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Die Gartenlaube (1881)/Heft 45

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[741]

No. 45.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ein Friedensstörer.

Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Indeß der Wagen im Mondschein weiter rollte, brummte der Baron kopfschüttelnd vor sich hin. Nach einer Weile sagte er:

„Jochen, hör’ mal zu! Daß mir der Pannewitz den Schabernack angethan hat, das ärgert mich gar nicht mehr; denn erstens habe ich ihm meine Meinung sehr ausdrücklich gesagt; zweitens habe ich ihm heute zweihundert Thaler im Jeu abgenommen, was ihm verdrießlich sein mag, und drittens habe ich ihm auch mal einen Streich gespielt, indem ich ihm von Demmin eine Farbe mitgebracht habe, weil er seinen grauen Bart schwarz färben wollte; es war aber eine, die blos schwarz aussah und die Haare so roth machte wie Fuchshaare. Das hat er mir heute richtig bezahlt. Aber daß sich so’n Kerl aus meiner leiblichen Verwandtschaft mir vor die Nase hinsetzen und sich als Herr in Pelchow abspielen will, was mein offenbares Eigenthum ist, das ist mir doch schlimmer als Gift und Opperment. Daraus sehe ich, daß die Teterower nicht abwarten können, bis mich der liebe Herrgott von dieser Erde abruft, wo sie denn doch Pelchow geerbt hätten. Aber ich will ihm schon klar machen wer Herr in Pelchow ist. Ich habe noch immer fertig gebracht, was ich gewollt habe. Als ich getauft worden bin, was unsern Herrn Pastor sein Vater gethan hat, da haben sie mich Wilhelm geheißen, und das ist denn auch mein Name bis zu meinem zwanzigsten Jahre gewesen. Nun hat er mir aber auf einmal nicht mehr gefallen, und ich dachte, ich wollte mich Franz nennen. Das gab nun einen großen Aufstand, aber ich habe das doch fertig gebracht, und der Herr Pastor hat den neuen Namen auch noch in das Kirchenbuch einschreiben müssen. Und mit der Teterower Padde werde ich auch noch fertig. Was meinst Du, Jochen?“

„Ja, aber das Gericht, Herr; das ist doch was anderes.“

„Schweig, Jochen! Du bist ein großer Esel, mein Sohn – das habe ich Dir schon vorhin gesagt.“

Und der Baron legte sich zornig zurück und griff wieder zu den beiden Wagenrippen.

Fünf Minuten später hielt der Wagen vor dem Thor; Jochen öffnete, führte die Pferde bis an das Gutshaus und half seinem Herrn absteigen. Etwas schwankend schlug dieser den Weg an den Nesseln hin ein, welchen zuvor Curt von Boddin mit Anne-Marie gegangen, blieb aber am ersten Fenster stehen, löste einen Riegel und schob die untere Fensterhälfte empor; alsdann stieg er durch die Oeffnung ein und ließ das Fenster wieder herunter.

Der Mondschein fiel in das Zimmer, welches gleich dem von Anne-Marie bewohnten sich als „Raum für Alles“ darstellte. Der Kachelofen und ein riesiger alter Schrank nahmen die Wand gegenüber ein; links stand ein Schreibsecretär mit einfachem Bett, zwischen diesem und dem Ofen der Waschtisch, auf dem eine Zinnschüssel blinkte, rechts neben einer Thür ein altmodisches Kanapee, zu ihm gehörig ein gewöhnlicher Holztisch und drei oder vier der bekannten Bauernstühle mit ausgeschnittenem Herzen in der Lehne. Vor dem Schranke prangte eine beträchtliche Anzahl Stiefeln in Reihe und Glied.

„Da haben sie mir wieder mal aufgeräumt,“ brummte der alte Herr und scharrte mit dem Fuße auf der Diele, wobei es von dem dort gestreuten Sande knirschte. Er ging darauf, so leise er bei der nicht völlig gesicherten Herrschaft über seine Glieder vermochte, auf die einzige sichtbare Thür zu und horchte.

Es raschelte nebenan; ein vergnügtes Lächeln leuchtete wahrhaft verklärend in dem rothen alten Gesicht auf.

„Onkel – bist Du wieder da?“ erscholl die Stimme Anne- Mariens.

„Ja wohl, Döchting; hast Du Dich denn schon zu Bett gelegt?“ fragte er dagegen.

„Nein, Onkel! Ich lege mir kalte Wasserumschläge um den Fuß.“

„Na, dann kann ich Dir ja wohl noch gute Nacht sagen, mein liebes Anne-Marieken? Ich habe schon gehört, daß Du Dir den Fuß verstauchst hast. Das mußt Du ja nicht machen – das ist ja ungesund.“

Eine rührende väterliche Zärtlichkeit klang aus den Worten des Barons. Er hatte während des Sprechers die Thür geöffnet und sah nun Anne-Marie von Lebzow auf ihren Schaukelstuhl mit dem umwickelten Füßchen am Kamin sitzen. Neben ihr auf dem Tisch brannte eine Bronzelampe mit Milchglaskugel, deren Lichtschein voll auf ihr noch immer blasses Gesicht fiel; seitwärts auf dem Teppich, leicht zu erreichen, stand das Waschbecken. Er hielt ihr die Hand hin, welche sie an ihre Lippen zog, und lächelte ihr zu, wie etwa ein alter Bullenbeißer lächeln würde.

„Mein liebes Döchting, wie geht’s Dir denn nun? Erzähl’ mir doch mal, wie das gekommen ist!“

Die Frage war ihr sichtlich peinlich. Sie blickte vor sich nieder und entgegnete:

„Du weißt ja, wie das beim Laufen manchmal kommst. Es wird schon morgen wieder gut sein. Habt Ihr denn viel geschossen in Branitz?“

[742] „Na, es ging. Was die Hühner waren, die haben gut gehalten. Der Pannewitz hat ausverschämtes Glück gehabt, zwei Doubletten. Nun denk’ Dir aber, den Pannewitz! Wie ich vorhin von Branitz wegfahren will, legt er sich auf meine Matratze und läßt sich von Jochen Pagel um den Kuhring fahren, und dabei hat er mir den ganzen Matratzensack aufgeschnitten, daß mir unterwegs der Häcksel unter’m Leibe weggelaufen ist. So’n verdammter Kerl ist das. Na, ich nehm’ ihm das nicht übel; ich habe in meinem Leben wohl tollere Sachen gemacht. – Was mir da einfällt: wie ich in Rostock bei der Bützow’n gewesen bin, was Deiner Mutter ihre leibliche Schwester war, da nahm die mal eine Schneiderin zu sich. Das gab einen Spaß. Die Rostocker Schneider brauchten das nämlich nicht zu leiden und ließen sagen, wenn die Schneiderin – es war ein sehr propres und ordentliches Mädchen – nächsten Tags wieder ins Haus käme, dann schickten sie eine Deputation und ließen ihr das Nähzeug wegnehmen. – ‚Laßt sie nur kommen!’ sag’ ich. – Der Bützow’n ihr Hans, der jetzt Adjutant in Schwerin ist, hatte einen alten schwarzen Bock, und wie die Schneiderin den andern Tag wieder da ist, hole ich das Biest herauf und gehe damit zu ihr in die Stube und laure. Nun siehst Du: kommen denn auch die alten Bügeleisen anmarschirt; es war ein sehr feierlicher Aufzug auf der Straße, indem daß sie ihre ‚Gerechtsame wahren‘ wollten, wie sie’s nennen. Ich halte den alten Racker bei der Thür parat, und wie sie klopfen, rufe ich ‚Herein!‘, und kaum daß die Thür aufgeht, gebe ich ihm von hinten einen Stoß, und er geht mit den Hörnern vorweg zwischen die Deputation. Na, nun kannst Du Dir denken, was das gab: die alten Knaster machten Kehrt – und mein Bock hinterher, bis aus die Straße; wir haben ihn kaum wieder einfangen können – so war er aus Rand und Band. Er lief die halbe Blutstraße entlang, bis nach dem Hopfenmarkte.“

Anne-Marie lachte hell auf, und der Baron, der sich neben sie an den Kamin gelehnt hatte, war glückselig darüber.

„Siehst Du. – siehst Du, nun lachst Du wieder, mein liebes Anne-Marieken. Nun wird Dein Fuß schon wieder gut werden – aber,“ fuhr er, plötzlich ernster werdend, fort, „ich werde nun wohl vielen Aerger haben; denn ich hab’ auch gehört, daß der Teterower hier ist, der nun hier commandiren will. Er hat Dich ja wohl im Wagen hergefahren? Laß Dich nicht mit dem ein, mein liebes Kind! Das sind falsche Canaillen, die Teterower; die können’s nicht abwarten, bis ich todt bin. Meinetwegen, aber das weiß ich: was hier in Pelchow ist, davon bleibe ich Herr, und was mir die verdammten Demminer Juden gegeben haben, das kann ich ihnen auch selber wieder bezahlen – dazu brauche ich keinen Administrator aus Teterow. Ich muß ja auch für Dich sparen, mein liebes Anne-Marieken – sonst hast Du gar nichts, wenn ich mal todt bin.“

„Ich werde mir schon durch die Welt helfen, Onkel,“ sagte Anne-Marie verlegen; „Du bist so gut, daß Du an mich denkst. Du wirst aber hoffentlich noch lange leben.“

Der Baron sah eine Weile nachdenklich vor sich hin und sein Gesicht wurde immer trüber.

„Gute Nacht, Döchting,“ sagte er gedrückt und hielt ihr wieder die Hand hin. „Ich bin ein alter Esel; daß ich nicht schon für Dich gesorgt habe; ich will nichts mehr davon reden; denn es ist mir sehr schwer. Aber ich will das nun nachholen.“

„Aber mein guter Onkel –“

„Das verstehst Du nicht, mein liebes Kind. Gute Nacht auch, und laß nun Deinen lütten Fuß in Ruh’ und geh’ auch zu Bett!“

Er schritt langsam und sichtlich zerknirscht in seine Stube hinüber, und Anne-Marie blickte ihm liebevoll nach, bis die verwitterte Gestalt in den hohen Stulpen, die Jockeymütze noch immer auf dem Kopfe, in der Thür verschwand. Sie legte sich in den Stuhl zurück und schaukelte müde ein paar Mal hin und her. In ihren Gedanken stellte sich der neue Administrator neben den Onkel, den jener verlacht, einen bankerotten Verschwender genannt hatte, welchen man wie ein Kind behandeln müsse. Wieviel Sorgfalt und Zartheit, wieviel Liebe hatte dieser „verrückte“ alte Mann für sie – und jener impertinente Mensch, der so rücksichtslos aufgetreten war, der sicherlich kein Herz hatte – nein, nur Selbstsucht und kalte Gesetzlichkeit hatten aus seinem Reden gesprochen; er konnte kein guter Mensch sein; sonst hätte seine scheinbare Theilnahme für sie nicht erlöschen können, da sie gegen die Form protestirte, in der sie ihr aufgedrängt wurde; sonst hätte er sich nicht so absprechend gegen den Onkel geäußert, den er persönlich gar nicht kannte. Er war einfach ein Unverschämter, dieser Vetter Curt von Boddin –

Sie horchte auf. Die Schritte des Barons, der seither in seinem Zimmer langsam auf und nieder gegangen war, näherten sich plötzlich lebhaft der Thür.

„Kann ich noch mal zu Dir kommen, Anne-Marieken?“

„Ja, lieber Onkel!“

Aus dem Gesicht des Barons war die Bekümmerniß verschwunden, und die kleinen verschwommenen grauen Augen, die sonst etwas Unstätes hatten, blickten das junge Mädchen wie im Licht eines guten Gedankens blitzend an.

„Döchting!“ sagte er feierlich, vor sie hintretend, „ich bin ja gar nicht darauf gekommen, daß ich schon was da habe, was ich für Dich sparen kann. Ich habe ja dem Pannewitz zweihundert Thaler abgewonnen: Das ist mir jetzt ’ne wahre Herzensfreude. Hier sitzen die Musikanten, und ich will sie Dir nur gleich geben, daß Du sie aufheben kannst. Das ist mir doch zu lieb!“

Und er griff mit beiden Händen in die Tasche seiner hirschledernen Beinkleider und zog Gold, Banknoten und harte Thaler heraus, die er ihr trotz ihres Abwehrens in den Schooß legte.

„Die mußt Du nehmen, Anne-Marieken, Das thue ich nicht anders; Du wirst ja doch wohl Deinen alten Onkel nicht ärgern wollen.“

„Ich danke Dir vielmal, Onkel,“ sagte Anne-Macke erschüttert, nahm die runzeligen Hände des Barons und drückte ihre weichen Mädchenlippen darauf; „aber nicht wahr, Herzensonkel Du nimmst das alles zu Dir und verschließest mir’s? Ich bin noch nie mit Geld umgegangen.“

„Ja, mein gutes Anne-Marieken, das will ich Dir wohl besorgen. Und Du sollst nun mal sehen: wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu. Du wirst noch mal ein ganz reiches Mädchen werden.“

Er nickte ihr zu, nahm wieder, was sie ihm reichte, und ging in sein Zimmer zurück. Während er den Schreibsecretär öffnete und das Geld in eine Schublade verschloß, hörte er, wie das junge Mädchen leise die Thür zuklinkte und den Schlüssel umdrehte.




3.

Früh gegen sieben Uhr rasselte das Schiebfenster an der Nesselseite auf, und der alte Baron stieg heraus. Zuerst kam ein kurzer Stulpstiefel mit enganschließendem Lederbeinkleid zum Vorschein, welch letzteres von Gelb in Grau überschillerte, dann das Schmerbäuchlein in der grauen, rothgeblümten Plüschweste, endlich das Uebrige. Der Baron hatte einen etwas verschabten dunkelgrünen Rock mit langen Schößen und Messingknöpfen angezogen und trug eine breitschirmige Mütze von schwarzer Seide, deren Kopf sich hoch aufbauschte. Er schnüffelte hörbar in alle Himmelsrichtungen, wobei die Flügel seiner breiten formlosen, an der Spitze stark gerötheten Nase eigentümlich zitterten, und schien von dem thauig frischen sonnigen Herbstmorgen befriedigt. In dem Hollunder balgten sich die Spatzen, und aus dem Hofe gurrte und krähte es munter. Er bog, die Hände in den Hosentaschen vergraben, langsam um das Haus. Bei einer Scheue waren Leute beschäftigt, ein Fuder Heu abzuladen.

„Ist Drewes auf dem Hofe?“ rief er zwischen den beiden Händen durch, die er zum Sprachrohr formte.

„Nein Herr! Er ist auf der Wiese am Knickbruche,“ scholl es mehrstimmig zurück. Drewes war „Statthalter“ oder Aufseher.

„Sagt mal Jochen, daß er mir in einer Viertelstunde das Pferd satteln soll.“

„Jochen ist mit ausgefahren, Herr Baron.“

„So mag das ein Anderer thun.“

Der Alte machte Kehrt und näherte sich der Hausthür, über welcher sich ein verwittertes hölzernes Schutzdach erhob; eine Glocke hing darunter, deren Strang sich leise im Luftzug bewegte. Der Hausgang machte in der Mitte des Gebäudes ein Knie, worauf er noch den linken Flügel ein Stück durchschritt; dieser Theil war lichtlos. Indeß ging der Alte mit sicherem Schritt bis zum Ende, öffnete die Thür geradeaus und betrat das Eßzimmer welches an eine ländliche Wirthsstube gemahnte. Einen Augenblick stand er [743] starr; dann zogen sich seine buschigen Brauen zornig zusammen, und er rief hastig: „Dürten!“

Im Corridor öffnete sich nebenan die Küchenthür, und der Baron trat einen Schritt zur Seite, um die Alte einzulassen.

„Was soll ich, Herr?“ antwortete diese draußen. „Mit der Suppe komm ich gleich.“

„Komm mal her, komm doch mal her! Was ist dies? Was heißt dies?“ Und er zog Dürten bei der Schulter herein und zeigte auf das an der linken Wand aufgeschlagene Bett, das noch nicht in Ordnung gebracht war.

„Je, Herr, da hat die Nacht der neue Administrator geschlafen.“

„In meiner Eßstube? Wer hat das angeordnet?“

„Das gnädige Fräulein, Herr! Er konnte ja nirgendwo anders unterkommen.“

„Das hat Anne-Marieken gethan? Nein, was ist das Kind unverständig!“ brummte der Baron milder. „Aber das sage ich Dir, Dürten: in dieser Stube esse ich keinen Bissen mehr. Wie werd’ ich mir hier den Appetit verderben, wo der Kerl seinen Nachtschlaf hält!“

„Je, Herr Baron, das müssen Sie mit dem Fräulein abmachen,“ meinte Dürten kurz. „Ich und der Radmacher, wir haben gethan, was sie uns geheißen hat. Wo soll denn sonst gegessen werden?“

„Schweig’, Dürten! Du sollst mir nicht immer widersprechen. Und jetzt bring’ meine Suppe auf meine Stube.“

„Wie kann ich denn da ’reinkommen? Durch das Fenster steig’ ich nicht.“

„Das brauchst Du auch nicht; ich will sie mir schon ’reinlangen. Und dann will ich mal mit Anne-Marieken reden, daß wir in ihrer Stube oder in meiner essen. – Was hat der Kerl hier zu schlafen? Der hätte auf dem Boden oben liegen können,“ fuhr er mit erneutem Zornesausbruch fort, und die welken, ein wenig über das umgeschlungene wollene Halstuch niederhängenden Wangen zitterten dabei. „Na, warte mir! Daß Du Dir nicht etwa einbildest, daß der mit uns ißt, Dürten!“

„Das kann mir gleich sein,“ sagte Dürten Schoritz und ging in die Küche, um die Mehlsuppe für den alten Herrn zu besorgen, welcher im Hinausgehen die Thür schallend in’s Schloß warf.

„Guten Morgen, Onkel!“ rief es aus dem Zimmer Anne-Marie’s neben der Küche. Der Baron blieb vor der offenen Thür stehen.

„Guten Morgen, Anne-Marieken! Das hast Du aber nicht gut gemacht, Döchting, daß Du die Teterower Pogge in der Eßstube hast schlafen lassen,“ sagte der alte Herr mit mildem Vorwurf. „Ich esse nun keinen Bissen in der Stube mehr. Nun wollen wir uns nur so einrichten, daß wir das erste Frühstück einzeln in unsern Stuben einnehmen Jeder für sich, indem daß es genirlich ist, wenn ich zu Dir kommen wollte oder Du zu mir, wenn noch nicht aufgeräumt ist. Aber das andere Essen wollen wir umschichtig bei Dir oder bei mir abhalten.“

„Aber Onkelchen, ich wußte ihn wirklich nicht anders unterzubringen,“ meinte Anne-Marie betroffen, welche am Spiegel die letzte Hand an ihre Toilette legte.

„Na, laß nur gut sein! Das schadet ja nichts, Adschüs, Döchting!“

Eine Viertelstunde später saß der Baron auf dem Pferde, und Anne-Marie stand neben ihm.

„Ich habe gehört, Döchting, daß die Pogge mit den grünen Handschuhen und den Gläsern vor den Augen draußen durch die Felder läuft, und nun will ich mal sehn ob ich ihr begegnen kann. Und übernimm Dich nicht mit dem Laufen, mein liebes Anne-Marieken! Setz’ Dich lieber ein bischen in den Garten! Du hinkst ja noch.“

Er nickte ihr zu, gab dem Pferde einen leichten Schlag und ritt fort, –

Curt von Boddin war zeitig aufgestanden; Dürten hatte ihm Kaffee schaffen müssen; dann hatte er begonnen, sich in den ihm völlig neuen Verhältnissen zu orientiren. Aus Dürten war nicht viel herauszubekommen. Desto mehr hatte er vom Radmacher erfahren

Vor Jahren, ehe das gnädige Fräulein als halbwüchsiges Ding auf den Hof gekommen sei, habe es da schauerlich ausgesehen. Die Strohdächer der Scheunen und Ställe wären seit langen Jahren nicht ausgebessert gewesen, die Thore und Thüren hätten nur halb noch in den Angeln gehangen. Auf dem Dache des Gutshauses habe sich kein ganzer Ziegel mehr befunden, sodaß in regnerischen Tagen das Wasser oft bis in die unteren Räume durch die vermorschte und verfaulte Dielung des Bodens gelaufen sei, während sich außen der Kalk vollends von den Wänden gelöst habe. Der Baron habe nur sein jetziges und das gegenwärtig von dem gnädigen Fräulein bewohnte Zimmer für sich benutzt; der ehemalige Salon auf der andern Seite der beiden Stuben sei den Knechten eingeräumt, die Zimmerverbindung nach dieser Seite vermauert worden. Die beiden Räume der Küche gegenüber hätten die Mägde und Dürten Schoritz eingenommen; das Eßzimmer habe als Rumpelkammer gedient. „Blos bei Dürten Schoritz war ein bischen Ordnung. In den andern Stuben hingen die Tapeten in lauter Fetzen herunter; manche hatten aus Zeug mit bunten Bildern und aus Leder bestanden – das schleppten die Leute aus dem Dorfe fort; was die Möbel anbetrifft – die kamen in die Rumpelkammer und wurden allmählich zerbrochen und verbrannt. Bei dem Herrn Baron durfte nie aufgeräumt werden; nur hinten herum hat es Dürten Schoritz fertig gebracht, daß er nicht ganz verkommen ist; denn wenn er was merkte, wurde er sehr grob. Draußen vor dem Hause lag alles voll Kalk und Auskehricht, und im Steinpflaster waren so tiefe Löcher, daß man Abends ohne Laterne in der Dunkelheit da kaum gehen konnte.“

„Kam denn Niemand aus der Nachbarschaft zum Besuch her?“ hatte Curt gefragt.

„Nein,“ lautete der Bescheid, „außer wenn Einer ein Geschäft beim Herrn Baron hatte, was nicht oft vorkam; denn die Geschäfte haben ihm fast immer zwei Demminer Juden besorgt, besonders der Wolfsohn, nämlich der David Wolfsohn, der sein Comptoir bei der Brücke hat.“

„Und seit Fräulein von Lebzow auf dem Hofe ist, hat sich das geändert?“

„Jawohl. Zuerst, als sie noch zwölf bis fünfzehn Jahre alt war, da ging das ganz langsam; denn dazumal war sie noch zu unverständig. Wie sie mit Fieken, ihrem Mädchen, was jetzt meine Frau ist, ankam, da hat ihr der Herr Baron das eine von seinen Zimmern abgegeben; denn er war ihr gleich sehr gut, und sie war auch ein sehr hübsches Ding und hatte so was Zuthunliches für den alten Herrn. Da hat nun mein Fieken Ordnung bei ihr gehalten. Und als sie größer wurde, da haben die drei Frauensleute, nämlich die zwei und Dürten Schoritz, ein Complot gemacht, daß nach und nach überhaupt Ordnung werden sollte. Das gnädige Fräulein hat immer die Schuld auf sich genommen, und der hat der alte Heer nichts sagen können, wenn sie so weich um ihn herum gegangen ist. Da haben sie denn das letzte Gerümpel hinten verkauft und das Eßzimmer eingerichtet, wo ich alles getischlert habe, und der alte Kalden im Dorfe, der als Maurer gelernt hat, der hat kalken und anstreichen müssen, immer wenn der alte Herr in der Umgegend auf der Jagd war, was manchmal acht und auch vierzehn Tage dauerte. Und seit der Zeit hält der alte Herr Baron viel mehr auf sich. Und als nun das gnädige Fräulein in Langsdorf confirmirt worden ist, da hat er die Frau von Pannewitz auf Branitz gebeten, welche dazumal nach Berlin gereist ist, daß sie ihr solle ein schönes Meublement für die Stube besorgen, was denn auch angekommen ist.“

Auf Curt’s Frage, ob sich denn sein Onkel überhaupt um die Wirtschaft gekümmert habe, hatte der Radmacher geantwortet:

„Das hat er wohl gethan; er war nur oft lange nicht zu Hause; dann hat immer der Statthalter nach dem Rechten gesehen, so gut er das gekonnt hat. Der alte Herr ist was wunderlich, aber ein guter Mann, ein viel zu guter Mann. Wenn er auf’s Feld hinaus reitet und welche beim Stehlen findet, dann kehrt er immer um, und als ich ihm einmal sagte, daß hinten an der Koppel eine Pappel nach der anderen umgehauen und zerhackt würde – was ihm selber wegen der schönen Bäume leid that – da sagte der alte Herr blos: Schweig nur still, Radmacher! Wenn die Leute das Holz nicht brauchten, dann würden sie die Pappeln wohl stehen lassen.“

Die verständige Art des Radmachers hatte Curt gefallen und als derselbe sein Anliegen wegen des gewünschten Stückchens Pachtacker vorgetragen, hatte er ihm dasselbe bewilligt, vorausgesetzt, daß sich nicht irgendwelche Hinderungsgründe ergeben würden.

[744] Des Statthalters, an dessen Befragung ihm zunächst noch gelegen, war er am Morgen nicht gleich habhaft geworden, da dieser zeitig mit dem Geschirr in’s Feld gerückt war. Ein flüchtiger Gang durch die zugänglichen Räume des Hauses, durch die Wirthschaftsgebäude und die nächste Umgebung des Hofes illustrirte die Aussagen des Radmachers. Es sah alles noch recht kümmerlich und verwahrlost aus, obschon hier und da Versuche jüngeren Datums erkennbar waren zum mindesten das Allerunzulänglichste in Stand zu setzen. Schmutzig und baufällig genug blieb nichtsdestoweniger das meiste.

„Das wird ein langsames Abzahlen geben,“ murmelte er, einem Wagen zuschreitend, der mit Heu beladen anlangte. Er befragte die Leute, welche ihn mit neugierigen Augen betrachteten, nach dem Statthalter und ließ sich beschreiben, wo derselbe zu treffen sei.

„Was der für Handschuhe anhat!“

„Und was für Augengläser! Er ist wohl das Stubensitzen so gewohnt, daß er immer durch zwei Fenster gucken muß.“

„Das ist einer von den studirten Oekonomikern. Aber er hat sehr was Forsches.“

„Auch was Hochmütiges.“

So lauteten die Kritiken auf dem Heuwagen. Als Curt am Hause vorbei kam, sagte er sich mit einem Blick darauf:, „Diese Knechte und Mägde werde ich ausquartieren und ihre Höhlen für mich herrichten lassen. Die Wirthschafterin kann man am Ende auch auf dem Boden in einer Mansarde unterbringen. Und es muß sofort geschehen. In meinem Leben habe ich noch in keiner Eßstube geschlafen. Die Leute thun mir leid. Ich hätte mich in der Nachbarschaft einquartieren und von da aus erst meine Einrichtung besorgen sollen“

Er schritt hinter das Haus; dort war durch einen Zaun, zu welchem junge Tannen das Material geliefert, ein Gartenterrain abgegrenzt worden, wohl auch eine Errungenschaft der jüngsten Zeit und der Bemühungen der Cousine Lebzow. Die Thür stand halb offen. Er trat in den Garten – alles blinkend und morgenfrisch! Der Rasen an den Böschungen gilbte schon leise. Späte Blumen, viel Astern, viel Georginen, deren große leuchtende Köpfe etwas Leben gaben, ohne doch den Mangel an Buschwerk verdecken zu können. Nur hinten an der alten Lehmmauer wucherte auch hier der Hollunder. Das Terrain war künstlich uneben hergestellt worden; links drüben an der Ecke erhob es sich zu einem Hügel mit niedrigen Anpflanzungen, der eine Laube trug, und in der Laube leuchtete etwas Rothes, das Curt veranlaßte, hinüberzugehen und den Hügel zu ersteigen. Er fand ein wollenes gestricktes Tuch, einen „Seelenwärmer“, wie Frauen sie damals trugen ganz durchfeuchtet vom Nachtthau.

„Es gehört der Cousine Lebzow,“ sagte er sich, indem er ihn. aufnahm und aus einander faltete. „Es muß an die zwanzig Stunden hier gelegen haben.“

Der junge Mann legte das purpurrothe Tuch über den Arm; wie weich es fiel! Er war entschlossen, es der Wirthschafterin zu übergeben. Ob diese wußte, wie es mit dem beschädigten Fuße ging? Aber freilich, Anne-Marie schlief wohl noch, und die Frau hatte bisher nicht Gelegenheit gehabt, etwas zu erfahren.


(Fortsetzung folgt.)




Die internationale Jagd-Ausstellung zu Cleve.

Zum zweiten Male führen wir unsere Leser in diesem Jahre nach der Dreihügelstadt Cleve. Etwas entfernt von der schattigen Baumreihe, welche uns zu der Hunde-Ausstellung zu Cleve (vergl. Nr. 42 dieses Jahrgangs) geleitet hatte, erblicken wir weiträumige, in anmuthigem Stil aus Holz aufgeführte Gebäude, von deren höchster Kuppel die Figur eines altmodischen Jägersmanns in der heurigen Sommerzeit dem fremden Besucher einladend entgegenwinkte. In diesen weiten Räumen haben sich vom Juni bis zum October die Nimrode aus aller Herren Ländern ein Rendez-vous gegeben, dort ihre Jagdtrophäen und ihre todbringenden Waffen in geordneten Reihen ausgestellt, ihre heimtückischen Netze aufgehängt und zwischen den blanken Saufedern und haarscharfen Hirschfängern die kühnen Thaten des edlen Waidwerkes von Malerhand an die hölzernen Wände zaubern lassen. Dort schritten sie nun durch die breiten Hallen, jene markigen, aber gelenkigen Gestalten mit dem wettergebrannten Antlitz und den biederen, freundlich dreinschauenden Augen, die Herren unserer Fluren und Wälder, die frischen Jägersleut’! Freude verklärte ihre Züge bei dem Anblick der langgezogenen gut gearbeiteten Feuerrohre sowie der blitzenden Stahlklingen, und stolz fühlten sie sich in diesem phantastischen künstlichen Walde, welcher aus dreizehntausend Hirschgeweihen gebildet war; denn die internationale Jagd-Ausstellung mußte als ein durchaus gelungenes Unternehmen bezeichnet werden.

So ging es in Cleve laut und lebhaft zu – noch vor wenigen Wochen. Heute sind all die Herrlichkeiten. die das Jägerauge entzückten, wohlverpackt auf der Reise nach ihren Ursprungsorten begriffen, und dem Besucher bleibt nur die Erinnerung an die fröhlich verlebten Tage, an das Feenmärchen einer Jagdherrlichkeit, wie man sie in der Zeit des Dampfes, der das Wild aus seinen alten Revieren verscheucht, kaum erwartet hätte.

Es kann nicht unseres Amtes sein, ein fachmännisches Urtheil abzugeben über die abgestellten Objecte, so da waren Schieß- und blanke Waffen und Munition, Fangeisen und Thierfallen, Jagdutensilien und Anzüge, Jagd-, Reise- und Luxus-Artikel, Ausrüstungsstücke für den Hund, Jagdzimmereinrichtungen und Gemälde, Parkdecorationen, Jagdwagen und Jagdschlitten sowie diverse andere Gegenstände. Unsere Aufgabe ist vielmehr genau vorgezeichnet durch den Stift des genialen Malers L. Beckmann, welcher zur Erinnerung an die Clever Ausstellung das vortreffliche, dieser Besprechung beigegebene Bild für die „Gartenlaube“ entworfen und aus dem reicher Material von Sehenswürdigem das Sehenswürdigste mit Kennerblick herausgegriffen hat.

Da finden wir zunächst in der Mitte unseres heutigen Tableaus einen Repräsentanten der jüngst (vergl. Nr. 43 dieses Jahrgangs) unseren Lesern vorgestellten, aus Deutschland so gut wie verjagten Hirschart, den Kopf eines Elchs aus dem ostpreußischen Forste zu Ibenhorst (Nr. 13), ein prachtvolles Cabinetsstück aus der Sammlung des Prinzen Friedrich Karl von Preußen.

Dicht über diesem ehrwürdigen Haupte hat der Maler ein merkwürdiges Bild angebracht, einen Hirschkopf mit monströs verwuchertem Geweih (Nr. 5). Die fettere Mißbildung besteht nicht etwa aus den ziemlich häufig vorkommenden fleischigen oder porösen Neubildungen, sondern aus fester, knochiger Masse, welche sturmhaubenähnlich aus dem Schädel des Thieres gewachsten war. Neben diesem sonderbaren Hirschexemplare befindet sich ein Kopf des gutmütigen Lampe (Nr. 8), dem zwei Schneidezähne sichelförmig aus dem Schnäuzchen gewachsen sind, wiederum eine krankhafte Erscheinung, die jedoch ziemlich häufig vorkommt und auf der Clever Ausstellung wohl durch ein Dutzend Exemplare vertreten war.

Von diesen und anderen heimischen Wildarten war in den für Deutschland bestimmten Hallen eine ganze ausgestopfte Legion vorhanden, Vierfüßler und Vögel, welche man hier und dort zu ergötzlichen Genrebildern aus dem Thierleben zusammengestellt hatte. Hier stand eine Gruppe Schnepfen mit Jungen, unter welches Tableau man getrost die Unterschrift „Mutterfreuden“ hätte setzen dürfen, dort ein Uhuhorst, von Wildkatzen überfallen, ein gar wildes Bild, hier wiederum Isegrimm, im Eisen sitzend, und dort Reinecke zum Fußschemel verarbeitet. Wer da Lust und Geld hatte, konnte viel Derartiges für einen civilen Preis kaufen.

Aber auch das Ausland diesseits und jenseits des Aequators, von dem Nord- bis zum Südpol war auf dieser internationalen Ausstellung vertreten, und da standen sie in langen Reihen, die nackten aber dickhäutigen Kinder des Südens neben den pelzhaarigen Söhnen des Nordens, die Rhinoceros, Nilpferde und Elephanten neben den Vielfraßen, Polarfüchsen und Eisbären. Ganz oben auf unserer Illustration ist ein solches ausländisches Prachtexemplar abgebildet, der gewaltige Kopf eines amerikanischen Riesenbüffels (Nr. 1), der zwischen dem mächtigen Geweih eines ungarischen Zwanzigenders (Nr. 2) hervorschaut.

Der Edelhirsch, welcher einst diese stolze Krone trug, war im Jahre 1879 in den Jagdrevieren der Herrschaft Munkacs erlegt worden und wog nach dem Ausbruch 490 Pfund. Außer diesem Prachtgeweih hat Graf Hoyos aus Ungarn noch ein Halbdutzend ähnlicher Trophäen gesandt.

[745]

Die hervorragendsten Gegenstände der internationalen Jagd-Ausstellung in Cleve. Originalzeichnung von L. Beckmann.

1. Amerikanischer Bisonkopf. – 2. Ungarisches Hirschgeweih. – 3. Bastarde vom Auer-, Birk- und Schneehuhn aus Norwegen. – 4. Irländische Jagdfalken. – 5. Monströses Hirschgeweih. – 6. Hasenkopf mit abnormen Schneidezähnen. – 7. Armbrust mit langem Anschlag aus dem 15. Jahrhundert. – 8. Hinterlader vom Anfang des 18. Jahrhunderts. – 9. Doppelwender mit 4 Läufen. – 10. und 11. Eiserne Patronen zu Nr. 8. – 12. Revolver vom Anfang des 18. Jahrhunderts. – 13. Kopf eines Elenhirsches. – 14. Altes Jagdmesser mit Elfenbeinscheide. – 15. Hirschfänger mit Elfenbeingriff aus dem 17. Jahrhundert. – 16. Großes Jagdhorn aus einem Elephantenzahn. – 17. Schädel einer Gabelgemse. – 18. Zerwirkmesser aus dem 17. Jahrhundert. – 19. Kolossale Hauer eines Wildschweins. – 20. Verkrüppelter Rehlauf. – 21. Fuchseisen mit einem Baumstamme verwachsen. – 22. Rococo-Jagdschlitten. – 23–26. Prachtgehörne aus der Sammlung H. Lantz. – 27. und 28. Saufeder und Prellnetz.

[746] Unter allen den ausgestellter Hörnern verdient jedoch die Collection des Rittergutsbesitzers. H. Lantz aus Lohausen bei Kaiserswerth ganz besonders hervorgehoben zu werden. Es sind dies namentlich abnorme Geweihe, wie sie durch Schußverletzungen entstehen (Nr. 23 bis 26), auf welche der Eigentümer derselben so großer Werth legte, daß er nicht zu bewegen war, die kostbare Sammlung der Gefahr eines Transportes auszusetzen. So wurden dieselben in Modellen ausgestellt, und da unser vorzüglicher Thiermaler L. Beckmann diese Arbeit überwachte, so ist sie so vortrefflich ausgefallen, daß man die Modelle von den Originalen kaum zu unterscheiden vermochte.

Wenden wir uns nun von den Trophäen zu den Waffen des Jägers! In dieser Abtheilung sah man neben den besten Gewehren der Gegenwart das primitivste Jagdzeug der Eingeborenen in Amerika, Asien und Australien, darunter das Sampitan, das gefährliche Blasrohr der Eingeborenen von Borneo, mit dem sie auf dreißig bis vierzig Schritte Entfernung vergiftete Pfeile gegen ihre Feinde abschießen. Ein besonderes Interesse erweckte die Collection der fürstlich Waldeck’schen Hof- und Jagdverwaltung zu Arolsen, in welcher altertümliche Gewehre ausgestellt waren. Da hat wohl mancher mit Staunen zum ersten Mal erfahren, daß der Hinterlader eigentlich keine Erfindung der Neuzeit ist; denn dort sah er mit leiblichen Augen Hinterlader aus dem achtzehnten Jahrhundert und eiserne Patronen dazu (Nr. 8, 10 und 11). Auch Revolver gab es schon, wie das ausgestellte, freilich ein wenig schwerfällige Stück (Nr. 12) beweist, in ferner Zeit. Der Ruhm dieser Erfindungen kommt also unserem Jahrhundert nicht zu; es hat nur den fraglicheren Ruhm zu beanspruchen, diese furchtbaren Waffen vervollkommnet und in der denkbarsten Weise ausgenutzt zu haben.

Neben diesen Feuerschlünden ruhten in reichverzierten Scheiden die blanken Handwaffen, Pulver- und Jagdhörner, von denen unsere Abbildung einige als wirkliche Prachtwerke des Kunstgewerbes dem Leser vorführt (Nr. 14, 15 und 18). Eine wahre Meisterarbeit ist vor allem das große Jagdhorn aus einem einziger großen Elephantenzahn (Nr. 16).

Neben dem breiten Zerwirkmesser aus dem siebenzehnten Jahrhundert hat der Künstler noch kolossale Gewehre (Hauer) eines Wildschweines (Nr. 19) abgebildet und darunter ein vom Gutsbesitzer Schillings in Gürzenich ausgestelltes curioses Stück, ein altes Fangeisen, welches in den Buchensstamm eingewachsen ist, wie man sich gewöhnlich auszudrücken pflegt. Tatsächlich ist jedoch die Buche rund um dasselbe herum gewachsen, indem sie jahraus jahrein einen Holzring an dem Eisen ablagerte.

Einen sehr vortheilhaften Eindruck machten unter allen Jagdgeräthen auf den Beschauer die phantastisch zwischen den Hirschgeweihen ausgespannten Jägernetze, welche den Ausstellungshallen oft zum wirklicher Schmuck gereichten. Da sah man das „dunkle“ und „lichte“ Zeug des Jägers, die Jagdtücher und Netze, untere denen wiederum die gegen hundert Meter langen und ein bis einundeinhalb Meter hoher Prellnetze (Nr. 27 und 28) zum Scheuchen und Einstellen des Wildes hier besonders erwähnt werden mögen.

Unter den ausgestellten Jagd- und Pürschwagen erinnerte uns an die Zeiten sächsischer Verschwendung bei den Hofjagden ein feiner Rococoschlitten (Nr. 22), der auf seinem Vordertheil die Jagdgöttin Diana trägt, wie sie mit gehobenem Pfeile die Pferde anzutreiben scheinst. Das geschmackvolle Fahrzeug wurde um die Mitte des vorigen Jahrhunderts für den Prinzen Moritz gebaut und ist jetzt, nachdem es mehrmals seinen hohen Besitzer gewechselt, Eigenthum des Herrn Edward van Hoboken-Ondelande in Rotterdam.

Die Bastarde von Schnee-, Birk- und Auerhähnen (Nr. 3), deren Schwanz bald leierförmig ausgeschnitten ist, wie beim Birkhahn, bald stumpf abgerundet erscheint und die das Auge durch ihr buntscheckiges Gefieder erfreuen, veranlassen uns noch die norwegische Abtheilung zu erwähnen, die, dank den Bemühungen des Oberjägermeisters Gjerdrum in Christiania, ein recht getreues Bild der nordischen Jagd darbot. Dort war alles Wild vertreten von dem kreideweißen Schneehasen mit schwarzen Löffelspitzen bis zu dem grimmigen Eisbär. Auch die bekannter Skis (Schneeschuhe) waren in reicher Collection von dem norwegischen „Skisclub“ ausgestellt worden.

Belehrende Conferenzen, Probeschießen und Prüfungen der Jagdhunde trugen viel zur Belebung der Ausstellung bei. Am interessantesten war aber ohne Zweifel die gegen den Schluß derselben veranstaltete Jagd mit Falken, in der Jägersprache Falkenbeize genannt. War doch in früheren Jahrhunderten Cleve durch seine Falkenjagden weit und breit berühmt; im nahe gelegenen Herzogenbusch und dem holländischen Valkenswaard gab es die vortrefflichsten Falknerschulen, und noch heute befindet sich in der Nähe von Cleve eine bedeutende Reihercolonie. Schon zur Ehre des Ortes wollte man daher eine Falkenbeize in Scene setzen.

Die Ausstellung wurde aber leider nur mit ausgestopften Edelfalken und den bei der Falkenjagd gebräuchlichen Geräthschaften, wie Hauben, Schellen, Langfesseln, Zügeln etc. beschickt. Erst nach langen Bemühungen gelang es dem Ausstellungscomité, da der letzte Falkner in Holland vor Kurzem gestorben war, einen Falkonier aus Irland zu engagiren, der auch mit drei abgerichteten Vögeln (Nr. 4) in Cleve erschienen war. Leider waren diese Falken zu jung, um es mit den Reihern aufnehmen zu können, und man mußte sich damit begnügen, ihre Fangkünste an Tauben zu erproben.

Man hat indessen ernstlich den Plan gefaßt, die in unserer Zeit vergessene Falkenbeize wieder zu beleben. Natürlich werden die modernen Falkenjagden ein nüchternes Gepräge tragen; denn der romantische Reiz der mittelalterlichen Umgebung wird ihnen fehlen; es müßten denn die alten Ritter, die Edeldamen und Knappen vom Tode auferstehen.

Der Eindruck, welchen man im Großen und Ganzen auf der internationalen Jagd-Ausstellung zu Cleve erhielt, bewies wiederum, daß das heutige Jagdwesen, im Gegensatz zu dem früherer Jahrhunderte, auf einer hohen, unserer Cultur durchaus entsprechenden Stufe steht, und man darf mit Recht erwarten, daß die Thätigkeit der heute bereits bedeutenden Jagdschutzvereine für die Hebung unseres Wildbestandes von den ersprießlichen Folgen begleitet sein wird. So können wir unsere Jägerfreunde zu der Clever Ausstellung nur auf das Wärmste beglückwünschen und trennen uns für heute von ihnen mit einem herzlich gemeinten „Waidmannnsheil!“.






Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Als Fügen sein Geschäft beendet hatte und in das Eßzimmer zurückkehrte, fand er Siegmund, den Kopf in beide Hände vergraben, über den Tisch gebeugt, vor dem er saß. Bei dem Geräusch der zugehenden Thür richtete er sich jählings auf. Sein Gesicht war von Thränen überströmt, den ersten, welche ihm seit all diesen Tagen und Nächten vergönnt worden.

„Meister,“ sagte er mit halb gebrochener Stimme, „Sie, fragten mich vorhin etwas, und ich glaube, auch Sie machten mir Vorwürfe. Ich habe Niemand getäuscht – ich war in Paris, und dort fand ich meine Mutter als Theilhaberin einer Spielhölle, von jungen Leuten, meinen Cameraden, als solche gekannt. Ich sah sie dort; sie war keines einzigen armen Wortes mächtig, und ich sagte mich von jeder Gemeinschaft mit ihr los.“

Fügen stand wie erstarrt, und ehe er noch eine Silbe hervorgebracht, fuhr Siegmund fort:

„Sie hat Andere geplündert oder doch plündern helfen, um mich auszustatten, und ich – ich habe von diesem Raube gelebt.“

„Das glaub’ ich Dir nicht,“ brach Fügen los.

Siegmund schob ihm das Briefblatt hin.

„Lesen Sie! sie versucht nicht einmal sich zu rechtfertigen –“

Fügen riß das Blatt an sich; ihm wurde kalt, als er las, was sie von ihrer und des Sohnes Ehre geschrieben.

[747] „Und wenn – und wenn,“ keuchte er hervor, „so hat sie Alles nur um Dich gethan.“

„Wie muß sie mich doch verachtet haben, daß ihr das Geld wichtiger für mich erschien als die Ehre –“

„Du weißt nicht, was Du sprichst,“ rief Fügen; „jetzt muß Alles heraus, wenn sie es mir auch tausendmal verboten hat. Begreif’ es, wer kann, daß sie sich erniedrigen durfte, aber es ist geschehen, um Dich zu erheben. Du bist der rechtmäßige Enkel des jüngst verstorbenen Grafen Riedegg auf Riedegg, und dieser Graf Riedegg hat die rechtskräftigen Beweise für die geheim geschlossene Ehe Deiner Eltern böswillig unterschlagen. Jetzt erst, nach seinem Tode, kann Dein Recht mit Hoffnung auf Erfolg erstritten werden. Deine Mutter ist bereits in Wien. Ich kam hierher, um abzuholen und ihr nachzusenden, was sie an hinterlassenen Papieren Deines Vaters verwahrt hielt. Leider ist nur Weniges darunter von Bedeutung. Deshalb bedarf es großer Mittel, den Anspruch durchzusetzen dem sich die Seeon’s schwerlich ohne Weiteres fügen werden. Nun weißt Du, was Deine Mutter that. In den Staub hat sie sich geworfen, damit Du über sie hinweg den Platz erringst, der Dir zusteht.“

Siegmund blieb sprachlos, während die einander überstürzenden Worte auf ihn eindrangen. Nun flammte er auf:

„Und das Alles habt Ihr mir bis heute vorenthalten? Zu wissen, wer ich bin, das war mein Recht, und ich hätte es wie ein Mann vertreten, statt auf schmähliche Art Jahre lang darauf zu denken, wie sich aus einem Hinterhalte hervorbrechen ließe. Mein Recht war, vor diesen alten Mann, der meinen Eltern so Schweres angethan, selbst hinzutreten und ihm Auge im Auge abzuringen, was mein ist. Und jetzt, jetzt, wo er todt ist, keine Gerechtigkeit, keine Vergeltung ihn mehr erreichen kann, sollen um meinetwillen, sollen mit Hülfe des Raubes die wehrlosen Frauen beraubt werden. O der Schmach!“

Fügen stand betreten. Zum ersten Male kam ihm das Bewußtsein, daß mit dem langen Verhehlen an Siegmund’s Menschenrechte gesündigt worden sei. Da berührte ihn des jungen Mannes eiskalte Hand.

„Der alte Graf Riedegg hatte nur einen Sohn,“ sagte er mit zuckender Lippe. „Gräfin Ottilie Seeon ist also die Tochter meines Vaters. Ist dies Alles auch ihr bekannt?“ Neue Angst lag in den Augen, die an Fügen’s Lippen hingen. „Ich glaube nicht,“ sagte dieser.

Siegmund schwieg brütend. Die klaren blauen Augen Ottilien’s, seiner Schwester, blickten frei in seine Gedanken hinein. Margarita! Es ging wie Nebel über ihn hin; er richtete rasch den Kopf empor und sagte nach tiefem Athemzuge:

„Wenn Sie meiner Mutter schreiben, so erklären Sie ihr in meinem Namen, daß ich persönlich nie darein willigen werde, das Erbtheil der Tochter meines Vaters zu verkürzen.“

„Und sonst hast Du mir nichts an Deine Mutter aufzutragen?“ fragte Fügen mit eindringendem Blick „Wie die Sachen stehen, bin ich entschlossen, die Papiere selbst an Ort und Stelle zu bringen; ich reise noch heute Nacht. Giebst Du mir Antwort mit auf ihren Brief oder – begleitest Du mich vielleicht selbst?“

Ein namenlos gequälter Ausdruck prägte sich in Siegmund’s Züge; mit einem Male legte er beide Hände auf Fügen’s Schultern:

„Können Sie sich eine Vorstellung davon machen, sie vor mir erröthen zu sehen? Ich kann es, kann es nicht! Wir haben einander zu sehr geliebt; sie war mir zu herrlich – käme sie mir unversehens über den Weg, ich müßte mein Gesicht verbergen und flüchten bis an’s Ende der Welt, ehe ich erlebte, daß meine Mutter die Augen vor ihrem Sohne niederschlagen müßte. Sie weiß das selbst; deshalb gehen Sie, wenn Sie müssen, und sagen Sie nichts, als was ich Ihnen auftrug!“

Schweigend wandte sich Fügen ab, schnürte die Papiere zusammen, schloß den Schreibtisch und ergriff seinen Hut.

„Ade,“ sagte er knapp; „ich gehe nach Lahnegg; will ich heute noch weiter, so ist keine Zeit zu verlieren. Nein, keine Begleitung! Wir haben mehr als genug geredet. Nun sehe Jeder zu, wie er mit dem fertig wird, was er Neues erfahren!“

Sein sonst so freundliche’s Gesicht trug einen Ausdruck von Grimm und Kummer zugleich, der Siegmund traf.

„Ich kann nicht anders,“ sagte er dumpf.

Fügen nickte nur und verließ dann Zimmer und Haus.




33.

Das war eine harte Reise für den treuen Mann. Die Stimmung, in welcher er sie zurücklegte, glich der eines Menschen, welcher von fernher an ein schweres Krankenlager gerufen worden und nicht weiß, ob er sein Geliebtes noch lebend trifft oder todt. Wie würde er Genoveva treffen? Die Frau, an der er so lange, so heiß gehangen, als an der einzigen Liebesleidenschaft seines Lebens, die ihm, trotz äußerlicher Empfindung, bis zum heutigen Tage hoch und einzig gestanden, Keinem vergleichbar. War es möglich, daß dieses Bild auch ihm in Nacht erlöschen könnte, wie dem Unglücklichen, von dem er kam? An Siegmund dachte er mit gemischter Empfindung; etwas in ihm gab dem jungen Manne Recht, und doch grollte er ihm wegen so starren Abwendens von der Mutter. Fehler, große Fehler waren begangen worden, aber ach, wäre es nur dies! Je mehr er Allem nachgrübelte, desto unbarmherziger gestaltete sich ihm, was er eben noch als unmöglich verworfen zur Gewißheit. Sein einziger zerbrechlicher Trost war die innerliche Unmöglichkeit; denn in ihm rief fortwährend eine Stimme: Sie – Genoveva? Nein, nein!

Er war am Ziele. Eine Stunde nachher stand er unerwartet vor Genoveva, die durch sein persönliches Eintreffen kaum überrascht schien. Um so betroffener, ja wahrhaft entsetzt ward Fügen bei ihrem Anblicke. Nur anderthalb Jahre waren vergangen, seit er sie zuletzt erblickt. Welche Verwüstungen halte diese Zeit angerichtet! Noch war sie schön, vielleicht schöner, als sie je gewesen; denn – die Marmorfarbe und Regungslosigkeit ihres Gesichts stimmte mit dem classischen Schnitte desselben überein. Nur war es nicht die Schönheit eines athmenden, lebenden Weibes. Ein bläulicher Ton umgab die eingesunkenen fast unirdisch lodernden Augen. Das außerordentliche Ebenmaß ihrer Gestalt ließ deren Hagerkeit nicht hervortreten, als – der Freund aber die Hand erfaßte, welche sich ihm entgegenstreckte, überlief es ihn; die schlanken Finger waren bis zum Aeußersten abgezehrt. Erbarmen mit ihr drängte alle widerstreitenden Gefühle zurück; dennoch hatte sie in dem Auge, das sie genau kannte, gleich im ersten Moment einen Blick gesehen, der ihr genug verrieth. Fast ausdruckslos und nicht im Tone einer Frage sagte sie nun:

„Sie haben Siegmund gesprochen.“

„Ja.“

Er suchte ein Wort, es der knappen Silbe beizufügen, fand aber keines. Sie bewegte leise den Kopf und sagte dann mit durchdringendem Blicke auf ihn:

„Und kommen doch zu mir?“

Fügen hielt es nicht mehr aus.

„Theure, arme Freundin!“ rief er außer sich. „Ja, ich komme, um Ihret- und Siegmund’s willen; auch um meinetwillen mußte ich Sie sehen. Erklären Sie nur alles! Es muß doch anders sein, als Siegmund es – nun ich bei Ihnen bin, weiß ich gewiß, es muß anders sein.“

„Setzen Sie sich!“ sagte Genoveva mit herbem Lächeln. „Ich habe Ihnen schon einmal eine Geschichte erzählt – den Anfang; so ist es in der Ordnung, daß Sie nun auch das Ende hören. Beides stimmt zusammen – es ist wie ein Ritornell.“

Sie wartete, bis er sich neben sie in die Ecke des Divans geworfen und dann sagte sie:

„Was Sie zuerst wissen möchten, ist doch wohl der Zusammenhang meiner Person mit dem Orte, wo mein Sohn mich traf? Meinten Sie das mit Ihrer Behauptung, etwas müsse anders sein, so irren Sie. Weshalb wundern Sie sich? Das Leben wiederholt mitunter seine spöttischen oder tragischen Combinationen. Erinnern Sie sich nicht mehr, wie das meine begann? Nun, der alte Mann hat Recht behalten: die Tochter des Spielers, des Abenteurers blieb im Cirkel – zwischen Spielern und Abenteurern“

Fügen schüttelte heftig den Kopf.

„Ich fasse es nicht,“ rief er zürnend, „nie werd’ ich es fassen, wie und warum Ihnen so Unhandliches möglich geworden.“

„Unglaublich?“ fragte Genoveva kalt. „Nicht mehr und nicht weniger unglaublich als die ganze Komödie des Lebens. Sie, dem ich meine Geschichte erzählt, sollten doch besser begreifen können wohin solche Anfänge führen. Den Namen, den mir die Geburt gab, beschimpfte mein Vater; der zweite, den mir die Liebe gab, ward vom Vater meines Kindes feige verleugnet. Als ich mein Recht forderte, nahm verbrecherische Gewalt es mir und bot mir [748] dafür Schmach und Hohn. Die Gesetze konnten mir nicht helfen. – ‚Geld, schaffe Geld!‘ sagte der Advocat. ‚Geld und Zeit haben schon manches gewonnen, was verloren schien. Dann arbeitete ich und darbte – was so in Jahren erworben ward, blieb ein Tropfen im Meer. Ich riß mich von meinem Einzigen, meinem Liebsten los, um in Ehren mehr zu gewinnen. Jahre hindurch hielt ich aus bei der mürrischen Kranken, und ward mir während dieser Jahre das Treiben im Hause verdächtig, was ging es mich an! Sie starb, und ich blieb. Mein Feind war so alt, und es galt nur noch kurze Zeit. Da sah ich denn freilich bald klar genug, was um mich her vorging. Was lag daran – ich blieb.“

„Das durften Sie nicht,“ rief Fügen.

„Wer seinem Schicksal nicht entrinnen kann, ergiebt sich,“ sagte sie herb. „Kommt immer das Gleiche, so spürt man eine Nemesis – was nützt es da sich zu wehren? sein Ruf war lange hin, ehe ich Gewißheit hatte; Cavaliere aus aller Herren Ländern hatten mich in diesem Hause schalten und walten sehen – die Zukunft neben Siegmund war hin; die seinige wenigstens sollte gewonnen werden. Und am Ende – was gingen mich diese Menschen an! Clairmont’s Salon trug kein Schild, aber wer dorthin kam, wußte, wohin er ging. Verächtlich war mir das ganze Gelichter; über sie hinweg sah ich mein Ziel.“

Ihr Auge brannte in dämonischer Gluth. Plötzlich erhob sich eine Stunde aus alter Zeit vor Fügen’s Seele. Er sah das Musikzimmer der Moosburg, sah die dunkelschöne Gestalt nach dem Wandschranke schreiten, dem sie die Zeugen ihres kurzen Glücks, ihre Lieder, entnahm – dann wandte sie mit dem gleichen dämonischen Ausdruck den Kopf nach ihm, um auf seine Frage nach ihrem höchsten Wunsch das Wort zu erwidern: „Reichthum!“ In der Nacht, welche diesem Abend folgte, war er selbst sich der heißen Leidenschaft für sie bewußt geworden – das Dunkle, Flammende in ihr, das ihr mächtiger Wille seitdem stets so fest in Banden gehalten, jahraus, jahrein, übte heute eine andere Wirkung auf ihn als damals.

„Genoveva,“ sagte er tiefernst, „Sie haben sich schwer versündigt an sich selbst und an ihm, für den Sie gethan, was man um Keinen darf – um Keinen!“

Sie erhob sich mit einer jähen Bewegung.

„Tausende von Frauen haben ihr Leben, ihren Begriff von Tugend, ihre Ehre für Männer hingeworfen, die keines Athemzuges werth waren,“ rief sie leidenschaftlich, „nur weil sie liebten! Siegmund gilt mir mehr als dem Weibe der Mann – er ist mir Ersatz für alle Unbill, die bisher mein Theil gewesen. Aber der Tag der Entscheidung ist nahe, und bis dahin sollen Kraft und Wille ausdauern.“

Wie im Widerspruch mit diesen Worten schwankte sie plötzlich und sank keuchend zurück. Fügen sprang erschrocken auf; er glaubte ihren erstickten Athem mit jedem nächsten Moment dem Erlöschen nahe; ihre eisig kalten Hände krampften sich; ein bläulicher Ton überzog das zuckende Gesicht. Doch schlug sie nach wenigen Minuten die Augen auf.

„Es ist nichts –“

Ihre Hand fest gegen das Herz gepreßt, blieb sie noch eine kurze Weile zurückgelehnt und begann in Pausen weiter zu sprechen.

„Nichts – nur die lange Angst – was ich auch that, Siegmund fern zu halten – ich sah meine Verdammung drohen Tag und Nacht. – Und wollte doch nichts, als ihn nur einmal wiedersehen – nachdem sein Recht gewonnen – unter vier Augen – dann sterben in Verborgenheit. – Es sollte nicht sein.“

„Ihn wiedersehen sollen und müssen Sie,“ rief Fügen tieferregt, „Ich kehre sofort um und erkläre ihm –“

„Es giebt nichts zu erklären,“ sagte, sie dumpf, „Meinen Sie, ich wüßte nicht, was ich gethan? Ein Mord kann verziehen werden, Untreue, Meineid – Alles, nur das Niedrige nicht.

Dächte Siegmund anders, so wäre er nicht mein Sohn. Ihn gäb ich hin, seine Liebe; damit erkaufe ich ihm seinen Namen – das wußte ich und hab’ es dennoch gewollt. Was könnte uns wieder zusammenführen?“

Sie brach ab.

„Geben Sie mir Ihr Wort, Fügen,“ sagte sie nach einer Pause, die er nicht unterbrach, „daß Sie meinem Sohne weder schreiben noch ihn aufsuchen! Ich will mir nichts von ihm verzeihen lassen. Stören Sie nicht den Lauf der Dinge! – Sie brachten mir –?“

Zögernd und widerwillig legte Fügen seine Hand in ihre Rechte. Es ging ihm gegen die Natur, zu versprechen, daß er nicht versuchen wolle, den Riß zwischen Mutter und Sohn zu heilen. Doch sagte er vorerst nichts und beantwortete nur ihre ablenkende Frage: „Alles was ich fand. Obgleich Sie mich autorisirt hatten eine Durchsicht vorzunehmen, hielt ich es für das Beste, alles Vorhandene zusammenzupacken.“

„Gut! Ich erwarte im Laufe des heutigen Tages der Besuch meines Anwaltes. Ein erster Schritt ist bereits gethan. Brenner hat an Gräfin Seeon nach Riedegg geschrieben, die Thatsachen klar dargelegt und gütliche Vereinbarung empfohlen. Auch kam schon Antwort.“

„Nun?“ rief Fügen gespannt.

„Statt des erwarteten Protestes richtete die Gräfin eine Aufforderung an Brenner, sich zum Zweck persönlicher Rücksprache nach Riedegg zu begeben. Dieser wartet nur das Eintreffen der Papiere ab, die Sie bringen, um der Einladung Folge zu leisten. Führt die Unterhandlung nicht zum Ziel, so wird Brenner nach Lahnegg reisen, um unseren Zeugen zu gewinnen – man sagt ja, Alles habe seinen Preis. Jetzt vermag ich das lang Versagte zu erkaufen.“

„Wenn Entscheidung so nahe, muß ich es einrichten, bis dahin bleiben zu können,“ sagte Fügen. „seine Reise hierher war nicht vorbereitet – erst als ich Siegmund auf der Moosburg traf –“

„Dort also? Wie geht es ihm? leidet er – schwer?“

„Schwer!“ bekräftigte Fügen „Und deshalb dürfen Sie mir nicht verbieten –“

Sie drückte energisch seinen Arm und sah ihn gebieterisch an.

„Sie schweigen – das bleibt mein Wille.“

„Ich habe schon gesprochen,“ polterte er heraus, „es wäre ja doch die reine Unnatur gewesen, ihn unwissend zu lassen, nach Allem was vorgegangen.“

„Er weiß – und – Sie haben keinen Auftrag?“

„Doch!“ erwiderte Fügen. „Er trug mir auf, zu erklären, daß er nie darein willigen würde, das Erbtheil der Seeons zu verkürzen.“

„Als ob es sich darum handelte!“ rief Genoveva. „Es gilt das Recht, seinen Namen zu tragen.“

„Gnädige Frau, vergessen wir Eines nicht, was uns gar leicht geschieht, den Kindern gegenüber, die wir groß gezogen! Die Zeit kommt einmal, wo sie selbstständiges Leben fordern und freies Urtheil. Wir hätten mit Siegmund jetzt leichteren Stand, wenn das früher bedacht worden wäre. Ich mache es mir nicht zum Vorwurf, ihm die Wahrheit gesagt zu haben, und wenn er zürnt, weil er sie so spät erfahren, und wenn er meint, er hätte das Recht gehabt, seine Angelegenheiten selbst zu vertreten, so kann ich ihm darin nicht Unrecht geben.“

Genoveva antwortete nichts.

Erst als Fügen nach langer, lastender Pause aufstand und seinen Hut nahm, sagte sie, als hätte er eben seine letzten Worte gesprochen, in kaltem Tone:

„Gut! Was mein Sohn thun oder lassen mag, ist seine Sache. Die meine ist, daß zu Ende geführt wird, was ich begann.“


(Fortsetzung folgt.)




Karl Gussow.

Es war im Herbst 1876, als die große akademische Kunstausstellung in Berlin durch drei Bilder eines bisher dem Publicum der Reichshauptstadt nur oberflächlich bekannten junger Künstlers gerade im Jubeljahre ihrer fünfzigsten Wiederkehr einen epochemachenden Charakter aufgeprägt erhielt. Die Anhänger der neuen Schule, welche Karl Gussow mit ungeahnter Kühnheit, mit energischer und zielbewußter Sicherheit und mit glänzendem und verblüffendem Erfolge vertrat, verkündeten mit Jubelfanfaren aller Welt, daß mit diesen drei Thaten des jungen Meisters das modernste Kunstprincip, der Naturalismus, jetzt auch in die deutsche

[749]

Karl Gussow.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Kunst seinen thrumphirenden Siegeseinzug gehalten habe. Dieses Princip, behauptete man, werde. von nun an unbestritten den Thron einnehmen, auf dem sich bisher ein blut- und kraftloser, in ausgetretenen Pfaden wandelnder Schematismus nur mit Mühe behauptet habe. Und in der That, er ist ein kecker Gesell, dieser Naturalismus, und die radicale Entschlossenheit, mit welcher er alle Grundsätze und Anschauungen der modernen Kunstentwickelung über den Haufen warf, machte ihn zu einem überaus gefährlichen Gegner, zu einem um so gefährlicheren, als er, unterstützt von einer allgemein zur Herrschaft gelangten materialistischen Weltanschauung, auch auf allen andern Gebieten des Lebens und des Denkens die verlangende Hand nach der Palme des Sieges ausstreckte.

Gegenüber dem bacchischen Triumphgeschrei der Jünger des Naturalismus waren denn auch die Vertreter der alten Lehre schnell genug auf dem Platze; sie weissagten in dumpfem Kassandra-Tone den Untergang aller echten Kunst, und als sie sich dann in stummer Resignation zur Seite wandten, sandten sie noch einen Partherpfeil auf den Feind ab: tauften ihn und seine immer excentrischer auftretende Gefolgschaft Brutalismus und Brutalisten.

So stand und steht vielleicht noch heute der Kampf zwischen Troern und Achäern, zwischen Naturalisten und Idealisten, indessen dürfte es allmählich beiden Parteien klar werden, daß sie bis zu einem gewissen Grade beide im Recht und beide im Unrecht sind. Wir sind der festen Ueberzeugung, daß sich der Widerstreit früher oder später in Harmonie lösen wird und muß, indem die Einen zu der Einsicht kommen, daß der nackte Naturalismus, das durch keinerlei ästhetische Grundsätze geregelte Abschreiben der Natur in ihren zufälligen Erscheinungsformen, nie Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck sein kann, daß er lediglich als Vorbereitung für die Kunstübung, als ihr Vasall und Diener Existenzberechtigung hat, die Anderen aber begreifen lernen, daß die idealisch gedachte und empfundene Kunstschöpfung hinter ihrem Ziele zurückbleibt, falls sie nicht ihre Idee mit allen Mitteln der Technik zu verkörpern vermag, und daß deshalb das innigste Studium der Natur eine notwendige Vorbedingung alles künstlerischen Schaffens ist.

Diese Ueberzeugung wird im vorliegenden Falle durch die erfreuliche Thatsache bestätigt, daß Gussow selbst, wenigstens in einzelnen seiner neuesten Bilder, sich einer das Object zwar treu wiedergebenden, aber doch verklärenden Kunstausübung genähert hat. Daß ihn die Predigten der Kritik und das Toben der Gegner dazu veranlaßt haben sollten ist nicht anzunehmen, wir mochten im Gegentheil [750] aus verschiedenen Anzeichen schließen, daß er selbst seine naturalistischen Experimente nur als Vorbereitungsstudien, als Schularbeiten betrachtet und bisher mit dem Publicum in ironischer Schalkhaftigkeit etwas Versteckens gespielt hat; höchst wahrscheinlich bleibt allerdings immerhin, daß die Ausschweifungen seiner minder befähigten Nachbeter seine Umkehr beschleunigt haben. Man weiß zur Genüge, zu welchen Orgien der Häßlichkeit und Abscheulichkeit sich diese seine Nachbeter verstiegen haben, Männer, vor deren Bildern man einen beinahe physischen Ekel empfand, als seien dieselben mit Asa foetida gemalt; man weiß auch, mit welchem Widerwillen sich jeder ästhetisch Gebildete von diesen Monstrositäten abwandte, wie er in der Literatur vor dem rohen Naturalismus der modernen französischen Schule zurückschaudert.

Doch gleichviel aus welchen Gründen, und gleichviel, ob unser Künstler in der That neue Bahnen einzuschlagen gewillt ist, namentlich die Kunstausstellung von 1880 hat bewiesen, daß Karl Gussow der Schönheit zu huldigen versteht, wie nur Einer. An dem Portrait seiner Gattin würde ein Unkundiger schwerlich den Schöpfer jenes „Kätzchens“ und jenes „Blumenfreundes“ wiedererkennen, welche damals jene unerhörte Aufregung bei Künstlern und Laien hervorriefen.

Die wenigen Notizen, die über den äußeren Lebensgang des jugendlichen Meisters zu geben sind, entnehmen wir Adolf Rosenberg’s trefflichem Buche über „die Berliner Malerschule“. Danach wurde Karl Gussow im Jahre 1843 in Havelberg, einer der ältesten Städte der Mark, geboren. Da sein Vater lebhaftes Verständniß für die künstlerische Neigung und Befähigung des Sohnes hegte, so konnte dieser sofort nach Vollendung seiner Schulstudien die Künstlerschule in Weimar beziehen, wo er in den Ateliers des Historien- und Genremalers Arthur von Ramberg und des berühmten belgischen Historienmalers Ferdinand Pauwels auf das Studium der Niederländer hingeführt wurde, das seiner ganzen künstlerischer Entwickelung eine entscheidende Richtung gab. Seine technische Virtuosität und die lebendige, kraftvolle Energie seiner Farbe verdankt er vorzugsweise dem Einflusse des letztgenannten trefflichen Coloristen, eines der Hauptvertreter des modernen belgischen, bekanntlich durch Gallait und de Biefve zur Herrschaft gelangten Realismus.

Im Jahre 1887 verließ Gussow Pauwels’ Atelier und begab sich nach München, um sich in der Schule Piloty’s weiter zu bilden. Doch hielt die baierische Hauptstadt ihn nur ganz kurze Zeit; denn schon nach vierzehn Tagen entschloß er sich zu einer Kunstreise nach Italien, von welcher er nach sieben Monaten nach Weimar zurückkehrte. Allmählich erregten seine frisch, keck und drastisch hingeworfenen kleinen Genrebilder, mit denen er zum ersten Male 1870 die Ausstellung in Berlin beschickte, die Aufmerksamkeit und das Interesse der Kenner, und der damalige Director der Weimarischen Kunstschule, Graf Kalkreuth, bekannt als trefflicher Landschaftsmaler, entschloß sich schnell, dem kaum siebenundzwanzigjährigen jungen Künstler eine Professur an derselben anzutragen. Gussow nahm dieselbe an und entfaltete bald eine ausgedehnte und einflußreiche Lehrthätigkeit; mehr und mehr Schüler schlossen sich seiner immer schärfer herausgearbeiteten naturalistischen Richtung an. Im Jahre 1874 erhielt er einen Ruf an die Kunstschule in Karlsruhe und anderthalb Jahr später an die reorganisirte Kunstakademie in Berlin, deren Lehrkörper er bis zum vorigen Jahre angehörte, in welchem er aus hier nicht zu erörternden Gründen sein Amt niederlegte. Es sei noch erwähnt, daß er an äußeren Auszeichnungen im Jahre 1874 die kleine, 1880 die große goldene Medaille für Kunst erhielt.

Gegenwärtig lebt Gussow in Berlin ausschließlich seinem künstlerischen Schaffen. Daß er vorläufig seine Lehrtätigkeit aufgegeben hast bleibt gewiß zu bedauern; denn jede seitherige Ausstellung hat bewiesen, wie segensreich sein Einfluß bei unserer jüngeren Künstlerwelt auf die Plastik der Formelsprache, die Sicherheit und Correctheit der Zeichnung und die Energie des Colorits gewirkt hat.

Es würde uns hier zu weit führen, wenn wir Gussow’s sämmtliche Schöpfungen eingehend charakterisieren wollten; wir müssen uns auf die hauptsächlichsten Marksteine seines künstlerischen Wirkens beschränken

Das Interesse der weitesten Kreise zog er, wie schon eingangs erwähnt, durch die drei Bilder aus sich, mit derer er die Ausstellung von 1878 beschickte und die er gewissermaßen als Visitenkarte bei dem Publicum der Reichshauptstadt, deren Bürger er soeben geworden war, abgab. Zwei von diesen Bildern, „Das Kätzchen“ und „Der Blumenfreund“, teilten nicht nur die Künstlerschaft und die Kritik, sondern auch die große Schaar der Beschauer in zwei heftig für und wider streitende Heerlager. Während die Einen die glänzende Technik, die frappirende Lebenswahrheit bewunderten, anerkannten die Anderen zwar alle diese Vorzüge, bedauerten aber, sie in den Dienst der banalsten Alltäglichkeit, des reizlosesten Stoffkreises gestellt zu sehen.

Auf dem „Kätzchen“ sah man einen alten Bauer, eine alte Dorfhexe und zwei frische, strotzende Kuhmägde in vollster ungeschminktester Lebenswahrheit um eine kleine Katze gruppirt, deren klägliche Schreie ihre naturwüchsige Heiterkeit erregten. Diese Bauern, die sich weder gewaschen noch gekämmt hatten, traten mit einer so überraschenden Plastik aus dem Rahmen des Bildes heraus, daß die Täuschung, wirkliches Leben vor sich zu haben, sich zu einer bisher unerhörten Wirkung steigerte, und ähnlich jenen Vögeln, welche an den Weinbeeren des Zeuxis pickten, hätte man wohl einer dieser drallen Dirnen einen herzhaften Kuß geben mögen, wenn sie eben – reinlicher gewesen wären.

Nicht zum geringsten wurde dieser plastische Eindruck durch die Leuchtkraft des Colorits unterstützt, das namentlich in einem weiß und schwarz getüpfelten orangegelben Schnupftuche – man stelle sich ein die Spuren der Tabaksdose tragendes Kattunschnupftuch vor, wie man es auf Jahrmärkten für wenige Groschen zu kaufen pflegt! – an frappanter Naturtreue alles bisher Gesehene überragte. Dieses knallgelbe Taschentuch wurde denn auch das Banner, unter dem sich die fanatischsten Jünger des Meisters sammelten, und noch Jahre danach erblickte man es aus zahllosen Bildern an passender und unpassender Stelle als ein Schiboleth der Gesinnungsgenossen.

Dem „Kätzchen“ gestanden allerdings auch die Gegner zu, daß es unbestritten wirkliche Natur wiedergäbe, der „Blumenfreund“ dagegen unterlag schonungslos dem Verdict: „Carricatur!“ Und in der That, dieser alte Graukopf mit der Kupfernase und den hochgeröteten Wangen, der sich im Schlafrock mit scharlachroten Aufschlagen zum Fenster hinausbeugt, um seine Topfblumen zu begießen, welche ihrerseits in allen Abstufungen der rothen Farbe prangen, konnte, wenn man ihn vor der Bezeichnung als Carricatur retten wollte, höchstens auf den Titel eines coloristischen Experimentes Anspruch machen. Anders dagegen stand es mit dem dritten Bilde des Tausendkünstlers: das war eine sinnige, tiefpoetische, reizvolle Elegie, ohne herausfordernde Farben, ein rührendes Gedicht aus dem Leben, das mit seinen einfachen, fast alltäglichen Contrasten mit unmittelbar zwingender Gewalt an das Herz des empfänglichen Beschauers rührte. „Verlorenes Glück“ nannte der Künstler das dritte Bild, das eine junge trauernde Wittwe in tiefem Schmerz darstellt, während neben ihr das blonde Töchterchen heiter lächelnd in die Welt hinausblickt.

Welcher Gussow war nun der echte? Der radicale Naturalist des „Kätzchens“, oder der gemütvolle Dichter dieser wehmütigen Elegie? Auch die nächste Ausstellung sollte darüber noch keine Aufklärung bringen – wir sahen eine Reihe vortrefflicher, aber nichts weniger als anmutiger Studienköpfe, dann ein großes Bild „Willkommen“, auf dem eine Schaar Mädchen aus einem Fenster einem heranziehenden Truppentheile oder dergleichen mit den obligaten gelben Taschentüchern entgegenweht; daneben sahen wir aber auch ein ausgezeichnetes Bildniß einer alten Dame, das bei allem innigen Anschmiegen an die Natur doch künstlerisch idealisirt war, und nach wie vor mußte man die Ansicht festhalten, daß zwei Seelen in des Meisters Brust wohnten, deren eine sich „mit klammernden Organen an das Irdische heftete“, während die andere zu „den Gefilden hoher Ahnen“ emporstrebte. Inzwischen hatte auf der Pariser Weltausstellung ein humoristisches Bild des Künstlers: „Die Venus-Wäscherin“ ebenfalls großes Aufsehen erregt. Dasselbe zeigte ein altes Weib von einer Häßlichkeit, die an Frans Hals’ „Hexe von Harlem“ erinnert, welches sich der ihm offenbar höchst mißliebigen Beschäftigung hingab, eine kleine Statue der Venus von Milo vom Staube zu reinigen. Das Bild hatte einen unleugbar gemütlichen Zug, und daß seine Technik die alte unübertroffene und unübertreffliche war, verstand sich von selbst.

Bei den Ausstellungen von 1878 und 1879 täuschte Gussow die Erwartung von Freund und Feind; man wußte, daß er mit zahlreicher Portraits beschäftigt war, wußte auch, daß die Nachfrage nach seinen Bildern sich von Tag zu Tag steigerte, aber – [751] er stellte nicht aus, und während in den Spalten der Presse, in den Kreisen der Künstler und den Salons der Gesellschaft nach wie vor der Kampf der Meinungen über Idealisten und Naturalisten hin und her wogte, saß Achilleus-Gussow grollend bei den Schiffen und überließ Griechen und Troer ihrem Schicksal.

Es war nicht mehr als natürlich, daß die naturalistischen Achäer, bei denen die Künstlerschaft häufig ja auch nur in der hauptumwallenden Löwenmähne besteht, unter dem siegreichen Ansturm der Gegner stark in’s Schwanken geriethen und ihre Schiffe zu brennen begannen.

Doch endlich nach dreijähriger Zurückgezogenheit trat der siegreiche Sohn der Thetis wieder auf den Plan – ein Anderer und doch derselbe! Mit vier Bildern erschien er auf der Ausstellung des letzten Jahres, und jedes einzelne dieser Bilder galt eine gewonnene Schlacht. Freilich waren, mit vielleicht einer Ausnahme, diese Schlachten mit anderen Waffen geschlagen, als die früheren, und man konnte mit Fug und Recht sagen, der Führer und Meister der Naturalisten sei nunmehr selbst mit fliegenden Fahnen in das Lager der Idealisten übergegangen. Allerdings erinnerte das eine Bild „Die beiden Alten“ noch an die Manier des „Kätzchens“: es war dieselbe Plastik der Form, dieselbe Lebenswahrheit der Erscheinung, dieselbe kraftvolle Fülle der Farbe, aber wie liebenswürdig war der Ausdruck in den Gesichtern dieses alten, ärmlich aber reinlich gekleideten Ehepaares, wie herzgewinnend die alte Mutter, die dem schwerhörigen Gatten beim Kaffee den Brief des Lieblingssohnes vorlas, wie künstlerisch vollendet die Wiedergabe der Schwerhörigkeit in dem braven, treuen, gutmüthigen Antlitz dieses Alten selbst! Da war nichts von der Aufdringlichkeit des Schmutzigen, von der Unbarmherzigkeit des Alltäglichen, die im „Kätzchen“ und im „Blumenfreund“ so abstoßend gewirkt; während die Meisterschaft der Darstellung die alte geblieben, war die Wahl und Auffassung des Stoffes eine geschmackvollere und anmuthigere geworden.

Doch die Perlen der Ausstellung, wie die Perlen unter des Künstlers Werken, waren seine drei Portraits. Man weiß, wie selbstgefällig gerade in der Portraitmalerei das Bönhasenthum sein Wesen treibt. Nirgendwo liegt die Gefahr näher, daß die Kunstübung in handwerksmäßige Schnellmalerei ausarte, als hier. Andererseits ist die Portraitmalerei das Feld, auf dem der Meister die höchste Blüthe seiner Kunst zur Entfaltung zu bringen vermag, und mehr als der Geschichtsmaler im strengen Sinne ist er im Stande, der Nachwelt in charakteristisch aufgefaßten, bei voller Wiedergabe der Individualist doch den Geist einer ganzen Culturperiode in prägnanter Zusammenfassung in sich schließenden Bildnissen ein treues Spiegelbild seiner Zeit zu überliefern.

Wir Mitlebenden haben natürlich keine volle Sicherheit des Urtheils darüber, welche von unsern schaffenden Künstlern von kommenden Geschlechtern dereinst als diejenigen werden anerkannt werden, in deren Werken sich der Geist unserer Zeit am treuesten widerspiegelt. Doch diejenigen dürften nicht fehl gehen, welche unter diesen Auserwählten neben Gustav Richter in erster Linie auch Karl Gussow nennen. Wenn ein solches Prognostikon durch Bilder unterstützt wird, wie jene drei Portraits, so mag man es gewiß mit freudiger Zuversicht stellen. Das köstlichste derselben war ohne Zweifel jenes, welches des Künstlers Gattin zum Gegenstand hatte. So vortrefflich sich auch die beiden andern Portraits Gussow’s erwiesen, in denen er seiner alten Neigung zu kecken Farbenexperimenten mit vollkommenster Sicherheit des Gelingens nachgab – das eine brachte eine schwarzhaarige junge Dame mit rosigem Antlitze auf hellrosafarbigem, weißgemustertem Hintergrunde, das andere einen blonden Backfisch in schwarzseidenem Kleide mit granatrothen Schleifen auf braunem, graugemustertem Fond zur Anschauung – das Bild der Gattin stellt sie in den Schatten. Der herrliche Kopf mit den meertiefen, in unergründlicher Krystallhelle und Transparenz leuchtenden Augen ist über die linke Schulter zur Seite geneigt. Von dieser fällt ein grauer, pelzverbrämter Ueberwurf herab und gestattet dem Künstler in der Darstellung von Nacken und Hals eine Meisterschaft der Modellirung, eine Wärme und Tiefe der Farbe zu entwickeln, deren Schilderung jeder Feder versagt ist, ebenso wenig, wie sie von der seelenvollen Tiefe des Auges und der Anmuth des Gesichtsausdruckes einen Begriff zu geben vermag.

Eines vor Allem stand uns gegenüber diesem Bilde fest: Ein Künstler hat es geschaffen, an dessen Wiege Musen und Charitinnen im holden Verein standen. Und einen Raub an seiner Kunst würde er begehen, wenn er, wie man aus den drei im diesjährigen Salon von ihm ausgestellten Portraits schließen möchte, nach dieser größten Schöpfung seines Genius wieder in den Staub der Alltäglichkeit hinabstiege. Möge er fürder dem Grundsatze treu bleiben, daß das bloße Abschreiben der Natur in ihren willkürlichen Erscheinungsformen unmöglich Endzweck der Kunst sein kann, daß der Werth solchen Abschreibens nie über den der vorbereitenden Studie hinaufgeschraubt werden darf, daß die Kunst ihre große, sittliche Culturaufgabe, mitzuarbeiten an der seelischen Läuterung und Erhebung der Menschheit, nur erfüllen kann, wenn sie mit ihren Stoffen nicht an der Erde kleben bleibt, sondern dieselben in eine ideale Sphäre versetzt,

„Um die gemeine Deutlichkeit der Dinge
Den goldnen Duft der Morgenröthe webend.“

Hermann Trescher.     




Das große Flottenmanöver bei Kiel.

Es war schönes Herbstwetter am Tage des 17. September dieses Jahres, an welchem Tage auf der blauen Bucht, welche die Ostsee bei Kiel bildet, ein seltenes Schauspiel in Scene ging, das Tausende von Zuschauern aus Nah und Fern herbeigelockt hatte und die Brust jedes patriotischen Deutschen mit stolzer Befriedigung erfüllen mußte. Vor den Augen des obersten Kriegsherrn des deutschen Reiches, vor den Augen des greisen deutschen Kaisers hielt unsere verhältnißmäßig noch so junge deutsche Seemacht ein großes Seemanöver ab und that auf das Glänzendste dar, daß sie, ihrer Jugend zum Trotz, waffentüchtig ist und ein Held wie Jung-Siegfried in der Sage.

Wenn früher das alte schmerzliche Lied ertönte von Deutschlands Zerrissenheit und Ohnmacht, dann klang die Strophe des Liedes am schmerzlichsten, welche von Deutschlands Ohnmacht zur See sang und sagte. Wir ballten ingrimmig die Faust, wenn wir hörten, daß deutsche Landeskinder im Auslande schutzlos fremdem Uebermuthe und fremder Habgier preisgegeben waren; wir wiesen zürnend darauf hin, daß uns Bäume in Ueberfluß wachsen in unseren Wäldern und Eisen genug in den Schachten unserer Berge, um uns in den Stand zu setzen, Schiffe zu bauen und sie mit Panzern zu bekleiden; uns schlug das Herz höher bei dem Gedanken, daß an den Küsten unserer Meere Männer genug wohnen, welche von Jugend auf vertraut sind mit Wind, Wetter und Wellen, Männer, die den besten Seeleuten der Welt zur Seite gestellt werden können, aber die Machthaber der deutschen Staaten und Stätchen zeigten kein Verständniß für Deutschlands Wehrhaftigkeit zur See, bis endlich das mächtig emporstrebende Preußen uns das errang, was wir so lange hoffnungslos uns wünschten: ein deutsches Reich und eine deutsche Flotte. Zwar hatte unsere Flotte noch bei Weitem nicht die numerische Stärke derjenigen anderer Seemächte – Britannia ist noch immer die Königin der Meere – aber sie ist durchaus im Stande, die Interessen des deutschen Reiches nachdrücklich zu vertreten, sowie im Kriegsfalle unsere Küsten erfolgreich zu vertheidigen. Davon legte, wie gesagt, das Manöver am 17. September glänzendes Zeugniß ab.

Kiel war zu jener Zeit von Fremden buchstäblich überfüllt. Jeder Eisenbahnzug brachte neuen Zufluß. Morgens in aller Frühe bereits fuhren zahllose kleinere und größere Dampfer, mit Schaulustigen angefüllt und reich mit Flaggen in allen nur denkbaren Farben geziert, auf die Mitte der Bucht hinaus und legten sich dort – eine stattliche Flotte! – vor Anker. Schon die Fahrt dahin bot, namentlich dem Binnenländer, des Interessanten in Hülle und Fülle. Keine zweite Stadt des deutschen Reiches hat sich in jüngster Zeit eines so rapiden Aufblühens zu erfreuen gehabt, wie der Reichskriegshafen Kiel. Die mächtigen Hafenanlagen und die gewaltigen Werfte zu Gaarden bieten ein fesselndes Bild, auch wenn man nur flüchtig an ihnen vorüberfährt. Und draußen auf der Bucht erwarten uns neue Reize. Die hügeligen Ufer sind wie geschaffen für den Pinsel des Malers, und von rechts und links dräuen die Forts mit ihren schweren Geschützen herüber. Das

[752]

Das große Flottenmanöver bei Kiel: Angriff auf die Forts.
Für die „Gartenlaube“ nach der Natur gezeichnet vom Marinemaler F. Hünten in Hamburg.
Panzerfregatte „Friedrich der Große“. Panzerfregatte „Friedrich Karl“. Fort Falkenstein. Panzerfregatte „Kronprinz“. Panzerfregatte „Preußen“.
Kaiserliche Yacht „Hohenzollern“. Aviso „Grille“.

[753] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [754] Wetter konnte für das Manöver gar nicht günstiger sein. Zwar war der Himmel meistens bewölkt, aber trotz des bewölkten Himmels war die Luft hell und klar und ließ die fernsten Dinge deutlich erkennen. Dazu wehte eine frische Brise und bewirkte einen munteren Wellenschlag.

Den Anfang des maritimen Schauspiels verkündeten kurz nach einhalb neun Uhr Salutschüsse von den im Hafen befindlichen Kriegsschiffen „Nautilus“, „Arkona“, „Niobe“ und „Nymphe“. Der Kaiser hatte sich unter dem brausenden Jubel der Kieler Bevölkerung an Bord der kaiserlichen Yacht „Hohenzollern“ begeben, und das prächtige Fahrzeug, das kurz vorher am 9. September bei der Entrevue in Danzig zum ersten Male vom Kaiser betreten worden war, dampfte langsam zum Hafen hinaus der Manöverfläche zu. Auf den genannten Schiffen, sowie auf den Schiffsjungenbriggs „Undine“ und „Rover“, die wegen Mangels an Salutgeschützen schwiegen, standen die Mannschaften paradirend in den Raaen und brachten ihrem obersten Kriegsherrn drei kräftige Hurrahs. Im Kielwasser der „Hohenzollern“, welche die gelbe, seidene Kaiserstandarte am Hauptmast führte, folgte der Torpedodampfer „Zieten“ und dicht in der Nähe derselben hielten sich die Schiffe der kaiserlichen Werft „Notus“ und „Claus Groth“. Auf dem Dampfer „Notus“ befanden sich die geladenen Gäste, unter ihnen auch die Mitglieder der holsteinischen Stände, die am Abend vorher dem Kaiser auf Bellevue ein glänzendes Ballfest gegeben hatten. Die Yacht „Hohenzollern“ ist ein Raddampfer, der auf den Werften der Norddeutschen Schiffbaugesellschaft zu Gaarden bei Kiel erbaut ist und sich durch ungemeine Eleganz, sowie durch die Gediegenheit seiner Ausstattung auszeichnet. Das Fahrzeug ist eines der schönsten Schiffe unserer Flotte und zugleich eines der schnellsten; es legt eine Strecke von sechszehn Seemeilen in einer Stunde zurück.

Außer dem Gefolge des Kaisers, unter – welchem sich der „große Schweiger“, Feldmarschall Moltke, und Kriegsminister von Kameke nebst Adjutanten befanden, erhielten selbstverständlich nur hervorragende Gäste auf der „Hohenzollern“ Zutritt. Darunter ragte die hohe Gestalt des Kronprinzen im blanken Kürassierhelm hervor; an seiner Seite sah man seine Gemahlin in dunkelfarbiger Robe und einem grauen Regenmantel. Ferner waren da der Großherzog von Mecklenburg, der Prinz Albrecht von Preußen, die Admirale Stosch und Batsch und der schlicht bürgerliche Professor Dr. Esmarch, welcher hochverdiente Gelehrte bekanntlich durch seine Heirath mit einer Prinzessin voll Schleswig-Holstein in die Verwandtschaft des Kaisers getreten ist.

Aus der Bucht lagen die vier Panzerschiffe, das Admiralschiff „Prinz Friedrich Karl“, „Friedrich der Große“, „Kronprinz“ und „Preußen“, wahre Seeriesen, anfänglich noch still und schweigend da. Als aber die „Hohenzollern“ auf der Bucht erschien, kam plötzlich Leben in die Kolosse. Die Stückpforten öffneten sich, und der Mund der gewaltigen Rohre donnerte dem kaiserlichen Herrn weithin schallende Grüße entgegen, secundirt von den Geschützen der Forts am Lande. Das Manöver begann. Demselben lag die Idee zu Grunde, daß vier feindliche Panzerschiffe die Absicht haben, den Kieler Hafen anzugreifen und die dortigen Marineanlagen und Kriegsvorräthe zu zerstören. Diese Absicht suchen die Forts an beiden Ufern der Bucht, die Werke Friedrichsort, Falkenstein, Stosch, Korügen und Unter-Jägersberg, zu verhindern allein sie erweisen sich im Geschützkampf mit den angreifenden Schiffen als zu schwach und werden zum Schweigen gebracht. Unter den Wällen des Forts Falkenstein haben die Vertheidiger eine Minenkette gelegt, um den Hafen abzusperren; die Schiffe indessen landen unter dem Schutze ihres Feuers Truppen und Geschütze, und das Fort Falkenstein wird mit stürmender Hand genommen, die Minenkette zerstört und der Hafen demolirt. In Wirklichkeit dürfte die hier gemachte Annahme übrigens schwerlich jemals eintreffen, aber der Geschwaderchef mußte sie machen, um das Landungsmanöver zeigen zu können.

Als die Parade der Schlachtschiffe vollendet war, hißte die „Hohellzollern“ das Signal „In See gehen“, und das Geschwader ging unter Dampf in See, wobei es verschiedene Evolutionen ausführte. „Hohenzollern“ folgte in einiger Entfernung. Als die Yacht die vor Anker liegende Flotte der Vergnügungsdampfer mit den Zuschauern passirte, brach gerade die Sonne auf einen Moment siegreich durch die Wolken und übergoß das herrliche Bild da unten auf den Wassern mit ihren goldigsten Lichtstrahlen. Alle Gläser richteten sich auf das kaiserliche Schiff, hinter dessen Großmast der greise Monarch inmitten seiner hohen Umgebung unter einem aufgespannten Zelte stand. Einstimmiges Hurrah erscholl, und die Damen schwenkten weiße Tücher, wofür sich der Kaiser nach den Zuschauerschiffen hin dankend verneigte.

Nicht lange weilte das Geschwader in See. Bald kehrten die vier Panzerschiffe mit dem kleinen, schmucken Avisodampfer „Grille“ zurück und fuhren unter vollen Gefechtsflaggen in langer Linie gegen die Forts vor, Schuß auf Schuß gegen dieselben entsendend. „Hohenzollern“ bewegte sich wieder im Kielwasser hinterdrein. Dieser Angriff auf die Forts war unstreitig der imposanteste Theil des ganzen Manövers, und unser Zeichner hat mit glücklichem Stift die Situation festgehalten. Dieselbe war von packendem Interesse. Unaufhörlich donnerten die Schüsse über das Wasser und weckten das Echo der Ufer.

Unwillkürlich nahm den Zuschauer die Illusion gefangen, er höre dort wirklich den eisernen Schlachtenwürfel rollen. Die Seeschlacht erreichte ihren Höhepunkt. Das antwortende Feuer der Forts wurde immer schwächer, und nun wurde die Landung bewerkstelligt. In etwa 2500 Meter Entfernung vom Ufer wurden die Boote, welche mit voller Ausrüstung an Proviant und je mit einem Geschütz versehen waren, jedes mit fünfzig Matrosen und Seesoldaten bemannt. Die Boote ruderten schnell an’s Ufer, konnten dasselbe aber wegen ihres Tiefganges nicht ganz erreichen; Officiere und Mannschaften sprangen in’s Wasser, welches ihnen bis an die Brust reichte, und wateten an’s Ufer. Auf kleinen Laffetten wurden die Geschütze auf den etwa zehn Meter hohen Hügelabhang, nördlich von Fort Falkenstein, gebracht, und der Sturmangriff auf das Fort erfolgte. Ein heftiges Geschütz- und Gewehrfeuer krachte und knatterte; mit Hurrah gingen die Leute vor und brachten das Fort in ihren Besitz. Diese ganze Uebung wurde mit bewundernswürdiger Präcision ausgeführt und zeigte die Bravour unserer Marinemannschaften und ihre tüchtige Schulung in besonders hellem und vortheilhaftem Lichte. Kaum war das Fort genommen, so wurden die Boote, in denen je drei Mann zurückgeblieben waren, rasch von Neuem bemannt und kehrten zu den Schiffen zurück.

Es galt nun die Minensperre des Vertheidigers auszuheben und die Einfahrt in den Hafen zu erzwingen. Bei dieser Gelegenheit war der Verlust eines Schiffes angenommen, und so erfolgte die Sprengung einer ausrangirten Ruderkanollenjolle. Dr. Scheuren, der treffliche Elektrotechniker der kaiserlichen Marine, hatte die elektrische Einrichtung eigens dazu so construirt, daß die Leitung an Bord der „Hohenzollern“ führte und dort mit einer aufgestellten geschmackvoll ausgestatteten Batterie verbunden wurde. Ein Schlüssel mit einer vergoldeten Kaiserkrone diente zum Abfeuern der Mine, welche mit Schießbaumwolle geladen war. Der Kaiser druckte leicht mit dem Finger auf die Krone, und augenblicklich erfolgte die Explosion. Eine mächtige Rauchsäule stieg dunkel zum Himmel empor; das Wasser erhob sich in Thurmhöhe; Trümmer flogen nach allen Seiten, und als die Rauchmassen aus einander geweht waren, da war der alte, dem Untergange geweihte Schiffsinvalide in Feuer und Wasser verschwunden. Die Schießbaummolle hatte ihre fürchterliche Wirkung gethan und den alten Kasten in unzählige Stücke zerrissen.

Die Hafensperre wurde unter den Augen des Kaisers ausgeführt, durch acht verankerte Minen markirt und von den Minenlegern in kurzer Zeit hergestellt. Dann wurden die Minenleger des Vertheidigers durch Scheiben markirt, welche mit weißen oder gelben Fahnen versehen waren und die von den Dampfpinassen des Geschwaders erfolgreich beschossen wurden.

Nach Schluß des Schallmanövers erfolgte die Beschießung und Vernichtung des Hulk[1] „Elbe“ durch die gedeckte Corvette „Blücher“, welche in voller Fahrt an der „Elbe“ vorbei dampfte; sie feuerte, als vom Fockmaste der „Hohenzollern“ ein rother Ständer als Signal heruntergeholt wurde, auf vierhundert Meter Entfernung einen Fischtorpedo auf das Opfer ab. Das furchtbare Geschoß erreichte in kaum einer halben Minute sein Ziel, und zwar genau an der mittelst einer rothen Flagge markirten Stelle in der Mitte des Schiffes. Der Torpedo schlug ein ungeheures Loch in die Schiffswand; die Sprengung erfolgte mit Blitzesschnelle; ebenso schnell sanken die Trümmer in die Fluthen.

Damit war kurz nach ein Uhr Mittags das Manöver beendet. [755] Ueber die Resultate desselben sprach sich der Kaiser mit höchster Anerkennung aus, ernannte noch an Bord der „Hohenzollern“ den Chef des Geschwaders, Capitain zur See von Wickede, zum Admiral und verlieh dem Marineminister von Stosch den schwarzen Adlerorden. Die Panzerschiffe dampften hinter einander in Kiellinie majestätisch an der „Hohenzollern“ vorüber und machten sich an den Bojen fest. Dann fuhr die „Hohenzollern“ die Linie der armirten Schiffe, unter den Hecks der Panzerschiffe, an den Schiffsjungenbriggs „Rover“ und „Undine“, an dem Cadettenschulschiffe „Niobe“, an der „Nymphe“ und dem „Nautilus“ vorbei in den Kieler Hafen zurück, wo sie wieder am Bollwerke des Schuhmacherthores festgelegt wurde. Der Kaiser begab sich mit seinem Gefolge zum Diner auf dem Schlosse, und im Momente, als er das Schiff verließ, wurde die Kaiserstandarte auf dem Maste gestrichen, um im nächsten Momente auf dem Schlosse aufgezogen zu werden.

Das Kieler Flottenmanöver hat dem deutschen Volke gezeigt, daß seine junge Flotte, die ihm jährlich so viele Millionen kostet, ihre kriegerische Aufgabe nachdrücklich zu erfüllen im Stande ist; dem Auslande hat es warnend bewiesen, daß die deutschen Waffen auch zur See wohl erprobt sind.

Es hat ferner das diesjährige Flottenmanöver speciell noch dargethan, welche furchtbare Vertheidigungs- und Angriffswaffen wir in den Seeminen und Torpedos besitzen. Das Material zu denselben ist deutschen Ursprungs, wie auch die Schiffe selbst immer mehr und mehr auf deutschen Werften entstehen. Die Torpedos liefert eine Berliner Maschinenfabrik, die in Kiel ein eigenes Torpedo-Etablissement hat, und die Schießwolle wird in der „Schießwollfabrik für die kaiserliche Marine“ zu Kruppa-Mühle in Oberschlesien gefertigt. Früher waren alle Seemächte für ihren Bedarf in dieser Richtung fast ausschließlich auf England angewiesen; jetzt produciren beide genannte Fabriken über den eigenen Bedarf hinaus und liefern ihre Fabrikate auch auswärtigen Regierungen.

Das alte Lied von Deutschlands Zerrissenheit und Ohnmacht ist ausgesungen. Als unter der Regierung Friedrich’s des Großen Seeleute aus der auch damals preußischen Stadt Emden in Ostfriesland in die Hände tunesischer Piraten geriethen und in Tunis als Sclaven verkauft werden sollten, schenkte ihnen der Bey die Freiheit, um dem großen Preußenkönige, als dessen Unterthanen die Gefangenen sich bezeichneten, seine Achtung auszudrücken. Friedrich ließ die betreffenden Seeleute nach Berlin kommen, befragte sie über das Vorkommniß und drückte seine Befriedigung über dasselbe aus, aber dem großen Hohenzoller kam keinen Augenblick der Gedanke, daß es für einen mächtigen König angemessener sei, seine Unterthanen selbst zu schützen, als sie von der gnädigen Laune eines halbwilden Raubfürsten abhängen zu lassen.

Jetzt ist das anders geworden. Zahlreiche Beispiele aus unseren Tagen sind Belege dafür, daß der Deutsche im Auslande des kräftigen Schutzes seitens seines Mutterlandes sicher ist, und im Hinblick auf unsere Marine können wir bei etwaigen neuen Kriegsgefahren, die übrigens der Himmel von uns abwenden möge, ebenso getrost wie im Hinblick auf die „Wacht am Rhein“ den Vers des Liedes citiren.

Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein!
Harbert Harberts.     




Chester A. Arthur, Präsident der Vereinigten Staaten.


Der durch ruchlose Mörderhand veranlaßte Tod des Präsidenten James A. Garfield hat den bisherigen Vicepräsidenten Chester A. Arthur, den Bestimmungen der Verfassung der Vereinigten Staaten gemäß, zum Oberhaupt der nordamerikanischen Union berufen. Das große Vertrauen und die innige Liebe, welche Garfield verdientermaßen bei der übergroßen Mehrzahl seines Volkes genoß, erschweren es seinem Amtsnachfolger doppelt, das Steuerruder der großen transatlantischen Republik zu führen.

Wenige Stunden nach dem Hinscheiden Garfield’s erhielt Arthur eine von den Ministern William Windom, W. H. Hunt, Thomas L. James, Wayne Mac Veagh und S. J. Kirkwood unterzeichnete Depesche aus Long Branch, welche ihn aufforderte, möglichst bald den Amtseid als Präsident zu leisten und nach Long Branch zu kommen, wo sich die Leiche Garfield’s befand. Arthur erfüllte dieses Verlangen, indem er am Morgen des 20. September dieses Jahres den von der Constitution vorgeschriebenen Eid in die Hände des Oberrichters Brady leistete und unmittelbar darauf in Begleitung der beiden anderen Minister Blaine und Lincoln von New-York nach Long Branch eilte, wo er der tiefgebeugten Wittwe Garfield’s sofort einen Beileidsbesuch abstattete und dann eine kurze Cabitnetssitzung abhielt, deren Gegenstand vornehmlich die in der Nähe von Cleveland in würdigster Weise stattgehabte Beerdigungsfeier des todten Präsidenten bildete.

Der Eindruck, den die Antrittsrede des Präsidenten Arthur, in welcher er sich in so vertrauenerweckender Weise einführte, in den Vereinigten Staaten hervorrief, scheint kein ungünstiger gewesen zu sein; alle Parteien, sowie die Presse der Union kommen ihm freundlich entgegen, und es wird wesentlich von Herrn Arthur selbst abhängen, ob er seine Regierung im Einklang mit der Volksvertretung und dem besseren Theile seiner Nation in segensreicher Weise zu Ende führen wird. Ein bestimmtes und sicheres Urtheil in dieser Beziehung jetzt schon abzugeben, ist kaum möglich, doch dürfte ein kurzer Rückblick auf den bisherigen Lebenslauf des Präsidenten Arthur einen gewissen Anhalt zu seiner Charakteristik bieten.

Nach den uns vorliegenden Quellen wurde Chester A. Arthur am 5. October 1830 in Franklin County im Staate Vermont geboren; er war der älteste von seinen Geschwistern, einem Bruder und fünf Schwestern. Sein Vater, Dr. William Arthur, Prediger einer Baptistensecte, kam in seinem achtzehnten Lebensjahre aus Irland nach den Vereinigten Staaten und starb in hohem Alter im Jahre 1875 zu Newtonville in der Nähe von Albany, der Hauptstadt des Staates New-York. Der junge Arthur besuchte das Union-College in Schenectady und bekleidete, nachdem er sein Examen bestanden hatte, die Stelle eines Lehrers an einer Landschule in Vermont. Nach Verlauf von zwei Jahren gab er diese Stellung auf und ging mit einem Vermögen von 500 Dollars nach der Stadt New-York, wo er sich unter der Leitung des früheren Richters E. D. Culver der Rechtswissenschaft widmete. Durch emsigen Fleiß und nicht gewöhnliche Naturanlagen war er im Stande, in nicht zu langer Zeit sein Advocatenexamen zu machen, worauf er mit seinem Freunde und Studiengenossen Henry D. Gardiner eine Reise nach den westlichen Staaten der Union antrat, um sich dort einen dauernden Wohnsitz zu suchen. Da dies aber den beiden Freunden nicht gelang, so kehrten sie nach einigen Monaten nach New-York zurück und ließen sich daselbst als Rechtsanwälte nieder. Das Glück wollte ihnen wohl; sie bekamen bald eine lohnende Praxis, sodaß Arthur die Tochter des verdienstvollen Marine-Officiers Herndon als Gattin heimführen konnte. Die Ehe war eine glückliche, doch verlor Arthur kurz vor der letzten Präsidentenwahl seine Frau durch den Tod, nachdem sie ihm zwei Kinder geboren hatte.

Ein glücklicher Rechtsfall, der auch in weiteren Kreisen Aufsehen erregte, verschaffte Arthur schon früh den Ruf eines geschickten und talentvollen Vertheidigers. Es handelte sich dabei um einen Sclavenhändler aus Virginien, einen gewissen Jonathan Lemmon, welcher im Jahre 1852, wo noch die Sclaverei in den Vereinigten Staaten zu Recht bestand, acht Negersclaven nach New-York gebracht hatte, um sie als Handelswaare nach Texas zu verschiffen. Wenn nun auch die Verfassung der Nordamerikanischen Union damals das Institut der Negersclaverei in den Südstaaten der Union als gesetzlich anerkannte und selbst die Auslieferung flüchtiger Sclaven auf Grund des schmachvollen „Sclavenjagdgesetzes“ forderte, so war doch in den Nordstaaten jenes fluchwürdige Institut längst abgeschafft. Als man daher in dem freien New-York die Absicht des genannten Sclavenhändlers entdeckte, wurden die acht Neger desselben auf Veranlassung von Freiheitsfreunden vor Gericht geführt und daselbst freigesprochen. Jonathan Lemmon klagte nun auf Grund des Sclavenjagdgesetzes und verlangte die Herausgabe seiner früheren Sclaven.

Als Vertheidiger der acht Schwarzen traten William M. Evarts und Chester A. Arthur auf, und da von „flüchtigen Sclaven“ in dem vorliegenden Fall nicht die Rede sein konnte, so verlor Lemmon vor dem höchsten Gerichtshofe der Vereinigten Staaten seinen Proceß. Vier Jahre später zeichnete sich Arthur in einem ähnlichen Proceß aus, wo er als Anwalt einer achtbaren Negerfrau, der Lizzie Jennings, sich als gewandter Redner, tüchtiger Jurist und freiheitsliebender Mann bewährte. Als die republikanische Partei, welche bekanntlich den Kampf gegen das Institut der Sclaverei auf ihre Fahne schrieb, in’s Leben trat, war Arthur einer der ersten, die sich dieser Partei anschlossen; ebenso zögerte er beim Ausbruche des Bürgerkrieges 1861 nicht, in die Unionsarmee einzutreten und die Aufhebung der Negersclaverei auf dem Schlachtfelde erkämpfen zu helfen.

Nach Beendigung des Krieges erhielt Arthur durch die Vermittelung des vielgenannten Bundessenators Roscoe Conkling von dem Präsidenten U. S. Grant die einträgliche Stelle eines Hafencollectors von New-York. Von dieser Zeit an zählte er zu den entschiedensten Anhängern Conkling’s und Grant’s, weshalb er auch in der Nationalconvention zu Chicago, wo im Jahre 1880 James A. Garfield als Präsidentschaftscandidat der republikanischen Partei auf den Schild gehoben wurde, die Ernennung für das Amt des Vicepräsidenten erhielt. Als nun im März dieses Jahres der unseren Lesern bekannte, verhängnißvolle Streit wegen der Besetzung des Hafencollectorpostens von New-York zwischen dem Senator Roscoe Conkling und dem Präsidenten Garfield ausbrach, jener Streit, der Guiteau’s Mörderhand gegen Garfield bewaffnete, da mochte es wohl Dankbarkeit und persönliche Freundschaft sein, die Arthur bewogen, für Conkling Partei zu ergreifen.

Daß der besagte Streit so erschütternde Folgen nach sich ziehen sollte, daran dachte weder Arthur, noch ein anderer vernünftiger Mensch in den Vereinigten Staaten. Von dem Momente an, wo Guiteau die tödtliche Kugel auf Garfield abfeuerte, hat Arthur, so viel bekannt geworden, keinerlei politische Verbindung mit Conkling oder Grant angeknüpft oder aufrecht erhalten. Sein Benehmen war während der langen Krankheitszeit Garfield’s [756] in jeder Beziehung ein tactvolles, wie er denn auch nicht die geringste Veranlassung nahm, in die Regierung einzugreifen. Als er die Kunde von Garfield’s Verwundung erhielt, war er tief erschüttert, und es liegt bis jetzt nicht der geringste Grund zu der Annahme vor, daß er hierbei den Heuchler gespielt habe.

Nach dem bisherigen Lebenslaufe Arthur’s zu schließen, darf man ihn wohl für einen entschiedenen Anhänger der republikanischen und einen principiellen Gegner der alten demokratischen Partei halten; eine andere Frage aber ist es, ob er als Präsident fortfahren wird, den „Stalwarts“, das heißt der Grant- und Conkling-Clique seine frühere Freundschaft durch Begünstigung bei der Vertheilung der öffentlichen Aemter zu bewahren, und ob ihn die Feindschaft gegen die demokratische Partei zu ungerechten, unweisen, das Gemeinwohl gefährdenden Handlungen hinreißen wird. Sowohl Hayes wie Garfield waren in anerkennenswerther Weise bemüht, dem moralisch so verderblichen Aemterschacher ein Ende zu machen und den unseligen, die Einheit der Union bedrohenden Conflict zwischen den Nord- und Südstaaten durch eine unparteiische Politik beizulegen; alle guten Bürger der Vereinigten Staaten wünschen ein baldiges Aufhören der sectionellen Streitigkeiten und ein Verschwinden der corrumpirenden Beutepolitik. Wenn Präsident Arthur dem guten Beispiele seiner beiden letzten Amtsvorgänger in diesen Hauptfragen der amerikanischen Politik nachfolgen wird, so wird sein Volk zwar den schmerzvollen Verlust, den es durch Garfield’s tragischen Tod erlitten, nicht vergessen, aber denselben doch leichter ertragen lernen. Möchte er stets der in seiner Antrittsrede gesprochenen Worte eingedenk bleiben, daß es sein „ernstes Bestreben“ sein werde, „aus Garfield’s Vorbilde“ Nutzen für sich und sein Land zu ziehen.

Es ist verhältnißmäßig leicht, ein guter Parteimann zu sein, aber es ist schwer, als das Oberhanpt einer Nation von fünfzig Millionen Menschen, unbekümmert um Privatrücksichten, alle seine Pflichten treu und gewissenhaft zu erfüllen. Daß Arthur die erstere Aufgabe erfüllen konnte, hat er in der Hauptsache bewiesen, ob er auch der letzteren gewachsen ist, dafür soll er erst seinem Volke und der Welt den Beweis liefern. Von dieser Beweisführung aber hängt es ab, ob sein Name neben dem Garfield’s in der Geschichte mit Ehren genannt werden wird oder nicht, ob das Volk der großen transatlantischen Republik sein Andenken segnen, oder nur ungern an dasselbe erinnert werden wird.

Rudolf Doehn.     




Blätter und Blüthen.


Der Weltspiegel, in welchem man sieht, was in weiter Ferne vorgeht, jenes vielbenutzte Möbel der Feen- und Zauberpaläste, dessen Besitz die alten persischen Märchen bereits ihrem ersten Könige Dschemschid zuschrieben, ist nun wirklich bereits in einigen rohen Modellen hergestellt worden, und die in unserem Artikel über Photophon und Telektroskop („Gartenlaube“ 1880, S. 787) erwähnten Träume des amerikanischen Ingenieurs und des Herrn Adriano de Paiva – der, wie hier berichtigend bemerkt werden muß, kein Pseudonymus, sondern Professor an der polytechnischen Schule von Porto ist – haben einen, wenn auch blassen Hauch von Realität gewonnen. In der Sitzung der Londoner „Physikalischen Gesellschaft“ vom 26. Januar 1881 wurden zwei Modelle des Fernschauers vorgeführt, die auf ganz verschiedenen Principien beruhen. Das eine von den Herren Ayrton und Perry construirte Modell besteht aus einem Schirm, welcher wie ein Schachbrett in lauter quadratische Felder getheilt ist, deren jedes eine lichtempfindliche Zelle aus Selen enthält, durch welche ein elektrischer Strom pulsirt, der nach der andern Station läuft. Wird nun eine dieser Zellen oder eine Gruppe derselben von einem starken Lichtreize getroffen, so schwellen die hindurchgehenden elektrischen Ströme so stark an, daß sie auf der andern Station ebenso viele entsprechend vertheilte Elektromagnete in Thätigkeit setzen, welche die Klappen eines ähnlichen schachbrettartig eingetheilten Schirmes öffnen und durch dieselben Licht auf eine dahinter befindliche Wand fallen lassen, wo sich natürlich dieselben Lichtfiguren wieder erzeugen müssen, die an der fernen Station z. B. durch einen ausgeschnittenen Pappbogen auf den Absendeschirm geworfen werden. Das ist ein etwas rohes Modell, um die Ausführbarkeit des Princips zu zeigen, aber die genannten Physiker hoffen ein besseres Resultat zu erhalten, indem sie einen chinesischen Zauberspiegel zu Hülfe nehmen. Wie wir aus ihren Arbeiten über diese merkwürdigen Geräthe wissen (vergl. Nr. 38 dieses Jahrgangs), erzeugen diese aus elastischem Metall gegossenen Spiegel in ihrem Widerschein auf der Wand dort hellere oder dunklere Partien, wo die Oberfläche des Spiegels sich vertieft oder emporwölbt. Die Physiker wollen nun den Selenzellen eines Empfangschirmes entsprechende Elektromagnete, welche sich, den ankommenden Strömen gemäß, verlängern und verkürzen, mit der Rückseite des Spiegels in Verbindung setzen und hoffen, indem sie Absende- und Empfangsapparat mit gleicher Geschwindigkeit rotiren lassen, das ferne Bild durch den Zauberspiegel auf die Wand werfen zu können, ohne allzu viel Leitungen nöthig zu haben. Das wäre allerdings eine sehr hübsche Lösung des Problems, aber die Ausführbarkeit dürfte auf Schwierigkeiten stoßen. Dagegen ist das in unserem ersten Artikel erwähnte Project des Herrn Senlecq von Ardres, optische Bilder mittelst des zeichnenden Telegraphen durch einen einfachen Draht zu versenden, in derselben Sitzung zu London durch ein Modell des englischen Physikers Shelford Bidwell als ausführbar nachgewiesen worden. Der Apparat war etwas anders angeordnet, als in dem erwähnten Projecte, aber da die Sache noch sehr unvollkommen ist und keine praktische Bedeutung hat, sehen wir von einer genaueren Beschreibung ab. Diese Versuche verdienen nur als die ersten Schritte zu einem vielleicht unerreichbaren Ziele Erwähnung; sie verhalten sich zu dem Ideal wie jene Silhouetten, welche Charles und Wedgwood im vorigen Jahrhunderte auf mit Silbersalzen getränkten Papieren erzeugten, sich zu unseren Photographien verhielten.


Ein Adjutant „Vater Jahn’s“. Mehr und mehr erlischt in unserem Volke die lebendige Kenntniß der langen geschichtlichen Epoche, die mit den Freiheitskriegen begann und in den blutigen Wirren der Revolutionsjahre von 1848 ihren Abschluß fand. Was die Alten damals erlebt, was sich ihre Söhne noch als mündliche Ueberlieferung mit hochschlagenden Herzen erzählten, das ist für das jüngere Geschlecht bereits zu einer todten Tradition aus längst begrabener Zeit geworden, deren Leben und Weben nur noch in Geschichtsbüchern zum ermunternden oder warnenden Beispiel für die Nation sorgsam aufbewahrt wird. Aber der Haß der Parteien, welcher damals wüthete, hat sich im Großen und Ganzen auf uns vererbt und die geschichtlichen Darstellungen der Restaurationsepoche tragen nur allzu oft unverkenntbare Spuren einer ungerechten Parteilichkeit. Die Art, in welcher dieser Theil der nationalen Geschichte heute auf unsern Schulen vorgetragen wird, trägt ebenfalls viel bei zur Verdunkelung des wahren Thatbestandes der damaligen Ereignisse.

Um so freudiger ist daher das Erscheinen des trefflichen Werkes: „Dr. Chr. Eduard L. Dürre. Aufzeichnungen, Tagebücher und Briefe aus einem deutschen Turner- und Lehrerleben, Leipzig, 1881“ zu begrüßen, in welchem die Erinnerungen eines Mannes niedergelegt sind, welcher, in seiner Jugend an der patriotischen Bewegung betheiligt, wegen dieses Patriotismus später in der Wahl seines Berufes durch Vergewaltigung gehindert wurde und, wiewohl er von seinen Gegnern selbst in das Ausland vertrieben war, dennoch ein klares, objectives Urtheil über die damaligen politischen Gestaltungen sich zu bewahren wußte. Christian Eduard Leopold Dürre, ein Schüler und Adjutant Jahn’s, hat an der Gründung der ersten deutschen Turnvereine rüstig mitgearbeitet und als Lützower geholfen, den fränkischen Feind über die Grenze zu jagen. Er wurde auch später der geistige Urheber der Wartburgfeier.

Die Reaction der damaligen Zeit trug es aber bekanntlich den jungen Männern nach, daß sie auf der Wartburg mit Begeisterung gesungen:

„Freiheit, Ehre, Vaterland
Ist ein felsenfester Stand –“

und so kam es auch, daß die Regierung dem angehenden Lehrer nicht nur die Stipendien versagte, sondern ihm auch den Eintritt in das Lehrerseminar zu Breslau ausdrücklich verbot und ihn außerdem, der Methode der Demagogenverfolgung entsprechend, in einen langwierigen Untersuchungsproceß verwickelte. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, hier ausführlich den Lebenslauf Dürre’s mitzutheilen und auf seine schriftstellerische und journalistische Thätigkeit näher einzugehen, wir wollen hiermit nur auf das oben erwähnte Buch hinweisen, in welchem der Leser nicht allein ein treues Bild eines Lehrerlebens aus längst vergangener Zeit, sondern auch wichtige Aufschlüsse über die Entstehung des deutschen Turnwesens, sowie interessante neue Mittheilungen über die persönlichen Verhältnisse hervorragender Männer, wie Jahn’s, Maßmann’s, Raumer’s etc., finden wird. Das Buch besteht zum Theil aus einer Selbstbiographie Dürre’s, zum Theil aus Ergänzungen und Nachträgen, welche der Herausgeber desselben, Dürre’s Sohn, dem Nachlasse seines Vaters entnommen. Wir empfehlen das Werk vor Allem den Bibliotheken der Turn-, Lehrer- und Volksbildungsvereine, welche unter Anderem auch die Aufgabe haben, unser Volk über die verdienstvollen Freiheitsbestrebungen der ersten Liberalen Deutschlands aufzuklären. Wir empfehlen es aber auch auf das Wärmste Jedem, der für diesen Theil unserer Geschichte sich interessirt und in den Geist derselben tiefer eindringen möchte.


Kleiner Briefkasten.

Ch. D. in W. Sie irren trotz alledem. Die Preisausschreibung auf eine Hymne für das deutsche Volk in Oesterreich ist nicht von einer Grazer Zeitung, sondern von der „Deutschen Zeitung“ in Wien (Morgenausgabe vom 16. October) ausgegangen. Das genannte Blatt erwirbt sich mit diesem Aufrufe ein anerkennenswerthes Verdienst um die Wacherhaltung des deutschen Nationalbewußtseins in Oesterreich, und wohl jedes deutsche Herz ruft der wackeren Wiener Zeitung mit uns ein kräftiges: „Habe Dank und Glück auf!“ zu. Der Appell richtet sich „an alle sangesgeübten Söhne des deutschen Volkes“ und fordert sie auf, „dem deutschen Stamme an der Donau eine Hymne zu schaffen, würdig dessen nationaler Aufgaben, würdig seiner künstlerischen Empfindung“, ein Nationallied, welches der Mission der Deutschen Oesterreichs in sangbarer Form einen poetischen Ausdruck leiht. Die „Deutsche Zeitung“ setzt den Preis von hundert Ducaten für den Text des besten unter den eingesandten Liedern aus, während zwei Nebenpreise von je zehn Ducaten den beiden nächstglücklichen Bewerbern garantirt werden. Der Termin zur Lieferung des Preisgedichtes läuft bis zum 1. December dieses Jahres, und die Einsendung hat in geschlossenem Couvert unter folgender Adresse stattzufinden: „An die Redaction der ‚Deutschen Zeitung‘ in Wien. Zur Preisbewerbung.“ Möge das nationale Unternehmen von bestem Erfolg gekrönt werden!

E. v. Vg. in Rußland. Nein! Besten Dank!

Dr. T. in Schönebeck. Wir bedauern, Ihnen eine Auskunft nicht ertheilen zu können.

Langjährige Abonnentin. Aus Lessing’s „Nathan der Weise“.

B. L. in Stuttgart. Wir empfehlen Ihnen zur Vervollkommnung in Ihrer Muttersprache auf das Wärmste die vortrefflichen „Deutschen Sprachbriefe“ von dem rühmlich bekannten Professor Dr. Daniel Sanders, welche jetzt in dritter vermehrter Auflage erschienen und durch jede Buchhandlung zu beziehen sind.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Hulk ist die seemännisch-technische Bezeichnung für ein altes, ausgedientes, nicht mehr seetüchtiges Schiff.