, weil Alle auf dem Gute sagen, kein Anderer könnte den Ducaten gemaust haben, als der – na, ich will mir den Mund nicht wieder verbrennen.“
„Das ist ganz schlecht von Dir, Röse,“ rief das junge Mädchen fast heftig – die kindliche Stimme rang hörbar mit aufsteigenden Thränen. „Ein Mensch mit solch einem guten Gesicht stiehlt nicht – so etwas Schlimmes denke ich überhaupt von Niemand.“
„So? Warum hat er sich denn nachher auf französisch aus dem Staube gemacht? So in aller Frühe, ohne ,Hab’ Dank!’ zu sagen? Na, meinetwegen auch! Was geht’s denn mich an? Es kann mir egal sein, wo der Henkelducaten logirt – ich hab’ ihn nicht.“
Damit legte sie die Hacke über die Schulter und marschirte mit ihrer Gefährtin den Weg am Kornfeld entlang, während Luise sichtlich niedergeschlagen in das Haus zurückkehrte.
„Ja, sehen Sie, Herr Markus, das hat man nun von seinem Gutsein,“ sagte Frau Griebel, als der Gutsherr herunter kam und sie in der Küche aufsuchte. Sie steckte mit beiden Händen in einer Mulde voll Kuchenteig und war durchaus nicht rosiger Laune. „Mein Mann lacht mich aus, weil ich mich ärgere, und fragt auch noch – Sie wissen ja, was er immer für dumme Späßchen macht – ob ich auf einen Handkuß für das Logement in der Soldatenkammer gerechnet hätte? Na, ja, fort ist er, der dumme Mensch. Er muß mit dem ersten Hahnenschrei zum Fenster hinaus sein und hat durch den Hinterhof das Weite gesucht. Hübsch ist das nicht von so ’nem jungen Burschen, den seine eigene Mutter nicht besser hätte abwarten können, als er’s bei uns gehabt hat – solch ein Blödsinn ärgert Einen. Und nun macht mir meine Luise auch noch den Streich und verliert ihren schönen Henkelducaten, den ihr die selige Frau Oberforstmeisterin geschenkt hat. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Unser Gesinde munkelt, wir hätten uns den Spitzbuben selbst in’s Haus geholt – die grobe Gesellschaft lacht uns aus, und das schadet dem Ansehen.“
„Hätten wir doch den Zankapfel am Wege liegen lassen!“ meinte Herr Markus mit dem Lächeln des Schalkes.
„I Gott bewahre!“ fuhr sie böse herum. „Da kennen Sie die Griebel aber schlecht! Ein ander Mal wird’s wieder gerade so gemacht. Ich ärgere mich nur, daß sich der Mensch selbst in das Renommée gebracht hat; denn er war guter Leute Kind – das sah ein Blinder – und hat mir’s ordentlich angethan mit seinem traurigen Wesen. Da sehen Sie sich einmal meine Kleine an!“ – sie nickte über die Schulter nach Luise hin, die mit gesenktem Kopf am Küchentisch stand und Mandeln schnitt – „der wird heute der frische Kuchen auch nicht schmecken. Die rothen Augen gelten nicht allein dem Henkelducaten – ’s ist ein kleines, dummes Ding mit einem butterweichen Herzchen. Das Mitleid mit dem armen, verhungerten Kerl, der nun auch noch gemaust haben soll, treibt ihr immer wieder das Wasser in die Augen.“
Der Gutsherr lachte verstohlen auf – das blonde Köpfchen dort duckte sich noch tiefer über das klappernde Messer.
Er verließ die Küche, um nach dem Vorwerk zu gehen – und er ging in recht beschleunigtem Tempo. Wer ihm am Abend seiner Ankunft gesagt hätte, daß er es eines Tages so eilig haben würde mit diesem „Pflichtgang“, ja, daß es ihm sogar unerläßlich scheine, die schönsten Wildlederhandschuhe, die er für den Besuch der Sehenswürdigkeiten Nürnbergs bestimmt, eigens zu diesem Zweck hervorzusuchen! Er schritt das Fichtengehölz entlang, hinter welchem das Vorwerk lag. Zu seiner Linken wogten die Kornbreiten in dichter Ueppigkeit – die Halmhöhe reichte ihm schon nahezu an die Schulter. Das Kartoffelkraut stand wie ein Wald und war dem Blühen nahe, und auf dem goldprangenden Rübsenfeld schwebte ein traumhaftes Summen, und schwerbeladene Bienen surrten vorüber nach den heimischen Stöcken auf dem Gute. Der Hirschwinkel hatte wirklich etwas von dem gottgesegneten biblischen Lande, in welchem einst Milch und Honig geflossen, und doch war es dem Mangel gelungen, auf dem Gelände Fuß zu fassen.
Dort, jenseits des Gehölzes, begann seine Herrschaft. Das Getreide stand kläglich dünn – die Quecken krochen in die Breschen und breiteten ihre tauben Aehren aus. Der Viehstand auf dem Vorwerk mußte auf das Minimum reducirt sein; bei dem ausgesogenen Boden ringsum half kein Fleiß, auch wenn die Zeit des Forstwärters und die Kraft der helfenden Magd zur pünktlichen Bewirthschaftung der Felder ausgereicht hätten. Sollte das Vermächtniß der verstorbenen Frau Oberforstmeisterin seinen Zweck erfüllen, dann mußte vor Allem die auf dem Tillröder Gasthof stehende Sparsumme flüssig gemacht und in den verwahrlosten Grundbesitz gesteckt werden. Ob wohl das Fräulein Gouvernante dafür Verständniß haben würde, oder ob sie nicht vielmehr geneigt war, mit dem Geld sofort die an den Juden verkauften seidenen Kleider zu ersetzen und überhaupt den Luxus wieder um sich zu verbreiten, an den sie sich in dem Frankfurter Generalshause gewöhnt zu haben schien? Den Aeußerungen der Dienerin nach mochte sie in dem Punkte bedenklich mit ihrem Herrn Onkel, dem Amtmann, harmoniren.
Nun, er sollte sie ja in den nächsten Augenblicken von Angesicht zu Angesicht sehen. Und er wollte die Augen offen halten; die Dame sollte ihm nicht einen Pfennig für ihre aristokratischen Gewohnheiten ablocken, und wenn sie noch so weltgewandt und hübsch bezaubernden Wesens war. Er war gefeit gegen diese Gouvernanten-Demuth, hinter der ja, wie er zur Genüge wußte, stets die Begehrlichkeit lauerte.
Die Stammburg Ulrich von Hutten’s.
Wohl selten nur wirft einmal einer der vielen Reisenden, die tagtäglich die große Leipzig-Frankfurter Eisenstraße passiren, hinter der Station Elm einen flüchtigen Wanderblick auf eine kleine Ruine, die sich auf einige Minuten weit hinten auf einer bewaldeten Bergkuppe zeigt. Und dennoch ist jenes verfallene kleine Bergnest die Geburtsstätte eines der hervorragendsten Streiter der Reformationszeit: Ulrich von Hutten’s.
Die Fußwanderung zur Burg Steckelberg beginnt noch nicht von Elm, sondern erst von Vollmerz aus, der ersten Station des sich von Elm abzweigenden und nach Würzburg führenden Schienenstranges. Der Weg ist ziemlich beschwerlich, wenn auch von prächtigen Buchen und Tannen beschattet. Vor Jahrzehnten ist er wohl einmal etwas geebnet worden, aber seitdem scheint sich Niemand wieder seiner angenommen zu haben; was lohnt es sich auch, schreitet doch nur äußerst selten ein Fuß über ihn dahin, um die vergessene historische Stätte zu besuchen.
Der Schweiß perlte mir unter dem Hute hervor, als ich an einem freundlichen Herbsttage des vorigen Jahres die Höhe erreichte, aber schnell waren alle Mühen vergessen, denn das Bild, das sich mir darbot, war weit freundlicher, als ich erwartet hatte. Die kleine Burg machte hier oben doch einen stattlicheren Eindruck, als von unten, von wo aus mächtige Buchen den größten Theil des alten Baues verdecken, und die Aussicht auf die sonnenbeschienenen, aber von einem zarten, süß-melancholischen Herbstdufte überschleierten Thäler war viel reizvoller, als nach der Schilderung des Meisters David Friedrich Strauß, des berufenen Biographen Ulrich’s, zu vermuthen gewesen. Dagegen fand ich, daß Strauß die Lage der Burg sehr treffend bezeichnet hat. Da, wo Franken- und Hessenland zusammenstoßen, sagt er, zwischen dem Vogelsberge, dem Spessart und der Rhön, unfern den Quellen der Kinzig, liegt die Burg, und in der That macht die Landschaft den Eindruck, als sei sie aus den Ausläufern der verschiedensten Gebirge
[61][62] zusammengesetzt. Einsam, tief einsam ist sie noch heute, wie zu Ulrich’s Zeiten, als noch das Geheul der Wölfe den Knaben erschreckte und ängstigte.
Die Burg an sich ist in sofern interessant, als sie Wohl eine der kleinsten ist, die in Deutschland existiren, und in denen die Urform der Burg am treuesten bewahrt wurde. Man erkennt noch deutlich das Hauptbauwerk des Ganzen, den großen viereckigen Thurm; denn zwei hohe Wände desselben ragen noch zum Himmel empor. In den frühesten Zeiten bestand eine Burg einzig und allein aus einem solchen mächtigen Thurme, in dessen fensterlosem Erdgeschoß die Vorräthe aufgespeichert wurden, während das erste Stockwerk am Tage dem allgemeinen Verkehre und des Nachts dem Gesinde zur Schlafstätte, das zweite Stockwerk dem Burgherrn und der Burgfrau und das dritte den Kindern zur Wohnung diente. Auch für die Burg Steckelberg war gewiß dieser große Thurm lange Zeit das Ein und Alles, bis dann noch ein mäßig großer viereckiger Hofraum mit einer dicken und hohen Mauer umgeben wurde, hinter der wahrscheinlich leichte Viehställe und Wohnungen für die Knechte Platz fanden. Jetzt ist der Raum völlig leer.
Eine wesentliche Erweiterung erfuhr die Burg erst dadurch, daß 1509 der Vater des berühmten Reformationshelden, der ebenfalls den Namen Ulrich führte, neben dem Thurme rechts ein Rondel erbaute, das nun der Veste ein respectableres Ansehen gab und sicherlich auch die Wohnräume erweiterte, da nun gewiß sämmtliche Waffen, die Rüstungen, Pulvervorräthe etc. in dem Neubau aufbewahrt wurden. Ueber dem spitzbogigen Eingange brachte der Erbauer die Inschrift: „Ulrich von Hutten 1509“ an, die noch heute lesbar ist. Da unser Hutten bereits am 21. April 1488 geboren wurde, so ist er noch in der Enge des Hauptthurmes aufgewachsen und hat sich später nur vorübergehend der Erweiterung freuen können; denn bereits 1499, also in seinem elften Jahre, brachten ihn die Eltern nach der sechs Stunden entfernten Benedictinerabtei Fulda, „aus andächtiger, guter Meinung“, wie er selbst sagt, und „mit dem Vorsatze, daß er darin verharren und ein Mönch sein sollte“. Der aufgeweckte Knabe konnte sich jedoch mit der engen Welt des Klosters nicht befreunden; bald wollte es ihn „bedünken, er wüßte seiner Natur nach in einem andern Stande viel daß Gott gefällig und der Welt nützlich zu wandeln“.
Allein alle Bitten des Knaben bei dem Vorgesetzten des Klosters sowohl, wie bei den Eltern waren erfolglos, und selbst die Warnung des hoch angesehenen und einflußreichen Ritters Eitelworf vom Stein dem Alten gegenüber: „Du wolltest ein solches Talent zu Grunde richten?“ blieb ohne Wirkung. Da brach Ulrich gewaltsam die Fesseln und floh im Herbste 1505, wahrscheinlich mit Hülfe seines Freundes Crotus Rubianus, nach Köln, wo er sich sodann bei der dortigen Universität als Student eintragen ließ. Allein die goldene Freiheit kam ihm theuer zu stehen, der erzürnte Vater versagte dem Entflohenen jede Unterstützung, und dieser hatte nun sehr bald mit Noth und Elend zu kämpfen. Auch auf anderen Universitäten, zu Erfurt, Frankfurt an der Oder, leuchtete ihm kein freundlicher Stern, und zu Rostock sank er sogar bis zum Bettler herab, der kaum seine Blößen zu decken vermochte.
In der Hoffnung, in Süddeutschland günstigere Verhältnisse zu finden, wandte er sich nach Wien, aber auch hier that sich ihm keine Thür auf, so viel er auch anklopfte, und so zog er über die Alpen nach Italien. Dort traf er jedoch die Lage noch mißlicher für sich als in Deutschland; denn allerwärts war Krieg. Um nicht, zu verhungern, trat er daher auf kurze Zeit in das kaiserliche Heer und wanderte dann wieder – es war im Jahre 1513 – in die deutsche Heimath zurück, zurück zur väterlichen Burg. Wie mag dem Armen das Herz beklommen geklopft haben, als er nach jahrelanger Abwesenheit den altbekannten Berg wieder hinaufstieg, ohne auch nur den geringsten Erfolg mit heim bringen zu können! Die Aufnahme, die er fand, war denn auch keineswegs eine freundliche. Er hat sie später getreulich geschildert. Nur seine gute Mutter, Ottilia, scheint ihn thränenden Auges in ihre Arme geschlossen zu haben; die übrigen Mitglieder der Familie, vorab der herbe Vater, empfingen ihn äußerst kühl. Sie sahen ihn wie den verlorenen Sohn an, der es verdiene, zu den Schweinen und Trebern verwiesen zu werden.
Da er keinen Titel mitbrachte, obgleich er auf so und so viel Universitäten gewesen, schien er in ihren Augen seine Zeit verloren zu haben. Auf die Frage eines Dritten, wie man den Heimgekehrten zu betiteln habe, gab einer seiner Verwandten die Antwort: er sei noch nichts. Durch den Vorwand, daß er ja nichts gelernt habe und nichts sei, wollte man es beschönigen, daß man ihn bisher hatte darben lassen und auch ferner nichts zur Erfüllung seiner Wünsche thun werde. Allein bald sollte es sich zeigen, daß der verachtete und bei Seite geschobene Ulrich doch ein sehr schätzenswerthes Glied der Familie war. Ein Vetter des Hauses, ein Hans von Hutten, war von dem Herzoge Ulrich von Württemberg meuchlings umgebracht worden; darauf sagten, die Schmach zu rächen, alle Hutten mit sammt der schwäbischen Ritterschaft, dem Herzoge den Frieden auf, und Ulrich machte sich zum Organe der Empörten, indem er mit genialer Beredsamkeit das Verbrechen des Herzogs vor aller Welt in das rechte Licht stellte und dadurch der Sache der Familie erhebliche Dienste leistete. Das söhnte diese wieder mit ihm aus, und der Vater gewährte ihm sogar die nöthigen Geldmittel, damit er wieder nach Italien gehen und dort, vornehmlich in Rom, seine Rechtsstudien aufnehmen und fortsetzen könnte. Im Herbste 1515 verließ er daher die Burg Steckelberg wieder und widmete sich in Rom und Bologna eifrig den Studien, daneben pflegte er aber auch die Dichtkunst und erwarb sich damit bald einen so großen Ruf, daß er auf seiner Rückreise in die Heimath, am 12. Juli 1517, zu Augsburg vom Kaiser Maximilian in Gegenwart des Hofstaates feierlich zum Dichter gekrönt wurde. Den Lorbeerkranz, welchen der Kaiser Ulrich auf’s Haupt setzte, hatte die schöne und tugendhafte Constanze Peutinger, die Tochter des gelehrten Patriziers Conrad Peutinger, geflochten. Die Lage Ulrich’s war damit vollständig umgeschaffen; seine Aufnahme daheim war eine ehrenvolle, und auch eine Anstellung am Hofe des aufgeklärten Erzbischofs Albrecht von Mainz fand sich für ihn. Das Hofleben sagte ihm jedoch wenig zu.
„Du fragst,“ schrieb er im Mai 1518 von Mainz aus an Peutinger, „wie das Hofleben mir bekomme? Noch nicht zum Besten. Zwar, was läßt sich nicht ertragen unter einem so echt fürstlichen Herrn, der so human und freigebig ist, wie Erzbischof Albrecht? … Im Uebrigen bin ich jener Dinge äußerst satt: des Dünkels der Hofleute, der glänzenden Versprechungen und ellenlangen Begrüßungen, der hinterlistigen Unterredungen und des leeren Dunstes.“
So oft er daher konnte, entfloh er dem Hofe und wandte sich nach der einsamen Burg Steckelberg, wo er denn auch Muße fand, jene Schriften abzufassen, mit denen er begeistert in die gewaltige Bewegung eintrat, die der Wittenberger Mönch, Doctor Martin Luther, hervorgerufen hatte. Er hatte genugsam erkannt, daß die Italiener unter dem Deckmantel der Religion nur bestrebt waren, Deutschland auszusaugen und die Deutschen zu Knechten herabzuwürdigen, und stimmte daher laut dem Schlachtenruf Luther’s zu.
Seine schneidigsten Hiebe theilte er in dem Dialoge „Vadiscus oder die römische Dreiheit“ (Trias Romana) aus, die er im Februar 1520 auf dem Steckelberg vollendete. Das Buch ist sein Manifest gegen Rom, der Handschuh, den er der Hierarchie hinwarf, sagt Strauß. Und in der That, bitterer ist Rom wohl kaum die Wahrheit gesagt worden. „Drei Dinge,“ ruft der Verfasser aus, „erhalten Rom bei seinen Würden: das Ansehen des Papstes, die Gebeine der Heiligen und der Ablaßkram. Drei Dinge sind ohne Zahl in Rom: gemeine Frauen, Pfaffen und Schreiber. Drei Dinge dagegen sind aus Rom verbannt: Einfalt, Mäßigkeit und Frömmigkeit. Drei Dinge begehrt Jedermann zu Rom: kurze Messen, alt Gold und wollüstiges Leben. Von dreien hingegen hört man daselbst nicht gern: von einem allgemeinen Concil, von Reformation des geistlichen Standes und daß die Deutschen anfangen klug zu werden. Mit drei Dingen handeln die Römer: mit Christo, mit geistlichen Lehen und mit Weibern. Mit drei Dingen sind sie nicht zu ersättigen: mit Geld für Bischofsmäntel, Papstmonaten und Annaten.[1] Drei Dinge macht Rom zunichte: das gute Gewissen, die Andacht und den Eid. Drei Dinge pflegen die Pilger aus Rom zurückzubringen: unreine Gewissen, böse Magen und leere Beutel. Drei Dinge haben bisher Deutschland nicht klug werden lassen: der Stumpfsinn der Fürsten, der Verfall der Wissenschaft und der Aberglaube des Volkes. Drei Dinge fürchten sie zu Rom am meisten: daß die Fürsten einig werden, daß dem Volke die Augen aufgehen und daß ihre Betrügereien an den Tag kommen. Und nur durch die drei Dinge [63] wäre Rom zurecht zu bringen: durch der Fürsten Ernst, des Volkes Ungeduld und ein Türkenheer vor seinen Thoren.“
Daß diese Hiebe saßen, zeigte sich sehr bald. Dr. Eck denuncirte den Verfasser in Rom, und das Nächste war, daß der Erzbischof Albrecht von Mainz ihn aus seinem Dienste entlassen mußte. Hutten ließ sich aber dadurch nicht beirren; er trat nun vielmehr um so eifriger in den Kampf ein und folgte Luther’s Beispiel, indem er fortan nicht mehr lateinisch, sondern deutsch schrieb, „in der Sprache des Vaterlandes um Rache schrie“. Selbst in dem Allen verständlichen Volksliedtone suchte er für die lutherische Sache zu begeistern. So sang er:
„Ich hab’s gewagt mit Sinnen,
Und trag’ es noch kein Reu’;
Mag ich mit d’ran gewinnen,
Noch muß man spüren Treu’,
Nit Ein allein
(Wenn man es wollt’ erkennen),
Dem Land zu gut,
Wie wohl man thut
Die Reformation nahm jedoch bekanntlich nicht den günstigen Verlauf, den ihre Förderer erhofft hatten, eine Erhebung der reformatorischen Partei mit dem intimsten Freunde Ulrich’s, Franz von Sickingen, an der Spitze, mißglückte, und nun floh Ulrich von Hutten, mit grimmigem Hasse von den Römlingen verfolgt, von Erasmus, bei dem er in Basel ein Unterkommen suchen wollte, schmachvoll verleugnet, nach Zürich in der Schweiz und später auf die Insel Ufnau im Zürchersee, wo er, verzweifelnd an seiner Sache, der er sein ganzes Leben gewidmet, nach langen Körperleiden am 29. August 1523, völlig verarmt – er hinterließ nur eine Feder und ein Bündel Briefe von berühmten Gesinnungsgenossen – erst fünfunddreißig Jahre alt, verschied.
Das Alles zog mir durch die Gedanken, als ich zwischen den Trümmern der Burg Steckelberg dahinschritt, und mit Wehmuth erfüllte es mich, daß diese geweihte Stätte, von der einer der edelsten Helden der Nation ausgegangen, von der aus in der Zeit der Reformation so gewaltige Schlachtrufe in alle Lande ertönt waren, jetzt so vollständig vergessen und so pietätlos dem gänzlichen Verfalle preisgegeben ist. Möchten daher diese Zeilen veranlassen, daß sich aus freiwilligen Beiträgen ein kleiner Fonds bilde, aus dem die Ruine erhalten wird, damit auch künftige Geschlechter die Stätte finden, wo Ulrich von Hütten geboren wurde.
Die Erziehung zur Sparsamkeit.
Arbeit und Sparsamkeit, sie sind zwei Schwestertugenden, welche stets das Elend bezwangen und den Wohlstand einzelner Familien und ganzer Völker begründeten. Im Verlauf der Entwickelung der menschlichen Gesellschaft haben sie von ihrem Werthe nichts eingebüßt; sie sind mit jedem wirthschaftlichen Fortschritte noch unentbehrlicher geworden. Früher war der Arbeiter durch Zünfte, Zölle und ähnliche Einrichtungen vor den Gefahren der industriellen Krisen, welche wie plötzliche Stürme über unser wirthschaftliches Leben hereinbrachen, mehr oder weniger geschützt. Heute ist er frei und selbstständig geworden. Der Schutz des Staates wird seiner Arbeit nicht mehr im früheren Maße gewährt. Aber im Kampfe des Lebens braucht er nicht zu verzweifeln. Siegen wird er unbedingt, wenn er täglich zwei Tugenden übt: die Arbeit und die Sparsamkeit.
In der That kennen wir keinen mächtigeren Hebel zur Beseitigung des socialen Elends als die Arbeit und Sparsamkeit der Massen. Und wie auf der Uebergangsstufe der Menschheit von niedriger zu höherer Cultur die christliche Kirche, um das irdische Elend zu lindern, die Tugend der Barmherzigkeit unter den Heiden zu predigen begann, so müssen wir in der Morgendämmerung der ökonomischen Freiheit die auf Arbeit und Sparsamkeit begründete Selbsthülfe lehren – und wie die Kirche um der Seligkeit der anderen Welt willen auf dem Religionsunterricht in der Schule beharrte, so müssen wir, um das friedliche Glück dieser Welt zu erobern, in der Schule unsere Kinder in den Tugenden der Arbeit und Sparsamkeit erziehen.
Zu dem, was über die Erziehung zur Arbeit hier bereits gesagt worden ist (vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1880, Nr. 4, Seite 64 u. ff.), haben wir nur noch hinzuzufügen, daß der Erfolg der Arbeit dann allein dauerhaft sein kann, wenn ihre Früchte mit weiser Sparsamkeit verwaltet werden. Arbeit und Sparsamkeit ergänzen sich im Leben; sie müssen sich daher auch in der Schule gegenseitig fördern und unterstützen. Um das Wissen der Menschen zu erweitern, dazu reicht schon der Vortrag hin, aber die Tugend lernt man nicht durch Anhören und Memoriren; wer tugendhaft sein will, der muß die Tugend ausüben.
Es mußten daher, wenn die Erziehung zur Sparsamkeit Früchte tragen sollte, Mittel gesucht werden, welche den Schulkindern die Gelegenheit zum Sparen geben – und ein solches Mittel ist in der Errichtung der Schulsparcassen gefunden worden.
Der erste geregelte Versuch, eine Sparcasse für Schüler einzurichten, ist am 4. Mai 1834 in der Stadtschule zu Le Mans (Sarthe) gemacht worden. In einer kleinen Schrift, die 1834 unter dem Titel: „Lesestücke und gesammelte Gebete und Lieder zum Gebrauch im gegenseitigen Unterricht in der Stadtschule zu Le Mans“, erschien, spricht sich der Autor, Herr Dulac, folgendermaßen aus:
„Unter den verschiedenen Mitteln, welche wir angewendet haben, um bei den uns anvertrauten Schülern zum Ziele der sittlichen Erziehung zu gelangen, ist eines, das wir besonders in Erinnerung bringen möchten: die Niederlegung der kleinen Ersparnisse unserer Pflegekinder bei der Sparcasse. Um die Einzahlungen zu erleichtern, haben wir am 4. Mai 1834 in unserer Schule unter der Aufsicht der städtischen Behörde eine Privatcasse eingerichtet, in der sie ihre Ersparnisse Pfennig für Pfennig niederlegen, bis diese, zur Summe eines Franken angewachsen, in der Departementssparcasse angenommen werden.“
Im Jahre 1838 drückte der Verwaltungsrath der Sparcasse von Le Mans Herrn Dulac seine Befriedigung aus über die gemachten Einlagen der Schüler der Stadtschule und selbst der Kleinkinderschule. Der Ruf der Schulsparcassen verbreitete sich bald, und in Amiens, Grenoble, Lyon, Perigueux, Paris, Verona, Weimar (1844), in Württemberg (1846), in Preußen und in der Schweiz (1851), in Ungarn (1860) wurden Schulsparcassen errichtet. Man hat aber dabei unterlassen, die Organisation solcher Cassen genau zu prüfen; man beging Fehler auf Fehler, und entmuthigt ließ man die neugegründeten Cassen wieder eingehen.
Herr Dulac setzte indessen seine Bemühungen unverdrossen fort, und schon im Jahre 1839 gelangte er zu den letzten Verbesserungen.
Inzwischen gewann die Idee der Schulsparcassen einen mächtigen Bundesgenossen. Die internationalen Congresse begannen ihren Einfluß zu entfalten, und bald wurde auch die von Dulac angeregte Frage in den Bereich ihres Wirkungskreises hineingezogen. Auf dem internationalen Congresse für Wohlthätigkeit in Brüssel wurde die Nothwendigkeit kleiner Sparkassen für die geringen Ersparnisse der Kinder in den Schulen anerkannt.
Diese Anregung wußte zuerst Professor M. F. Laurent in Gent in größerem Maßstabe praktisch zu verwerthen. Der Anfang wurde mit zwei Schulsparcassen im October 1866 gemacht, und dank der Initiative durch den Stadt- und Schulrath und zwei freie Gesellschaften für öffentliche Wohlthätigkeit verbreitete sich die neue Einrichtung bald in allen Schulen der Stadt. Nach sieben Jahren waren von den 15,000 Schülern mehr als 13,000 durch die Schulsparcassen zu Büchern der Stadtsparcasse gelangt. Dem Vorgehen Gents folgten bald andere Städte, wie Brüssel, Namur und Lüttich.
Zu verschiedenen Zeiten erklärte die belgische Regierung in öffentlichen Berichten, in denen sie sich anerkennend über die Verdienste M. Laurent’s äußerte, daß man den Schulsparcassen einen großen Theil der in die Nationalsparcasse eingezahlten Gelder verdanke, und zwar besonders durch den Einfluß der Schulkinder auf die Familien. Die Sparbücher der Kinder, so hieß es, seien ein mächtiges Mittel zur Einweihung der Eltern in die Vortheile und den Mechanismus der Sparcasse.
[64] Waren nun diese Erfolge überraschend genug, um unsere vollste Anerkennung hervorzurufen, so erblassen sie im Vergleich zu dem glänzenden, überwältigenden Triumphe, welchen die Idee der Schulsparcasse, durch A. de Malarce von Neuem angeregt, in Frankreich während der letzten Jahre gefeiert hatte. „Als ich (von der Wiener Ausstellung 1873) nach Frankreich zurückkehrte,“ schreibt Herr A. de Malarce selbst, „nahm ich mir vor, auch in unseren Schulen Schülersparcassen einzuführen, und besuchte zu diesem Zwecke Belgien und England. Ich verfaßte nun eine Verordnung nach meinen Beobachtungen über die verschiedenen guten und unvollkommenen Bestimmungen in dem Verfahren der anderen Länder und veröffentlichte dieselbe unter dem Titel ‚Handbuch der Sparcassen in Frankreich‘. Der Minister des öffentlichen Unterrichts sandte diese Schrift den Inspicienten der Akademien und Normalschulen, der Minister des Handels und der Landwirtschaft den Sparcassen und Handelskammern zu. Die Gesellschaft für Stiftungen der Fürsorge, die aus meinen Vorschlag am 14. November 1873 unter dem Vorsitz eines der ältesten Mitglieder, des Herrn Hippolyte Passy, früheren Handels- und Finanzministers, gegründet wurde, richtete am 20 August 1876 einen dringenden Aufruf an die allgemeinen Departementsräte, und von diesen Versammlungen antworteten einundzwanzig umgehend, die für Aufnahme eines Capitals von ungefähr tausend Francs stimmten, um die entstehenden Kosten für Druckschriften zu decken, durch Medaillen und Preise die Lehrer und Bevollmächtigten zu belohnen und die Schüler durch Pfennige für gute Censuren zu ermutigen. Man befolgte das von mir vorgeschlagene und angenommene Verfahren, und Alles ging leicht, als einmal der Anfang gemacht worden war, ohne andere Hülfe als guten Rath, aber unter dem Beistand der ganzen französischen Presse, der Mitwirkung einer großen Anzahl von Bürgermeistern, Ober-Inspectoren, Schullehrern, Delegirten aller Landestheile und mehrerer größerer Sparcassen.“
Gegen das Ende des Jahres 1874 wurde diese Agitation eröffnet, und schon im Jahre 1879 befanden sich nach einer amtlichen Statistik des Unterrichtsministeriums in 81 Departementen 10,440 Schulsparcassen. Die Zahl der sparenden Schüler betrug 224,280 d. h. 30 Procent aller Schüler, die diejenigen Schulen besuchen, in welchen Schulsparcassen eingeführt worden sind. 177,574 Schüler, d. h. vier Fünftel der sparenden Schüler, besaßen ein Sparbuch der großen Sparcasse und haben in derselben 3,602,621 Franken 20 Centimes niedergelegt.
Und welchen Einfluß dieses Erziehungsmittel auf den Sparsinn des französischen Volkes bereits ausgeübt hat, davon belehren uns folgende Zahlen.
Nach amtlicher Statistik betrug im Jahre 1870 die Zahl der Einleger 2,130,768. Nach den Kriege sank sie auf 2,016,552 und erreichte allmählich 1874 die Höhe von 2,170,066. Aber seit 1875 zeigt sich auf diesem Gebiete eine Bewegung, wie sie in Frankreich früher niemals stattgefunden hat. Die Zahl der Einleger stieg jährlich um 200,000 bis 300,000, bis sie im Jahre 1877 2,863,283 betrug. Für 1878 scheint die Zunahme noch größer gewesen zu sein. Das Vermögen der Sparcassen sank von 711 Millionen Franken vor den Kriege auf 515 Millionen im Jahre 1872 hierauf trat eine Besserung ein, sodaß 1874 573 Millionen notirt werden konnten. Aber seit 1875 wuchs der Cassenbestand um 87 Millionen im Jahre 1875, um 109 Millionen im Jahre 1876, um 153 Millionen im Jahre 1877, in welchem er im Ganzen 1 Milliarde 15 Millionen Franken betrug. Diese ungeheuere Vergrößerung der eingezahlten Summen um eine halbe Milliarde Franken in sechs Jahren verdankt Frankreich, wie der jüngste Regierungsbericht besagt, der eifrigen Agitation der Presse und der Einrichtung der Schulsparcassen deren Zahl sich in Monat August 1879 auf 12,000 belief.
Diese Erfolge ermutigten auch andere Länder zu weiteren Anstrengungen. In England übernahm im Jahre 1876 das Postamt die Kosten für die Drucksachen und Inserate zur Verbreitung; in Italien gewährte das Gesetz vom 27. Mai 1875 über die Postsparcassen denjenigen Schuldirectoren, welche am eifrigsten und wirksamsten zur Verbreitung der Schulsparcassen beigetragen hatten, Vorrechte und Prämien „in Anbetracht der guten erziehenden Resultate“. In Oesterreich besteht ein „Sparverein für Kinder“, welcher, von Dr. Roser unterstützt, vornehmlich seit 1877 diesen Zweck verfolgt.
Auch in Ungarn fanden die Schulsparcassen eine günstige Aufnahme. War es doch Franz Deak, der ungarische große Patriot, welcher im Jahre 1873 dem Herrn A. de Malarce versicherte: wie sehr er die Sparcassen als Mittel der Civilisation anerkenne und besonders die Schulsparcassen für die beste Einrichtung halte, um durch eine sparsame und moralische Erziehung der Kinder die Sitten eines ganzen Volkes zu verbessern. Den Bemühungen des königlichen Raths Fr. Weiß, des Präsidenten der Handelskammer, verdankt Ungarn gegenwärtig eine rasche Verbreitung dieses Instituts und die billige Beschaffung der Drucksachen von Seiten der Regierung und der Communalbehörden, die für eine Schule von hundert Kindern nur einer Gulden zweiundachtzig Kreuzer kosten. In den Strom der Agitation sind Portugal und Spanien hingerissen worden, und Nordamerika sucht die Erfahrungen und Fortschritte des Mutterlandes zu seinem Nutzen zu verwenden.
Was hat bis jetzt Deutschland zur Lösung dieser wichtigen Frage beigetragen? Deutschland, welches unter den sparenden Völkern der Welt neben England die erste Stelle behauptet! Deutschland, wo ein einziger Staat, Preußen, im Jahre 1878 ein Sparcassenvermögen von 1,473,062,002 Mark aufzuweisen hatten also rund 660 Millionen Mark mehr als das gesammte Frankreich!
In der Tagespresse fanden wir vor Kurzem eine Notiz, die alle Beachtung verdient. Sie lautet:
„Die Schulsparcassen haben von der Tagesordnung unseres öffentlichen Lebens nicht dadurch verschwinden können, daß einige Lehrerversammlungen sie auf Grund theoretischer Bedenken ablehnten. Dasselbe ist früher in Wien geschehen, und doch brachen sie sich in Oesterreich wie in Ungarn kräftig Bahn. Wir müssen uns überhaupt darein finden, daß, während in Deutschland alle Kraft auf das politische Einheitswerk concentrirt wurde, also von 1866 an, die Länder um uns her in Bezug auf gemeinnützige Schöpfungen aus anderer als Regierungsinitiative Fortschritte gemacht haben, denen wir Mühe haben nachzukommen. Einzelne, wenig beachtete Versuche, das Sparen bei den Schulkindern anzufangen , hat es freilich schon vor 1866 in Deutschland so gut gegeben, wie in Frankreich und England. Aber an der systematischen Agitation, die von Gent zufällig gerade im Jahre 1866 ihren Ausgang nahm, haben wir uns bis jetzt fast nur negativ betheiligt, nämlich durch jene Vota der Pädagogen von Fach. Volkswirte dagegen wie P. Chr. Hansen und Leo Wilhelmi sind literarisch für die Sparcasse in der Schule eingetreten. Neuerdings hat man zu Uelzen in Hannover auch einen praktischen Anfang gemacht. In der untersten Volksschule wurde dort damit in aller Stille im Frühjahr 1878 begonnen, und der nach anderthalb Jahren angestellte Rückblick lautet entschieden ermutigend. Unter 390 Schülern hatten 186, also fast die Hälfte, Einlagen gemacht, und zwar zusammen 1022, darunter 731 unter 1 Mark, 253 von 1 bis 5 Mark, 31 von 5 bis 10 Mark und 7 Einlagen noch höher. Diese höheren Einlagen sind nur in den Oberclassen erfolgt – hauptsächlich im Hochsommer, wo das Beerensammeln den Kindern einen verhältnißmäßig reichen Ertrag abwarf, und im October, wo sie bei der Kartoffelernte halfen. Ein Knabe hat sich so in anderthalb Jahren insgesammt 58 Mark 50 Pfennig erspart. Wo wären die geblieben, ohne die von der Schule gebotene Aufforderung und Gelegenheit zu ihrer Erhaltung? Sämmtliche Lehrer,“ fügt der Bericht hinzu. „sprechen sich äußerst befriedigt über die neue Einrichtung aus und bezeugen einstimmig, daß sie nach keiner Richtung einen ungünstigen sittlichen Einfluß auf die Kinder geübt habe. Von unkindlichen Geiz, Habsucht oder Neid sei nichts zu bemerken; im Gegentheil wirke das Bewußtsein durch eigene Entsagung und durch Verzicht auf ein Vergnügen sich ein Sparcassenbuch erworben zu haben, sittlich hebend auf die Kinder ein. Die sieben Lehrer der Schule haben sich einmüthig dahin ausgesprochen, trotz der nicht unerheblichen Mühe und Arbeit, welche die Sparcasse ihnen bereite, dieselbe nicht wieder entbehren zu mögen. Ein solches praktisches Experiment wiegt wohl eine Verhandlung in einer Lehrerversammlung auf, bei der ja doch Alles auf die Instruction des Spruches durch den Referenten ankommt und dieser bisher in Deutschland nicht aus eigener Erfahrung zu urtheilen vermochte.“
[65]
Und dieses unbegründete pädagogische Vorurtheil scheint gegenwärtig
in Deutschland thatsächlich zu schwinden. In den Provinzen
Schlesien und Preußen ist bereits ein Anfang gemacht worden,
der zu den besten Hoffnungen berechtigt.
Man zählt jetzt in Deutschland gegen 250 Jugendsparcassen, wovon fast die Hälfte auf den Regierungsbezirk Gumbinnen kommt. In Schlesien ist neben Glogau namentlich Wüstegiersdorf, Kreis Waldenburg, zu nennen, wo der Waisenhausdirector und Localschulinspector Kranz, im Mai 1878 die Schulsparcassen nach französischem Muster einführte. Es betheiligten sich bis jetzt nahezu 700 Kinder und als Sammler 15 Lehrer. Im Jahre 1878 wurden 3270 Mark und im Jahre 1879 3320 Mark gespart. Ferner giebt es noch einzelne Schulsparcassen in den Provinzen Brandenburg, Sachsen, Hannover und Braunschweig.[2]
Das königliche Provinzial-Schulcollegium von Schlesien machte auf die Sache aufmerksam, und die königliche Regierung von Breslau hat der Angelegenheit einen Circularerlaß vom 7. October 1879 gewidmet. In jedem Fall möchten die einschlägigen Schriften für die Kreislehrer-Bibliotheken angeschafft werden. Als solche werden neben denjenigen des Pfarrers Senckel die von Wilhelmi, Schröter, A. de Malarce etc. genannt. Die königliche Regierung von Gumbinnen empfiehlt ihrerseits die Schrift des Hauptlehrers Elwenspöck zu Memel: „Jugendsparcassen.“
Auf Grund dieser günstigen Erfolge richteten 84 „Freunde und Beförderer der Jugendsparcassen in Deutschland“ durch ihren Schriftführer, Pfarrer Senckel, unter dem 27. November 1879 eine Adresse an den Cultusminister von Puttkammer mit der Bitte: an die königlichen Regierungsbehörden einen die Sache der Jugendsparcassen fördernden Erlaß ergehen zu lassen.
Daraufhin ist unterm 12. April folgende Ministerialverfügung eingegangen.
„Aus Euer Hochwürden Schreiben vom 13. Januar, 6. Februar und 4. März dieses Jahres, sowie aus der Adresse vom 27. November vorigen Jahres habe ich mit lebhaftem Interesse von den erfreulichen Fortschritten Kenntniß genommen, welche die Angelegenheit der Errichtung von Jugendsparcassen bisher gemacht hat. Ich entnehme daraus im Besonderen die Ueberzeugung, daß es den Förderern der Sache auch ohne amtliche Hülfe gelingen werde, derselben in immer weiteren Kreisen Freunde zu gewinnen, und meine daher auch jetzt noch keine genügende Veranlassung zu haben, eine amtliche Empfehlung eintreten zu 1assen, zumal eine wirksame Unterstützung nur von solchen Personen ausgehen kann, welche sich aus freier Entschließung mit der Angelegenheit [66] befassen. Die Druckanlagen, die Specialberichte und Uebersichten sende ich zurück. gez. von Puttkamer.“
In Folge dieses Bescheides sind die Petenten am 2. Juni vorigen Jahres in Glogau zu einer Conferenz, auf der ein Verein zur Forderung der Jugendsparcassen begründet wurde, zusammengetreten.
Die Zersplitterung der auf dieses Ziel hinarbeitenden Kräfte, die Versuche auf eigene Hand, welche hier und dort gemacht werden, sind indessen für die Sache selbst nichts weniger als förderlich. Auch scheint der neue Verein zwischen eigentlichen Schulsparcassen und Kindersparcassen, die unter der Leitung von Geistlichen begründet werden, keinen Unterschied zu machen. So erfahren wir, daß in einigen schlesischen Schulsparcassen zwei Grundsätze eingeführt worden sind, deren Zweckmäßigkeit stark bezweifelt werden muß. Die Einlagen werden grundsätzlich den Schülern erst beim Austritte aus der Schule ausgezahlt, und das ersparte Geld wird von den Lehrern entweder in der Sparkasse „oder anderweitig“ verzinslich angelegt. Gegen den ersten Grundsatz sprach sich schon früher A. de Malarce in folgender Weise aus: „Die Einlagen müssen immer rückzahlbar sein – das ist eins der Grundprincipien der Sparcasse. Ferner ist es wichtig, daß der Schüler, der einige Sous, von denen er freien Gebrauch machen konnte, erübrigt hat, nicht eine Art von Confiscirung fürchten muß, sondern im Gegentheil durch den Gedanken, einst die Früchte seiner Entsagung zu einer nützlichen Ausgabe, zur Hülfe für seine Familie zu ernten, ermuthigt wird. Hierin liegt ein sittlicher Gedanke, welcher auch den richtigen Begriff für ein sparsames Leben giebt, nämlich: sich heute einen kleinen Genuß zu versagen, um vielleicht morgen eine nothwendige Ausgabe bestreiten zu können.“
Nicht „in der Sparcasse oder anderweitig“, sondern einzig und allein in der Sparcasse müssen ferner die gesparten Gelder der Zöglinge angelegt werden, da der Schüler in den Mechanismus der Sparcasse eingeweiht werden und schon in der frühesten Jugend den Weg zu derselben kennen lernen soll.
Die Anwendung fehlerhafter Methoden hat schon einmal den Untergang zahlreicher Schulsparcassen verursacht. Dringend ist es daher zu wünschen, daß, wenn die Regierung die Sache in ihre Hand nicht nehmen will, was leider nach dem Erlaß des preußischen Unterrichtsministers zu erwarten ist, Privatvereine, mit anerkannten fachmännischen Kräften an ihrer Spitze, die Lehrer mit Rath und That unterstützen, auch durch Bewilligung von Prämien ihren Eifer anspornen.
Der Umstand, daß Deutschland spart, verhältnißmäßig mehr spart als andere Staaten, kann uns nicht abhalten, das vortreffliche Mittel zur Erhaltung und Kräftigung dieses Triebes, die Erziehung zur Sparsamkeit, auf das Wärmste zu empfehlen. Andere Völker haben, dem Beispiele Englands folgend, der Sparsamkeit die weitverbreitete Institution der Post dienstbar gemacht. Italien, Schweiz, Holland haben bereits Postsparkassen eingeführt; Frankreich und Oesterreich warten nur noch auf das Votum ihrer Parlamente, um mit einem Schlage Tausende von Sparcassen an den Postschaltern ihrer Städte und Dörfer zu eröffnen. Der Verstaatlichungszug, welcher durch die deutsche Wirthschaftspolitik geht, hat leider diese wohlthätige Einrichtung dem liberalen Bürgerthume theilweise entfremdet und die frühere Begeisterung für die Postsparkassen abgekühlt. Da tritt an jeden gutgesinnten Bürger desto gebieterischer die Pflicht heran, wenigstens die Schulsparcassen allgemein einzuführen und durch sie den Sparsinn der künftigen Generationen zu stärken. Ihre Einrichtung ist leicht durchführbar und äußerst einfach. Weder Kosten noch große Mühe sind bei ihnen erforderlich; nur der gute Wille muß nicht fehlen, und sollte er sich nicht finden, wenn es sich um die Erziehung der Jugend, um das Wohl der Kinder handelt? Sollte er nicht leicht zu erwecken sein auf einem Gebiete, wo der Lärm politischer und religiöser Kämpfe verstummt?
Um aber die möglichst weitesten Kreise unserer Mitbürger zur Theilnahme an dieser dankbaren Arbeit zu ermuntern, wollen wir eine kurze Schilderung einer Schulsparcasse entwerfen, wie sie sich nach jahrelanger Prüfung herausentwickelt hat und wie sie vom Herrn: A. de Malarce empfohlen wird:
„Hat sich der Lehrer dessen versichert, daß die Sparcassenverwaltung seines Bezirks ihre unumwundene Erlaubniß zu diesem Unternehmen giebt, so händigt er jedem seiner Schüler eine kurze Notiz aus dem betreffenden Leitfaden ein – besser ist es noch, dieselbe von ihnen abschreiben zu lassen – deren Zweck es ist, die Schüler und besonders ihre Eltern mit der Einrichtung und den Vorzügen der Schulsparcassen bekannt zu machen – eine sehr nützliche Vorsicht, um allen Mißverständnissen vorzubeugen. Dann schafft er die Sparbücher entweder durch Bewilligung des Magistrats oder der Sparcasse, auch als Geschenk eines Notablen des Ortes an. Hierauf theilt der Lehrer seinen Schülern mit, daß er von einem bestimmten Tage an jede Woche ihre kleinen Ersparnisse in Empfang nehmen wird und monatlich einmal die Monatseinlage eines jeden Schülers, welche einen Franken oder darüber beträgt, in einer runden Summe für jeden Einzelnen auf ein Sparbuch einzahlen werde. Dieses Sparkassenbuch macht den Zögling zum Gläubiger der großen Sparcasse, und befreit in dieser Hinsicht den Lehrer von jedem Vorwurfe und aller Verantwortlichkeit. Dieses Büchlein, aus welchem das Kind sieht, daß es als Erwachsener behandelt wird, weil es wie ein Mann handelt, ist für das Kind, zuweilen auch für seine Familie, ein gutes Erziehungsmittel.
Die Verfahrungsart bei der Amtsverrichtung ist folgende: Einmal wöchentlich an einem bestimmten Tage – Dienstag ist der geeignetste – nimmt der Lehrer des Morgens bei Beginn des Unterrichts die Ersparnisse seiner Schüler in Empfang. Diese regelmäßige periodische Wiederholung macht es den Zöglingen zur Gewohnheit, stört die strenge Ordnung der Classe nicht und spart Zeit.
Der Lehrer hat vor sich auf seinem Pult das Register der Schulsparcasse liegen, ein Heft, in welchem jede Seite für die besondere Berechnung jedes Einzelnen bestimmt ist, und obenan die Seitenzahl, den Namen des Schülers und die Nummer seines Sparcassenbuchs (wenn er ein solches schon besitzt) trägt. Jede dieser Seiten ist für die Monate des Jahres in zwölf verticale und für die Tage im Monat in horizontale Linien getheilt, das heißt: nimmt der Lehrer die Einzahlung nur einmal Per Woche an, so genügen fünf horizontale Linien.
Dem Lehrer zur Seite steht ein Gehülfe oder immer der Reihe nach einer der besten Schüler mit einem Blatt Papier, dessen Vorderseite ein Facsimile einer Seite des Registers trägt. Dieses Blatt wird dem Schüler als ein Duplicat seiner Berechnung mit der Schulsparcasse eingehändigt.
Sind die Sachen so geregelt, so tritt jeder sparende Schüler der Reihe nach an das Pult des Lehrers und legt die kleine Summe, die er einzahlen will, darauf nieder.
Unmittelbar nach jeder Einzahlung trägt der Lehrer die Summe in das Register auf der für den betreffenden Schüler bestimmten Seite ein; dann überzeugt er sich, daß dasselbe im Duplicat, welches der Schüler erhält, geschehen ist, und fordert denselben auf, nach jeder neuen Einlage sein Blatt wieder vorzuzeigen.
Dieses Geschäft nimmt, wenn es wohlgeordnet ist, für sechszig Schüler nicht einmal dreißig Minuten Zeit in Anspruch.
Das Verfahren außerhalb der Schule, das heißt die Abrechnung mit der Sparcasse, ist ebenfalls äußerst einfach.
In den ersten Tagen jedes Monats addirt der Lehrer auf jeder Seite, das heißt in der Berechnung jedes Schülers, die bescheidenen Summen, die in der für einen Monat bestimmten Seitenspalte eingetragen sind. Beträgt die Totalsumme nicht einen Franken, so schreibt er die Zahl der Centimen oben in die für den nächsten Monat bestimmte Spalte, damit dieselbe zu den nächsten Einzahlungen addirt werde. Uebersteigt die Summe einen oder mehrere Franken, so trägt er die übrigen Centimen ebenso ein und schreibt den oder die Franken in das für die große Sparcasse bestimmte Verzeichnis.
Der Lehrer zieht dann die zur Einzahlung bestimmten Summen zusammen, datirt und unterschreibt das Verzeichniß, welches er dann mit dem Gelde und den Sparbüchern derjenigen sparenden Schüler, welche solche schon besitzen, auf die Sparcasse trägt. Das Original des Verzeichnisses behält er selbst.
Die Sparcasse schreibt die Einlagen in die einzelnen Bücher auf die Rechnung und den Namen jedes Schülers ein, und von da an hört die Verantwortlichkeit des Lehrers in Betreff der Einlagen und Bücher der Einzelnen auf.
Will ein Schüler einen Theil oder den ganzen Betrag seines Guthabens zurück verlangen, so genügt hierzu die Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters, welcher dann mit dem Lehrer und dem Agenten der Sparcasse das Sparbuch unterzeichnet.
Hierdurch ist Alles vereinigt worden, um den Mechanismus so einfach und sicher zu gestalten wie möglich; die Arbeit und die Verantwortlichkeit des Lehrers aus das Minimum zu beschränken und der Schulsparcasse einen hohen Werth für die Erziehung zu verleihen.“[3]
In der neuesten Zeit ist ein Project aufgetaucht, welches nach der Meinung Vieler den Mechanismus noch einfacher gestalten soll. Herr Millour aus Brest hat vorgeschlagen, in der Schule Sparmarken, ähnlich unseren Briefmarken, einzuführen, die von den Kindern in der Schule gekauft werden könnten. Wir übergehen dieses Project und viele andere, weil ihnen unserer Meinung nach das erziehliche pädagogische Element vollständig fehlt.
Die Sparcassen überhaupt sind eine noch verhältnißmäßig junge Errungenschaft unserer modernen Cultur. Aber wiewohl sie erst seit dem vorigen Jahrhundert bestehen, haben sie dennoch in Europa gegenwärtig eine Kundschaft von sechszehn Millionen sparender Menschen, welche in ihnen gegen acht Milliarden Mark niedergelegt haben. Das sind Zahlen, die deutlich für die Lebensfähigkeit [67] dieser vorsorglichen Stiftung sprechen und ihre möglichst große Verbreitung wünschenswerth erscheinen lassen.
Als wir vor längerer Zeit einige Kinder Sparhefte anfertigen ließen, um uns zu überzeugen, ob sie den gestellten Ansprüchen genügen könnten, und als wir ihnen den Zweck der Schulsparcasse erklärten, da baten sie uns dringend und wiederholt, wir möchten unseren Einfluß dahin verwenden, daß auch in ihren Schulen recht bald solche Sparcassen eröffnet würden. Wir gaben das Versprechen, dahin zu wirken – und vielleicht gelingt es der Presse, die Gemüther zu erwecken, Bürger und Behörden, Väter und Lehrer dazu zu bewegen, daß sie die Kinder in dieser ernsten Zeit socialer Kämpfe zur Arbeit und zur Sparsamkeit erziehen.
Der Sommer des verflossenen Jahres wird mir unvergeßlich bleiben, er erfüllte mir den Wunsch, mit bedeutenden Menschen Verkehr zu pflegen, nach deren persönlicher Bekanntschaft ich mich lange gesehnt hatte.
Nicht Jedermann hegt derartige Wünsche, und Mancher wohl schätzt ihre Erfüllung sogar gering. Ich wundere mich darüber nicht, verstehe vielmehr, wie man entweder wegen der Gefahr, einem Größenculte zu verfallen oder wegen der noch schlimmeren der Enttäuschung sich ängstlich davor hüten mag, Menschen, die man im Geiste verehrt, persönlich zu begegnen. O, hätte ich doch selbst nicht gar so häufig die peinliche Erfahrung gemacht, wie ein Dichter oder Künstler, dessen Werke mich entzückt hatten, mir nachträglich zu einem Alltagsgeschöpfe zusammenschrumpfte, da ein heimtückischer Zufall mir ihn von Angesicht zu Augesicht gegenüberstellte! Steht es so, fragte ich mich dann wohl, mit dem Dichterworte: Es ist der Geist, der sich den Körper baut? Und doch, wenn man, wie ich, von berufswegen in einem gewissen Verhältnisse zur Politik, zur Literatur und Kunst steckt, wenn man jahraus jahrein liest und liest, schaut und schaut, um literarischen und künstlerischen Individualitäten auf den Grund ihres Wesens zu kommen, so folgt man immer wieder der Verlockung, das Buch oder Bild, welches man kennt, an seinem Schöpfer zu messen. Wie etwa, um Kleines mit Großem zu vergleichen, ein Menschenkind nichts sehnlicher zu wünschen vermöchte, als zu der Welt, die es kennt, nun auch deren Schöpfer von Angesicht zu sehen. Ja, es ist ein erhabenes Geheimniß um das Schaffen, die Dichter und Künstler haben es selbst noch nicht ergründet; es lebt in ihnen und herrscht über sie, ohne viel nach ihnen zu fragen. Und oft genug ist es so traumhaft, daß es sich nicht einmal sichtlich ausprägt in Jenen, welche es beseelt. Dann geschieht es wohl, daß ein begnadeter Poet das Aussehen und Wesen eines Spießbürgers, ein genialer Künstler die Physiognomie eines Tagelöhners hat. Und so freilich ist es mehr ein Unbehagen als eine Freude, welche an Dichter- und Künstlerbegegnungen haftet.
Doch getrost, wenn die Enttäuschung die Regel ist, so giebt es auch der Ausnahmen eine Fülle, und was mich betrifft, so werde ich mir das Vergnügen niemals versagen, freudigen Dankes voll von jeder Ausnahme zu erzählen, der ich begegne. Der Corse Napoleon hat doch trefflich verstanden, was es bedeute, einen großen Menschen zu sehen. Als er Goethe kennen gelernt hatte, sagte er bewundernd: Voilà un homme.
Mit solchen Anschaungen als Gast in Berlin zu weilen, diesem Mittelpunkte, der immer mehr nach dem Vorbilde von Paris zur deutschen Metropole auch in literarischer und künstlerischer Hinsicht sich erweitert, das hat seinen großen Reiz und auch sein großes Mißbehagen, die Enttäuschung ist auf allen Gassen zu haben, die Erfüllung auf wenigen. Ich erfuhr es im verflossenen Monat Juni, aber ich berichte für jetzt nur von einer der Erfüllungen. Von den anderen und auch von den Enttäuschungen vielleicht ein anderes Mal!
Es ist nach einer regnerischen Woche endlich wieder einmal ein milder, weicher, träumerischer Sommertag, eigentlich ein verspäteter Frühlingstag. Ich habe, dem Lärm unter den Linden entweichend, das Brandenburger Thor passirt und wandere durch den Thiergarten, im Schatten der Bäume. Mein Ziel ist die Hohenzollerstraße, die weit draußen hereinmündet in das grüne Eiland, das, wie kein anderes, still und erquicklich sich streckt inmitten großstädtischer Bewegung. Dort wohnt Friedrich Spielhagen, dessen letztes Buch mit dem schönen Titel „Quisisana“ ich kurz vorher gelesen habe. Und da ich ihn noch nicht persönlich kenne, so ist es begreiflich, daß mir, bevor ich an seine Thür klopfe, seine schriftstellerische Persönlichkeit, wie ich sie mir aus seinen Werken gestaltet, vor Blick und Gedanken schwebt, gleichsam um sich zu verabschieden, da sie von dem Bilde der wirklichen Persönlichkeit in Bälde abgelöst werden soll. Werde ich bei dem Tausche gewinnen oder verlieren?
Die Generation, der ich angehöre, war, als sie zu lesen anfing, glücklich genug, unter drei hervorragenden vaterländischen Romandichtern wählen zu können. Gustav Freytag’s „Soll und Haben“, Karl Gutzkow’s „Zauberer von Rom“, Friedrich Spielhagen’s „Problematische Naturen“ beherrschten das Interesse der Leserwelt. Aber uns jungen Leuten war Freytag zu reif, Gutzkow zu sehr zerrissen, wir bedurften einer Nährung für unseren Enthusiasmus. Und diese fanden wir bei Spielhagen. So wie für die „Problematischen Naturen“ ist seit jenen Tagen nicht wieder für einen Roman geschwärmt worden. Wir liebten in diesem Oswald Stein ein Stück von uns selbst, gaben dem Baron Oldenburg, wie er, unsere Seele hin, ergötzten uns an diesem Cloten, dem Junker, der gerade das hohe Roß im Staate ritt. Und wie viele Mädchen, die damals geboren wurden, erhielten den Namen Melitta!
Ach, Spielhagen hat vor zwanzig Jahren voraus geahnt, in welcher Richtung das geistige Leben der Nation nach deren vollbrachter äußerer Einigung sich bewegen würde, und bitter genug klang sein Urtheil über die Zukunft. In demjenigen seiner Romane, welcher am schroffsten politischer Tendenz gewidmet ist, in dem Romane „In Reih’ und Glied“, ist es ein Dichter, Walter Gutmann, der, humanistischen Studien ergeben, im politischen Leben die gemeinnützige Wirksamkeit, den Dienst zum Wohle des Ganzen verkörpert, indeß Leo Gutmann, der Vertreter der genialen Gewaltthätigkeit, des isolirten Ehrgeizes und der Herrschsucht, von der Naturwissenschaft ausgegangen ist. Damit soll schwerlich der letzteren ein Makel angeheftet werden, doch es ist für den Dichter charakteristisch, wo er den Dämon unserer Tage sucht.
In den „Problematischen Naturen“ reckt und dehnt es sich wie zu einem gewaltigen Ausholen des von bureaukratischen Fesseln umspannten Armes. Dreiunddreißig Jahre sind vergangen, seitdem das Volk hinauszog, um sein Blut für seine Fürsten zu verspritzen. Man hat ihm Verfassungen versprochen und den Bundestag gegeben, parlamentarische Einrichtungen verheißen und die Karlsbader Beschlüsse über den Nacken geworfen. Dann hat Paris seine Julirevolution gemacht, die deutschen Poeten haben ihre Freiheitslieder gesungen, die Burschenschafter sind wie das Wild auf dem Felde gehetzt und verfolgt worden, Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen hat sich geweigert, zwischen sich und sein Volk ein „Stück weißes Papier“ schieben zu lassen Die Menschen wissen nicht, was sie wollen aber sie wissen, daß sie etwas wollen müssen. So entstehen die „problematischen Naturen“. Die Einen, wie Oswald Stein und Professor Berger, werden durch den Tod auf den Barricaden, die Anderen, wie Baron Oldenburg, durch die Liebe entsühnt. Die Weiber laufen ihnen, wie magnetisch angezogen, dutzendweise in die Arme. Sie taumeln von Begierde zu Genuß und verschmachten im Genuß vor Begierde, genügen keinem Verhältnisse und finden kein Verhältniß genügend, sodaß sie das Leben ohne Genuß und Nutzen verzehren. Das wird gar bald anders werden. Die Märztage werden dem unbestimmten grenzenlosen Sehnen einen festen Inhalt, eine bestimmte Richtung geben. Zwölf Jahre der gewaltthätigsten Reaction werden es nicht hindern, daß die „problematischen Naturen“ sich allmählich in ernste Kämpfer verwandeln, welche in „Reih’ und Glied“ der allgemeinen Wohlfahrt ihre Kraft leihen. Der Militärconflict ist da und mit ihm die sociale Frage. Dort handelt es sich um das Budgetrecht
[68] der Volksvertretung, hier um die Wahl zwischen Selbsthülfe und Staatshülfe. Ein genialer, aber in seinem Ehrgeize vereinsamter Streber, Leo Gutmann, will „die Arbeit gegen das Capital organisiren“, und eine Weile hat es den Anschein, als ob der Staat sich seiner bedienen werde, um den Parlamentarismus mit dem Socialismus todtzuschlagen. Aber Leo Gutmann, will sagen Ferdinand Lassalle, wandelt auf Wegen, auf welche er den Geist der Zeit nicht mit sich reißen kann, und wird schließlich das Opfer eines Duells. Der Conflict zwischen Regierung und Volksvertretung endet mit einem Compromiß, der vorläufig jede Entscheidung bis auf Weiteres versagt. Von da zu dem gewaltigen Athemzuge, welchen im Julimonate 1870 die Geschichte that, ist eine schwüle Pause. Verdrossen, mißmuthig, enttäuscht kehrt der Volksgeist den öffentlichen Dingen den Rücken. Ein Krieg ist geführt worden, und es war ein Bruderkrieg. Räthselhaft ist die Zukunft, beängstigend lastet die Gegenwart auf den Gemüthern. In rastloser Arbeit strebt man zu vergessen was war; „Hammer und Amboss“ heißt die Losung. Und als nun endlich die Entscheidung eintrat, als blutigroth die Einheit aus erbarmungslosen Völkerschlachten hervorgegangen, da lacht zwar dem Poeten das Herz über die Erfüllung, und jubelnd klingt ihm das „Allzeit voran“ von den Lippen, aber bald hat er erkannt, daß der heilige Gedanke vaterländischer Wiedergeburt verzerrt und entweiht, mißbraucht und entheiligt zu werden droht von Glücksjägern und Strebern, von Junkern, die Verwaltungsräthe, und von Speculanten, die Cavaliere werden wollen. Und er läßt die „Sturmfluth“ kommen, brausend und mitleidslos, alle Dämme und Deiche, die Menschenwitz aufgerichtet hat, wie Spielzeug zerreißend. Er hat längst die Freude verloren an dem Anblicke des wechselvollen Kampfes, den das Volk gegen die Bureaukratie, der nationale Geist gegen den Moloch des staatlichen Selbsterhaltungstriebes führt. Er ist auf dem Standpunkte angelangt, den der Held seiner ersten Novelle „Auf der Düne“ als den allein erstrebenswerthen bezeichnet, auf dem Standpunkte der Resignation. Was scheert ihn der Monismus, den die Einen, was der Dualismus der Weltanschauung, den die Anderen aufdringlich als die Erlösung von allen Uebeln verkündigen? Was kümmert ihn der Zank zwischen der Naturwissenschaft, die sich alleinherrschend auf den Thron setzen, und der Philosophie, welche von ihm nicht herabsteigen will? Was ihm einst vorgaukelte als beseligender Zukunftstraum, wofür er in kräftigster Manneszeit „In Reih und Glied“ kämpfte, das hat sich kaum halb, jedenfalls anders erfüllt, als er hoffte. Unveränderlich in ihrer Erhabenheit blieb nur die Kunst und unerschöpft seine Lust zu fabuliren. So wandelt er denn wunschlos abseits, auf „Plattland“ seine Gestalten suchend, nach einem weltentlegenen Paradiese forschend, an dessen Eingange die Worte stehen: Qui si sana – hier gesundet man …
So trat mir das Bild von Spielhagen’s dichterischer Persönlichkeit aus seinen Werken entgegen; ich mustere es noch einmal auf dem Wege zur Hohenzollernstraße, wo das Original meiner wartet.
Und aber ein Weilchen sitze ich in dem gewaltigen Arbeitszimmer des Dichters, das auf den ersten Blick voll genialer Unordnung zu sein scheint, aber sich allmählich vor dem Auge in verschiedene Sitzpartien sondert, dort eine, welche von den Bücherkästen, hier eine, die von dem Schreibtische beherrscht wird. Die Nachmittagssonne leuchtet durch die drei hohen Fenster, und malerisch heben sich die Schatten ab von den Gegenständen in dem weiten Gemach. In schräger Linie auf- und niederwärts steigen die Somnenstäubchen; vom nahen Thiergarten klingt Vogelsang und Kinderlachen herüber. Dann tritt der Dichter herein, rasch, fast ungestüm in seinen Bewegungen, ein mittelgroßer schlanker Mann mit länglichem Gesichte, das eine Denkerstirn krönt. Seine Augen, nicht groß, aber beweglich, haben einen Ausdruck, als seien sie stets auf der Suche, vielleicht nach einem Romanstoffe oder einem Blicke der Anerkennung, vielleicht auch nach echten Menschen, so recht einen problematischen Ausdruck.
Und bald ist die Unterhaltung im Gange. Spielhagen ist beredt wie seine Bücher. Wie sie, so spricht auch er mit Schwung und Feuer, gesucht, ohne daß man ihn suchen sieht. Hört man sein helles Organ, vernimmt man seine Meinungen, die aus einer durch und durch idealistischen Weltanschauung herausquellen, so versteht man, warum er allezeit in erster Linie die Jugend begeistert hat und dann die Frauen.
Ich bringe auf sein letztes Buch, aus „Quisisana“, das Gespräch, bemerke, daß zu dem armen Helden desselben, dem Reichstagsabgeordneten Bertram, vielleicht ein bekannter jüngstverstorbener Parlamentarier Modell gesessen habe, bekenne schüchtern, daß dieser jüngste seiner Romane einige todte Stellen enthalte und zwar dort, wo der Dichter allzu umständlich die rein literarischen Anregungen aufdecke, aus welchen anscheinend der Gedanke des ganzen Romans sich entwickelt habe. Daneben betone ich den politischen Zug, der alle seine Bücher charakterisire.
Er hörte mich eine Weile lächelnd an; dann sagte er:
„Todte Stellen, ja, ja. Das haben schon mehrere meiner Freunde eingewendet. Und auch jene Aehnnlichkeit ist ihnen aufgefallen. Berthold Auerbach, dem ich die Arbeit vorlas, fand sie heraus. Was thut’s? Es ist eine lebenswahre Gestalt, und wenn dem hier oder dort widersprochen wird, so ist mir eben dies, daß sie als eine bestimmte Persönlichkeit erkannt wird, der Beweis, daß ich nicht fehlgegriffen. Sie bezeugen es mit den Anderen, daß Sie diesen Bertram schon irgendwo gesehen haben, daß er gelebt hat, leben konnte, und dies ist mir genug.“
Diese Wendung wird fortgesponnen. Der Dichter entwickelt in raschen Sätzen, welche einander fast überstürzen, die Tendenzen die ihn leiten, die Ziele, welche er verfolgt, die Gesetze, die er anerkennt. Er geräth dabei in ein schönes Feuer; ich habe das seltene Schauspiel, die Werkstatt eines Poeten zu sehen, den anmuthigen Genuß, von ihm selbst in ihr herumgeführt zu werden; es ist mir, als beobachtete ich ihn unnmittelbar bei seinem Schaffen. Oswald Stein, Leo Gutmann und all ihr übrigen Gestalten der Spielhagen’schen Muse, ihr schönen Frauen, Melitta und Helene von Granwitz, Sylvia und Eva, Paula, Hedwig und Erna, ich habe euch alle belauscht von eurem erste Athemzuge bis zur Vollendung eures Schicksals; ich weiß nun, wie ihr geworden und warum ihr just so geworden. Und ihr wurdet mir theurer, seitdem ich euer Wachsthum kenne und in eure Seelen hineinschaute mit den Augen eures Schöpfers.
Doch nicht das allein verdanke ich jener Stunde in dem Arbeitszimmer Spielhagen’s. Mir geht auf allen Wegen die Politik nach, und sie verfolgte mich auch bis in die Hohenzollern-Straße am Thiergarten zu Berlin. Ich wollte erfahre, wo in dem Wesen des Dichters jene starken politische Impulse wurzeln, die auf allen Blättern seiner Werke, wenige ausgenommen, so gewaltig zu Tage treten. Und Spielhagen hüllte sich nicht in Schweigen. Seine Bewegungen wurden hastiger, das Spiel der Hände, welches die Rede charakteristisch begleitete, sprach bedeutsam mit, als er den Satz ausführte, daß er durchaus bewußt inmitten seiner Zeit stehe und aus ihr seine Nahrung schöpfe. Ja, es glitt ein Schatten von Wehmuth über sein reges Antlitz, da er im Rückblicke auf die große Romane früherer Jahre ausrief:
„Ich suche und suche, nun schon lange, nach einem entscheidenden Punkte, bei dem ich wiederum diese Zeit zu fassen vermöchte, um von ihr ein breites, umfassendes Gemälde zu entwerfen.“
Dabei fuhr er mit den Armen durch die Luft, als ob er nach Etwas griffe.
„Und ich werde es finden,“ fuhr er zuversichtlich fort, „jetzt, bald, vielleicht später – ich finde es gewiß.“
Ist der Punkt nicht vorhanden? Gleicht der Dichter dem Archimedes, der selbstbewußt sagte: Gebt mir einen Punkt außerhalb der Erde, und ich will sie euch vom Flecke rühren? O nein, der Punkt ist nur verhüllt, und wenn Einer ihn zu erhaschen vermag, so ist es Spielhagen, der eine wundersame Witterung besitzt für die Räthselfragen der Zeit. Heute ist das nationale Leben in Deutschland getrübt, zerrissen; es wird wieder gesunden, und dann, wenn das Kranke sich abscheidet von dem Bestehenswerthen, wird auch der Moment wieder gekommen sein, wo Spielhagen Stoff und Nahrung zu einem großen Zeitbilde findet. Er ist der Mann dazu; denn er war der Erste, welcher die Politik zu einem poetischen Elemente gemacht hat, und vielleicht der Einzige, der es mit unfehlbarer Geschicklichkeit gethan.
Die Schatten wurden länger in dem weiten Gemache. Ich erhob mich, um mich von dem Dichter zu verabschieden. Er streckte mir die Hand entgegen, zog sie aber, wie sich auf Etwas besinnend, zurück.
„Ein Andenken an diese Stunde!“ murmelte er und griff aus einem der Bücherkästen ein zierliches Bändchen heraus, auf dessen Titelseite er mit fliegender Feder ein paar freundliche Worte schrieb.
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[70] Und dann schritt ich wieder durch den Thiergarten, entgegen dem geräuschvollen Treiben der Großstadt. Männer und Frauen wandelten, sich ergehend, an mir vorüber, lachende Kinder spielten unter den Standbildern Goethe’s und der Königin Luise. Ich sah Alles und sah es nicht. Meine Gedanken hingen an der Frage, ob nun der Besuch in der Hohenzollernstraße ein Gewinn gewesen oder ein Verlust.
„Ein Gewinn!“ ich sage es, ohne dem Dichter zu schmeicheln. Wie ich mir ihn gedacht hatte, so war er in seinem Arbeitszimmer vor mir gesessen. Blind gegen die Mängel seines Schaffens bin ich nie gewesen, außer in jenen jungen Jahren, wo das Urtheil noch vor jedem Gemüthsaffecte Reißaus nimmt. Aber was mir zur rechten Würdigung gefehlt hatte, war die Beobachtung des Verhältnisses zwischen ihm und dem Boden, aus dem er pflügt. Ueber die allgemeinen Züge seiner Lebensentwickelung (vergl. „Gartenlaube“ 1877, Nr. 14) war ich ja vorher unterrichtet gewesen, ich wußte, was die literarischen Compendien wußten. Daß er als der Sohn eines Magdeburger Regierungsrathes unter glücklichen Bedingungen und seit seinem sechsten Jahre auch in landschaftlich reizvoller Umgebung, nämlich in Stralsund, aufwuchs. Daß das Meer in seine Jugend hineinglänzte, wie er später selbst in einem wunderschönen Vortrage über Homer erzählt hat und wie es im Uebrigen auch aus den meisten seiner Romane zu entnehmen ist, durch welche es bald laut und bald leise tönt, wie der ewige Ruf der Sehnsucht: „Thalatta! Thalatta!“ Daß er in Berlin, Bonn, Greifswald (dem Grünwald seiner Romane) zuerst die Rechte, dann Philologie und Philosophie studirt, sich zu einer Docenten-Carriere vorbereitet hatte und eine Weile Gymnasial-Lehrer – siehe Oswald Stein’s Misere am Grünwalder Gymnasium – gewesen war, um schließlich als dreißigjähriger Mann mit Einem Schlage ein berühmter Schriftsteller zu werden. Aber dieses Wissen war unzulänglich, lückenhaft. Genius loci, der Geist, der zum Menschen aus seiner nächsten Umgebung spricht, der war mir entgangen, und gerade von diesem Geiste Spielhagen’s muß Kenntniß haben, wer den Epiker der letzten Epoche deutscher Geschichte genau verstehen will.
Nun wandelte ich durch den Berliner Thiergarten. Unweit lag das Haus, in welchem Fürst Bismarck wähnt, unweit auch dasjenige, in dem das deutsche Parlament tagt. Das Siegesdenkmal glänzte auf mich nieder, und Moltke’s Haus, der Sitz des Generalstabes, lugte aus den Bäumen hervor. Wenige Stunden vorher hatte ich einer stürmischen Redeschlacht um die Maigesetze im preußischen Abgeordnetenhause beigewohnt. Das waren mir lebendige Zeugnisse der Geschichtswendung, welche Deutschland seit zwanzig Jahren erlebt hat, von ihrem Dichter in der Hohenzollernstraße hatte ich mich just verabschiedet. Ein leichter Windstoß bewegte die Aeste. Die Blätter rauschten, als wollten sie erzählen von den Sorgen und Freuden, welche sie in großer Zeit beobachtet an den Wanderern, die ihren Schatten aufgesucht. Aber der Windstoß wiederholte sich nicht, und die Blätter verstummten wieder. In der Nachbarschaft wohnt Einer, der besser als sie zu erzählen vermag von dem Leid und der Lust seines Vaterlandes.
Wer in Berlin vom Brandenburger Thore aus auf das weithin sichtbare königliche Palais zuwandert und, vor der Schloßbrücke rechts abbiegend, an dem verhältnißmäßig menschenleeren Spree-Ufer entlang geht, wird einen prächtigen Ziegelrohbau bemerken, dessen ernste Facade durch einen breiten Reliefgurt geschmückt wird. Lebensvoll treten aus dem großen Sandsteinbande plastische Gestalten hervor, zu anmuthigen Gruppen an einander gereiht, stellen sie Arbeiter dar, welche Metalle zu Münzen schlagen. In der stummen Sprache bildender Kunst verkündet Meister Schadow, daß hinter diesen Mauern das eigentliche Herz wirthschaftlichen Lebens schlägt, von dem blinkendes, klingendes Geld in die Adern des Verkehrs strömt und zu dem es glanzlos, stumpf, abgegriffen zurückfließt, um in neuem Gewande den allen Weg zu wandern. Wen hat nicht schon der Wunsch beschlichen, einen Blick an diese geheimnisvollen Räume zu werfen und ihre Schätze zu betrachten! Aber der Eingang ist gewissenhaft bewacht, zwar nicht von einem Cerberus, sondern von dem freundlichen Portier. So ein Portier in seiner dem Eingang beherrschenden Loge gleicht dem Leonidas in den Thermopylen, hundertfache Uebermacht schlägt er leicht zurück.
Da es nun bei dem erschwerten Zugange so schwierig ist, mit leiblichen Augen Umschau zu halten in dieser interessanten Werkstätte des Mammons, so laden wir Jedweden hiermit ein, im Geiste mit uns eine Wanderung durch die königliche Münze anzutreten.
Die eichene Thür thut sich schwerfällig auf. Auf unsere Frage nach dem Director werden wir vom Portier die breite, mit Teppichen belegte Treppe hinaufgewiesen, worauf ein anderer freundlicher Geist uns in das Zimmer des ersten Beamten geleitet. Nachdem wir uns vorgestellt und gehörig legitimirt haben, schreibt Herr Conrad in liebenswürdiger Weise einige Zeilen, die, obwohl sie in Prosa abgefaßt sind und nicht etwa eine schreckhafte Zauberformel enthalten, uns die Pforten der sonst so ungastlichen Räume öffnen werden. Mit diesem Erlaubnißschein begeben wir uns in das Münz-Comptoir und präsentiren ihn einem älteren Herrn. Wir haben einen Augenblick Muße, uns in dem großen Zimmer umzusehen, das von einem kaufmännischen Comptoir kaum zu unterscheiden ist.
An der gegenüberstehenden Wand, deren hohe Fenster einen Ausblick auf das Hintergebäude gestatten, arbeiten verschiedene Beamte eifrig an ihren Pulten. Zwischen der Thür und den Fenstern befindet sich ein langer Tisch mit Wagen, sowie großen und kleinen Gewichten. „Da fängt das Mysterium an,“ denken wir und legen uns die Frage nach dem Zwecke der mit peinlichster Sorgfalt neben einander ausgestellten Wäginstrumente vor. Aber schon werden wir in unseren Reflexionen angenehm durch einen jüngeren Beamten unterbrochen, der sich als Cicerone durch die Münze anbietet und mit uns das Zimmer verläßt. Von ihm erfahren wir, indem wir über einen Hof schreiten, daß das Münz-Comptoir sowohl das auswärtige Amt, wie das Ministerium des Innern repräsentirt und besagter Tisch ein Hauptorgan seiner Functionen bildet. Hier werden von der Reichsbank altes und fremdes Geld, Gold und Silber in Barren, sowie ausgediente Schmucksachen abgeliefert, sodann vom Münzwardein mit den feinsten Wagen gemessen und schließlich auf ihren Gehalt an Edelmetall untersucht, da bekanntlich fast alle Gold- und Silbersachen einen Kupferzusatz enthalten. Für jedes Pfund seines Gold z. B. erhält die Reichsbank 1392 Mark geprägtes Geld ausgezahlt. Die Münze schlägt aus einem Pfunde fein 1395 Mark, gewinnt also 3 Mark, und diese zur Deckung der Herstellungskosten bestimmte Differenz wird Schlag- oder Prägschatz genannt. Der Staat profitirt folglich Nichts bei dem Geschäfte. Anders in früheren Zeiten, wo Fürsten zuweilen geringwertiges Geld zu einem hohen Nennwerte ausgaben, um sich einen augenblicklichen Vorteil zu verschaffen.
In seiner Eigenschaft als Ministerium des Innern befördert das Münzcomptoir die wohl abgewogenen Metalle in die Münze, wo sie geschmolzen werden. Da die Edelmetalle verhältnißmäßig weich sind, giebt man ein Zehntel Kupfer zu, welches mit dem Golde oder Silber zusammengeschmolzen wird und der Legirung eine größere Härte verleiht.
Während der Unterhaltung sind wir in einen hohen Raum eingetreten, der eine frappante Aehnlichkeit mit einer Schmiede hat. An den Wänden stehen etwa ein Dutzend – sagen wir – Pulte. Denn der Durchschnitt der räthselhaften Gegenstände zeigt eine senkrecht auf dem Boden stehende Linie und eine in stumpfem Winkel von ihr ausgehende, welche in spitzem Winkel die Wand trifft. Der Deckel der Pultes hat eine kreisförmige Oeffnung, und wir hören erstaunt, daß wir Schmelzöfen vor uns haben. – In der ersten Halle ist es ziemlich still. Die Münze befindet sich in der todten Jahreszeit, richtiger in den todten Jahren. Statt der Hunderte von Arbeitern, welche sie vor einigen Sommern bei der Durchführung der Münzreform beschäftigte, sind nur noch 59 Mann in Thätigkeit, doch, wie wir jetzt um eine Ecke biegen, sehen wir aus einem der Oefen eine helle Flamme aufschlagen, und über der Oeffnung leuchtet uns der Kopf eines großen, glühenden Tiegels entgegen. Eben schüttet ein bärtiger Schmelzer Kohlen
[71] auf das Gefäß, in welchem Gold und Kupfer zu einer flüssigen, glühenden Masse zusammenbrodeln. Wenn der Proceß vollendet ist, gießt der Schmelzer den leuchtenden Metallstrom in eiserne Formen. Ein keckeres Gemüth mögen sie an das mütterliche Waffeleisen erinnern, welches an Sonntag-Nachmittagen und auch zuweilen in der Woche, angenehme Düfte verbreitend, über dem Feuer um- und umgedreht wird. Aber die Waffeln, welche hier gebacken werden, sind für den besten Magen unverdaulich, und selbst die Löwen der Wüste würden sich bei diesem Knuspern ihre trefflichen Zähne verderben. Dann, sobald das Metall erkaltet ist und die Formen im Bewußtsein eines guten Gewissens uns furchtlos in ihr Inneres blicken lassen, schälen sich harte, lange Stäbe, welche „Zaine“ genannt werden, heraus. Böte man sie einem Laien als Gold zum Kaufe an, so würde er im Gefühle eigener Klugheit den verlangten Preis nicht zahlen, die Verkäufer aber für Bauernfänger halten; denn der Kupferzusatz hat den „Zainen“ eine rothbraune Farbe verliehen, welche das edle Metall so unkenntlich macht, daß es für ungeübte Augen vom Kupfer nicht zu unterscheiden ist.
Nur wenige Schritte von dem Ofen entfernt feilen Arbeiter in langen Schurzfellen die Unebenheiten auf der Oberfläche der Stäbe ab. Weshalb sie diese Operation vornehmen, erfahren wir im anstoßenden Säle. Hier geht’s lauter und lebendiger zu. Es werden nämlich von einer unsichtbaren Dampfmaschine, welche sich im Centrum der Münze befindet und mit allen Sälen in Verbindung steht, kleine Walzwerke getrieben, und zwischen ihren polirten Cylindern winden sich allenthalben Bänder und Streifen heraus. Genannte Bänder und Streifen, welche kupfernen Faßreifen zum Verwechseln ähnlich sehen, sind unsere alten Bekannten, die ehemals so stattlichen und jetzt bis zur Unkenntlichkeit gereckten und gestreckten „Zaine“. Kaum sind sie nämlich von der ersten Station hier angekommen, so wird ihnen, ungeachtet ihres behäbigen Leibesumfangs, auch schon zugemuthet, sich durch zwei eng über einander stehende Walzen zu pressen. Das ist nicht leicht und sehr bitter, aber ein frischgebackener „Zain“ hat trotz seiner großen Jugend das Princip des Gänsemarsches voll und sicher erfaßt. „Wo sechs Mann nicht neben einander wandeln können,“ sagt er sich, „da gehen sie bequem hinter einander her.“ Auf seine Lage angewandt, heißt das: Wenn er an Länge zunimmt, so wird er an Dicke abnehmen und ohne allzu große Schmerzen durchschlüpfen.
Die Arbeiter nun speculiren auf die Lebensklugheit des „Zaines“ und lassen ihn so lange durch die Walzwerke gehen, bis er die Dicke der Münze erreicht hat, welche man prägen will, wobei er sich zu einer schier unendlichen Länge ausdehnt. Zuweilen ereignet es sich jedoch, daß einer bei der schlechten Behandlung seine gutmüthige Weichheit verliert und recht hart und widerborstig wird. Dann wird ihm eine Nachcur in Glüh- und Feueröfen verordnet, aus welcher er natürlich nicht so unversehrt wie die drei biblischen Jünglinge, sondern willenlos und gehorsam hervorgeht.
Wenn die Walzwerke einigermaßen an die in Telegraphenbureaux befindlichen Räder mit ihren endlosen Papierstreifen erinnern, so ähnelt ein in der Nähe eifrig arbeitender Apparat, der den Namen Durchstoß führt, einer Nähmaschine. Die, in kleinere Stücke gebrochenen und geschnittenen Bänder werden hier in horizontaler Lage von einem Arbeiter über einen aufrecht stehenden Cylinder geführt. Von oben fällt ein sich rasch auf und nieder bewegender Stempel auf den Streifen und stößt Stücke von der Größe der zu prägenden Münze heraus. Wenn nun das Metallband den Durchstoß passirt hat, weist es ein rundes Loch neben dem andern auf, und aus der Größe derselben und der Dicke der Streifen ist ersichtlich, daß man just mit der Herstellung von Zehnmarkstücken beschäftigt ist. Die durchlöcherten Bänder werden in/ Netze gepackt und wieder der ersten Station zum Schmelzen überwiesen.
Man sollte glauben, daß die Plättchen gleich schwer wären, da sie durch dieselbe Walze und denselben Durchstoß gegangen sind, aber das ist selten der Fall; sehr viele sind vielmehr entweder schwerer oder leichter, als der Münzfuß bestimmt, und deshalb muß jedes Stück justirt werden. Diese Operation findet im ersten Stock statt. In einem großen, einem Zeichen- oder Händarbeitssaale nicht unähnlichen Raume stehen zu beiden Seiten eines Ganges lange, flache Bänke, von denen jede etwa ein halbes Dutzend der empfindlichsten und genauesten Wagen trägt. Vor jeder Wage steht ein Stuhl, und auf einigen Stühlen sitzen Männer, neben denen ein Haufen Metallplättchen liegt; rasch bringen sie dieselben auf die Wagschale, bestimmen ihr Gewicht und werfen sie in ein vor ihnen stehendes Kästchen, welches drei Fächer enthält. Eines ist für die vollwichtigen Münzen bestimmt, und ein anderes nimmt die zu leichten auf; diese müssen wieder eingeschmolzen werden. Von denjenigen aber, welche schwerer sind, als verlangt wird, schaben die auf ihren Stühlen wie unerbittliche Richter sitzenden Männer, als abgesagte Feinde aller berechtigten Eigenthümlichkeiten und individuellen Verdienste, so viel ab, als zur Erlangung des normalen Gewichtes erforderlich ist. Also herrscht im Justirsaale die vollkommenste Gleichheit und Gleichmacherei, welche auf dieser unvollkommenen Welt denkbar und möglich ist.
Die Schnelligkeit und Sicherheit der Justirer ist bemerkenswerth. Dennoch ist die Handarbeit so zeitraubend, daß der Erfindungsgeist sich lange vergeblich mit dem Problem einer Justirmaschine beschäftigt, bis er die Aufgabe endlich gelöst hat. Eine derartige Maschine muß, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich ist, zwei Funktionen übernehmen: sie hat erstens die Plättchen zu wägen und zweitens das Uebergewicht der allzu schweren Stücke abzuschaben. Derartige, von Seiß erfundene Maschinen sind in der königlichen Münze neben den Justirern in Thätigkeit. Der Arbeiter, welcher sie bedient, hat nichts weiter zu besorgen, als von Zeit zu Zeit die Plättchen durch eine oben angebrachte Oeffnung in das Werk gelangen zu lassen. Die Maschinen arbeiten fast unsichtbar, sodaß sie beim ersten Anblicke sanft eingenickt zu sein und sich eines wohlthätigen Schlummers zu erfreuen scheinen, aber das periodische Klingen rollenden und niederfallenden Metalls erhebt ihre stille Thätigkeit über allen Verdacht, indem es gleichzeitig unsere Blicke auf den Boden lenkt. Dort, am Fuße der Maschine, steht ein in sechs Fächer eingetheiltes Kästchen, in welches die Plättchen, nach ihrem Gewicht sortirt, fallen. Die zu leichten und vollwichtigen rollen in die drei ersten Classen, die zu schweren aber füllen allein drei Classen aus. Es ist leicht verständlich, weshalb der Erfinder den „schweren Elementen“ die Hälfte aller Fächer eingeräumt hat; sein Verfahren ist weder auf Ungerechtigkeit gegen die minder schweren Classen zurückzuführen, noch haben ihn socialpolitische Erwägungen geleitet; auch schwebte ihm nicht das System der Stadtverordneten- oder Landtagswahlen bei der Construction seiner Maschine vor. Er hat die Einrichtung vielmehr lediglich deshalb getroffen, um die Abschabung durch eine automatische Maschine möglich zu machen. Eine Maschine, welche nicht in jedem einzelnen Falle entsprechend gestellt wird, kann immer nur ein gleiches Quantum Mehrgewicht entfernen; die Plättchen dagegen weisen, wenn auch minimale, so doch bei dem Werthe des Stoffes gewichtige Verschiedenheiten auf. Werden die Stücke nun aber nach Gruppen sortirt, welche ungefähr eine gleiche Schwere haben, so kann man eine Maschine herstellen, welche, den drei Gewichtsclassen entsprechend, stets genau das bezügliche Uebergewicht entfernt.
Jetzt scheint die niedere Arbeit beendet und der letzte Act im Gebiete des Aesthetischen zu spielen; denn die Plättchen werden eben an die Rändelmaschine abgeliefert. Wer in einer müßigen Stunde dem Rande unserer Münzen einige Aufmerksamkeit schenkt, wird bemerken, daß sie mit Ausnahme der Kupfer- und Nickelmünzen einen verzierten Rand haben, weshalb ein etwaiges Befeilen auf ihnen leichter sichtbar wird. Die Silbermünzen bis zu zwei Mark sind gerippt; die Zehnmarkstücke zeigen eine Rankenverzierung, die silbernen Fünf- und die Zwanzigmarkstücke eine Inschrift, der Rand aller Münzen aber steht auf der Vorder- und Rückseite ein wenig vor. Der gekerbte Rand wird im Prägring hergestellt, während die Rändelmaschine das Aufstauchen und Verzieren besorgt. Zu diesem Zwecke enthält sie zwei stählerne parallele Schienen, deren Abstand kleiner als der Durchmesser des Plättchens ist und auf welchen je die Hälfte der einzuwalzenden Verzierung erhaben vorhanden ist. Die eine ist unbeweglich, die andere verschiebbar, und diese letztere wird von der Dampfmaschine in sehr raschem Tempo nach links und rechts bewegt. Wenn nun das Plättchen in die Rändelmaschine gelangt, so wird es von der beweglichen Schiene in eine drehende Bewegung versetzt und vorwärts geschoben, indeß sich der Rand aufstaucht und die erhabenen Stellen in das weichere Edelmetall eingraben. Die Rändelmaschine wird von zwei Zubringerohren gespeist, und in der Mitte der Schienenbahn befindet sich eine runde Oeffnung, durch welche die gerändelten Plättchen von links und rechts in einen Kasten fallen.
Irren ist nach dem übereinstimmenden Zeugnisse aller Zeiten [72] menschlich, und so täuschten wir uns auch, als wir glaubten daß alle folgenden Processe zur Herstellung unserer Münzen uns in das Gebiet des Schönen fuhren würden. Dem gerändelten Plättchen wird auf einmal das stärkste Mißtrauensvotum erteilt, indem man ihm vor Anlegung des Festgewandes sich reinzuwaschen empfiehlt. Das ist hart, aber, objectiv betrachtet, eine berechtigte ästhetische und gesundheitspolizeiliche Forderung, denn die Stücke tragen von der Schmelzstation her noch immer eine rothbraune, schmutzige Farbe an sich. Symbolisch wird die Erniedrigung dadurch angedeutet, daß wir aus dem ersten Stocke wieder in das Erdgeschoß wandern müssen. Und welche Reinigung lassen ihnen die beiden Männer dort angedeihen! Hier wird keine Mandel- oder Veilchenseife verwandt, sondern man geht ihnen mit verdünnter Schwefelsäure zu Leibe. Nachdem die Säure das Kupfer aus der Oberfläche gebeizt hat, erscheinen. die Plättchen hellgelb und glänzend. Nun wird die an ihnen haftende Säure in einer mit Weinstein gefüllten rottenden Trommel entfernt, welche sie tüchtig durch einander rüttelt und schüttelt. Alsdann bringt sie ein Arbeiter in flache kupferne Kessel und reibt und trocknet sie mit wollenen Lappen zuerst kalt, dann warm ab.
Der Erniedrigung folgt endlich der gerechte Triumph. Gerändelt und gereinigt, läßt man die Plättchen in das Zubringerohr der fieberhaft arbeitenden Prägmaschine gleiten, welche sie einzeln nach der Anciennetät zwischen zwei mit gewaltiger Kraft gegen einander strebende Stahlstempel führt, die sie mit inbrünstigem Liebesarme umfassen, daß sich das Edelmetall oben und unten in die Vertiefungen der Stempel preßt, was man „Prägen“ nennt.
Da rollen die zur Würde von Münzen erhobenen Goldstücke aus der Maschine heraus und betten sich in ihrer jungen Größe verführerisch neben einander. Wer ihnen etwas an ihrer Würde oder Ehre „abschneiden“ wollte, würde mit den Gesetzen in Conflict gerathen. Der Münzbuchstabe A, Zeichen der Münzstätte Berlin, der aus dem Avers so bescheiden unter dem Bilde des Kaisers hervorblickt und nur auf einigen Scheidemünzen die Keckheit hat, sich zweimal zu zeigen, macht es dem Zehnmarkstücke unmöglich, seine Vaterstadt Berlin zu verleugnen, was übrigens allen Berliner Kindern bekanntlich sehr schwer wird.
In großen Behältern, welche Fleischerschüsseln ähnlich sehen, werden die glitzernden Goldstücke nun in das Münzcomptoir gebracht, wo sie gezählt und aufbewahrt werden. Bald wird sie die Reichsbank in ihre Cassen und Keller überführen und nach und nach in den Verkehr bringen. Dann wandern sie durch ehrliche und unehrliche Finger, aus den Geldschränken der Banquiers in die Strümpfe alter Frauen, von der schwieligen Hand des Arbeiters in das wohlgepflegte Händchen vornehmer Damen. Lange Jahre liegen sie ruhig in den Kisten zinsenverschmähender Geizhälse, bis sie dann plötzlich verurtheilt werden, ein unruhiges Dasein in der Börse des verschwenderischen Erben zu führen. Sie dienen allen Menschen, allen Ständen, allen Neigungen, allen Wünschen und Bestrebungen mit gleicher Liebe. Sie enthalten in der That das von den Chemikern bisher vergeblich gesuchte eine Element, aus welches sich alle anderen zurückführen lassen und welches in alle anderen verwandelt werden kann. Ja, wenn uns eines dieser Goldstücke seine Geschichte erzählen könnte! Vor mehreren tausend Jahren wurde vielleicht sein Stoff im Pactolus gewonnen, in der persischen Reichsmünze verarbeitet und mit dem Bilde des Königs geschmückt. Jahrhunderte später aber prangte auf dem umgeschmolzenen Metallstücke das Haupt Julius Cäsar's, und wieder nach Hunderten von Jahren ließ es eine fromme Frau mit anderen Werthsachen einschmelzen, um der neuerbauten romanischen Kathedrale eine kostbare Monstranz zu verehren. Abermals nach manchem Jahrhundert bildete es ein Glied der langen Kette, welche sich um den Hals eines Fürsten wand, und jetzt liegt es, ein moderner Phönix, zurückblickend auf stolze und ruhmreiche Schicksale, ruhig neben den Emporkömmlingen, deren Stoff erst vor wenigen Jahren in den Bergwerken Californiens gewonnen wurde.
Im Lande der Tuareg. (Mit Abbildung Seite 65.) Immer mehr
lichtet sich das Dunkel, welches früher über dem Innern Afrikas herrschte,
und den Spuren wissenschaftlicher Forscher des „dunkeln Welttheiles“
folgen schon heute kühne Unternehmer, welche die fernen Länder dem
Handel und Wandel der civilisirten Welt zu erschließen trachten. Auch
die Sahara, das großartige Sandmeer, welches die alten Culturländer
der nordafrikanischen Küste von den tropischen fruchtbaren Ländereien
am Nigerstrome trennt und bis setzt für den Handel ein fast unüberwindliches
Hindernis bildete, wird gegenwärtig von Ingenieuren durchforscht.
Man plant nämlich in Frankreich, über die trockenen, viele Meilen
umfassenden Sandstrecken von Algier aus eine Eisenbahn nach Timbuktu zu
bauen und also einen neuen Handelsweg zu dem „französischen Indien“ am
Niger zu schaffen. Die französische Kammer hat zu diesem Zwecke bereits
600,000 Franken bewilligt, und im Anfange vorigen Jahres suchten vier
Expeditionen unter Führung der Ingenieure Choisy und Poyanne, des
Obersten Flatters und des gelehrten Afrikaforschers Soleillet von verschiedenen
Richtungen aus in die Wüste einzudringen und die zukünftige Route für
die geplante Bahn festzustellen. Vom größten Erfolg waren die Bemühungen
des Obersten Flatters gekrönt, welcher durch das Land der
Tuareg bis Temassinin vorgerückt war. Schon früher durchstreiften
Reisende dieses Gebiet, unter Anderem die durch ihr tragisches Geschick
bekannt gewordene Alexine Tinne. (Vergl. Jahrgang 1869, Seite 696.[WS 1])
Dank ihren Berichten steht der Targi[4] in schlechtem Ruf bei den
Europäern. Auf flinken Reitkameelen, Meharas, nomadisirt er von
Oase zu Oase, Viehzucht treibend und das Räuberhandwerk ausübend.
Der Stamm, welchen man auf ungefähr 300,000 Köpfe zu schätzen pflegt,
gehört der kaukasischen Rasse an und zählt zu den Bekennern des Propheten
Mohammed. Wo er sich mit Negern nicht gemischt hat, bildet er einen
schönen bräunlichen Menschenschlag. – Am 12. April vorigen Jahres begegnete
die Expedition Flatters’ der ersten Tuaregbande zwischen Ain el
Hadjadi und dem See Menthough, bei Sonnenuntergang näherten sich
die Männer dem französischen Lager und machten, von den Strahlen
der Sonne beschienen, in ihren weißen und blauen Gewändern und
mit dem Mundtuch, das sie in der staubigen Wüste stets umbinden,
einen überaus malerischen Eindruck. Durch die Lanzen, die sie in der
Faust hielten, und durch die an der Seite der Kameele herabhängenden
Schilder hatten sie das Aussehen von Kriegern, wie sie der Europäer
aus „Tausend und eine Nacht“ kennen gelernt. Sie nahmen die Gastfreundschaft
der französischen Soldaten an und brachten weiter sogar zwei
von ihren angesehensten Damen mit, von denen die ältere die Fremden mit
Musik unterhielt. Auf ihrem Mehara um einen Tamarindenstrauch in der
Runde reitend, spielte sie auf einem Instrument, welches einer Geige
ähnlich ist, aber nur eine Saite hat. Die Dame war die Schwester des
Häuptlings und die Mutter des künftigen Bandenführers, denn bei den
Tuareg herrscht die merkwürdige Sitte, daß nicht, wie bei uns, der
Sohn den Vater beerbt, sondern daß die monarchische Würde von dem
Onkel auf den Neffen übergeht. Friedlich ließen sie die Expedition weiterziehen. –
Bald wird die Welt von Neuem Gelegenheit haben, von den
Tuareg zu sprechen, da der französische Minister Barroy das von Flatters
begonnene Werk mit Nachdruck fortzusetzen gedenkt. Wenn aber früher
oder später der Plan einer Saharabahn verwirklicht werden und das
schnaubende Dampfroß als Rival des flinken Kameels auf dem Sande
der Wüste erscheinen wird, dann werden wohl die Söhne der Wüste trübe
Erfahrungen machen. Sie werden die Cultur aufhalten wollen, aber man
wird ihre Angriffe mit wohlgezieltem Pelotonfeuer und Branntwein
zurückweisen, bis sie wie die Indianer Amerikas ihr Land den Civilisirten
überlassen.
Nach der Sitzung. (Zu Abbildung Seite 69) Ein glücklich gewählter
Gegenstand, ein Augenblick, den wir gern belauschen und zu dessen Erklärung
es kaum noch eines Wortes bedarf! Das liebliche Kind hat einem
Künstler als Modell gedient und wird nun, „nach der Sitzung“, vom
Großvater wieder zur Heimgeleitung vorbereitet. Die Tracht des
Mädchens deutet wohl auf das Land der Kunst, auf den lichten Süden,
aber die blätterlosen Zweige, die zum hohen Fenster hereinsehen, verrathen
winterliche Jahreszeit und rechtfertigen die sorgliche Einhüllung des
Kindesköpfchens. Glücklicher Heimweg Euch beiden, Großvater und Kind!
Arnold Ruge ist am letzten Tage des vorigen Jahres zu Brighton
in England gestorben. Ein Wecker männlichen Freisinns und deutschen
Einheitsstrebens stand er seit 1837 durch die erst „Hallischen“, dann
„Deutschen Jahrbücher“ mit an der Spitze der rührigen Geisteskämpfer,
welche das Sturmjahr Achtundvierzig zu Thaten aufrief. Von der
Reaction überwältigt und persönlich bedroht, ging er nach England, wo
er als einer der tapfersten Ritter des Geistes fortwirkte und nun, ein
volles Menschenalter hindurch von der Heimath getrennt, starb. Seinem
Andenken wird die „Gartenlaube“ binnen Kurzem in Wort und Bild ein besonderes Blatt weihen.
B. v. W. Sie irren; Ihr Wunsch ist längst erfüllt. Der alte Soldat, der Wächter am Schlachtdenkmale von Roßbach ist nicht vergessen, sondern durch das Garde-Husaren-Regiment in Potsdam, bei welchem er selber einst als Vice-Wachtmeister gedient, in den Stand gesetzt worden, seine goldene Hochzeit (am 22. Decbr. des vergangenen Jahres) recht freudig zu feiern. Das Regiment schickte ihm gegen zweihundert Mark baar und dazu noch Attila, Hose, Mütze und Mantel, alles neu. Möge der alte Husar noch lange damit paradiren!
F. F. in Frankfurt an der Oder. Um was handelt es sich? Wiederholen Sie gütigst Ihr Anliegen unter Angabe Ihrer vollen Adresse!
- ↑ Abgaben, welche monatlich und jährlich an die päpstliche Kammer von Bischöfen und Aebten entrichtet wurden. D. Red.
- ↑ Viele von diesen deutschen „Jugendsparkassen“ sind jedoch auf ganz
verschiedenartigen Prinzipien gegründet und, wie einige Sparcassen im
Königreich Sachsen, von der Schule getrennt. Wiewohl ihr wohltätiges
Wirken, wie es die Berichte der „Kindersparcasse zu Golditz“, begründet im
Jahre 1846 und der „deutschen Volkssparbüchse für Jedermann“ in Artern,
gegründet 1870, darthun, nicht zu unterschätzen ist, so fehlt ihnen dennoch
das erziehende Element, und wir werden in einem anderen Artikel auf
dieselben zurückkommen. Freunde dieser Institute werden uns zu besonderem
Dank verpflichten, wenn sie uns durch zuverlässige Nachrichten
die Klärung und Sammlung des äußerst zersplitterten Materials erleichtern
D. Red.
- ↑ Vergl. „Die Schulsparcassen“ von A. de Malarce. Deutsche Ausgabe.
- ↑ „Targi“ ist die Einzahl des Volksnamens, von dem die Mehrzahl „Tuareg“ gebildet wird.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ korrigiert, Vorlage: Seite 694