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Die Gartenlaube (1881)/Heft 46

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[757]

No. 46.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ein Friedensstörer.

Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Als Curt auf dem Rückwege nach den Fenstern des Eßzimmers blickte, welche auf der Gartenseite lagen, sah er sie geöffnet und die Gestalt der Wirthschafterin sich in dem Zimmer bewegen. Er steuerte mit seinen gewohnten raschen Schritten zu den Fenstern hinüber und reichte das Tuch hinein.

„Geben Sie das dem Fräulein von Lebzow, Frau! Ich lasse ihr sagen, sie möge ihre Sachen besser verwahren, wenn sie nicht verderben sollen.“

„Das geht mich nichts an. Legen Sie’s nur da auf den Stuhl,“ war die mürrische Antwort, welche der neue Administrator überhörte. Er stockte einen Augenblick wie in plötzlicher Verlegenheit. Nun hatte er ihr wieder eine Ungezogenheit sagen lassen, und es war doch so fatal, wie sie ihm gestern so derb den Text gelesen, in Gegenwart dieser Person da.

„Fügen Sie hinzu, ich lasse ihr gute Besserung wünschen!“ sagte er rasch und möglichst gleichmütig, indem er den Garten nach der Richtung des Feldweges hin eilig verließ.

Den Knickbruch konnte er in der Ferne sehen; es mochte eine halbe Stunde Weges bis dahin sein. Wenn er nur erst sein Reitpferd da hätte! Im Pferdestalle hatte er nur dasjenige des Onkels bemerkt, das er natürlich nicht benutzen mochte. Nein – besser „durfte“; denn die Uebergabe des Gutes an seine Verwaltung war ja noch nicht erfolgt. Aber selbstredend würde er auch später dem alten Kauze sein Reitpferd lasten; die Wagenpferde höchstens konnten gemeinschaftlich benutzt werden, und das sollte von seiner Seite möglichst bald geschehen; denn sobald die Zimmer für ihn restaurirt waren, mußte er nach Demmin fahren und Möbel aussuchen.

Er machte sich Gedanken wegen des Eßzimmers; es war ihm doch höchst peinlich, mit dem Baron und Aline-Marie von Lebzow dort, wo er geschlafen, zu frühstücken. Aber was half es? Und – im Grunde: verwöhnt waren die Beiden wahrhaftig nicht, namentlich der Onkel wohl nicht heikel in Anstandssachen. Wie das alte Original nur aussehen mochte! Lustig genug, nach der Schilderung, welche in der Verwandtschaft von ihm umlief.

Aber Cousine Lebzow! Hm! Sie hatte ihm selber gestern Abend eine Anstandslection ertheilt, und, wie er sich innerlich sagte, eine wohl verdiente. Curt von Boddin betrachtete sich freilich als eine Art alten Junggesellen, obwohl er erst in den dreißiger Jahren stand, als eine Art „Onkel“, der schon gute Lehren geben und sich selber die Befolgung derselben bequem machen durfte. Trotz seiner sorgfältigen Toilette und seines scharfen Auges für die gute Form steckte doch etwas von der saloppen Art der Boddins in ihm. Der Widerspruch in seinem Wesen machte ihn nachdenklich. Er wollte versuchen, sich zusammenzunehmen, aber er sagte sich doch heimlich, daß ihm das sehr schwer werden würde. Wahrhaftig, er war ein richtiges Stück von einem alten Junggesellen.

Indem er das dachte, schritt er durch die Felder, deren Bewirthschaftung er zu prüfen, zu leiten, zu bessern hatte: er that klug, sich ein wenig umzusehen. Der Ackerbau so primitiv wie das häusliche Leben: die ursprünglichste Dreifelderwirthschaft aus Großväterzeiten! Aber der Boden sah vortrefflich aus, Er hob eine Scholle und betrachtete sie: das mußte Qualität Eins sein. Die Krautfelder dort standen ungemein üppig. Und wie fett der Klee auf der Brache da war! Nur noch Drainage – die brauchte rings in der Gegend aller Boden, das wußte er, und davon hatte natürlich Onkel Boddin keine Ahnung, auch kein Geld dazu.

Diese Kleebrache! Merkwürdig, daß sie fast genau die Form hatte, wie diejenige, über welche er gestern Abend gegangen war. Dort kniete damals Anne-Marie voll Lebzow und biß die Lippen zusammen – sie hat eine etwas kurze Oberlippe, dachte er – und sah ihn mit den braunen Augen schmerzlich abwehrend an. Ihr Mund war in dem Augenblick wirklich hübsch, und in der Art, wie sie ihn gestern Abend abgefertigt hatte, lag Rasse. Sie kam ihm jetzt gar nicht so ländlich vor, wie anfangs.

Es war eigentlich doch eine großartige Ungezogenheit, daß er sie so ohne Umstände aufgenommen und auf die Straße hinüber getragen hatte. Gestern hatte er gar nichts dabei gefühlt; es hatte ihm Spaß gemacht, sie wie ein Kind hinüber zu tragen. Er war sich ihr an Lebensreife so überlegen vorgekommen.

Curt von Boddin ging ein Stück langsamer. Er schnellte den Zwicker von der Nase, und die spöttischen Linien um seine Mundwinkel zuckten; er warf den Kopf ein paarmal hin und her, als wollte er sich irgend eines Gedankens oder einer Empfindung erwehren. Es war ihm, als hielte er das schlanke, blühende Mädchen und fühlte ihren Arm um seinen Nacken; ein voller weicher Arm war das, und merkwürdig war diese Last: schwer und weich und lebendig; es wehte etwas um sie, wie um eine Blume. Der Gedanke, daß er sie so getragen hatte, war ihm doch ein angenehmer, und gerade weil sie ihm das nicht gegönnt hatte, dachte er mit einer Art wohltuenden Trotzes daran.

Auf der Wiese dort wurde Grummet gewendet; hinter ihr lag ein Bruch; wirres Unterholz, wild gewachsene Bäume von [758] Höhe, ein buntes Gemisch von Holzarten; dazwischen zahlreiche blinkende Wasserläufe. Häufig tauchte das dunkle Blaugrün des Wachholders auf, vereinzelt, wie es schien, zu beträchtlicher Höhe gelangt; in manchen Fällen mußte er geradezu Bäume mit derben Stämmen bilden. Die Leute auf der Wiese, Frauen und Männer durch einander, blickten auf den Nahenden, auch der Aufseher, der, auf einen Knotenstock gestützt, neben ihnen stand.

„Das wird ja wohl der neue Administrator sein, der jetzt für den alten Herrn auf Pelchow wirtschaften soll,“ hieß es.

„Das ist einer von den Boddin’s auf Teterow; ein staatscher Herr ist das.“

„Aber daß er Handschuhe anzieht, wenn er auf’s Feld geht, ist doch merkwürdig. Er sieht gar nicht aus, als ob er das Wirthschaften richtig gelernt hätte.“

Drewes, der Statthalter, war eine baumlange Figur mit breitem, grobem Gesicht. Seine großen, wasserblauen Augen hatten etwas Schickendes, und wie er dem jungen Edelmann entgegensah, drückten sich Verdruß, Widerwillen und Besorgniß zugleich in ihnen aus.

„Der Herr da geht uns jetzt noch gar nichts an; daß Ihr nicht thut, als ob er Euch was zu befehlen hätte! Unser Herr ist der alte Herr Baron, und der hat uns noch nichts davon gesagt, daß er seine Herrschaft an den da abgetreten hat. Das merkt Euch! Aus dieser Sache kann nach meiner Meinung nichts Gutes kommen. Er ist ein Neumodischer, der uns das Leben wohl sauer machen wird. Ich glaube, daß wir unsere gute Zeit gehabt haben. Unser alter Herr – das war ein Mann; der dachte: leben und leben lassen! Der da wird wohl blos Geld zusammenscharren wollen, und das geht von unserem Schweiß.“

„Er soll ja wohl Ordnung bei uns machen.“

„Ja, wie der Schulmeister sagt: ‚Ordnung muß sein, und da nahm er dem Jungen seine Wurst‘,“ bemerkte Drewes trocken.

Curt von Boddin trat zu den Leuten heran.

„Guten Tag! Sind Sie der Statthalter Drewes?“

„Ja, Herr, der bin ich,“ antwortete dieser bequem, indem die breite Hand schwerfällig zur Mütze hinauf fuhr.

„Wissen Sie wohl, ob es eine Vermessungskarte von Pelchow giebt?“

„Nein, davon weiß ich nichts, Herr. Hier ist nichts vermessen worden. Ich kenne das gar nicht.“

„Das wäre das Nächstliegende,“ murmelte Curt, setzte den Klemmer wieder auf und zog ein Notizbuch heraus, in dem er zu vermerken begann.

„Wo liegt wohl der beste Boden?“

„Nach Branitz zu, und nach Pannow hinunter ein Ende – das wird wohl der beste sein.“

„Bonitirt ist hier auch nie? Die Beschaffenheit des Bodens ist nie genau untersucht worden?“

Die Leute sahen sich an; ein paar Weiber kicherten

„Das versteh’ ich nicht, Herr; ich glaube aber nicht, daß hier Jemand was untersucht hat.“

„Hm! Giebt Ihnen der Herr Baron, mein Onkel, genau an, was Sie arbeiten lassen sollen?“

„Nein; ich führe hier die Wirtschaft schon seit langen Jahren und bespreche mich blos manchmal mit unserm Herrn“

„Sie können mir also genau den Stand der Arbeiten in diesem Augenblick angeben?“

„Das kann ich wohl; warum das nicht?“

„Schön! Sie werden mir gegen Mittag nähere Angaben darüber machen; bis dahin überlegen Sie sich’s!“

„Je, Herr, dazu hab’ ich keine Zeit.“

„Die werden Sie haben müssen; ich bin der Administrator von Pelchow, dessen Verwaltung mein Onkel an mich abtritt, und heiße von Boddin, wie er – damit Sie das wissen.“

Drewes zog die Augenbrauen hoch auf und zuckte die Achseln.

„Mein Herr ist der Herr Baron, und wenn der mir das sagst tue ich das – sonst nicht.“

„Wenn Sie sich nicht Schaden zufügen wollen, so gehorchen Sie mir gefälligst!“ betonte Curt scharf, indem er Drewes durch die Augengläser fest ansah und das Notizbuch wieder einsteckte.

„Das kümmert mich nicht, Herr. Wie wissen wir, was Sie sind? Das müssen Sie doch einsehen, Wenn der alte Herr uns sagt: Das ist nun der, dem ich mein Gut zu verwalten überlasse, dann ist das was Anderes.“

Einige der Männer, welche die Arbeit ruhen ließen und zuhörten, murmelten dem Statthalter. Beifall, und einer von ihnen sagte laut:

„Er hat Recht, und wir stehen ihm bei.“

Curt von Boddin fühlte sich auf unsicherem Boden. Der Statthalter war in der That in seinem Rechte, und der Administrator zwang sich zur Ruhe.

„Ich werde sorgen, daß mein Onkel Ihnen Weisung erteilt.“ bemerkte er kühl, nickte ein Adieu und wandte sich, um den Weg zurückzugehen den er gekommen

Er mußte sich sobald wie möglich mit dem Onkel in’s Vernehmen setzen, um erst die nötige Autorität zu gewinnen.

„Dort kommt der Herr Baron!“ rief es jetzt mehrstimmig hinter ihm. Curt blickte auf und sah vom Gute her einen Reiter die Richtung einschlagen, die er selbst genommen hatte. Um so besser! So ging er ihm entgegen – wiewohl: lieber hätte er ihm eigentlich erst einen formellen Besuch gemacht. Indeß schritt er kräftig aus, halb neugierig, halb mit peinlicher Empfindung, jedenfalls mit dem Entschlusse, den alten „verrückten“ Onkel so bequem wie möglich zu nehmen.

In der Nähe jener Kleebrache, welche ihm so angenehme Erinnerungen geweckt, trafen die beiden Männer zusammen. Curt nahm den Strohhut ab und machte Front. Die Blicke, welche ihn vom Pferde herab musterten, waren nichts weniger als verwandtschaftlich liebevoll.

„Verzeihung, Onkel, daß ich mich hier auf dem Wege zuerst vorstellen muß! Ich hatte gestern nicht das Vergnügen, Sie zu Hause zu treffen.“

„Mach keine solchen Redensarten, mein Sohn!“ knurrte der Baron ihn unterbrechend. „Du willst ja wohl auf Pelchow wirthschaften, indem daß Ihr meine Schulden bezahlen wollt? Das kann ich aber allein – dazu brauche ich Keinen aus Teterow.“

„Sie werden sich das leider gefallen lassen müssen, Herr Onkel. Das Gericht hat in dieser Sache entschieden, und wir glaubten, es würde Ihnen lieber sein, wenn Einer aus der Verwandtschaft die fatale Angelegenheit in die Hände nähme, statt eines Fremden. So komme ich denn mit einer gerichtlichen Vollmacht und muß Sie zu meinem Bedauern bitten, mir in aller Form die Verwaltung zu übergeben.“

Curt von Boddin hatte dies so höflich und verbindlich vorgebracht, wie es ihm möglich war. Der alte Herr hatte auch ruhig zugehört; nur sein Gesicht war noch röter und sein Blick noch feindlicher als zuvor geworden.

„Ich habe Dich ausreden lassen, mein Sohn“ sagte er. „Nun höre aber auch mal auf mich! Siehst Da, mein Sohn, ich habe Dich gekannt, als Du in Teterow in Knopfhosen herumgingst und Dir hinten so ’n lütt Ende Weiß aus dem Schlitz kukte. – Und wenn Du denkst, daß ich Deine grüne Klugheit hier nöthig habe, dann bist Du auf dem Holzwege. Da kannst Du denn wieder umkehren und nach Teterow gehen, ausgenommen, wenn Du mein Gast sein wolltest, was mir aber sehr genirlich wäre, indem daß ich keinen Raum für Dich habe. Und dann will ich Dir noch etwas sagen: Ich glaube, daß ich Euch Teterowern zu lange lebe, und daß Ihr die Zeit nicht erwarten könnt, um Euer Schaf zu scheeren –“

„Aber Onkel,“ fiel Curt ein, „ich bin doch nicht meinetwegen hier –“

„Nein, mein Sohn,“ unterbrach ihn der alte Herr mit giftiger Ironie, „nicht meinetwegen wie der Wolf sagte, aber ein Schaf schmeckt doch gut. Ich kenne das und Euch Teterower dazu Ich will mit Euch nichts zu tun haben, und mein Gut ist mein Gut – da bin ich Herr.“

Auch in das Antlitz des jungen Mannes war die Zornesröthe gestiegen, und doch überkam es ihn wie Mitleid vor dem alten Manne, welchen seine Gegenwart offenbar im Tiefsten kränkte und der in seinen Aeußerungen jedenfalls mit einem andern Maßstabe zu messen war, als andere Menschen

„Ich beklage es tief,“ sagte er, „daß Sie meinem Eintreten hier solche Beweggründe unterschieben, gegen welche ich mich entschieden verwahren muß; wir haben’s nur gut gemeint, und ich hätte überall eine bequemere Thätigkeit finden können, als die schwierige –“ er stockte und wußte nicht recht, wie er den Gedanken ausdrücken sollte, ohne dem alten Herrn etwas Verletzendes zu sagen „Aber wie dem auch sei, ich bitte Sie aufs Dringendste, [759] Onkel, sich mit dem Gedanken auszusöhnen, daß ich Ihnen die Last hier abnehme –“

„ja wohl, mein Sohn, und das Geld auch. Den blauen Teufel will ich Dir thun –“

„– und zu bedenken,“ fuhr der Andere fort, „daß ich im Auftrage des Gesetzes hier bin, welches keinen Widersprach duldet. Es soll meine Aufgabe sein, Ihnen das so wenig wie möglich fühlbar zu machen.“

„Kurzum, mein Sohn, ich will nichts davon wissen, und wenn Du meinen Wagen brauchst, dann sag’s dem Jochen! Er weiß den Weg nach Demmin. Adschüs auch!“

Der Alte gab dem Rappen einen Schlag und ritt in raschem Trabe davon. Er gewährte mit der hochgebauschten Mütze, den langen, fliegenden, grünen Rockschößen und den weit vom Pferde abstehenden kurzen Beinen einen grotesken Anblick.




4.

Curt von Boddin hatte dem alten Baron eine Weile finster nachgesehen. Jetzt brach er in ein kurzes Lachen aus, indem er sich anschickte, den nach dem Gute führenden Weg weiter zu verfolgen.

„Er ist ein completer Narr. – daran ist kein Zweifel,“ sagte er laut; „rein verrückt; er hat wahrhaftig die ernste Absicht, eine kleine Privatrevolution auszuführen. – Aber nein – das ist ja nicht möglich; dieses große Kind müßte denn nicht wissen, welchen Unannehmlichkeiten es sich aussetzt, wenn es den Widerstand ernstlich nimmt. Vielleicht gewährt es ihm eine kindliche Genugthuung, mir zuerst einen Affront bereitet zu haben. Ich gehöre nur eben nicht zu den affrontablen Leuten und möchte kurzen Proceß machen. – Indeß – hm! – Ich will doch Alles thun, um einen Familienskandal zu verhüten. Hätten wir lieber sonst Jemand hierher geschickt! Wir Teterower sollen ungeduldige Erben sein, weil wir uns der Sache annehmen! Im Grunde: der Schein spricht ein wenig gegen uns; wenn wir jetzt das Gut ausbessern geschieht es auf Kosten des Onkels; später hätte es Papa auf seine eigenen besorgen müssen. Der Alte ist am Ende wirklich nicht so dumm. – Ach was, er wird sich zureden lassen, und im Nothfalle muß mir Cousine Lebzow helfen; sie hat ja, wie der Mann gestern Abend sagte, so großen Einfluß auf ihn. – Nur keine lange Verzögerung! Ich muß unterkommen, muß sorgen, daß mein Ansehen unter den Leuten nicht geschädigt wird; sie sind im Stande, den Widerstand des Onkels zu unterstützen. Der Statthalter Drewes sieht mir ganz darnach aus.“

So gingen die Gedanken Curt’s, indeß er sich mit raschen Schritten dem Gute näherte. Als er unweit des Gartens den Einblick in den Hof frei hatte, verlangsamte er das Tempo plötzlich: er sah ein rothes Tuch leuchten, und die es trug, war Anne-Marie von Lebzow. Es war offenbar das nämliche Tuch, welches er heute früh im Garten gefunden hatte.

Der Vetter betrachtete sie ein Weilchen vom Gartenzaun aus. Sie hatte einen großen Hund, eine Art Bernhardiner, bei sich, der, mit kurzem Gebell sich aufrichtend und wieder niederfallend, um sie herumspielte, während sie selber mit anmuthiger Bewegung das Spiel lenkte. Es war ihm peinlich, sich ihr nähern zu müssen; wenn so rücksichtslose Naturen wie Curt von Boddin, wirklich einmal das Gefühl der Beschämung empfunden haben, werden sie an dieser einen Stelle sensitiv. Abbitte zu thun, das war ihm unmöglich; nur der Zufall könnte versöhnen, im Falle drüben die feindliche Stellung gegen ihn festgehalten wurde. Vielleicht war es das Beste, er knüpfte ein Gespräch wegen des Onkels mit ihr an; das war sachlicher Boden, das Interesse Dritter, an dem sie Beide Antheil nahmen; das ergab eine geschäftliche Verhandlung, bei welcher die gegenseitigen persönlichen Beziehungen einstweilen in den Winkel gestellt wurden; möglich, daß die ganze Nachwirkung des gestrigen Tages in diesem Winkel stehen blieb.

Curt von Boddin nahm den Strohhut ab, machte innerlich und äußerlich Geschäftsstimmung und schritt auf das junge Mädchen zu.

„Guten Morgen Cousine Lebzow! Darf ich Sie bitten mir für eine wichtige Angelegenheit Gehör zu schenken? Beiläufig: wie geht es Ihrem Fuße?“

Anne-Marie schrak heftig zusammen als diese Stimme plötzlich neben ihr klang; dann nahm sie rasch einen kalt abweisenden Ausdruck an, neigte den Kopf ein klein wenig und sagte mit Betonung:

„Beiläufig: ich danke Ihnen, Herr von Boddin; wie Sie sehen, erträglich. Ich danke Ihnen auch für die Rettung meines Tuches und für das Compliment, welches Sie mir mit demselben übersandten. Im Uebrigen wüßte ich nicht, was wir geschäftlich zu verhandeln hätten.“

Das war ja eine richtige Kriegserklärung. Curt verzog indessen keine Miene, so unbehaglich ihm auch zu Muthe war.

„Genehmigen Sie, daß wir für unser Gespräch die paar Schritte in den Garten hinüber thun? Ich würde Sie wahrhaftig nicht bemühen, wenn Sie nicht ernsthaft an Dem betheiligt wären was ich Ihnen – zu sagen habe. Im Garten sind wir am ungestörtesten, denke ich.“

Anne-Marie sah ihn befremdet an und wurde ein wenig roth.

„Wie Sie wünschen!“ meinte sie endlich. „Komm, Dana!“

Sie griff in das weiß- und schwarzgefleckte Fell des Hundes, der ihr indeß unter den Händen wegschlüpfte und bellend durch die Gartenthür vorausschoß. Anne-Marie hatte sich vorgenommen, sehr vornehm auszusehen; ihre Haltung war gegen gestern völlig verändert. Allein sie führte noch immer keinen Sonnenschirm; diesen Triumph hätte sie dem „Unverschämten“ um keinen Preis gegönnt, dem es nicht einmal einfiel, ihr die Gartenthür zu öffnen, und der doch an ihr zu erziehen wagte. Der „Unverschämte“ schritt hinter ihr drein.

„Im Arme getragen habe ich sie doch – die kleine Zornige da,“ dachte er.

Im Garten, im klaren Frühsonnenschein, wartete sie, bis er neben ihr ging.

„Jetzt bitte! Ich bin ganz Ohr.“

„Sie kennen die Verhältnisse, welche mich hierher geführt haben, Fräulein von Lebzow?“

Anne-Marie nickte. Nun nannte er sie nicht mehr „Cousine“, und das freute sie. Je fremder er sie behandelte, desto mehr war sie vor „Unverschämtheiten“ sicher.

„Ich bin also gesetzlich autorisirt, gesetzlich – beachten Sie das wohl! – hier zu wohnen, die Uebergabe der Gutsverwaltung durch den Onkel zu verlangen, die Bewirthschaftung fortan zu leiten, die Erträge zu empfangen und zu verrechnen. Der Onkel bekommt eine Summe, von der er hier anständig leben kann, die freie Naturalverpflegung, soweit sie das Gut liefern kann, außerdem. Ich gestehe offen, daß ich mit der Absicht herkam, nicht viel Umstände zu machen; ich habe gegen alles Ungeregelte, gegen dieses Sichgehenlassen in den barocksten Einfällen und Launen, dieses Verwüsten und Verschlendern, welches als originell belacht wird und doch nur den Ruf und die Zukunft unseres Standes untergräbt, einen tiefen Widerwillen. Indessen bin ich soweit bekehrt, daß ich die möglichste Rücksicht üben werde.“

„Weshalb sagen Sie das Alles mir?“ fiel Anne-Marie mit leichter Ungeduld ein, während sie ein wenig spöttisch die Lippen aufwarf. „Ich hatte gestern bereits die Ehre, Einiges von Ihren Ansichten über Originale zu hören.“

„Ich habe Sie zum letzten Male damit belästigt, gnädiges Fräulein. Ich sprach auf dem Wege hierher Onkel Boddin und muß nach seinen Aeußerungen annehmen, daß er entschlossen ist, meine Mission einfach zu ignoriren. Er will mir das Gut nicht übergeben; er verweigert mir sogar die Aufnahme in dieses Haus.“

„Da müssen Sie sich schon mit ihm zu benehmen suchen Herr von Boddin; ich habe in diese Sache nichts drein zureden.“

„Aber begreifen Sie doch: wenn dieser alte Mann unverständig genug ist und hartnäckig bleibt, so bin ich gezwungen, die Hülfe der Behörde in Anspruch zu nehmen. Das giebt einen öffentlichen Skandal. Und gesetzt, daß er, was ihm immerhin zuzutrauen ist, es auf Gewalt ankommen läßt, wird die Blamage noch größer; er setzt sich gerichtlicher Bestrafung aus. Das muß verhindert werden, und Sie müssen dabei helfen.“

Curt war stehen geblieben; er hatte fast heftig gesprochen und sah finster aus. Anne-Marie bückte sich seitwärts zu einem. Resedabeete nieder und brach einen Stengel.

„Ich verstehe von diesen Dingen nichts,“ meinte sie zögernd, indem sie sich aufrichtete. Sie hatte nicht den Muth, ihn anzusehen. „Vielleicht reden Sie selber noch einmal mit dem Onkel, oder wenden Sie sich an Herrn von Pannewitz ans Branitz, der sein Vertrauen genießt!“

[760] „Verzeihen Sie; wenn ich Ihre Fassungsgabe oder Ihr Vertrauen in meine Wahrhaftigkeit überschätzt habe, mein gnädiges Fräulein!“ sagte er bitter und scharf. „Da Sie mir Ihre Beihülfe versagen, bleibt mir in der That nur der von Ihnen bezeichnete Weg übrig; für die Folgen des Mißlingens aber sind Sie mit verantwortlich.“

Er zog den Hut, machte ihr eine rasche Verbeugung und schritt dem Ausgange zu. Anne-Marie blieb stehen und warf ihm einen scheuen Blick nach; sie war bleich und betreten. In diesem Augenblicke hatte sie ein Gefühl, als sei sie nicht die Natur dazu, um einen Kampf mit dem starken, willensklaren Mann durchzufechten, und ein Verzagen überkam sie, als müsse sie weinen. Das war nun der Ertrag ihrer Feindseligkeit: am unrechten Orte hatte sie dieselbe hervorgekehrt, und nun hielt er sie für dumm und kindisch und für wer weiß was noch. Für unordentlich hatte er sie heute Morgen erst erklärt. – Aber was konnte ihr im Grunde daran liegen, wie er sie schätzte? Er war „Luft“ für sie, wie sie es für ihn war. Höchstens konnte er in der Verwandtschaft eine üble Meinung von ihr verbreiten; er schien ja sehr viel darauf zu geben was man in der Verwandtschaft von Jemandem sprach. Das war ihr gleichgültig. In Einsamkeit groß geworden und nur mit Frau von Pannewitz und deren Töchtern intimer verkehrend, hatte sie keinen rechten Begriff davon was in der Gesellschaft ein „Ruf“ zu besagen habe. – Ob man nicht doch lieber mit Onkel über die Sache verhandelte? Sie glaubte zwar nicht, daß, wenn die Folgen bedenklich für ihn waren, derselbe in der That Widerstand leisten würde, aber es konnte ja nichts schaden, wenn sie auf den Busch klopfte und die Warnung des Vetters aus geschickte Weise einfließen ließ.

Sie ging im Garten auf und ab; das erste Resedabüschelchen war längst zerpflückt; sie zupfte hier und zerpflückte und riß dort ab, um das Abgerissene nachdenklich in den Wind zu streuen Dann rief sie Dana und zauste und spielte mechanisch in dem krausen Fell des Bernhardiners. Nach geraumer Zeit fuhr sie aus ihren Gedanken auf: sie vernahm Wagenrollen auf dem Hofe. Anfangs dachte sie, es kämen Fremde gefahren; als sie indessen bis zur Gartenthür geschritten sah sie Curt von Boddin in den Wagen des Onkels steigen. Jochen saß steif auf dem Bocke, den Peitschenstiel auf das Knie gestemmt, wie eine ägyptische Königsstatue. Und plötzlich senkte Anne-Marie blitzschnell den Kopf und wurde roth und ging weiter, bis zur Gartenpforte. Der Vetter hatte sich umgesehen und konnte meinen, daß sie seinetwegen dastand. Die Pferde zogen an; der Wagen rasselte um die Hausecke – nun durfte sie emporsehen. Im Hause suchte sie Dürten Schoritz auf und fragte, wohin Jochen fahre.

„Der Herr von Boddin wollte nach Branitz; er hat sich was zu Frühstücken geben lassen, aber hat nicht viel gegessen und getrunken; dann ist er gelaufen und wiedergekommen und hat in seinen Papieren herumgekramt, bis Jochen vorgefahren ist. Das ist ein merkwürdiger Mensch; er hat so was Unruhiges an sich.“

„Hat er sonst nichts gesagt?“

„Ja er hat gefragt, wann wir zu Mittag äßen und ich hab’ ihm gesagt: Klock’ Eins, aber er brauche sich nicht so sehr zu sputen; denn was den alten Herrn und Sie anbeträfe, da hätte der alte Herr gesagt, Sie wollten auf Ihren Stuben essen, und da könne er hinten allein essen, wann er wolle.“

„Hat Dir der Onkel das aufgetragen?“ fragte Anne-Marie heftig.

„Heute Morgen ja,“ war die verwunderte Antwort.

Also zu Pannewitzens fuhr er? Da würden ihn diese ja nun gleich kennen lernen. Sie war neugierig, was wohl Leonore und Hedwig Pannewitz über ihn urtheilen würden. Das mußte sie bald erfahren. Ohnehin war es Zeit, daß sie wieder einmal bei Pannewitzens einen Besuch machte. – Wie die beiden jungen Mädchen wohl ihm selber gefallen würden? Leonore war schöner, aber Hedwig war entzückend. Am Ende verliebte er sich in eine von den Beiden. Aber sie waren zu gut für ihn.

Es war eine schweigsame Fahrt, die Curt von Boddin mit dem alten Jochen machte; nur selten eine Frage, und immer eine einsilbige, zu welcher die nächste Umgebung des Wagens Veranlassung bot; ebenso selten und einsilbig war die Antwort. Endlich tauchte Branitz aus, Curt beugte sich vor und studirte mit sichtlichem Interesse die hübschen Verhältnisse des Baues, die stattlichen Bestände des Parks, einen Theil der Anlage nach dem andern.

Als Jochen das Thor passirte, wurden am Fenster ein paar weibliche Köpfe sichtbar, allein Curt hatte nicht Zeit, genauer hinzusehen; denn gleich am Thore hielten die Pferde vor Herrn von Pannewitz; der junge Mann stellte sich vor und stieg, freundlich willkommen geheißen, hinunter.

„Na, Jochen,“ fragte Herr von Pannewitz mit verschmitztem Lächeln und streichelte die langen gefärbten Bartcoteletten, „wie seid ihr denn gestern Abend nach Hause gekommen?“

Jochen verzog den breiten Mund zu vergnügtem Grinsen. „Es ist so abgegangen, Herr. Unser Baron war aber höllisch fuchtig, sodaß ich umkehren mußte, und ich dachte schon, er würde über das Thor steigen, Unterwegs hat er sich aber gegeben, indem daß er sagte, er hätte Ihnen zweihundert Thaler abgenommen und hätte Sie auch mal mit Bartfarbe gefoppt – dafür hätten Sie sich wohl revanchirt.“

Herr von Pannewitz lachte, als ob er ersticken sollte, wie denn die ganze rundliche Figur der Ausdruck des Behagens und munterer Laune war.

„Ein Original, Ihr Herr Onkel!“ sagte er, zu Curt gewandt. „Wir haben gestern einen Spaß mit ihm gehabt“ – und nun erzählte er die Geschichte. „Sie werden Ihre Noth mit dem alten Baron haben, Heer von Boddin; denn er kann sehr kratzbürstig sein, wenn er gereizt wird, ja unter Umständen mehr als grob. Im Grunde ist er ein guter alter Bursche, voll der possirlichsten Einfälle. Aber kommen Sie hinauf! Ich will Sie meinen Damen vorstellen.“

„Verzeihung!“ sagte Curt, dem zunächst die burschikos lustige Weise der neuen Bekanntschaft wenig zusagte; „wie Sie sehen, bin ich zu einer formellen Visite nicht gerüstet; ich wollte mir das auf einen späteren Tag versparen. Was mich zu Ihnen führt, ist nur eine dringliche Angelegenheit.“

Er klärte Herrn von Pannewitz über die Erfahrung auf, die er mit dem Onkel gemacht.

„Das sieht ihm ähnlich,“ lachte Dieser auf der Treppe, dem Gast die Hausthür öffnend. „Sie riskiren immer, daß er aus seiner Drohung Ernst macht. Na, kommen Sie nur herauf! Meine Damen sind nicht so scharf auf den schwarzen Frack, und ich will Sie schon entschuldigen. Bleiben Sie über Mittag hier. und seien Sie mein Gast – keinen Widerspruch! Den giebt’s auf Branitz nicht. In Pelchow schlucken Sie nur mit Aerger, was Ihnen der alte Drache, die Dürten, zusammenbraut. Nach dem Essen fahre ich mit Ihnen nach Pelchow – wissen Sie was? Ich nehme das ganze Weibervolk mit hinüber; meine Mädchen und die Lebzow sehen sich gern einmal wieder; die können helfen, den Alten zahm machen. Nettes Ding, die kleine Lebzow, wie? Die müssen Sie auch zur Hülfe nehmen; die hat ’ne Art, dem Teufel ein Ohr abzuschmeicheln. Das ist auch die Einzige, die Pelchow ein Bischen menschlich zu machen verstanden hat. – Kinder, hier bringe ich Euch Herrn von Boddin aus Teterow, der jetzt Pelchow für den Alten bewirthschaften wird – meine Frau, meine Töchter Leonore, Hedwig –“

Curt von Boddin fing bald an, sich in diesem Kreise zu gefallen. Die Damen waren liebenswürdig, Frau von Pannewitz, die einst in Schwerin Hofdame gewesen, hatte sogar etwas Distinguiertes. Beide Mädchen gaben sich freier, besonders die jüngere, Hedwig, welche mehr in die Art des Vaters schlug. Nur war es Curt fatal, daß Herr von Pannewitz seine Angelegenheit den Frauen zum Besten gab und daß auch diese sie nur von der komischen Seite nahmen. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken in den mageren herbstlichen Garten hinter dem Herrenhause von Pelchow zurück, in den Garten mit seinen Sonnenrosen, Dahlien, Astern, feiner Reseda, und mit der feindlichen Cousine Lebzow, die heute in Curt’s Erinnerung eher vornehm und stolz aussah, als ländlich, wie sie ihm gestern erschienen. Die dürre wüste Umgebung, in der sie lebte, hob ihr Bild merkwürdig farbig heraus, und ihm, dem mehr zum Ernst neigenden Manne, war die abwehrende, feindliche Haltung reizvoller, als die behagliche Liebenswürdigkeit hier, die ihn wie ein laues Bad umspülte. Dennoch: wenn seine Aufmerksamkeit von der Unterhaltung gefesselt war, fühlte er freundlich das Wohlthuende guter Formen und einer eleganten Umgebung, an welche seine Vergangenheit ihn gewöhnt hatte. Das Essen war gut, der Wein vorzüglich – die Cigarren muthmaßlich auch, allein Curt rauchte nicht. Die Idee, nach Pelchow zu fahren, fanden die Damen allerliebst, und der Gast hatte wieder das ausschweifendste

[761]

Cassensturz.
Nach dem Oelgemälde von Fr. Keller in München.


Lob der Cousine Lebzow zu hören, welches er stumm und doch innerlich befriedigt aufnahm. Als der hübsche offene Landauer vorfuhr, mußte Curt mit den Damen zusammen im Fond Platz nehmen, während Herr von Pannewitz sich zum Kutscher auf den Bock setzte. Jochen hatte man längst voraus geschickt; es wäre ja viel gemüthlicher so, setzte Pannewitz aus einander. „Je näher, je besser – wie der Dieb zur Mettwurst sagte.“

Als die Gesellschaft um die Waldecke bog, erhob sich Hedwig von Pannewitz ein wenig und rief dann plötzlich:

„Dort kommt Anne-Marie uns entgegen.“

[762] Der Wald war auf der Branitzer Seite ungefähr ebenso weit von Pelchow entfernt, wie aus der Langendorfer, so dauerte es noch zehn Minuten, ehe der Wagen neben Fräulein von Lebzow hielt, welche die Pannewitzische Familie lebhaft begrüßte, Curt indeß keines Blickes würdigte. Es entstand ein Streit, wer aussteigen und gehen und wer weiterfahren sollte; Herr von Pannewitz entschied, daß der Kutscher zu Fuße nachkommen, der junge Boddin dessen Stelle auf dem Bocke, Anne-Marie den leer gewordenen Platz im Fond einnehmen solle. Curt wechselte stumm den Sitz.

Man kam bald in Pelchow an. Der alte Baron ließ sich nicht sehen, und Anne-Marie lud die Damen mit einem Anflug von Verlegenheit ein, ihr in den Garten zu folgen, um den Kaffee in der Laube zu trinken. Herr von Pannewitz übertrug Jochen die Pferde und nahm Curt’s Arm, der sich flüchtig von den Damen verabschiedet hatte.

„Kommen Sie, Herr von Boddin! Wir müssen den Bären in seiner Höhle aufsuchen.“

Er spähte in das Fenster, welches den Zugang zum Zimmer des alten Herrn bildete, und klopfte dann.

„Mach’ mal auf, Boddin! Was den Teufel: bist Du ungesund, oder was fehlt Dir, Franz?“

Curt gewahrte durch die Scheiben, daß der Onkel rittlings auf einem Holzstuhle saß, die Lehne nach vorn, wie im Friseursalon. Er kehrte ihnen in dieser Positur den Rücken zu. Neben ihm kauerte der Bernhardiner, so steif wie sein Herr.

„Schweig still, Fritz!“ tönte es dumpf aus dem Zimmer. „Ich will nichts von der Sache wissen. Du bist auch so’n Cujon; hast mir gestern den Sack mit Häcksel aufgeschnitten, und nun läßt Du Dich mit dem Teterower ein. Wenn der Teufel zwischen Euch geht, ist der Beste in der Mitte – das sag’ ich. Wenn Ihr mich genug von meiner Rückseite gesehen habt, dann könnt Ihr wieder gehen.“

„Du bist ’n rechter alter Esel,“ rief Pannewitz, Curt zublinzelnd; „wenn ich zu Dir hinein will, schlag’ ich Dir einfach das Fenster ein –“

„Das sonst Du mal probieren – das probir’ mal!“ rief der alte Baron zornig. „Dazu hab’ ich meine Fenster nicht einsetzen lassen. Und ich habe hier meinen Hund, der ist auf den Mann dressirt.“

„Du bist doch wie die Kinder, Franz,“ meinte Pannewitz einlenkend, indem er Curt einen Wink gab, bei Seite zu treten; „wenn sie sich vor etwas fürchten, stecken sie den Kopf in’s Bett. Ich will, ganz allein, wegen ’ner ernsten Sache mit Dir reden, daß Du nicht in Ungelegenheiten kommst, und nun betreibst Du solche Dummheiten, Reden kannst Du ja immer mit mir; wenn Dir meine Worte nicht gefallen, hast Du Deinen freien Willen.“

„Die Worte sind gut, aber in’s Dorf komme ich doch nicht, wie der Wolf sagte,“ knurrte es drinnen beruhigter.

„Wenn Du Deinen besten Freund aufgeben willst, dann bleib’ sitzen, Franz! Dann fahre ich wieder nach Branitz zurück, und Du kannst Dir auf Pelchow die Zeit mit Mäusefangen vertreiben und mit Dürten Schoritz Sechsundsechszig spielen. Mich kriegst Du nicht wieder zu sehen. Adschüs auch!“

„Wart’ mal, Fritz, wart’ mal!“ rief der Alte hastig. Und nach einer Weile setzte er hinzu: „Na, ich kann ja wohl mit Dir reden, aber blos mit Dir. Der Teterower kommt mir nicht zu nahe.“

Curt von Boddin war innerlich empört. Die Rolle, die er hier verurteilt war zu spielen, kam ihm lächerlich und entwürdigend genug vor. Allein er bezwang sich auch diesmal und schritt, seinem Verbündeten zunickend, um die Hausecke. Er hörte, wie jenseits das Fenster aufgeschoben wurde und Herr von Pannewitz hineinstieg. Dann schritt er langsam auf und ab. Die Verhandlung konnte ja so lange nicht dauern und allein zu den Damen sich zu begeben, war er nicht in der Stimmung.

Beladene Wagen langten an, und er musterte die schlecht gepflegten Pferde und die allzugeringe Belastung. Die Leute kümmerten sich anscheinend nicht um ihn, und doch fing er verstohlene und, wie ihm dünkte, nicht eben freundliche Blicke auf. Sein Entschluß stand fest, der peinlichen Situation, in der er sich befand, rasch ein Ende zu machen.

Endlich erschien Herr von Pannewitz wieder, verdrießlich lachend und mit dem Kopfe schüttelnd.

„Sie werden wohl nicht um die gerichtliche Hülfe herum kommen, Herr von Boddin. Der Alte ist ganz aus dem Häuschen und will es auf einen Skandal ankommen lasten. Als er mir sagte, daß Anne-Marie schon mit ihm gesprochen und daß er auch sie abgewiesen hätte, wußte ich Bescheid. Was die nicht fertig dringt, schaffen wir Anderen alle nicht! Gehen wir zu den Damen! Vielleicht besinnt er sich doch noch ‚Auf einen Schlag giebt der Bauer die Tochter nicht fort,‘ sagt das Sprüchwort.“

„Ich kann nicht darauf warten, ob es meinem Onkel gefällig ist, sich zu besinnen,“ sagte Curt finster. „Ich habe Pflichten übernommen und ich bin für ihre Wahrung verantwortlich.“

„Kann ich Ihnen nicht verdenken,“ meinte Herr von Pannewitz, die Achseln zuckend.

Als sie in den Garten kamen, wurden sie von den Damen sofort wegen des Erfolges der Verhandlung befragt.

„Nichts zu machen,“ sagte Herr von Pannewitz. „Anne-Mariechen hat ihm ja auch schon versucht den Kopf zurecht zu setzen; der Alte war ganz elegisch darüber. Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß sie sich mit seinem ausgesprochenen Feinde in ein Bündniß einlassen könnte. Ihm ist eben nicht zu helfen.“

Anne-Marie war glühend roth geworben und blickte einen Moment zu Curt von Boddin hinüber, der sie forschend ansah und damit ihre Verwirrung nur vermehrte.

„Ich konnte nicht anders,“ stammelte sie; „es geschah ja zum Besten des Onkels –“

„Nein, nein, mein liebes Kind,“ fiel Herr von Pannewitz ein, „Du hast ganz recht gethan. Er ist Dir auch nicht weiter böse darum.“

„Ich bilde mir nicht ein, daß Ihr Wort zu meinem Besten gesprochen wurde, Cousine Lebzow,“ warf Curt ernsthaft hin. „Sie werden mich aber entschuldigen, wenn ich zu anderen Mitteln greife, um dem Rechte Geltung zu verschaffen. Möchten Sie dem Onkel gefälligst mitteilen, daß ich morgen von seiner Erlaubniß Gebrauch machen und Jochen für eine Fahrt nach Demmin in Anspruch nehmen werde?“

Es wollte keine rechte Stimmung auskommen. Man trank den Kaffee, promenirte ein wenig – dann ging Herr von Pannewitz, um anspannen zu lasten. Curt hatte Frau von Pannewitz den Arm geboten; die jungen Damen blieben unter sich, und da gab es, vorsichtig in der gehörigen Entfernung, Mädchengespräche.

„Nun, wie findet Ihr ihn?“ Es war Hedwig von Pannewitz, die so fragte.

„Steifleinen und arrogant,“ sagte Anne-Marie heftig. „Ich bin schon ganz mit ihm fertig.“

„Ich finde ihn ganz hübsch,“ meinte gedämpft die volle Altstimme von Leonore. „Eine stattliche Figur, und auch sein Gesicht gefällt mir.“

„Aber die Nase ist vorn etwas breit und der Mund zu scharf,“ meinte Hedwig. „Ich glaube nicht, daß ich einmal Verlangen haben könnte, ihn zu küssen trotz des hübschen Bärtchens.“

„Du bist nicht gescheidt, Hedwig. Wer denkt an so etwas? Aber er hat ganz frische Farbe – das habe ich gern. Steif ist er – das ist wahr, und ich halte ihn nicht gerade für einen amüsanten Gesellschafter.“

„Und doch hat er Geist und etwas Männlich-Entschiedenes, etwas Kräftiges,“ warf Anne-Marie hin.

„Ich bin der Ueberzeugung, daß er sich aus Damen nicht viel macht und es nicht für der Mühe wert hält, Geist zu – – pst!“

Hedwig legte den Finger an den Mund und flüsterte blos noch rasch Anne-Marie ins Ohr:

„Wenn er nur nicht immer den gräulichen Kneifer auf der Nase hätte! Verlieb’ Dich nicht in ihn, Anne-Marieken!“

„Bitte, ich lasse ihn Dir!“ war die leise Antwort

Pappa Pannewitz kam und rief zum Wagen, und bald saß die Familie zur Abfahrt gerüstet.

„Adieu Anne-Mariechen und grüße den Onkel! Er wäre heut sehr ungezogen gewesen.“

„Adieu Heer von Boddin, auf baldiges Wiedersehen in Branitz! Kommen Sie, so oft Sie Zeit haben.

„Adieu liebstes Anne-Marieken – und was ich Dir gesagt habe!“

Hedwig’s Finger drohte vor dem lachenden Gesicht, als der Wagen um die Ecke bog, und Anne-Marie, der die [763] Drohung galt, stand blutroth und innerlich geärgert da und setzte in ihrer Verlegenheit und Beklommenheit eine ganz unnahbare Miene auf.

Sie hatte nicht vermeiden können, daß der Wagen sie neben Curt von Boddin zurückließ, und wie peinlich war es, so allein mit einem Gegner zu sein, den man am liebsten als nicht auf der Welt vorhanden betrachtete! Endlich raffte sie sich auf und ging unter stummer Verneigung gegen ihn, der mit verschränkten Armen dastand, zur Hausthür, um ihr Zimmer aufzusuchen. Sie fürchtete in diesem Augenblicke, er möchte sie ansprechen.

Curt folgte ihr mit den Augen, bis sich die Hausthür hinter ihr geschlossen hatte, dann wandte er sich kopfschüttelnd herum.

„Thörichtes Kind!“ sagte er zwischen den Zähnen.

(Fortsetzung folgt.)


Das Diamantengeschäft.

Die Diamanten-Fundstätten in Brasilien und die südafrikanischen Diamantfelder. – Das Steingraben. – Bodenpreise. – Arbeiterverhältnisse. – Der Diamant in Handel und Wandel. – Schleifereien in Amsterdam und London. – Die erste deutsche Diamantschleiferei zu Pforzheim. – Schleifoperationen. – Der Diamantenstaub. – Letzter Schliff. – Der Diamant in den Händen des Goldschmieds und des Händlers.

Liebe ist bekanntlich immer von Neugierde begleitet. Selbst Elsa im „Lohengrin“ kann sich nicht enthalten, den Geliebten nach dem Geburtsschein zu fragen. Auf Grund dieses alten Erfahrungssatzes von der Neugierde der Liebe dürfte man mit der Vermuthung nicht irre gehen, der von zahllosen Schönen feurig geliebte Diamant sei bezüglich seiner Geburtsstätte nicht selten das Ziel forschender Neugierde geworden. Würde aber der Diamant von einer liebenden Seele nach seiner Herkunft befragt, so könnte er mit gleichem Rechte wie Lohengrin erwidern, daß er aus fernem Lande stamme, nicht gerade „unnahbar Euren Schritten“, aber oft schwer zugänglich. Denn er findet sich unter Anderem auf der Halbinsel Dekan, auf den Inseln Borneo und Sumatra und am Ural. Am bedeutendsten sind aber für uns Europäer seine Fundstätten in Brasilien und Südafrika. In dem südamerikanischen Kaiserreiche ist das Stromgebiet des San Francisco seit mehr als hundert Jahren wegen seiner kostbaren Steine berühmt, und noch jetzt liefern die Provinzen Minas-Geraes und Bahia die schönsten Exemplare. Wenn wir aber die Minen nach der Menge der erzeugten Producte schätzen, so müssen wir unbedingt Südafrika den Preis zuerkennen. Alle Formen, welche der moderne Betrieb angenommen hat, haben sich dort in rascher Folge entwickelt, und deshalb sind die südafrikanischen Diamant-Verhältnisse einer flüchtigen Skizzirung werth.

Im Norden der Randgebirge von Südafrika dehnt sich eine ungeheure holz- und wasserarme Gegend aus, welche von dem Orangefluß durchströmt wird, dem viele Nebenflüsse nur in Regenzeiten Wasser zuführen. „Dry River“ (trockner Strom) ist ein sehr bezeichnender Name eines derselben, und daher sind armselige, Fonteine genannte Brunnen, in welche das Wasser hinuntersickert, für den Reisenden dieses Landstriches von der größten Wichtigkeit. In dieser Ebene, in dem Delta zwischen dem Orange- und Waalflusse, unter dem 43. Grad östlicher Länge und dem 29. Grad südlicher Breite, liegen die berühmten Diamantfelder, über 1000 Kilometer von der Capstadt entfernt.

Es ist nicht mehr als zwölf Jahre her, als in diesen Gegenden zuerst Diamanten gefunden wurden; denn ob die Edelsteine, welche vorher in die Seeplätze gelangten, von den „Diamond-Fields“ stammten, ist ungewiß. Erst gegen Ende der sechsziger Jahre brachte ein Boer aus dem Orange-Freistaate einen Diamanten in seinen Besitz, welcher einem Kinde als Spielzeug gedient hatte. Als er ihn in der Capstadt zeigte, wollte Niemand in dem ungeschliffenen Kiesel einen Diamanten erkennen, und selbst als man an der Natur des Steines nicht mehr zweifeln konnte und mehr Diamanten gefunden wurden, war man noch immer mißtrauisch. Man erinnerte sich vielmehr der Fabel von dem sterbenden Vater, der seinen Söhnen mittheilte, daß ein Schatz im Weinberge verborgen sei, und es wurde allgemein geglaubt, daß die angeblich gefundenen Diamanten nur künstliche Lockmittel seien, um jene Gegenden mit gewinnsüchtigen Einwanderern zu bevölkern. Aber seit 1870 war an dem factischen Diamantenreichthum jener Länderstriche nicht mehr zu zweifeln, und Tausende, Boers, Engländer, Amerikaner, Franzosen und Deutsche, trieb die heiße Gier, rasch ein Vermögen zu erwerben, in die öden Ebenen Südafrikas. Die Waal wurde schon einige Zeit vorher fast in ihrer ganzen Ausdehnung durchsucht, und zwar nicht nur der Ufersand, sondern auch das Flußbett; es geschah unter den unglaublichsten Entbehrungen und Schwierigkeiten, welche die ungeheuren Entfernungen noch steigerten. Die Ausbeute war indessen im Ganzen gering. Da veränderte sich mit einem Schlage die ganze Sachlage.

Südlich von dem Punkte, wo sich Hart und Waal mit einander vereinigen, breitet sich eine Ebene aus, deren aus röthlichem Sande bestehende Oberfläche an manchen Stellen von Eruptivgesteinen durchbrochen ist. Hier lagen drei, holländischen Boers gehörige Güter, Voruitzigt, Du Toit’s Pan und Bultfontein. Im Jahre 1870 verbreitete sich nun plötzlich die Nachricht, daß auf dieser sandigen Ebene Diamanten gefunden worden seien, und sofort verließ die größere Menge der am Waalflusse beschäftigten Bergleute ihre Arbeit und wanderte nach dem etwa 25 englische Meilen südwärts gelegenen Landstriche aus. Rasch entstanden die drei Gruben Du Toit’s Pan, Bultfontein und Old de Beer’s (de Beer ist der Name des früheren Besitzers von Voruitzigt), und bald darauf wurde eine vierte auf dem Besitzthume de Beer’s begonnen, welche sich in kurzer Zeit als bedeutendste erwies und heute unter dem Namen Kimberley allgemein bekannt ist; auch die folgenden Entdeckungen in Jagersfontein und Coffeefontein haben den Ruhm von Kimberley nicht zu verdunkeln vermocht.

Man erzählt sich in London interessante, stark übertriebene Einzelnheiten über Kauf- und Verkaufpreise dieser Landstrecken. Folgende Version ist jedoch wahrscheinlich die richtige: Englische Gesellschaften, welche die Natur des Bodens ahnten, kauften im Jahre 1869 für etwa 2000 Pfund Sterling Bultfontein und die Besitzung de Beer’s. Als ein Jahr später der Diamantfund bekannt wurde und die Bergleute zu Tausenden herbeiströmten, boten sie den Besitzern 10 Schillinge monatlich, wenn ihnen die Nachforschung nach Diamanten auf ihrem Boden gestattet würde. Die Eigenthümer verlangten 25 Procent aller gefundenen Steine, aber die Bergleute erwiderten im Gefühle ihrer numerischen Stärke, wenn sie die 10 Schillinge nicht annehmen wollten, würden sie ihnen gar nichts geben. Die Eigenthümer wandten sich an den Orange-Freistaat – vergebens; denn derselbe war zu schwach, um entschieden eingreifen zu können. Darauf wurde die englische Regierung am Cap um Regelung der Verhältnisse ersucht, und diese nahm die Aufforderung begierig an; sie bewies dem Orange-Freistaat, daß das Land zu England gehöre, bezahlte aber dennoch der Republik einige tausend Pfund Sterling und kaufte darauf Kimberley für 100,000 Pfund Sterling an.

Inzwischen hatten die Bergleute ihre Thätigkeit längst begonnen. Der rothe Sand verführte sie zu dem Glauben, daß sie, wie es in anderen diamantreichen Gegenden der Fall ist, nur einige Fuß tief zu graben hätten, um die kostbaren Steine zu finden. Die ganze Oberfläche wurde deshalb von ihnen in Quadrate von etwa 900 Quadratfuß eingetheilt und Jedem die Bearbeitung eines Antheils gestattet. Aber man hatte sich getäuscht; denn nachdem man den Sand beseitigt, stieß man zunächst auf eine Kalkschicht, unter welcher sich erst das Diamanten enthaltende Sedimentärgestein befand. Daher werden die Schachte gegenwärtig immer tiefer, und haben einige bereits eine Tiefe von über 100 Metern erreicht. Die Masse, welche Diamanten enthält, wird losgesprengt, mit Hämmern zerschlagen, an die Oberfläche gebracht, dem Einflusse der Sonne ausgesetzt, welche die Zersetzung bald rascher, bald langsamer bewirkt, und endlich gewaschen.

Man kann sich leicht vorstellen, welchen Schwierigkeiten die Arbeiter begegneten. Da sie das ganze Feld in kleine, neben einander liegende Quadrate vertheilt hatten, mußten Wege und Servituten geschaffen werden. Dabei mangelte es an Maschinen, um das Gestein an die Oberfläche zu schaffen. An vielen Orten fehlte es an Aufbereitungsplätzen, und diese mußten nun außerhalb des Grubenfeldes in größerer Entfernung erst hergerichtet werden. [764] Ueberall mangelte es aber an Wasser. Die großen Entfernungen, die ungenügenden Communicationsmittel hinderten so fühlbar jeden raschen und energischen Fortschritt, daß man sogar den Vorschlag machte, das Wasser künstlich aus dem fünfundzwanzig englische Meilen entfernten Waalflusse auf die Diamantenfelder zu leiten. Die Grubenarbeiter, deren etwa sechs von einem sehr gut bezahlten weißen Aufseher überwacht werden, sind Eingeborene, die ungefähr zwanzig Mark Wochenlohn beziehen, aber trotz der strengen Aufsicht schätzt man die Menge der gestohlenen Edelsteine auf dreißig Procent der ganzen Ausbeute.

Als die Cap-Regierung Besitz von den Minen ergriff, traten ihr eine Menge vollendeter Thatsachen und schwieriger Fragen entgegen. Sie hatte ein ungeheueres Material rechtlich zu ordnen, vor Allem aber den gewaltsamen Besitz in rechtliches Eigenthum zu verwandeln. Ohne Zweifel bietet die Geschichte der Diamond-Fields interessante Probleme für den Juristen, während der Philosoph bei der Betrachtung derselben neues Material gewinnt zur Ausprägung der Begriffe: Gewalt, Recht, Gesetz und Besitz.

Nachdem wir den Proceß der Edelsteingewinnung verfolgt haben, werden wir die Diamanten auf ihrer Wanderung in Fabriken und Handel begleiten. Die Producenten verkaufen sie an Händler und Agenten. Niemand aber kann ohne einen Erlaubnißschein der Cap-Regierung, welcher jährlich dreißig Pfund Sterling kostet, Diamanten kaufen oder verkaufen. Selbst der Agent muß eine solche Erlaubniß nachweisen und dafür eine Summe von fünfzehn Pfund Sterling zahlen. Wohin die größte Menge der Diamanten geht, ist unentschieden; denn wenn auch die Juweliere behaupten, daß die besten und größten Steine nach Nordamerika versandt werden, so wird doch ein großer Theil derselben auch von Londoner, Amsterdamer und Antwerpener Firmen angekauft. Auf dieser Stufe des Diamantengeschäfts ist keine klare Arbeitstheilung; doch giebt es Händler, welche zugleich Schleifereien besitzen, und Schleifer, welche sich nicht mit dem Diamantenhandel befassen.

Die nach London versandten Diamanten nehmen ihr Absteigequartier meistens in der Hauptwohnstätte der Diamantenhändler, in Hatton-Gardens, einer verhältnißmäßig ruhigen Straße in der Londoner City, deren Häusern Niemand ansieht, welche Schätze sie beherbergen. Hier führen die Steine, sorgsam in Seidenpapier eingewickelt, ein behagliches Stillleben in Geldschränken und Pulten, bis sie an die Schleiferei abgeliefert werden. Zuweilen läßt der Händler sie in London schleifen. Es kommt aber auch nicht selten vor, daß er sie nach Amsterdam bringt oder bringen läßt, wo sich noch immer der Hauptsitz der Diamantenschleifereien befindet, nicht weil sich dort etwa die besten Traditionen erhalten hätten und die geübtesten Arbeiter fänden, sondern einzig und allein, weil dort die Arbeitslöhne billiger sind als in London, was jedoch von einigen Seiten bestritten wird.

Wenn man in Amsterdam vom Dam aus durch die Damstraße die eleganteren und reinlicheren Quartiere allmählich verläßt, gelangt man bald in ein Viertel, dessen äußerer Charakter Jedem auffallen muß. Die Hauptstraßen sind unreinlich, die Nebenstraßen entschieden schmutzig, und die ärmlich gekleideten Menschen, welche aus den unsauberen, kleinen Häusern kommen, sprechen Holländisch, aber sie gesticuliren lebhaft. Hier und da wird auch Deutsch mit derselben Zungenfertigkeit wie in Mainz, Frankfurt und Worms gesprochen, und zwar mit derselben Vorliebe für Nasallaute und entschiedener Abneigung gegen den Consonanten „n“. Die Gesichtszüge der redseligen Leute sprechen deutlich – nicht jene Gesichtszüge, mit denen moderne schönfärbende Romanschriftsteller ihre jüdischen Helden und Heldinnen ausstatten – wir sind im Judenviertel Amsterdams.

Die Geschichte der Juden ist mit der Geschichte der Diamanten unzertrennbar verknüpft; denn die Juden waren die Ersten, welche Diamanten in Amsterdam schliffen, und noch heute befinden sich die Diamantenschleifereien in dem Amsterdamer Ghetto; noch heute sind die meisten Besitzer der Schleifereien wie ihre Arbeiter Juden, und die Löhne der besseren unter den letzteren sind so bedeutend, daß mancher hohe deutsche Beamte diese Juden um ihr Einkommen beneiden könnte.

Die Mittheilung wird manchen Leser interessiren, daß wir seit kurzer Zeit die erste Diamantschleiferei in Pforzheim besitzen[WS 1]. Der hohe Zoll (25 Procent), welcher in Nordamerika die Einfuhr geschliffener Steine belastete, hat auch jenseits des Oceans die Einrichtung von Schleifereien bewirkt. Bedeutende Mühlen befinden sich auch in Antwerpen.

Die Einrichtungen sind überall dieselben, und der Proceß ist überall ein doppelter. Zuerst muß die künftige Form des Diamanten in einer rohen Weise auf dem Steine vorgezeichnet werden, und man befestigt zu diesem Zwecke zwei Diamanten auf zwei kurzen Stäben vermittelst eines eigenthümlichen Cementes, der ebenso rasch zum Erwärmen wie zum Erkalten gebracht werden kann, und reibt die beiden Steine so lange gegen einander, bis die Grundlinien der Facetten angedeutet sind.

Ist die Krystallform deutlich ausgeprägt, so ist schon ein großer Theil der Arbeit gethan. Schwieriger ist diese einleitende Arbeit, wenn der Diamant keine klare krystallische Form zeigt; denn alsdann muß er gespalten werden, was aber nicht immer gelingt. Schon bei diesem Aneinanderreiben der beiden Diamanten wird ein grauschimmernder Staub erzeugt, der bei dem Schleifen weitere Verwendung findet. Der größere Theil alles Diamantstaubes wird jedoch durch das Zerstoßen solcher Diamanten gewonnen, welche des Schleifens nicht werth sind. Bevor das Schleifen beginnt, befestigt der Arbeiter den in jener rohen Weise bearbeiteten Diamanten auf einen Bleikegel, aber das Blei muß sich selbstverständlich in geschmolzenem Zustande befinden, ehe es den Edelstein aufnehmen kann. Der Diamant ist verhältnißmäßig so klein, und der Verlust bei fehlerhaftem Schleifen so groß, daß oft die größte Sorgfalt und Mühe daran gewendet werden muß, ihm die gerade nöthige Lage im Bleikegel zu geben, und dies ist der Grund, warum Diamant und Bleikegel gewöhnlich verschiedene Male der Glasflamme ausgesetzt werden.[1] Das Einsetzen, Befestigen, Herausnehmen und Wiedereinsetzen des Diamanten aus und auf der glühenden Bleimasse nimmt der Arbeiter mit den Fingern vor.

Als ich fragte, ob es denn nicht möglich sei, die Operation mit einem Lappen oder irgend einem anderen Objecte vorzunehmen, sahen Arbeiter und Unternehmer mich mit einem vielsagenden Lächeln an. Das Lächeln des Arbeiters war entschieden verächtlich. Sein stolzes Selbstgefühl empörte sich gegen meine niedrige Meinung von der Stärke seiner Fingerhäute, und um sein Können in’s hellste Licht zu setzen, fingerte er mit einer, wie mir schien, unnöthigen Langsamkeit an dem Bleikegel herum. Hat der Arbeiter den Diamant auf dem Bleikegel befestigt, dann bringt er ihn mit einer schnell rotirenden Scheibe, welche man mit Oel und Diamantstaub angefeuchtet hat, so lange in Berührung, bis die Fläche gehörig abgeschliffen ist.

Dies zur Veranschaulichung der Schleifoperationen!

Versuchen wir nun, in allgemeinen Zügen das Bild einer Schleiferei zu entwerfen! Im Hintergrunde eines langen Saales steht parallel mit der Rückwand eine Reihe von eisernen Scheiben in horizontaler Lage, welche mit einer im unteren Stock befindlichen Dampfmaschine durch ein Räder- und Riemenwerk in Verbindung stehen und in kreisende Bewegung gesetzt werden. Hinter den Scheiben sitzen auf einer langen Bank so viele Arbeiter, wie Scheiben vorhanden sind. Ehe der Diamant all seine Facetten erhalten hat, verfließt eine geraume Zeit, und er verliert dabei sein Volumen bis zur Hälfte. Wenn man allein diese Verhältnisse, die hohen Arbeitslöhne der Schleifer sowie den bedeutenden Verlust an Material während des Schleifens in Betracht zieht und ganz von den hohen Gewinnungskosten, dem Risico des Unternehmens, den bedeutenden Entfernungen, dem Gewinn all der Zwischenpersonen, durch deren Hände der Stein geht, und den noch folgenden Processen absieht, selbst dann kann der hohe Preis der Diamanten nicht in Verwunderung setzen. Weit erstaunlicher ist es aber, daß trotz der ungeheuer vermehrten Production – man schätzt allein den Werth der in Südafrika gewonnenen Steine auf 400 Millionen Mark – der Preis der Diamanten sich nicht vermindert hat, sondern im Gegentheil gestiegen ist. Das erklärt sich nur dadurch, daß dem kolossalen Angebote eine noch kolossalere Nachfrage gegenübersteht. Kimberley-Actien, welche zu 10 Pfund Sterling ausgegeben wurden, werden jetzt an der Londoner Börse 370 notirt.

[765] Hat nun der Diamant den „letzten Schliff“ erhalten und für den unbestimmten Gattungsnamen Diamant die individuellere Bezeichnung Brillant oder Rosette erlangt, dann vertauscht er seine schmutzige unruhige Erziehungsstätte mit dem Hause des Juweliers. Den Lehrjahren folgen die Wanderjahre. „Juwelier“ ist heute ein so schwankender Begriff geworden, daß es sich wohl der Mühe lohnt, denselben etwas genauer zu bestimmen. Der letzte Goldschmied ist dahingegangen, wie der letzte Mohikaner, und auch die Goldschmiederei ist dem Großbetrieb, dem Maschinenbetrieb zum Opfer gefallen, ganz unter denselben Erscheinungen, welche diesen Proceß überall kennzeichnen: Die Production ist leichter und billiger geworden; der Unternehmer kann sich ein bedeutendes Vermögen erwerben, der Goldschmied aber ist zum capitallosen Fabrikarbeiter herabgesunken; denn Tausende von Goldarbeitern empfangen in London für eine zwölf- bis vierzehnstündige Arbeit einen Lohn von etwa zwei Mark nach unserer Währung. Die letzte Stelle, wohin sich die Kunst der Goldarbeit geflüchtet hat, ist die Juwelierwerkstätte; denn die künstlerische Anordnung und Fassung von Geschmeiden kann nicht von einer Maschine vorgenommen werden. Es ist interessant, den Juwelier über einem Armbande, einer Brosche brüten zu sehen, wie er nachdenklich die einzelnen Steinchen auf einer Wachsscheibe zusammenlegt, bis sie seinen künstlerischen Anforderungen entsprechen. Hat nun die Intelligenz, das Schönheitsgefühl des Unternehmers das Ihrige gethan, dann werden die Intentionen des Meisters in der Werkstätte ausgeführt. Es würde die Grenze unserer Aufgabe überschreiten, wollten wir die Entstehung eines Geschmeides bis zur letzten Abwaschung unter der Hand einer Arbeiterin darstellen. Nur das mag noch hinzugefügt werden, daß auch diese Arbeiter höhere Löhne erzielen, weil sich hier der Großbetrieb nicht entwickeln kann.

Einsam, in Ringe eingefügt, oder in Reih und Glied, auf kostbaren Geschmeiden, verlassen die Edelsteine die Werkstätte des Juweliers und werden, auf Seide und Sammet gelagert, hinter den Schaufenstern der Juwelen- und Goldwaarenverkäufer ausgestellt – der Juwelen- und Goldwaarenverkäufer, sagen wir; denn die nach der neuesten Mode gekleideten Männer, welche hinter glänzenden Ladentischen stehen und die Käufer mit gewinnendem Lächeln einladen, auf schwellenden Stühlen Platz zu nehmen, während sie eine Fülle verführerischer Geschmeide vor ihnen ausbreiten, sind keine Juweliere; sie sind keine Goldschmiede, weder Handwerker noch Künstler – sie sind eben Kaufleute. Ihr Einkommen besteht in der Differenz zwischen dem Einkaufspreise, den sie dem Juwelier, dem Besitzer der Werkstätte, für gelieferte Waaren bezahlen, und dem Verkaufspreise, den sie erzielen. Das Hinterstübchen, in welchem einige Männer mit Blasebälgen und Löthrohren hantiren, ist nicht die Stätte, aus welcher diese leuchtenden und strahlenden Geschmeide hervorgehen. Da wird nur reparirt und kleineren Bedürfnissen abgeholfen.

Von hier aus zerstreuen sich die strahlenden, leuchtenden Kinder ferner Welttheile nach allen Richtungen hin und gehen in den Besitz eines hohen Adels und verehrungswürdigen Publicums über. Ihr schönen Frauen, wenn die Edelsteine an euren zarten Händen, an euren schwellenden Armen, in euren dunklen Haaren und um euren schneeweißen Nacken funkeln, denkt ihr dann wohl zuweilen an die mannigfachen Irrfahrten, die ein Geschmeide machte, bis es in eure Hände gelangte – und an die Wanderungen, die es vielleicht noch machen wird? Wilhelm Hasbach.     




Die Jubeltage der „Deutschen Kunstgenossenschaft“ in Dresden und Meißen.

Von Fritz Wernick.
Mit Originalzeichnungen von Woldemar Friedrich.

Nicht nur im Parlamente zu Berlin, überall, wo gemeinsame Bestrebungen und Interessen Deutsche aus allen Gauen des Vaterlandes zusammenführen, da ist Alldeutschland versammelt. So war es 1875 auf der Höhe des Teutoburgerwaldes am Denkmal des Cheruskers, so auch 1876 im Festspielhause von Bayreuth, so bei den Bundesfesten deutscher Sänger und Schützen, so jetzt in Dresden, wo die „deutsche Kunstgenossenschaft“ in den jüngsten Septembertagen das Jubiläum ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens feierte.

Im Herbst des Jahres 1856 hatten auf Anregung des Düsseldorfer „Malkastens“ Abgesandte aus allen Kunstgemeinden Deutschlands, von München und Wien, von Dresden und Berlin, von Düsseldorf, Weimar und Karlsruhe sich in der Stadt Bingen eingefunden, um einen Bund zu schließen. Nicht nur die Wahrung gemeinsamer materieller Interessen führte die Künstler zusammen, der neugegründete Bund verfolgte auch ideale Ziele: Aus der Münchener, Düsseldorfer, Wiener Kunst sollte eine gemeinsame deutsche erwachsen, und in allgemeinen deutschen Kunstausstellungen sollte gezeigt werden, daß es eine nationale deutsche Ausdrucksweise in der Kunst gebe, welche dieselbe geblieben von den Zeiten Dürer’s und Holbein’s bis auf unsere Tage: „geistvoll und innig in der Empfindung, bescheiden in der Ausstattung, sich streng an die Natur lehnend in der Darstellung“. Der Plan zur Gründung einer deutschen Nationalgallerie ist zuerst unter den Kunstgenossen berathen worden und hat dann 1861 durch die Annahme der Wagner’schen Sammlung seitens König Wilhelm’s die erste feste Gestalt erhalten. Die Meinung der Kunstgenossenschaft ist schließlich gehört worden in Fragen der Gesetzgebung, besonders denjenigen, die den Schutz des geistigen Eigenthums betrafen.

Nun blickt dieser Verband auf ein volles Vierteljahrhundert seines Wirkens zurück. Vier allgemeine deutsche Kunstausstellungen, in München 1858, in Köln 1861, in Wien 1868, in Düsseldorf [766] 1880, sind von ihm veranstaltet worden, und bei allen nationalen künstlerischen Kundgebungen hat man sich seiner Organisation bedient, mit Ausnahme der Vertretung auf der Pariser Ausstellung 1878. Die Zahl seiner Mitglieder ist auf weit über 2000 gewachsen und in großen wie in kleinen Kunstgemeinden verbreitet, wie auch aus den alljährlichen Berathungen seiner Delegirten praktische Beschlüsse zur Wahrung der Interessen der Kunstgenossen hervorgehen. Da war es denn wohl natürlich, daß man das Jubelfest mit besonderer Sorgfalt vorbereitete und mit ausgesuchtem Glanze beging. Dresden, seit 1878 Vorort der Genossenschaft, diente als Local dieser Festlichkeiten. Die heitere, kunstgeschmückte, in herrlicher Landschaft gelegene Elbstadt eignet sich vielleicht besser als jede ihrer deutschen Schwestern zu solchen Zwecken, besonders wenn, wie diesmal, alle Kreise ihrer Bevölkerung sich vereinen, um die Jubeltage glänzend zu gestalten. Das haben die Organe des Staates, die Behörden der Stadt, das haben die Künstler und Kunstfreunde, das hat die gesammte Einwohnerschaft der sächsischen Residenz gethan.

Drei künstlerische Momente hoben sich aus der Fülle der Festlichkeiten hervor: der Bewillkommnungsabend auf der Brühl’schen Terrasse, die Darstellung des „Faust“ im Hoftheater und das Costümfest in Meißen. Die alte Elbschanze, der einzige Rest der ehemaligen Befestigungen Dresdens, hat schon oft zum Festlocale gedient. Graf Brühl, der allmächtige Minister eines prachtliebenden Monarchen, hat diese Terrasse mit Gärten, Palästen, sowie Pavillons geschmückt und dorthin die Fürsten und Großen als Gäste geladen. Herrlicher mag aber nie ein Dresdener Fest, auch zu Brühl’s Zeiten, gelungen sein, als dasjenige, welches die Stadt Dresden den Künstlern veranstaltete. Der äußerste, weit über die Elbe hinausspringende Belvederehügel mit der aussichtsreichen Glasrotunde war den Gästen reservirt. Kaum dunkelte der Abend, da blitzte von den Bäumen, aus den Büschen, von den Rasengründen, aus den spitzen Basalten, welche die Hügelwände umkleiden, farbiges Flimmern, Flammen und Glühen auf, das den Eintretenden einen wahrhaft feenhaften Anblick bot. Obelisken und Säulen, die Kolossalmasken des deutschen Kaisers und des sächsischen Königs, eine mit Purpur drapirte Rednerbühne waren als neue Zierde des Gartengefildes zu dem schöneren natürlichen Schmuck der Blumen und Bäume, der Graspläne und des wundervollen Niederblickes auf den Strom hinzugekommen, aber erst das Licht, das aus Tausenden von Flämmchen und Leuchten flammte, gab dem Ganzen das strahlende Festkleid. Aus dem dichten Laube der Kastanien, Akazien und Platanen blickten rothe, grüne, goldfarbene Kugeln wie leuchtende Früchte hervor; die hohen Staudengewächse trugen Blüthenglocken von farbigem Lichte; im Rasen funkelten Tausende kleiner Flämmchen, und aus dem Gestein schienen die Feueraugen der Erdgeister hervorzulugen. Die ganze Terrasse, auch der dem Publicum freigebliebene Theil war geschmückt. Die architektonischen Linien der Palastfronten wurden von Lichtschnuren gebildet und die Erzbilder der Meister blickten von ihren Postamenten freundlich-ernst auf das Treiben der Künstlergäste herab.

In diesen herrlichen Lustgärten wogte die Menge der geladenen und einheimischen Festgenossen umher in der langen Herbstnacht. Man plauderte, nahm von den Dienern Erfrischungen, würziges Bier, das Küfer in rothen Westen und Lederschurz unablässig zapften, und erfreute sich an der Musik und den wunderbaren Effecten des elektrischen Lichts, dessen farbige Ströme bald das Dickicht, bald die Standbilder der Herrscher überflutheten, dann wieder einzelne Partien des Stromes und seine belebten Ufer aus der Nacht hervortreten ließen.

Die deutschen Kunstgenossen standen schon im ungezwungensten Verkehre mit den heimischen Theilnehmern, als der Oberbürgermeister der herrschenden Stimmung in warmen Worten Ausdruck gab. Er wies unter Anderem darauf hin, wie Dresden sich seit zwei Jahrhunderten unter der Pflege kunstsinniger Fürsten zu einer Stätte der Kunst entwickelt habe; er hätte hinzufügen können, daß die Fürstenresidenz an der Elbe schon ihre Raphael und Holbein, ihre Tizian und Murillo, ihr grünes Gewölbe und ihr Antikencabinet besessen, als man in München noch nichts von Kunstpflege wußte, in Berlin noch kaum die Anfänge einer solchen besaß.

Gleich warm und herzlich wie der Willkommgruß des Herrn Oberbürgermeisters tönte der Dank der Gäste aus dem Munde Karl Stieler’s zurück, der die Dresdener versicherte, daß alle, die als fremde Gäste gekommen, als Freunde scheiden würden.

Und nun begann des Festes zweiter Theil. Während in der Rotunde des Belvedere die riesigen Lendenstücke feister Rinder, die Forellen, Hummern, Muscheln, die Hirsche und Rehe, die Rebhühner und Enten, die der treffliche Wirth als ein Künstler in seinem Fache aufgebaut hatte, dem Appetite der Geladenen zum Opfer fielen, entwickelte sich auf der Elbe ein neues, glänzendes Schauspiel. Alle Dampfer, alle Boote, alle Nachen, jede der schwimmenden Bade-Anstalten, die Brücken und die Ufer hatten sich in feurige Gewänder gehüllt, und die Schiffe mit den farbigen Lichtpfannen schaukelten sich auf der dunklen Fluth, die jedes Flämmchen wiederspiegelte. Schlanke Schnellruderer jagten, stattlich bemannt, zwischen jenen hindurch und wurden von einem Strahle des elektrischen Lichtes erhascht, begleitet, bis sie, flinker als dieses, in der Nacht verschwanden, um später in neuem Lichtstrome aufzutauchen. Das gab ganz entzückende Bilder, ewig wechselnd, ewig neu fesselnd. Ein Feuerwerk prasselte zum Schlusse aus dem Strome auf, zum leider gar zu frühen, aber nothwendigen Schlusse; denn kaum senkten die letzten Leuchtkugeln sich zum Elbspiegel hinab, als sich ihnen staubfeine Regentropfen zugesellten. Das Wetter hatte gewartet, bis die gastliche Stadt ihr Programm erfüllt; dann trat der regnerische Herbst wieder in seine fatalen Rechte.

Den anderen Tag, den ersten des eigentlichen Jubiläums, vermochte der Regen nicht zu stören. Nach Audienzen, Wanderungen zu den einzelnen Kunstsammlungen, nach Festessen und Tafelreden bot das Hoftheater den Kunstgenossen seine Spende. Es war dazu der zweite Theil des „Faust“ gewählt, vielleicht das Allergeeignetste, was man gerade diesen Gästen zu bieten vermochte. Denn kein anderes dramatisches Gedicht, ja kaum eine große Oper böte Veranlassung zu einer solchen Fülle malerischer Scenenbilder, zur Entfaltung von Massenpracht, zu phantasievollen, übernatürlichen, traumhaft schönen Gebilden, als dieses auf der Erde und im Himmel, in der antiken Griechenwelt und im ritterlichen Mittelalter, am Hofe des Kaisers und in den gothischen Wölbungen der düsteren Studirstube spielende Drama. Was die Kunst Dresdens auch auf diesem Gebiete zu leisten vermag, das hat wohl alle Gäste mit Staunen und Bewunderung erfüllt.

Zur Darstellung hatten sich die ersten Kräfte des Schauspiels, der Oper, des Ballets vereinigt. Ihre Leistungen wurden aber noch übertroffen von denen der Ordner, Regisseure, Decorationsmaler und Maschinisten. Einzelne der Scenenbilder waren von geradezu vollendeter malerischer Schönheit, dabei charakteristisch und durch eine Fülle von Gestalten prächtig belebt.

Doch jedem dieser Festtage war eine Steigerung vorbehalten. Der folgende brachte die Fahrt zum Costümfeste nach Meißen. Mit glücklichem Griffe hatten die Dresdener für die zur Anschauung zu bringenden Aufzüge aus früheren Jahrhunderten die alte sächsische Fürstenstadt mit den engen gewundenen Gassen, den gothischen Kirchen, dem ehrwürdigen Rathhause, der mächtigen Albrechtsburg gewählt. Auf den bunt beflaggten und bekränzten Dampfern fuhr man zum Feste. Hunderte von Theilnehmern trugen alte Costüme. Die Einen trugen Rüstungen, Helme, Waffen von kunstvoller alter Schmiede-Arbeit; die Andern hatten sich nach den Zeichnungen der Künstler oder den Entwürfen Costümkundiger altdeutsche Anzüge fertigen lassen, während die Damen mit gewaltigen altdeutschen Hauben, breiten Hüten, von Federbüschen überwallt, mit hohen Kragen, mächtigen Krausen, Gewändern von prächtigem Sammet, schweren Wollenstoffen, Seidenbrokaten, oder auch in bescheidenen Gretchen-Costümen, alle Stände früherer Zeiten repräsentirten.

Die Fahrt nach Meißen zeigt uns die letzten Gebirgswände, die der Elbstrom auf seinem Wege zur norddeutschen Tiefebene durchfließt. Auf dem letzten Theile der Fahrt bedeckt dichter Hochwald die Felswände; Schlösser blicken von den Höhen auf den Strom herab; Rebenrücken schmücken die sonnigen Hänge, und zuletzt tritt das alte Meißen hervor, imposant in seinen altersgrauen Steinarchitekturen, hoch auf steiler Felsklippe die gothische Albrechtsburg, die in den Strom und weit hinaus in die Meißener Lande schaut. Einen geeigneteren Tummelplatz für mittelalterliches Festgewoge dürfte es kaum geben. Selbst die modernen Menschen, geladene Gäste, ganz Meißen, halb Sachsen, wohl an zehntausend Köpfe, die rings die Uferhöhen belebten, störten den Charakter des Schauspiels kaum; denn die Straßen des guten Meißen mit ihren hohen Giebelhäusern sind so eng, winden sich so malerisch die Höhe hinan, daß Ritter und Mannen, Patricier und Bürger, vornehme Damen und himmelblaue Gretchen-Gestalten diese Gassen vollständig füllten.

[767] Noch wenig geordnet, bewegte der Zug sich zum Marktplatze hinauf. Altersgraue Kirchen, Wappenschilder in Stein gehauen Denkmäler der ersten Herrscher, Thore, Zinnenmauern traten wirksam hervor zwischen den modernen Häuserreihen, die sich hinter Laubgewinden, Flaggenmasten Teppichen halb verborgen hatten. Dennoch überraschte der Marktplatz die Ankömmlinge. Die mächtige Front des gothischen Rathhauses grenzt ihn ab, eine alte gothische Kirche wendet ihre Spitzbogenfenster, ihr Portal ihr zu, und auch hier trat das Moderne zurück hinter dem bunten Festschmucke des Tages.

Dieser herrliche Raum, den Kunstgenossen völlig offen gehalten, bildete den prächtigen Rahmen zu dem ersten Acte des Costümfestes; es entfaltete sich hier ein Bild, das der sinnige formgewandte Meister Woldemar Friedrich in einem der reizenden Bilder, welche diese Schilderung schmücken, mit bezaubernder Poesie festgehalten hat (vergleiche Abbildung S. 788!). Auf dem hohen Steinsöller schmetterte eine mittelalterliche Musikbande den Ankommenden ihre Fanfaren entgegen. Auf der breiten Terrasse vor dem Portale des Stadtpalastes stand der Bürgermeister in Patriciertracht des sechszehnten Jahrhunderts, die goldene Ehrenkette um den Hals, umgeben von seinen Schöffen, wie von den festlich angethanen vornehmsten Bürgern der Stadt. Stattliche Patricierfrauen und eine Schaar rosiger junger Meißnerinnen in himmelblauen Gretchen-Kleidern, Blumenkörbe in der Hand, erwarteten zugleich mit den Männern das Nahen der Festgäste. Diese zogen in langer Reihe auf, vor das Rathhaus hin. Jetzt erst war aus den schönen Einzelgestalten ein Bild geworden. Die strengeren gesellschaftlichen Satzungen, die schärfer markirten Standesunterschiede jener früheren Jahrhunderte blieben indessen auch hier gewahrt. Ritter in glänzenden Rüstungen; mit wallender Helmzier, einige hoch zu Roß, edle Frauen, geführt von den Sprossen vornehmer Geschlechter, begleitet von schönen Jünglingen und Knaben, entfalteten eine Pracht köstlicher Stoffe: Sammet und Brokat, schwere gemusterte Seidenstoffe, Gold, Edelstein und Federn – all diese Pracht erschien weder maskenhaft noch theatralisch, sondern völlig echt und treu. Dann folgten die Patricier, darauf die Bürgersleute mit ihren Frauen in schweren Wollenstoffen, mit breiten Hauben, hohen Kragen, gefältelten Schürzen, prächtige und sittsame Mädchenknospen ihnen zur Seite.

Aus diesem farbenreichen Gewühl hoben einzelne Gestalten sich besonders hervor, Damen von hoher Schönheit und Ritter in schwarzem mit Silber und Gold eingelegtem Stahlkleide, Reisige, Condottieri mit zerschlitzten Pluderkleidern und verwetterten Gesichtern. Immer neuer Zuzug langte an aus verschiedenen Richtungen, unter ihnen Landsknechte, Jagdgesellen und zuletzt Meißner Landleute. Diese Letzteren waren Weinbauer, Winzer und Winzerinnen, die sich zum Feste schmuck gerüstet hatten. Ein mächtiges mit Rebenlaub bekränztes Stiergespann zog den Karren, auf dem, zwischen Weinranken, Früchten, Emblemen gruppirt, die Winzer des Landes mit ihren Dirnen munter zechten und also fröhliches Leben in die vornehme Welt brachten. Damit hatte die Mannigfaltigkeit, die Farben- und Formenfülle der festlichen Gruppen sich zu höchster Wirkung gesteigert.

Der Bürgermeister hieß die Bläser schweigen, trat an den Rand der Plattform und begrüßte die Gäste mit herzlichem Zuspruch, dankte für ihr Erscheinen in der ehrwürdigen Fürstenstadt und forderte zum Bleiben auf. Kaum hatte man dankend geantwortet, kaum das Klirren der Schwerter, das Schwenken der Barretts und Federhüte, das Hochrufen geendet, da sprengte ein Heroldszug von der Albrechtsburg herab, durch den alten, von Gnomen mit greisen Bärten behüteten Thorbau, um die Botschaft des kurfürstlichen Burgherrn zu verkünden, der alle Gäste hinauf in sein Schloß lud. Nun ordnete die bunte mittelalterliche Welt sich auf’s Neue; auf’s Neue wogte malerisches Gewühl die engen steilen Gassen hinan durch schwere Thorbogen, über Zugbrücken an altem Gemäuer vorüber auf den Burghof. Wieder eine Steigerung des Genusses! Die Albrechtsburg in Meißen gehört zu den würdevollsten und interessantesten Palastbauten aus gothischer Zeit. Der innere Hof derselben wird umschlossen von der mächtigen Gewölbemasse des Domes, von der Hauptfront des alten Schlosses, aus der hohe Giebel, schlanke Dacherker hervorspringen während das Ganze reizvoll belebt wird durch tiefe Spitzbogenblenden und den „Wendelstein“, die zierliche Wendeltreppe, die sich frei und fein gegliedert zwischen Spitzbogenwerk außen an die Baumasse anlehnt. Zur andern Seite grenzt ein Bau von offenen Loggien, mit Erkerthurm und Nische, eine lebhaft profilirte Front, das Geviert ab, in das die Gäste einzogen.

Gegenüber dem Eingange zum Burghof war eine Estrade errichtet, überdacht mit kostbarem Baldachin von Purpur und Gold, der sich auf schlanke Metallsäulen stützte und dem ganzen Hofstaate des improvisirten Kurfürsten ein prachtvolles Schutzdach gewährte, ganz wie unser trefflicher Künstler sie den Lesern heute in seinem prächtigen figurenreichen Bilde (vergleiche Abbildung S. 789!) so meisterhaft zur Anschauung bringt. Auf goldenen Sesseln thronte der Fürst und sein stattliches Gemahl; Damen edler Geschlechter, die Großen des Hofs, Kämmerer und Mundschenk, Kanzler und Marschall, Edelknaben und holde Jungfrauen umgaben das Herrscherpaar, vor dem jetzt die Geladenen aufzogen. Alle waren gekommen: außer Rittern, Patriciern und Bürgern aus der Ferne auch der Bürgermeister mit seinen Schöffen und Trabanten die Meißener Jungfrauen, die Spielleute, die Landsknechte, Jagdgesellen und der Stierkarren mit dem lustigen Winzervolke.

Sie schritten an dem Throne vorüber und füllten den Burghof. Da erschallte neuer Bläsergruß aus der Ferne. Ueberrascht blickte man zurück und sah einen hohen mit köstlichen Stoffen drapirten Triumphwagen nahen, auf dem die erhabene Gestalt der Kunst in weißen Gewändern thronte, den goldenen Lorbeer um das blonde Haupt geschlungen, umgeben von den Genien aller Künste, die zu ihren Füßen lagerten. Der Triumphwagen hielt in der Mitte des Hofes; die Göttin erhob sich, sprach hellklingende Verse, die zwar mit einem Hoch auf König, Kaiser und Reich etwas anachronistisch schlossen, aber die lebhafte Begeisterung der Menge erweckten; denn seitab, als einfacher Zuschauer, wohnte der König mit seiner Familie dem Festspiele in der Thurmloge bei. Wieder klirrten die Schwerter laut an einander; wieder flogen die Hüte in die Höhe; wieder durchbrauste stürmischer Hochruf den Raum. Dann begannen die Würdenträger des Kurfürsten zu sprechen: der Baumeister erzählte Ausführliches von der Errichtung der alten Burg; der Mundschenk bot den Herren einen Becher von Meißener Landwein, während die Gruppen der Festgenossen sich mehr und mehr belebten. Auch das fürstliche Paar erhob sich; gefolgt von seinem Hofstaate trat es einen Rundgang über den Burghof an. Nun mischte alles Volk, Ritter und Patricier, Bürger, Waffenknechte, Meißener Mädchen und Jagdknappen sich unter einander. In dichtem malerischem Gewühle lösten sich die geschlossenen Gruppen, stoß die Fülle herrlicher Gestalten zusammen. Auf dem Hoffest war ein mittelalterliches Volksfest geworden. Inzwischen war der Schluß des Festes allmählich gegen drei Uhr Nachmittags herangekommen. Der Kurfürst verkündete ihn in kurzer Rede und gab seinen Gästen damit allgemeine Bewegungsfreiheit, von der denn auch ausgiebig Gebrauch gemacht wurde.

Mit dem Schlusse des Festspiels hatte auch die Gunst des Himmels ein Ende. Es begann erst staubfein, dann immer heftiger zu regnen, sodaß man in den Hallen und Sälen der gastlich geöffneten Burg eine Zuflucht suchen mußte. Selten wohl hat der alte, höchst glücklich restaurirte Bau eine so starke und kunstverständige Besucherschaar in seinen Mauern empfangen. Den Nachmittag füllten die Besichtigung der Burg und Wanderungen durch Meißen aus, wo das Volksfest sich fortsetzte. Und als es Abend ward, da begannen die altersgrauen Architekturen, die kühn den Burgfelsen erklimmenden Mauern und Häuserzeilen zu leuchten und zu glühen. Hoch vom obersten Thurme der Albrechtsburg strömten farbige Lichtfluthen hinab über die gothischen Baumassen, deren Geglieder nun noch kräftiger in allen Einzelnheiten aus der nächtlichen Umgebung hervortrat. Auch die mächtigen Fensterbogen des Domes strahlten farbiges Licht aus, und als ob die Stadt nur das Signal erwartet hätte, begann auch sie ihre Freudenfeuer zu entzünden. Bengalische Flammen ließen einzelne malerische Baugruppen grell hervortreten; Lämpchen, Transparente, Pechpfannen und Feuerkörbe warfen rothes Flackerlicht dazwischen, und Fackeln schwingend, geleiteten die Mannschaften der Feuerwehr die Gäste in langem Zuge zum Bahnhofe. Schöner noch wurde es, als dieser Zug über die Brücke zum andern Ufer sich bewegte. Da stand die Bergstadt, von der Burg überragt, in feuriger Lohe; der Dom, das Schloß, die Thürme, die Häuser waren von verschiedenfarbigem Lichte überfluthet; selbst die Wogen des Stromes schienen von feurigem Glanze zu erglühen, und die Darsteller des heutigen Festes selbst wurden von Fackelschein und elektrischen Flammen in wahrhaft magischer Weise beleuchtet. Dieser Schluß des wechselvollen Tages rief

[768]

Im Amselgrunde: Zigeunerlager.

Vor dem Rathhause zu Meißen: Ankunft des Winzerwagens.
Das Jubelfest der deutschen Kunstgenossenschaft. Originalzeichnungen von Woldemar Friedrich.

[769]

Im Amselgrunde: „Zur rothen Amsel“.

Im Schloßhof der Albrechtsburg: Ankunft der „Kunst“.
Das Jubelfest der deutschen Kunstgenossenschaft. Originalzeichnungen von Woldemar Friedrich.

[770] noch einmal allgemeine Begeisterung hervor, und dann folgten die Abschiedsgrüße, die zunächst dem gastlichen Meißen, dann den Genossen der Festtage galten, von denen viele schon hier sich losrissen, um in die Heimath zurückzukehren.

Hunderte blieben jedoch in Dresden, um noch den letzten Festtag abzuwarten, der einen Ausflug in die sächsische Schweiz brachte. Das Wetter war am Morgen zwar wenig einladend, aber trotzdem mußten zwei lange Extrazüge in Anspruch genommen werden, um die Schaar der Kunstgenossen aufzunehmen. Die gleiche warmherzige Gastlichkeit, die Dresden und Meißen dem Jubiläum deutscher Künstler entgegengebracht, fanden diese auch in den Elbstädtchen der sächsischen Schweiz. Ehrenpforten von grünen Reisern, singende Dorfjugend, böhmische Spielleute, Händler, die den bunten Kram von allerlei Andenken feilboten, empfingen die Festfahrer, die in den waldigen, von starren Sandsteinnadeln eng umschlossenen Amselgrund zogen und hier im Schatten einer primitiven Waldkneipe „Zur rothen Amsel“ genannt, einen erfrischenden Imbiß einnahmen (vergleiche Abbildung Seite 769!) Hier überraschte man eine Bande lagernder Zigeuner, braunes Volk mit wirren Haaren, in Lumpen gehüllt, das seine Habe von einigen mit Schindmähren bespannten Wagen abgeladen hatte und nun in brodelndem Kessel Essen kochte, kleine Kesselflickerarbeit trieb, Hühner, Enten und alles greifbare Gut zu stehlen suchte. Auf die vornehme Pracht der früheren Tage folgte hier das wildeste, naturwüchsigste Leben. Waldemar Friedrich hat auch diese Scene in seiner feinsinnigen Weise im Bilde (vergleiche Abbildung S. 768!) verewigt, wofür ihm die Leser gewiß dankbar sein werden.

Man glaubte sich in die Berge bei Granada, in die russischen Steppen versetzt, wenn die braunen dürftig bekleideten Weiber listig und verschlagen sich dem Fremden näherten, durch Tanz, Wahrsagen oder ärgere Künste etwas zu erhaschen suchten. Mit äußerster Treue und Wahrhaftigkeit ward hier die Wirklichkeit nachgeahmt. Da plötzlich schrilles Pfeifen und kreischendes Fiedeln, das aus der Tiefe des Grundes hervordrang! Es waren Freunde, eine andere Bande des heimathslosen Volkes, die mit ihrem Troß daherzog. Nun gab es ein Begrüßen, ein Springen und Umschlingen, das gewiß sehr ernst gemeint war, aber doch sehr komisch wirkte. Diese bunten lebhaft bewegten Bilder aus dem Zigeunerleben konnten nicht verdunkelt werden durch das Erscheinen eines Berggeistes, der die Künstler durch lange Versrede in seinem Revier bewillkommnete.

Dann zog man zur Bastei hinauf, und wieder war das Wetter dem Augenblick günstig; selbst die Sonne blickte hervor, um die überraschende Aussicht auf die phantastischen Felsgebilde, auf den mächtigen Klotz der Festung Königstein, auf den Elbstrom und das weite anmuthige Land freundlich zu beleuchten. Es ward nun getafelt – zum letzten Mal in fröhlicher Gemeinschaft. Erst als es dunkelte, schifften wir uns zur Rückfahrt ein. Und wieder flammten Feuergrüße zu beiden Seiten des Stromes. Das Jubelfest der deutschen Kunstgenossen schloß auf dem Linke’schen Bade, heiter, fröhlich, wie es begonnen. Dresden und seine Kunstgemeinde haben den Gästen und Genossen aus der Ferne gezeigt, daß hier die Kunst nicht nur eine treue, sondern auch eine verständnißvolle Pflege findet. Karl Stieler hat mit den ersten Worten, die er der heiteren Stadt zurief, Recht: „Als Gäste sind wir gekommen – wir scheiden als Freunde.“




Mutter und Sohn.
Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


34.

Der inkrustirte Schrank im Königinzimmer des Schlosses Riedegg stand offen und war zum Theil seines Inhaltes an Schriften und Pergamenten entleert. Ottilie saß mit ihrem Manne vor demselben runden Tische, vor welchem sie gestanden, als sie vor langen Jahren vergebens die Erlaubniß zu ertrotzen suchte, ihren Vater ohne Zeugen wiedersehen zu dürfen. Viel war seitdem erlebt, erfahren und vergessen worden; die beiden Gestalten, um welche es sich damals gehandelt, standen aber so leibhaftig vor ihrem Geiste, als ruhten sie nicht im Schooße der Erde. Graf Seeon blätterte noch in den auf dem Tische umhergestreuten Schriften. Ottilie lehnte unbeschäftigt im hohen Sessel, ihre Augen auf eine geöffnete Brieftasche gerichtet, in der ein paar Briefe von Frauenhand und ein seidenfeines Löckchen obenauf lagen.

„Nie hat mich etwas so beunruhigt wie diese Angelegenheit,“ sagte sie und erhob die klaren Augen. „Ich gäbe viel darum, den Schlüssel zu ihrer Lösung zu finden.“

„Findet er sich,“ entgegnete der Graf, „so dürftest Du allerdings viel zu geben haben. Wie ich Dich kenne, Ottilie, ist es unnöthig, Dich vor Uebereilungen zu warnen, Vorsicht ist jedoch geboten. Dein Großvater war ein gewaltthätiger Mann, des Actes einer Unterschlagung halte ich ihn aber nicht für fähig.“

„Weil Du selbst nie solcher That fähig wärest,“ sagte Ottilie mit einer Herzlichkeit, die ihr gut stand. „Ich bin so sicher nicht über das, was geschehen. Erinnere Dich der Fragen, welche ich in Deinem Beisein an Großpapa gerichtet, und seiner Antwort darauf! Er bezeichnete die Frau, mit welcher mein Vater sein letztes Lebensjahr zugebracht, als eine ihm zuvor schon bekannte Abenteurerin zweifelhaftester Abkunft, eine Protestantin, die seinen Beistand nur abgewiesen, damit sie nicht behindert würde, das Kind in ihrem Ketzerglauben zu erziehen, eine Frau, die übrigens in relativem Wohlstande zurückgeblieben sei. Was wir selbst über Siegmund’s Mutter erfuhren, widerspricht solcher verächtlichen Schilderung. Der allgemein geachtete Capellmeister, welcher sie seit vielen Jahren kennt, bezeichnet sie als eine vornehme Persönlichkeit – und ferner; keine Abenteurerin erzieht einen Sohn wie diesen jungen Riedegg. Auch ich traue Keinem unseres Geschlechtes hinterlistiges Verbrechen zu, doch halte ich für möglich, daß Großpapa eine geheime Ehe wie diese als nicht gültig betrachtete und sich deshalb für berechtigt hielt, aus eigener Machtvollkommenheit zu vernichten, was an darauf bezüglichen Documenten in seine Gewalt gerieth. Wäre das aber geschehen, Hans, welche schreiende Ungerechtlgkeit hätten die Wehrlosen so viele Jahre hindurch erlitten! Ich finde keine Ruhe, bis diese Sache aufgeklärt ist, und danke Dir, daß Du mir gestattest, in meinem Sinne zu handeln.“

Während die Gatten beschäftigt waren, die Schriften an ihren Platz zurückzulegen, meldete ein Diener die Anfahrt des Herrn Anwalt Brenner, der seine Aufwartung zu machen wünschte. Graf Seeon befahl, den Gast herein zu führen.

Wenige Minuten später stand der juristische Vertreter Genoveva’s dem gräflich Seeon’schen Ehepaare gegenüber – ein Mann von discreter Haltung, aber geistfrischen Zügen.

„Gestatten Sie,“ sagte er nach einer kurzen gegenseitigen Vorstellung, „daß ich vor Allem einen schwerwiegenden Irrthum berichtige, der nach allem Vorhergegangenen wohl Entschuldigung verdient. Meine Clientin hatte jeden Grund anzunehmen, daß die Zeugnisse der Trauung und Taufe, von denen sie bestimmt wußte, daß Graf Meinhard sie bei seiner Abreise von der Moosburg mit sich genommen, zur Zeit seines baldigen Todes hier auf Schloß Riedegg zurückgeblieben sein müßten. Dem war nicht so. Ich befinde mich heute in der glücklichen Lage, diese Documente vorlegen und den Herrschaften zur eigenen Prüfung übergeben zu können.“

Er entnahm seinem Portefeuille zwei gestempelte Bogen und reichte dieselben dem Grafen.

„Nur eine kurze Darlegung,“ fuhr er fort, „bitte ich mir zu erlauben. Unter den nachgelassenen Schriften des Grafen Meinhard fand sich die Adresse des Bürgermeisters von B., eines Ihnen kaum bekannten Landstädtchens, welche mir nicht aufgefallen sein würde, wären derselben nicht einige Chiffern beigefügt gewesen. Da nichts unberücksichtigt bleiben darf, wo man mit Unaufgeklärtem zu thun hat, schrieb ich diesem Herrn, um zu erfahren, in welcher Beziehung er zu Graf Meinhard gestanden und wann er diesen zuletzt gesprochen. Die Antwort, daß Beide Universitätsgenossen gewesen und der Bürgermeister mit dem Grafen im Juni 1844, also kurz vor dessen Ende, zusammengetroffen, erschien wichtig genug, mich zu veranlassen, auf der Reise hierher dort vorzusprechen. Die Fährte erwies sich als werthvoll. Der Graf hat, ehe er damals nach Riedegg kam, der Obhut dieses alten Studienfreundes ein versiegeltes Päckchen anvertraut,

[771] ohne über dessen Inhalt anderes zu äußern, als daß es Wichtiges enthalte und nur ihm persönlich oder auf Vorzeigen der darauf vermerkten Chiffern ausgehändigt werden dürfe. Der Bürgermeister, ein pedantisch gewissenhafter Mann, erfuhr zwar durch die Zeitungen den bald darauf eingetretenen Todesfall, behielt aber in seiner vorsichtigen, accuraten Weise das Depot unter Verschluß. Angesichts der in meiner Hand bestrichen Chiffern machte er indessen keine Schwierigkeit, es mir zuzustellen Kraft der mir von Gräfin Genoveva Riedegg ausgestellten Vollmacht eröffnete ich das Päckchen. Der Inhalt liegt in Ihren Händen.“

Noch unter dem Eindrucke der gewichtigen Mittheilung nahm Ottilie die vor ihr liegende Brieftasche ihres Vaters, blätterte darin und bezeichnete den beiden Herren eine dort eingeschriebene Zeile. Die eben genannte Adresse und die Chiffern waren hier gleichfalls vermerkt.

„Mein Mann kennt meine Ansichten,“ sagte sie, „ich überlasse ihm, sich über die Lage zu äußern, in der wir und meines Vaters Hinterlassene uns befinden.“

„Angesichts dieser Zeugnisse und persönlich gewonnener Anschauungen sind wir bereit, die Rechte anzuerkennen, welche Sie, Herr Anwalt, vertreten,“ sagte nunmehr Graf Seeon. „Theilen Sie dies der Wittwe meines Schwiegervaters gütigst mit! Wir werden uns mit deren uns bekanntem Sohne persönlich verständigen Mit Genugtuung hebe ich hervor, daß der Großvater meiner Frau diesem Dilemma vorwurfsfrei gegenüber stand. Wir haben den Beweis in Händen, daß ihm die bewußten Papiere niemals vorgelegt wurden. Das herbe Loos, welches Graf Meinhard’s zweite Frau und sein Sohn erlitten, fällt somit auf ein unglückseliges Geschick zurück. Sie, Herr Anwalt, geben uns hoffentlich die Ehre, auf Riedegg Nachtquartier zu nehmen.“

Der Anwalt entschuldigte sein Ablehnen der gebotenen Gastfreundschaft mit der Notwendigkeit baldiger Rückkehr in seine Kanzlei. Der Wagen, welcher ihn von Brixen hierher gebracht, stand noch angespannt – er benutzte ihn sofort zur Rückreise. –

Das Ehepaar Seeon blieb unter lebhaften Gesprächen noch bis tief in die Nacht hinein wach. Der Graf betonte die Nothwendigkeit, sich Genoveva gegenüber, deren früheres Leben man nicht kannte, zunächst reservirt zu verhalten, stimmte aber dem Wunsche seiner Frau, Siegmund mit Herzlichkeit entgegenzukommen, gern zu. Heute erwähnte Ottilie auch zum ersten Male der Neigung zwischen Margarita und Siegmund, derer Wachsen sie beobachtet und zu dämpfen unternommen; der Eindruck, den diese seltsame Wendung der Dinge auf ihr Kind machen würde, beschäftigte die Eltern in nicht geringem Maße.

Margarita weilte noch unter dem Schutze der Tante in S. Ihren Briefen fehlte die ihr eigene Frische; sie sprachen eine fast schwermütige Sehnsucht nach den Eltern aus. Nun wollten diese auch mit der Rückkehr nicht zögern; denn momentan hielt sie nichts mehr aus Riedegg fest. So wurde also der Aufbruch für den folgenden Morgen bestimmt und ausgeführt.

In S. angekommen, erfuhr Ottilie, daß Siegmund abwesend sei und daß er um seinen Abschied nachgesucht habe, und wenige Tage darauf traf die Antwort Genovevas auf den ritterlichen Brief ein, den Graf Seeon noch von Riedegg aus an sie geschrieben und den seine Frau mit unterzeichnet hatte. Er enthielt nur wenige an Ottilie gerichtete Zeilen:

„Frau Gräfin!

Die würdige Weise, mit welcher Sie und Ihr Gemahl sich bereit erklären, mir und meinem Sohne gerecht zu werden, verpflichtet mich Ihnen zu Dank. Ich war es meinem verstorbenen Gatten schuldig, an die Stelle zu treten, welche er uns eingeräumt, aber was mich betrifft, so werde ich mein Recht nicht in Anspruch nehmen; denn ich bin krank und auf Zurückgezogenheit angewiesen. Mein Sohn hat mir die Erklärung zugehen lassen, daß er niemals darein willigen würde, das Erbe seines Vaters anzutreten, und ein zwischen uns bestehender Conflict verbietet mir jede Meinungsäußerung gegen ihn. Ihnen, seiner Halbschwester, sei es überlassen, ob Sie ihn in diesem Paukte umstimmen wollen und können.

In Verehrung
Genoveva Riedegg.“

Diese Zeilen, welche Graf Seeon’s lebhaftes Interesse weckten, erschütterten Ottilie sehr. Sie schrieb noch in derselben Stunde an Siegmund, dessen Verweilen auf der Moosburg sie inzwischen durch Friesack’s erfahren, und sie schrieb bewegter: als sie es sonst zu thun pflegte:

„Mein junger Freund! So will ich Sie heute nennen, Siegmund; denn so kennen wir uns. Noch ist uns Beiden wohl die Vorstellung zu neu, uns als Kinder des gleichen Vaters zu denken. Im Namen dieses Vaters, den von uns Beiden nur ich kannte und liebte, reiche ich Ihnen über die Hand und sage: Sei mir willkommen! Ich ehre das Zartgefühl, welches Sie in diesem Moment fern hält. Menschliches Recht steht aber noch über seinem Empfinden – wir gehören fortan zusammen, und ich wünsche, Ihnen dies Auge in Auge zu sagen. Wir erwarten Sie hier, und bald, mein Mann und ich.

Ottilie.“

Erst nachdem dieser Brief abgesendet, theilte Ottilie ihrer Tochter Alles mit, was sich auf die merkwürdigen Erlebnisse dieser letzten Wochen bezog. Die Besorgniß, das Kind, welches so blaß und still, so ganz verändert umherging, allzu sehr zu erregen, hatte die Eltern vorerst über Begebenheiten schweigen lassen, die bei der gegen Siegmund aufgetauchten Verstimmung eine unerfreuliche Wendung zu nehmen drohten. Nun, wo der junge Verwandte mit jedem nächsten Tage erwartet werden konnte und in reinem Lichte dastand, mußte die Tochter des Hauses erfahren, was dieses Haus so nahe anging, und zur Verwunderung der Mutter nahm Margarita die Kunde durchaus nicht als etwas Außerordentliches auf.

Man wartete mehrere Tage lang auf das Eintreffen Siegmund’s, aber vergebens; denn statt seiner kam ein Brief. Als der Bote ihn brachte, saß Margarita mit ihren Eltern am Frühstückstisch. „Von Siegmund!“ sagte Ottilie und übersah, während sie das Couvert öffnete, daß ihres Kindes Wangen so weiß wurden, wie ihr Morgenkleid.

Die Stirn der Gräfin bewölkte sich, während sie las. Als sie zu Ende war, reichte sie ihrem Manne schweigend den Brief hinüber.

„Bitte!“ sagte Margarita ganz leise.

Graf Seeon warf einen Blick auf sie; dann begann er, ohne das Blatt vorher durchflogen zu haben, laut vorzulesen:

„Haben Sie tiefen Dank für jedes Wort Ihres Briefes, verehrteste Frau! Ihnen nahe zu stehen, die ich liebe und verehre, ist mir ein theures Recht. Aber zu Ihnen kommen kann ich nicht. Erlassen Sie es mir mit ausdrücklichen Worten zu sagen, warum ich es nicht kann! Es besteht ein Verhängniß, dem ich unterworfen bleibe, schuldlos, doch mit betroffen. Der stolze Name unseres Vaters hebt den, der ihn trägt, an eine Stelle, wo er von Vielen gesehen wird, ich aber muß im Schatten stehen Es gab eine Zeit, wo es mir nicht genügend erschien, als Glied eines großen Ganzen zu wirken. Heut erscheint mir gerade Das als mein einziger Lebenszweck, als eine Aufgabe, in deren Lösung ein schwer Betroffener sich ausheilen kann: Meine Absicht ist, mich zur Musik zurückzuwenden und ihr treu zu dienen mit Allem, was ich bin und habe.

Kann es Ihr Rechtsgefühl beruhigen, mir eine bescheidene Rente zu bestimmen, die mich vor Sorgen und Zufällen schützt, so finden Sie mich willig – im Uebrigen gönnen Sie mir, was ich bedarf, wenn ich weiter leben soll: Verborgenheit! Segen über Ihr Haus!

Siegmund Riedegg.“

„Was ist da vorgefallen?“ fragte der Graf ernst, als er zum Schlosse gekommen. „Obgleich noch sehr jung, ist Riedegg doch kein Phantast. Ihn muß Schweres betroffen haben, ich bin aber kein Freund von Rätseln, noch viel weniger von unnatürlicher Resignation“

„Der Brief seiner Mutter sprach von einem Conflict zwischen ihr und ihm,“ erwiderte Ottilie nachdenklich. „Diese neue Wendung stellt uns vor ein Rätsel.“

Margarita war leise aufgestanden, knieete vor ihrer Mutter nieder und stützte beide Arme auf deren Schooß.

„Liebe Mama,“ bat sie innig, „wir müssen zu ihm. Ihr seht ja doch, wie unglücklich er ist.“ Sie stockte einen Augenblick und sties dann errötend und in abgebrochenen Sätzen hervor, was sie innerlich bewegte: „Ich muß Euch Alles sagen: Er hat – [772] mich lieb – o, ich habe das immer gewußt. Als er Abschied nahm, sagte er es mir selbst, nicht mit deutlichen Worten, aber ich verstand seine Meinung, und auch, daß Du, Mama – daß Du ihm verboten hast – sich mir zu nähern. Verzeih’ – daß ich – ihm sagte – ich, ich wäre treu!“

Sie barg ihren Kopf. Niemand sprach ein Wort, während Ottiliens Hand aufs den braunen Flechten des Kindes ruhte.

„Vielleicht wäre so das Beste gefunden,“ sagte Graf Seeon aus tiefem Nachdenken heraus. „Ueberlegen wir!“

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüthen.

Der protestantische Reformverein. Am 17. April 1879 war es, als in Berlin in einer vertraulichen Versammlung von siebenundzwanzig freisinnigen Männern die Gründung eines „Protestantischen Reformvereins“ beschlossen wurde. Es war die höchste Zeit; denn die erste ordentliche Generalsynode der evangelischen Landeskirche, auf welcher die orthodoxe Partei die entscheidende Majorität besaß, sollte demnächst eröffnet werden, und wenn sich auch keine Aussicht eröffnete, die Angriffe einer unduldsamen Hierarchie auf die Freiheit der wissenschaftlichen Theologie abzuwehren und Eingriffe in die Gewissensfreiheit durch Kirchenzuchtgesetze zu verhindern, so war doch wieder ein Banner aufgepflanzt, um welches sich alle Diejenigen, welche dem verknöcherten Kirchenglauben fremd gegenüberstehen, zu einem energischeren Widerstande gegen das Hereinbrechen der kirchlichen Reaction schaaren konnten, als es bisher möglich war.

Der „Protestantische Reformverein“, welcher gewissermaßen den secessionistischen und fortschrittlichen Flügel innerhalb der protestantischen Kirche repräsentirt, erkor zunächst den Prediger Dr. Kalthoff, den unerschrockenen märkischen Kämpfer für Religionsfreiheit (unsern Lesern aus den geistreichen Artikeln „Der Culturkampf in der protestantischen Kirche“, vergl. Nr. 17, 20,24 d. J., bekannt) zu seinem Diaconus, richtete in dem Concertsaale der Reichshalle einen regelmäßigen sonntäglichen Gottesdienst ein und veranstaltete zahlreiche Wanderversammlungen in den verschiedenen Stadttheilen Berlins. In allen diesen Versammlungen und in zahlreichen Broschüren vertritt der Reformverein die Grundsätze der Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Rechte der Gemeinde gegenüber den Kirchenbehörden und Synoden. Gleichzeitig bekämpft er den religiösen und kirchlichen Indifferentisums, indem er den Sinn für die religiösen und sittlichen Ideale zu wecken sucht.

Mit den freisinnigen Elementen der übrigen Religionsgesellschaften sucht der Reformverein freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten und ist bemüht, die gegenseitige Achtung und Werthschätzung unter den Confessionen zu fördern, indem er von der Ueberzeugung ausgeht, daß die historischen Eigentümlichkeiten, durch welche die Confessionen sich unterscheiden, ein gemeinsames Arbeiten an den humanen Aufgaben der Religion nicht hindern, und daß das Wahre der Religion in der Gesinnung, nicht aber in den dogmatischen Vorstellungen und kirchlichen Ceremonien zu suchen sei; daneben hält der Verein daran fest, daß eine gesunde Weiterentwickelung des kirchlichen Lebens nur möglich sei auf der Grundlage des historisch Gegebenen. Er tritt deshalb ebensowenig aus der Landeskirche, wie er den Zusammenhang mit der religiösen Ueberlieferung abbricht, für die er nur die volle Freiheit der Kritik fordert. Die Grundsätze des Vereins sind in einem Programm zusammengefaßt, welches seiner Zeit auch die „Gartenlaube“ (vergl. „Blätter und Blüthen“ von Nr. 11 d. J.) zum Abdruck gebracht hat.

Das Berliner Consistorium nahm selbstverständlich von Anfang an eine feindliche Stellung gegenüber dem Vereine ein. Es versuchte wiederholt, wenn auch vergeblich, die Mitglieder des Reformvereins von den kirchlichen Gemeindeämtern auszuschließen und drohte sogar einem Geistlichen, der dem Vereine beigetreten war, mit Amtsentsetzung, wie auch eine Petition, welche der Reformverein an die Generalsynode um Abänderung des Ordinationseides der Geistlichen richtete, abschlägig beschieden wurde.

Trotz der Ungunst der Zeit findet der Reformverein in liberalen Kreisen immer mehr Sympathie, und wenn auch seine Mitgliederzahl nicht weit über zweihundert hinaus geht, so hat er doch außerhalb des Kreises seiner unmittelbaren Angehörigen sich viele thätige Freunde erworben. Auch besteht in Berlin ein Frauenverein, der in Frauenkreisen die Grundsätze des Reformvereins zu vertreten und auszubreiten sucht, und außerdem in Züllichau und Umgegend ein etwa hundert Mitglieder zählender Zweigverein.

Der Vorsitzende des Hauptvereins ist gegenwärtig Dr. med. Greve in Tempelhof bei Berlin. Mit Beginn dieses Jahres hat der Reformverein ein eigenes Organ erscheinen lassen, das „Correspondenzblatt für kirchliche Reform“, aber zu einer ausgedehnteren Thätigkeit bedürfte er noch bedeutender Geldmittel, die ihn in den Stand setzten, auch in den Provinzen Gesinnungsgenossen zu sammeln und die Theilnahme für die Reformbewegung zu wecken. Wir zweifeln indeß nicht, daß diese Bewegung trotz ihrer unscheinbaren Anfänge den Sieg erringen wird; denn ihr Ziel ist das gemeinsame Ziel jedes wahren kirchlichen Fortschritts: die Beseitigung der Hierarchie, des unfehlbaren Autoritätsglaubens in der evangelischen Landeskirche und die Herbeiführung einer auf echter Religiosität basirenden, die individuelle Gewissensfreiheit wahrenden, freien Gemeindekirche, also die Rückkehr zu der allein wahren Grundlage des Protestantismus.

Zuversichtlich sehen wir dem Siege der Idee entgegen, welcher der „Protestantische Reformverein“ dient, dazu bedarf es aber in weitesten Kreisen der Beherzigung jener Worte, mit welchen Dr. Kalthoff unsere Artikel über die protestantische Kirche im Culturkampf schließt, der Worte:

„Der Protestantismus ist verloren, sobald er im Geringsten zurückweicht und mit der Unwahrheit, der Unfreiheit gemeinsame Sache macht. Er wird siegen, sobald er sich rückhaltlos hingiebt an die Sache der Wahrheit, der Freiheit, der Menschlichkeit. Er wird siegen, nicht durch Polizeischutz und hohe Gönnerschaft, sondern durch das schlichte unverdorbene Gewissen des deutschen Volkes.“




Eine deutsche Geschichte der vierziger, fünfziger und sechsziger Jahre. Wer das deutsche politische Leben der Gegenwart mit seinen mannigfachen Kämpfen und Bestrebungen richtig verstehen will, der muß sich vor Allem mit der Vorgeschichte des neuen deutschen Reiches bekannt machen, muß sich über die Schwierigkeiten unterrichten, mit denen die Wiedererweckung des nationalen Gedankens zu kämpfen hatte, und sich die Hemmnisse vergegenwärtigen, die der Wiedergeburt des Reiches sich allerwärts entgegenstellten. Zu einer solchen Information fehlte es aber bisher an einem klaren und unparteiischen Buche, und so ist es denn sehr erfreulich, daß der geistvolle Historiker Karl Biedermann, der Verfasser des ausgezeichneten Werkes „Deutschland im achtzehnten Jahrhundert“, es unternommen hat, uns ein Bild jener denkwürdigen Zeit zu entwerfen. Er ist dazu berufen, wie wohl kaum noch einer unserer jetzt lebenden Historiker, und mit Recht darf er daher auch in dem Vorworte sagen:

„Ich habe es als einen glücklichen Umstand für diese meine Arbeit zu betrachten, daß ich den wichtigsten Begebenheiten und einem sehr großen Theile der hervorragendsten Persönlichkeiten aus der Epoche, welche ich schildere, unmittelbar nahe gestanden, daß ich in mannigfaltiger thätiger Anteilnahme am öffentlichen Leben Gelegenheit gehabt habe, vieles selbst zu erfahren und zu beobachte, anderes wenigstens aus sicherer Hand übermittelt zu erhalten.“ – Das empfehlenswerte Werk wird unter dem Titel „Dreißig Jahre deutscher Geschichte. Von der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s des Vierten bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Kaiserthums. Mit einem Rückblick auf die Zeit von 1815 bis 1840“ im Verlage von S. Schottländer in Breslau erscheinen. Zur Zeit liegt erst die erste Hälfte der Lieferung vor, aber wir halten es für unsere Pflicht, schon jetzt die Blicke des deutschen Lesepublicums auf das verdienstvolle Biedermann’sche Unternehmen hiermit hinzulenken.




Die Zillerthaler im Riesengebirge. Unser Artikel „Riesengebirgsbilder“ (vergl. Nr. 41 unseres Blattes) spricht sich über die wirthschaftlichen Verhältnisse der von König Friedrich Wilhelm dem Dritten begründeten Tiroler Colonie Zillerthal in abfälliger Weise aus. Wie wir nun von sachverständiger Seite erfahren, beruht jenes absprechende Urtheil unseres Berichterstatters zu unserem Bedauern auf ungenauen Informationen und ist daher einer Berichtigung bedürftig. Wir erachten uns daher zu der Erklärung verpflichtet, daß sich die Tiroler im Zillerthal in wirtschaftlicher, wie in jeder anderen Beziehung der königlichen Gastfreundschaft durchaus würdig gezeigt haben, und wünschen von Herzen, daß ihre Colonie nach wie vor blühe und gedeihe.

D. Red.




Kleiner Briefkasten.

Ein Deutscher in Wien. Sie sind ein sonderbarer Schwärmer. Da gießen Sie ein ganzes Füllhorn von Anklagen und Beschuldigungen der empfindlichsten Art über uns aus und füllen damit nicht weniger als drei eingeschriebene Briefseiten – aber mit keinem einzigen Worte führen Sie für diese mit vollen Pausbacken uns in’s Gesicht posaunten Vorwürfe einen Beweis, einen Beleg, ein Beispiel an. Das kennzeichnet neben der zaghaften Anonymität, in welche Sie sich zu hüllen belieben, zur Genüge die hinfällige Gedankenlosigkeit Ihrer wortreichen Anklage. Wollen Sie indessen Ihre heißspornigen Behauptungen ernsthaft vertreten – gut, so erscheinen Sie auf’s Neue auf dem Plane, aber mit dem offenen Visire eines ehrlichen Mannes und – mit stichhaltigen Gründen!

Eh. D. in Gr. B. Genauere Mitteilungen über Karlsbad, über Saisonleben, Landesart und Landschaft dieses Weltbades, finden Sie in dem frisch geschriebenen Essay unseres Mitarbeiters Fr. Wernick, welcher die erste Lieferung des bei Edwin Schloemp in Leipzig im Erscheinen begriffenen illustrirten Werkes „Bäder und Sommerfrischen, Lebens- und Landschaftsbilder von den beliebtesten Curorten Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz“ bildet.

Adresse des Herrn O. v. C. Wiederholen Sie gütigst die Anfrage unter Angabe Ihres vollen Namens!

M. G. in Tilsit. Die „Gartenlaube“ kennt keinen Autoritätsglauben und weiß das Gute zu schätzen, von wo es ihr auch kommen möge. Senden Sie also getrost!



Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig erscheint demnächst:

Aus dem Leben einer alten Freundin. Von W. Heimburg,Verfasserin von „Lumpenmüllers Lieschen“ und „Kloster Wendhusen“. Dritte unveränderte Auflage. 28 Bogen 8. Elegant broschirt. Preis 5 Mark.

Wir enthalten uns jeder besonderen Empfehlung der vorstehenden, bereits in zwei- starken Auflagen verbreiteten vortrefflichen Erzählung, deren Verfasserin durch den poetischen Reiz und den lebhaft anregenden Inhalt ihrer wertvollen Producte sich längst den Ruf einer Lieblingsschriftstellerin der deutschen Familie erworben hat.


  1. Bei dieser Operation springt mancher Diamant, weil, wie in einem Artikel der „Gartenlaube“ (Nr. 51, 1880) richtig bemerkt wurde, die in dem Stein zuweilen vorkommenden Luftbläschen sich stark ausdehnen. Aber der dort mitgetheilte Fall (ein in einem Ring eingesetzter Diamant sei gesprungen, als der Eigenthümer die Hand an die Stirn gelegt habe) verdient bezweifelt zu werden; denn, wenn ein Diamant verschiedene Male die Wärme der Glasflamme und des Bleikegels ausgehalten hat – und jedem Diamanten ist dieses Loos bescheert – dann ist es unbegreiflich, wie die geringere Wärme der Hand und der Stirn ihn zum Zerspringen bringen könnte.

Anmerkungen (Wikisource)