Die Gartenlaube (1882)/Heft 1
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No. 1. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Lassen Sie nur, Liese! Ich werde ohne Mühe schon allein fertig.“
So ganz ohne Mühe geschah es aber doch nicht; denn die schlanke Dame, welche lieber sich selbst helfen, als den Beistand der Dienerin annehmen wollte, mußte sich auf die äußersten Fußspitzen erheben und sich weit über den runden Eßtisch vorneigen, um die Majolikaschale in dessen Mitte zu setzen. Die Blumen und Gräser, von den schönen Händen geordnet, schmückten nun die festlich gedeckte Tafel; die zierliche Gestalt richtete sich wieder auf, und ein rascher Griff stellte ein zur Seite geschobenes Glas in die symmetrische Reihe zurück.
„Sie haben doch Susannen gesagt,“ fuhr die Herrin, während sie die durch die frühere Berührung zerknitterte Damastserviette von Neuem zum kunstvollen Aufbau formte, in ihren Unterweisungen fort, „daß der Braten nicht zu sehr ausschmoren darf? Mein Bruder liebt ihn, wenn er noch im Safte ist, und er soll zu Hause die Table d’hôtes nicht vermissen. Wir müssen ja auch vor der jungen Frau Ehre einlegen.“
„Ist geschehen, wie das gnädige Fräulein befohlen, aber —“
„Und dann soll Fritz immer bei meiner Schwägerin mit dem Serviren beginnen, nicht bei mir.“
Ein zufriedener Blick überflog noch einmal den Tisch, und so blieben die Zeichen und Mienen des Mädchens unbeachtet. Jetzt faßte sie sich ein Herz und sagte:
„Ja, gnädiges Fräulein, ich habe es ihm schon eingeschärft, aber der Herr Statthaltereirath stehen schon eine Weile hier.“ Liese deutete nach der Thür des kleinen Speisezimmers.
Das Fräulein, das derselben den Rücken zugekehrt hatte, wendete sich überrascht um, hatte aber nur ein flüchtiges Kopfnicken für den auf der Schwelle Stehenden, der jeder Bewegung der zarten Figur, die sich eben in ihrer ganzen Geschmeidigkeit und Grazie gezeigt, mit Blicken voll warmer Bewunderung gefolgt war. Unter den starken Brauen funkelte es wie jugendliches Feuer in den blauen Augen, die im Widerspruche zu dem Eindruck der ganzen Erscheinung standen; denn der Herr Statthaltereirath war bereits ein Mann in jenen Jahren, die man die „besten“ zu nennen liebt. Das kurzgehaltene, dunkelbraune Haar stand zwar noch dicht, zeigte aber in scharfer Beleuchtung schon den verrätherischen Stahlglanz der höheren Mannesjahre, und zwei Silbersträhnchen theilten glitzernd zu beiden Seiten des Kinns den schönen vollen Bart, in den sich der markig und ansprechend geformte untere Theil des Gesichtes verlor. Auch die gesetzte Haltung, die gelassenen Bewegungen der breitbrüstigen Gestalt standen in scheinbarem Gegensatze zu der Lebhaftigkeit des Auges, das zu den Worten, die um Verzeihung baten und das „unangemeldete“ Eintreten entschuldigten, einen fast schalkhaften Commentar bildete.
„Braucht es das? Guten Abend, lieber Meinhard!“ lautete die Entgegnung, aber unmittelbar nach dem familiären Gruß wendete sich die junge Dame wieder an das Mädchen, sodaß der flüchtige Uebergang eine gewisse Absichtlichkeit merken ließ. Die Aufträge waren jedoch bald erschöpft, und ein letztes: „Und was ich noch sagen wollte,“ machte dann den Schluß. „Sorgen Sie für ein kleines Feuer im Schlafzimmer, Liese! Wenn man von der Reise kommt, ist man immer ein wenig frostig.“
„Sie wissen das und lassen mir doch einen so kühlen Empfang zu Theil werden? Nicht einmal die Hand haben Sie mir gegeben,“ beklagte sich der Eintretende, rief damit bei dem Fräulein aber statt des Mitleids nur ein spottendes Lachen hervor.
„O, o! Sie wollen doch nicht zu den hohen Reisenden gezählt werden? Keine Einschleichereien!“ Dabei hatte sich die kleine Hand aber doch in die dargebotene gefunden, und ein ganz kurzes, aber herzliches Schütteln stellte das Einverständniß wieder her. Es klang nur noch ein vollkommen unschädliches Nachgrollen des schnell vorübergezogenen kleinen Ungewitters in der Erklärung: „Eigentlich sollte ich böse sein — wissen Sie, Meinhard? Mich so in der Noth zu lassen, ohne zu helfen!“
„Aber Sie wollen ja gar nicht, daß man Ihnen hilft. Ich habe es eben selbst gesehen und gehört. Nicht wahr, Liese, Fräulein Hilda will alles selber machen? Wir werden uns hüten, uns unberufen einzumischen.“
„Ich habe Sie aber berufen,“ sagte Fräulein Hilda vorwurfsvoll nickend und mit ein ganz klein wenig Verdruß um den selbst im Schmollen noch freundlichen Mund. „Allein Fritz wurde gar nicht vorgelassen. Seine Unnahbarkeit, der Herr Statthaltereirath, hatten Amtsstunde. Und diese währte, wie es scheint, nicht kürzer als vom Mittag bis zum Abend. Irgend eine Audienz der Herren Stadträthe oder sonst eine Wichtigkeit, über welche die alten Freunde getrost in Vergessenheit gerathen können!“
„In Vergessenheit gerathen?“ wiederholte er, „— das ist unmöglich, Sie wissen es wohl, Hilda.“ Der volle, tiefe Brustton der Ehrlichkeit, durch den diese Versicherung ungewöhnliche Bedeutsamkeit erhielt, ging jedoch sofort unmerklich wieder in Scherz über. „Uebrigens finde ich auch ohne mich alles gethan. Der ganze Garten ist für Guirlanden geplündert; ich sehe sogar Blumen auf den Tischen, Silberzeug auf dem Büffet, Lichter in den Fenstern
[2] — also auch schon Vorbereitungen zur Illumination getroffen! Was wäre da mir noch übrig geblieben? Sollte ich unter jedem Arme einen Böller mitbringen, die Arkeley einüben oder den Chorgesang der Hirten und Feldbauern einstudiren?“
Die großen, grauen Augen vermochten da allerdings nichts weiter zu tadeln, und wenn auch die Hand noch ungnädig winkte, mußte das Köpfchen sich doch rasch zur Seite wenden, um das unbezwingliche Lächeln zu verbergen. Auch fand sich keine andere Antwort, als ein scheinbar unwilliges: „Ach, gehen Sie!“ Es konnte aber eigentlich ganz gut für ein „Kommen Sie!“ gelten; denn während sich das Fräulein der Thür zu bewegte, erfolgte an den sich Anschließenden bereits die Einladung in aller Form: „Wir wollen zu mir hinübergehen.“
Meinhard entschuldigte sich in ernsterer Weise, und während er eine Erklärung der Amtsangelegenheit gab, welche ihn Nachmittags über Land geführt, schritten Beide durch den Corridor, der von dem Haupttracte des Schlosses nach dem Seitenflügel führte, in welchem die Schwester des Gutsherrn ihre Wohnung hatte.
Es war ein ungemein traulicher Raum, den sie betraten; das milde Dämmerlicht, in dem die Zeichnung der dunkeln Tapeten und der Vorhänge, die Farben der Bilder und Möbelstoffe, die Formen des alten großen Ofens, des kleinen Sophas und der Fauteuils, sowie des breit aus der Ecke hervorstrebenden Claviers schon allmählich an Bestimmtheit verloren, erhöhte das Gefühl der Behaglichkeit, von der man hier umfangen wurde, noch mehr. Der rothe Schein am Abendhimmel hatte nicht mehr die Kraft, die leisen Schleier zu durchbrechen.
Hilda ging auf einen der Stühle in der Nähe der Fenster zu, und ihr Begleiter eilte dienstfertig voraus, die zwischen denselben befindliche Glasthür, von der einige Stufen in den Garten hinabführten, zu schließen.
„Nicht doch!“ wurde er gebeten, „lassen Sie offen!“
„Wir sind im September — es wird kühl.“
Der sorgliche Einwand fand aber seine Widerlegung.
„Es weht doch noch ein so frischer, wohlthuender Duft herein. Ich will das Jahr genießen, so lange als möglich, wie ich der Sonne nachsehen will, so lange noch ein Schimmer von ihr am Himmel ist. Gerade das ist es, was mir die Zimmer hier so lieb macht; sie gehen nach Westen, und das Schönste an Waltershofen ist, daß da drüben keine Berge liegen und die Sonne so spät untergeht. Ich möchte sie immer noch länger halten.“
„Das sind recht wehmüthige Gedanken.“
„Pfui! Wer wird denn sentimental werden, Freund! Nun kennen Sie mich schon so lange Jahre. Sie werden doch nicht glauben, daß ich mich in allegorischen Bildern ergehen will und um das Altwerden mich kümmere?“
„Das haben Sie wahrlich auch nicht nöthig,“ sagte er eifrig, und die Betheuerung, welche mit einem skeptischen Achselzucken aufgenommen wurde, kam dem Freunde vom Herzen.
Der matte Schein des sinkenden Gestirns, auf dessen purpurnen Mantelsaum sich ihre ernsten, weitgeöffneten Augen gedankenvoll richteten, zauberte hellen Goldglanz auf das braune Haar, das in üppigen Wellen die Stirn umfloß, und rief auf dem lieblichen Gesichtchen, wenn es auch nicht mehr die Fülle und den Sammethauch der ersten Jugend hatte, mit dem Spiele der zarten Farbe wunderbare Reize wach, die nichts mit der Melancholie des Abendroths gemein hatten.
Ein kurzes Schweigen trat ein, während so jedes von ihnen in seine eigenen Betrachtungen versunken blieb.
„Woher doch manchmal solch einfältige Stimmungen kommen!“ sagte Hilda, „aber diesmal sind Sie schuld daran. Warum unterlegen Sie meinen Worten eine ganz andere Deutung? Ist das alles, was Sie mir an Unterstützung bringen können, nachdem Sie mich den halben Tag in Unruhe allein gelassen?“
„Sie wissen, daß Sie in Allem auf mich zählen können, aber ich kann mir nicht denken, daß Sie meiner wirklich bedurften. Unruhe ist wohl ein zu gewichtiges Wort.“
„Keineswegs!“ fiel sie lebhaft ein und nahm von einem kleinen Tischchen, auf dem mehrere Photographien zerstreut lagen, ein Blatt Papier. „Da! Entziffern Sie selbst einmal das Telegramm, das wir heute Vormittag von Franz erhielten!“
Er las: „,Wir kommen heute Abend an. Es bleibt bei den Bestimmungen des Briefes. Zimmer bereit halten,‘“ und fast ehe er beendigt hatte, fiel sie schon wieder ein:
„Daraus soll man nun klug werden. Welches sind diese Bestimmungen? Was ist’s mit den Zimmern? Es versteht sich ja von selbst, daß wir die bereit halten, warum gerade das ausdrücklich betonen und uns telegraphisch auf die Seele binden? Stände dafür lieber etwas von den nicht selbstverständlichen ,Bestimmungen‘ da, die mein Herr Bruder zu treffen geruht! Wie sollen wir die errathen? Gott mag wissen, wo der Brief steckt, in welchem sie uns kund und zu wissen gegeben werden. Ich habe keine Zeile gesehen.“
„Warten Sie!“ überlegte Meinhard; „wenn der Brief gestern Vormittag geschrieben wurde, dann ist er wohl statt mit dem Nachtschnellzuge mit dem Postzuge gegangen, den jener überholt. Er ist also erst nach Amtschluß eingetroffen und wird erst morgen früh ausgegeben werden — ein Fall, der, so absurd er auf den ersten Blick erscheint, doch häufig eintritt. Die Letzten werden die Ersten werden.“
„Aber der Bibelspruch hätte wohl auch meinem Bruder vorschweben können! Sagen Sie mir, sind denn alle Ehemänner auf der Hochzeitsreise so — so gedankenlos?“
Er sah die Fragestellerin eigenthümlich an.
„Wie soll ich das wissen?“ entgegnete er, auf das „ich“ den Ton legend. „Es ist nicht meine Schuld, daß ich darüber keine Auskunft geben kann.“
„Seien Sie froh, daß Sie davor bewahrt blieben!“ lachte Hilda auf. „Statt alte, längstvergangene Geschichten aufzuwärmen, sollten Sie lieber Ihre Divinationsgabe anstrengen und mir sagen, was dieser fatale nachhinkende Brief enthält.“
„Tantchen, ich hab’s!“ rief da eine helle Stimme von der Thür her, welche in die weiteren Gemächer derselben Reihe führte.
Das Mädchen, welches, vollkommen zum Ausgehen gekleidet, mit halbem Hüpfen über den Teppich glitt, hatte zwar die Größe und Toilette einer Dame, aber Haltung, Figur, Organ und der Ausdruck des munteren Gesichtchens verriethen noch deutlich den Mangel voller Entwickelung.
„Was hat Fräulein Mimi?“ fragte Meinhard wohlwollend, wie etwa ein Vater sein Töchterchen neckt.
„Guten Abend, guten Abend, Onkel Meinhard!“ begrüßte ihn die Kleine fröhlich, ohne sich aber in der Mittheilung ihrer Entdeckung aufhalten zu lassen. „Ich hab’s, Tantchen! Weißt Du, was es ist? Papa bringt uns den Onkel mit.“
„Wilhelm?“ fragte Hilda leise, und mit seltsamem Tonfalle fügte sie hinzu: „Du vergißt, daß Amerika —“ Sie schwieg und seufzte.
„Ach nein, nicht den richtigen Onkel,“ erklärte Mimi, die letzten Knöpfe ihres rehfarbenen Paletots schließend.
„Doch nicht etwa mich?“ fragte Meinhard verwundert.
„Sie sind ja schon da,“ entgegnete Mimi, als ob sie eigentlich sagen wollte: „Wie einfältig!“ Dann schlug sie die Händchen zusammen und drückte dieselben, sich niederbeugend, zwischen die Kniee, wobei ihre Augen vor Vergnügen leuchteten. „Errathet Ihr’s denn nicht? Ich meine den neuen — den jungen Onkel. Wie spaßig das war, als ich ihn beim Gabelfrühstück nach der Trauung so ansprach! Da war es doch schon in der Ordnung — nicht wahr? Wie hätte ich denn auch sagen sollen? Und wie er sich’s so ernstlich verbat, da sagt’ ich es erst recht. Das klang so närrisch. ‚Onkel!‘ Hahaha! Bin ich hübsch so, Tantchen?“
Sie strich mit den Fingern die Falten ihrer Kleider glatt und machte dann einen tiefen Knix, wie bei Hofe.
„Es ist recht,“ sagte Hilda, „daß Du Dir Mühe giebst, Deiner neuen Mama gleich einen guten Eindruck zu machen.“
„Ach, der Stiefmutter!“ fiel die Kleine ein, aber der wegwerfende Ton verstummte sogleich unter dem verweisenden Blicke der Tante; sie wandte sich erröthend zur Seite, im nächsten Momente aber hing sie an Hilda’s Halse. „Ich frage nur nach Deinem Urtheile, liebes Tantchen, nur nach Deinem!“
Den Schmeichellauten war schwer zu widerstehen; was an Vorwürfen die Liebkosungen nicht erstickten, das schnitt die schlaue Mahnung ab, daß Tantchen ja noch immer nicht für die Ausfahrt fertig sei und der Wagen gleich vorfahren werde; man dürfe doch nicht zu spät auf dem Bahnhofe eintreffen.
„Das ist bald geschehen; ich brauche nur Hut und Mantel, und wir kommen noch lange zurecht,“ erwiderte Hilda, und band die weiße Wirthschaftsschürze ab, die sich von dem schwarzen Seidenkleide recht hausmütterlich abgehoben hatte. „Sage mir lieber, wie Du auf Deine sonderbare Vermuthung kommst!“
[3] „Du wirst sehen, daß ich Recht habe. Ich täusche mich gewiß nicht. Die Erinnerung betreffs der Zimmer bezieht sich darauf. Papa hat immer so charmante Ideen. O, ich freue mich so, ich freue mich so — auf Papa!“
Und wieder klatschte sie bei dem etwas nachträglich erst hinzugefügten Schlußworte in die Hände und drehte sich dabei wie ein Kreisel um sich selbst.
Hilda schüttelte den Kopf über die Bemerkung Meinhard’s, daß sich die Sache vielleicht wirklich so verhalte.
„Es ist wohl nur eine Ideenverbindung,“ meinte sie, „weil wir vorher über Edwin von Tonner sprachen, als wir die Photographien durchsahen, um die des jungen Herrn in das Zimmer seiner Schwester zu stellen. Wir haben aber keinen ganz passenden Rahmen gefunden und dann, dann — wer weiß? — Man hat mit den Brüdern nicht immer seine Freude.“
Sie nickte still vor sich hin und machte sich mechanisch daran, die zerstreuten Photographien zusammenzuschieben, um sie darnach in das Album einzuschließen. Ein eigenthümliches Geräusch ließ sie den Kopf wenden.
„Was hüpfest Du denn wie ein junger Ziegenbock, Mimi?“
„Aber Tantchen, welch ein Vergleich!“ rief die Kleine, bei aller Entrüstung lachend. Ihr hatte die Frage gegolten; denn vor einem der Pfeilerspiegel sprang sie mit gleichen Füßen, daß ihr fessellos über den Rücken wallendes Haar wie ein dunkler Schleier flatterte. „Das Band will nicht unter die Haare. Ich kann ja so die Cravatte nicht knüpfen.“
Und indem sie das Band nach rückwärts schwang, fuhr sie in der Anwendung ihres drolligen Mittels fort, das sich wie im Spiel ansah. So hüpfend und lachend, blieb an Stelle der verschwundenen Dame nur das harmlose, lebensfreudige Kind, für das die von Hilda neuerdings aufgeworfene Frage, was wohl der Brief enthalten möge, nur ein geringes Interesse bot.
„Wenn Ihnen soviel daran liegt,“ rieth Meinhard scherzend, „müssen wir wohl eine Somnambule fragen.“
„Woher eine nehmen?“
Der Seitenblick Meinhard’s nach der Kleinen entging Hilda ebenso, wie der bedeutsame Nachdruck, mit dem er seine Antwort gab:
„Ich glaube, wir haben sie schon; nur der Magnetiseur ist für den Augenblick noch nicht zur Stelle.“
„Darf ich vielleicht meine Erfahrungen und vielfach erprobten Kräfte zur Verfügung stellen? Ich würde es mir zur besonderen Ehre anrechnen, wenn mir die Herrschaften dazu Gelegenheit geben wollten. Mesmer, St. Germain, Doctor Balsamo. Un, deux, trois — sie schläft.“
Es war ein ganz sonderbarer Antrag und eine sonderbare Stimme, die ihn stellte, wie es schien aus der Tiefe eines Ziehbrunnens herauf. Sie kam aber offenbar nur aus der Brust eines kleinen dicken Mannes in abgetragenem schwarzem Röckchen, das zweifellos für eine weit schlankere Taille angefertigt worden war. Das graue, breite Gesicht mit seinen verschlemmten Zügen war in hohem Bogen von einer langen Strähne Haares überklebt, das sich an den Schläfen zu grotesken Locken einbog, während sich die fuchsigen Spitzen im Nacken mit dem echten Eigensinn einer alten Perrücke auswärts ringelten. Das Pathos, mit dem er gesprochen, die Haltung der erhobenen Hände, die ausgespreizten Finger gaben der Erscheinung des Mannes in dem abendlichen Zwielichte etwas unheimlich Groteskes. Er war so plötzlich aufgetaucht, und keiner der Drei hatte gesehen, woher er gekommen.
Die muntere Springerin stand starr, wie gebannt, und Hilda’s Fingern entfielen die kleinen Karten. Schneller ward Meinhard seiner Ueberraschung Herr.
„Darf ich Sie fragen, wie Sie hereingekommen sind?“ sprach er den Fremden scharf an, wiewohl ihm dessen Stellung nahe der offenen Gartenthür als Antwort genügen konnte.
„Der große Philadelphia fuhr gleichzeitig zu vier Stadtthoren hinaus. Man erscheint, und man ist da. Allez vite! Voilà!“
Das war von dem lebendigsten Geberdenspiel begleitet, gleich darauf aber hatte der kleine Mann seinen abgeschabten Claquehut unter dem Arme hervorgenommen, ließ ihn mit einem Knall springen, drückte ihn mit theatralischer Bewegung an die Brust und schnappte in einer tiefen Verbeugung zusammen.
„Hochansehnliche Anwesende,“ begann er dann mit dem demüthigsten Lispeln, „ich komme blos, meine ergebenste Einladung zu machen, da ich demnächst mir erlauben werde, eine große Vorstellung zu geben, und es mir zur größeren Ehre gereichen würde, wenn der hohe Adel der Umgebung mir seine unschätzbare Gönnerschaft zu Theil werden lassen wollte.“
Die Damen hatten noch immer ihre Stimme nicht gefunden. Meinhard ergriff für sie das Wort. Er fragte trocken:
„Sie sind wohl Schauspieler?“
Der Gefragte richtete sich achselzuckend auf.
„Der rasirten Maske nach zu schließen? Vorbei, vorbei!“ sagte er mit tragischer Declamation, die alsbald in Ruhmredigkeit umschlug. „Wer hadert mit des Schicksals Mächten? Einst kannte man meinen Namen; ich war gefeiert und gesucht, von der Memel bis zum Rhein und von der Adria bis zur Nordsee. Das Glück war mir günstig, und die Leitung eines ansehnlichen Kunstinstituts lag in meinen Händen. Aber wie ich mich hinaufgeschwungen auf die Sonnenhöhe, ging es jenseits wieder hinab. Meine Ziele waren zu ideal; das undankbare Publicum wollte sich nicht erziehen lassen. Ich war für meine Zeit zu früh geboren. Was nützt das Klagen? Ich zahlte meinen Zoll dem Menschenschicksal. Die mich unterstützen sollten, haben mich beraubt und verlassen; die Intrigue hat sich gegen mich gewandt — aber sie kriegt mich nicht unter — die Musen standen an meiner Wiege, und meine Gaben sind vielseitig. Ich bin Künstler — Künstler im Allgemeinen. Ich spiele Soloscenen — ich beherrsche mehrere Instrumente: die Holzharmonika, die Mundharmonika, die Maultrommel; ich entlocke der Tischplatte sogar musikalische Klänge; ich gebe einem Blatte Papier sechszig verschiedene Formen und ahme auf’s Täuschendste Thierstimmen nach; mein besonderes Fach aber ist die natürliche Magie. Ich habe Bosco, Döbler — mit dem war ich in Hamburg zusammen — Mohnhaupt — den kenne ich von Riga — und Kratky Baschik, dem ich ein Gastspiel in Constantinopel durch meine Connexionen vermittelte, ihre intimsten Geheimnisse abgelauscht. Damals war es noch meine Privatpassion — aber du lieber Himmel! Die Kunst geht nach Brod. Sie erlauben mir, daß ich eine Probe meiner Geschicklichkeit gebe?“
Und ohne die Erlaubniß erst abzuwarten, hatte er sich schon der Photographien auf dem Tischchen bemächtigt.
„Wir haben jetzt keine Zeit,“ wendete Hilda ein und bemühte sich die Ablehnung so wenig unfreundlich wie möglich erscheinen zu lassen. Mimi aber bat Tantchen, doch noch ein wenig zu warten:
„Ich sehe dergleichen für mein Leben gern.“
Ein Blick, eine Kopfneigung des Taschenspielers dankte der Fürsprecherin. Er mischte bereits die Blätter wie ein gewöhnliches Spiel Karten.
„Prestigiateur, gnädiges Fräulein, nichts als Prestigiateur, kein Hexenmeister,“ plauderte er dabei. „Schnelligkeit ist ja die Hauptsache beim Metier. Darf ich Sie bitten, sich eine der Karten zu merken? Aber den schönsten jungen Herrn, damit mir die Sache nicht zu schwer wird! — Und Sie, mein gnädiges Fräulein — ebenfalls eine — ja? Mein Herr — ich will Sie nicht zwingen. Eins, zwei, drei — wupp!“
Er schlug den Fächer zusammen, blies auf das Paket, schnippte darauf, legte es auf das Tischchen zurück, netzte die Finger an den Lippen und streckte, wie wenn er ein unangenehmes Gefühl auf dem Rücken beseitigen wolle, die Arme so weit aus, daß ein paar zerknitterte Manschetten zum Vorschein kamen.
„Un, deux, trois! Allez, changez, passez!“ rief er, mit den Händen durch die Luft fahrend. „Haben Sie sie fliegen gesehen? Nicht? Doch! Hier, in Ihren Rock sind sie hereingeflattert, mein Herr. Sie erlauben. Ah, sehen Sie, hier in der Westentasche! Mein schönes Fräulein, ist es diese Karte? Ah, ich sehe, es ist die rechte. — Aber, mein Herr, Sie müssen mir schon noch einmal erlauben. Richtig, hier! Gnädiges Fräulein – haben Sie diese im Gedächtniß?“
Es war eine ganz merkwürdige Betonung, mit der er diese letzte Frage stellte. Auch sein Antlitz hatte — ungesehen von Meinhard, der hinter ihm stand, und Mimi, die erröthend noch immer auf die in ihre Hände gelegte Photographie starrte — einen ganz veränderten Ausdruck angenommen. Blinzelnd hing sein von den niederhängenden Lidern verkleinertes Auge an Hilda’s Antlitz und zuckte triumphirend, als es die plötzliche Verwandlung in ihren Zügen wahrnahm.
Vorerst nur gleichgültig, hatte ihr Blick der Aufforderung Folge geleistet, fast widerwillig; jetzt hing er erschrocken an der ihr zugekehrten Seite des Kärtchens. Eine Bewegung ging durch ihren [4] Körper, doch ließ der schlaue und bei all seiner Schwerfälligkeit doch gewandte Mann ihre Ueberraschung nicht zu Worte kommen.
„Sie erkennen die Photographie nicht? Sollte es eine falsche Karte sein?“ fragte er wie verwundert und setzte dann rasch entschlossen hinzu: „Fort also! Allez, changez, passez! — Ach, ja natürlich, es war ein stärkerer Magnet da. Sie selbst haben sie angezogen. Es ist aber nicht schön, daß das gnädige Fräulein sie im Aermel verstecken, um mich in Verlegenheit zu bringen.“
Mit zwei Fingern holte er scheinbar das Blatt an ihrem Handgelenke hervor. Geschickt verbarg er ihre beim Anblick der Photographie sich steigernde Verwirrung vor Meinhard, dessen Aufmerksamkeit er abzulenken wußte.
„Mein Herr, Sie werden sich überzeugt haben, daß Ihre Uhr noch vorhanden ist.“
Er sagte es höflich, aber mit einer gewissen impertinenten Ironie.
Mimi drehte noch immer ihr Kärtchen zwischen den Fingern.
„Aber das ist doch wunderbar!“ äußerte sie.
„Ich leiste noch Wunderbareres, mein Fräulein,“ brüstete sich der Künstler. „Ich begnüge mich nicht mit dem Escamotiren; ich bin Magnetiseur; ich errathe Gedanken; ich citire Geister; ich bringe die Abwesenden zum Sprechen. Wenn mir eine kleine Probe gestattet ist — —“
„Wir werden das ja bei Ihrer Vorstellung sehen,“ wollte Meinhard vorbeugen, aber Mimi erhob bittend die kleinen Hände.
„Ach, nur ein klein wenig!“
“Es bedarf gar keiner Vorbereitungen — bitte! Ich habe zum Beispiel einen Bekannten in Amerika, wollen wir den anrufen? — Hollah, Bill! How do You do? Immer aufrecht? Wie geht es Deiner Frau?“ Er ließ die beiden letzten Sätze in die trichterförmig vor den Mund gelegten Hände fallen und neigte, wie um besser zu hören, den Kopf zur Seite, wodurch aber das Gesicht sich so weit abwendete, daß es sich jeder Beobachtung seines kleinen Publicums entzog. Aus großer Tiefe schien eine gänzlich veränderte Stimme zu antworten:
„Was weiß ich — ich, bin nicht mehr in Amerika.“
Bei dem ersten Tone schrak Hilda von Neuem zusammen; doch bekämpfte sie die heftige Unruhe. Das Zwiegespräch nahm mittlerweile seinen Fortgang.
„Ist’s möglich, Bill? Also nicht mehr jenseits des großen Teiches? Wo denn sonst?“
„Das hörst Du doch; hier.“
„Du meinst doch nicht hier im Hause?“
„Natürlich, im Keller.“
„So komm doch herauf!“
„Daß ich ein Narr wäre; man hält mich ja versteckt.“
„Aber Andere werden Dich finden, so gut wie ich Dich fand.“
„Du wirst schweigen und mich nicht verrathen.“
„Das hängt von Umständen ab.“
„Komm wieder, wenn ich ausgeschlafen habe! Ich bin müde. Gute Nacht!“
„Gute Nacht! — — Die Reise scheint ihn angestrengt zu haben. Aber ich darf nichts weiter mittheilen. Sie hörten, meine Herrschaften, er verlangt Discretion. Wir wollen ihn in Ruhe lassen, den armen Jungen — bis zu meiner Vorstellung.“
Auf den letzten Worten, mit denen er sich zurück an die Gesellschaft wandte, lag wieder ein eigenthümlicher Nachdruck, und Hilda’s fragender Blick begegnete einer noch durchdringenderen Frage in seinen Augen, die sich aber blitzschnell wieder abwendeten. Es war eine Art Abschiedsverbeugung, die er inscenirte, während ihm Mimi lebhaft Beifall klatschte.
„Wir kommen jedenfalls — nicht wahr, Tantchen?“ versprach sie dem sich langsam der Thür Nähernden, der murmelnd die Versicherung gab, er werde selbst die Ehre haben, das Programm zu überreichen, sobald der Tag erst festgestellt sei, und unter einer nochmaligen tiefen Verbeugung verschwand, als Hilda sich aufrichtete und ihm stockend und hastig die Weisung gab, im Flure zu verweilen, bis er von ihr Nachricht hätte.
„Soll ich Dir vielleicht Dein Geldtäschchen bringen?“ fragte Mimi, welche die Absicht der Tante zu errathen meinte.
Eine Handbewegung lehnte ab.
„Was ist Ihnen, Hilda?“ nahm Meinhard, schärfer beobachtend, das Wort.
„O nichts — nichts — wohl nur eine Sinnestäuschung.“
„Ein gewöhnliches Kunststück der Bauchrednerei.“
„Sie zerstören Einem, doch immer alle Illusionen, Onkel,“ schmollte Mimi. „Sagen Sie mir, wie mochte er nur wissen, daß ich mir gerade die Photographie Onkel Edwin’s gedacht hatte?“
Unterdeß hatte Hilda das Gemach verlassen. Sobald sie das anstoßende Schlafzimmer betreten und die Thür hinter sich geschlossen hatte, zog sie die Klingelschnur und sandte das Mädchen mit dem Auftrage weg, ihr den Taschenspieler hierher zu bescheiden.
Was hatte diese Mahnung, die von einem ihr völlig Unbekannten ausging, zu bedeuten? Sie hatte sich gewiß nicht getäuscht, als sie in dem ihr zuerst vorgehaltenen Bildnisse die Züge des im Hause wie todt Betrachteten erkannte. Unter jenen Photographien befand sich diejenige ihres zweiten Bruders nicht; sie konnte auch nicht darunter gerathen sein; denn alle seine Bilder waren ja vernichtet oder weggeschlossen worden; es durfte keines dem Bruder Franz unter die Augen kommen, seit dieser den Unwürdigen aus der Familie, sogar aus seinem Gedächtnisse ausgeschieden. Woher kam nur das Bild?
Eine Skizze von Wichard Lange.
Man wird ihn feiern, diesen Geburtstag, am 21. April dieses Jahres, und hoffentlich in einer Weise, die des Mannes würdig ist und unserer Nation zur Ehre gereicht; denn selten ist einem deutschen Manne eine so wohlverdiente Berühmtheit zu Theil geworden, wie sie Friedrich Fröbel genießt. So weit die „Gartenlaube“ dringt — das heißt so weit die menschliche Civilisation auf diesem Erdenrund reicht — kennt man den Namen: Friedrich Fröbel, wenn man auch selbst im Vaterlande noch viel zu wenig unterrichtet ist über seine eigentliche Bedeutung. Darum kann und will sich gerade dieses Organ der Pflicht nicht entziehen, zur richtigen Würdigung des vielgenannten Mannes seinen Beitrag zu liefern.
Das Leben Fröbel’s zerfällt in zwei scharf getrennte Hälften: in der einen Hälfte ist er ein Suchender, Irrender und Ringender, eine Art Ritter vom heiligen Graal; die zweite beginnt, als er gefunden, was er gesucht hat, und nun die Hebel ansetzt zur Verwirklichung seiner Lebensidee, die ihm so wichtig erscheint, daß er sie als einen förmlichen Wendepunkt in der Zeitentwickelung betrachten zu müssen glaubt. Erst ist er der irrende, tappende, schwankende, dann der klar schauende, selbstbewußte, thatkräftige, an sich und seine Mission felsenfest glaubende Mann, den nichts irre machen kann in seinem Streben und der trotz aller Hindernisse und Enttäuschungen siegesgewiß in die Zukunft blickt.
Eine geregelte Schulbildung hat Fröbel nicht genossen; er gehört also zu der nicht geringen Zahl von sogenannten Autodidakten, denen die Welt so vieles verdankt. Dafür aber hat ihn das Leben selbst in eine harte Schule genommen, und da er als genial angelegter Mensch schon früh in sich hineinschaute, da er alle empfangenen Eindrücke sorgfältig fest hielt und verarbeitete, da er, wie alle groß angelegten Naturen, ein Herz voll Liebe in der Brust trug, das andere Menschenkinder bewahren wollte vor dem, was er selber gelitten, und alles zu spenden begehrte, was er an geistigen Schätzen errungen, so hat ihn das Leben selbst zuerst zum Erzieher und dann zum Erzieher der Erzieher gemacht.
Mit einigem Grauen erinnerte er sich seiner frühen Jugendzeit; denn es wurde ihm nicht geboten, was Kinder nach Lessing mehr bedürfen als Christenthum, vielleicht auch mehr als äußere Pflege und Sorgfalt — die Mutterliebe fehlte nämlich. Und daraus hat er gelernt, daß diese das A und O aller Erziehung ist, sodaß jede pädagogische Reform, welche diese entwickelnde und belebende, ja himmlische Macht nicht aufnimmt in ihr Calcül, wie etwa die von Johann Gottlieb Fichte vorgeschlagene, als menschenverderblich betrachtet werden muß. Die Ursache aber dieser trübseligen Erfahrung,
[5][6] die unser Pädagog machen mußte, war folgende. Nicht lange nach seiner Geburt im Pfarrhause zu Oberweißbach starb seine Mutter, und nun „schaltete an verwaister Stätte die Fremde liebeleer“. Friedrich zeichnete sich weder aus durch ein angenehmes Wesen, noch durch frühzeitig hervortretende Begabung. Die Stiefmutter, welche bald ihre eignen Kinder zu pflegen hatte, stieß ihn daher zurück, und der streng orthodoxe, pflichttreue Vater, welcher über die Seelen von 5000 Menschen zu wachen sich für verpflichtet hielt, hatte keine Zeit zur Pflege seines Sohnes, hätte auch schwerlich die Mutter ersetzen können. So irrte und träumte der Knabe, sich selbst überlassen, und sein Blick wurde früh nach innen gelenkt. Den einzigen Trost gewährte ihm ein mit Mauern umgebener Garten hinter dem Pfarrhause. Hier beschäftigte er sich frühzeitig mit Naturbeobachtung und Naturpflege; diese Beschäftigung, dieses edle Vergnügen wollte später der Gründer der „Kindergärten“ der gesammten Jugend verschaffen, weil er ihre wohlthätige Kraft ehemals an sich selber verspürt hatte.
Die Leiden des Knaben im Elternhause wurden aufgehoben durch einen Oheim mütterlicherseits, den Superintendenten Hoffmann in Stadtilm, der ihn in sein Haus nahm. Oheim und Neffe verkehrten in einem liebevollen, vertrauten Tone; der ehemals an Haus und Garten gebannte Knabe durfte mit seines Gleichen frei verkehren, sich austummeln in Gottes freier Natur und seiner jugendlichen Laune freien Lauf lassen. Bei dieser Gelegenheit lernte der zukünftige Erzieher, daß Liebe mehr wirkt, als bittere Strenge, erfuhr auch, daß das beste Spielzeug für Kinder die Kinder selber sind, will sagen: daß in fröhlicher, spielender Gemeinschaft die Jugend am besten gedeiht. Endlich erfuhr er an sich und seinen Genossen die erfreuende, belebende und entwickelnde Macht des Spieles, den Einfluß einer periodischen Ungebundenheit und die Zucht, welche unverdorbene Kinder auf einander auszuüben im Stande sind. Als Schöpfer der Kindergärten hat er alle diese Erfahrungen und früh gewonnenen Einsichten vortrefflich zu verwerthen gewußt.
Die glücklichen Tage im Hause des Oheims rauschten schnell vorüber; die erste Jugendzeit war dahin, und es sollte nun zur Berufswahl geschritten werden. Da man im Elternhause das unerschütterliche Vorurtheil gefaßt hatte, daß der Friedrich kein Talent zum Studium habe, und da man auch wohl die Kosten des Studiums scheute, so ersparte man dem Knaben die Wahl und damit die Qual, gab ihn bei einem Förster in die Lehre und überließ ihn sorglos diesem Manne und sich selbst. Die Sorglosigkeit rächte sich; denn der Förster that seine Schuldigkeit nicht. Wohl aber gefiel dem Lehrlinge das ungebundene Herumstreifen durch Wald und Feld, und ob er gleich nicht systematisch zum Lernen angehalten wurde, so erregte doch Mutter Natur, der er sich stets innig vertraut fühlte, sowie die Lectüre einiger wissenschaftlicher Bücher, die ihm im Forsthause zufällig in die Hände fielen, seinen Hunger nach geistiger Speise dermaßen, daß der heiße Wunsch in ihm aufstieg, gleich seinem Bruder Christoph sich der altbewährten und altberühmten thüringischen Alma mater an die Brust zu werfen und auch zu schöpfen aus den dort reichlich fließenden Quellen menschlicher Erkenntniß. Gedacht, gethan!
Ausgerüstet mit einem kleinen mütterlichen Erbtheil, rennt er ganz unreif auf die Universität, treibt sprachliche und alle möglichen Studien und beschließt nach verhältnißmäßig kurzer Zeit diese Studien Schulden halber im Carcer. Jetzt ist er entblößt von allen Mitteln und dem Anscheine nach von Gott und aller Welt verlassen; er soll und muß Geld verdienen und verdingt sich zu dem Behufe als Schreiber in technischen Anstalten Süddeutschlands und wirkt als solcher zuletzt auf einem Rittergute in Mecklenburg. Ersparnisse und ein kleines Erbtheil setzen ihn endlich in den Stand, seine mechanische Thätigkeit, die ihm selbstverständlich als eine drückende Last erschien, abzuschütteln. Immer aber weiß er noch nicht, was er will und wozu er eigentlich bestimmt ist. Nur seines riesigen Bildungsdranges und der ihm von der Natur verliehenen technischen Anlagen ist er sich bewußt. Letztere hofft er am besten verwerthen zu können als Architekt; er beschließt deshalb, sich dem Baufache zu widmen, und wendet sich zu dem Behufe nach Frankfurt am Main, da er gehört hat, daß ihm hier die beste Gelegenheit, ein geschickter Baumeister zu werden, geboten sei. In dieser Stadt trifft er nach kurzem Aufenthalte mit dem damaligen Direktor der dortigen „Musterschule“, einer Schule, die den ausgesprochenen Zweck hatte, Pestalozzi’sche Ideen zu verwirklichen, mit Gruner, zusammen, erzählt diesem von seinem Leben und Streben, Hangen und Bangen und erhält von ihm schließlich den Rath, Schulmann zu werden, also seine ganze Kraft der Jugenderziehung zu widmen. Da fällt es ihm, wie er selbst sagt, wie Schuppen von den Augen, und da ihm Gruner zugleich auch die helfende Hand reicht, so erfaßt er diese freudig und wird Lehrer an der „Musterschule“ zu Frankfurt am Main.
Der junge, eifrige Lehrer fühlte sich glücklich und behaglich; denn die Irrfahrten waren vorüber, und all sein Thun und Treiben entsprach seiner Neigung und Begabung. „Dem Fische im Wasser kann nicht wohliger sein als mir“ — schrieb er an seinen Bruder. Wo man die Absicht hatte, dem „Vater Pestalozzi“, dessen Ruhm bereits die Welt erfüllte, in allen Stücken zu folgen, da war natürlich auch von Pestalozzi tagtäglich die Rede. Also ist erklärlich, daß in der feurigen und thatkräftigen Seele unseres jungen Schulmannes der dringende Wunsch entstand, den schweizerischen Reformator und seine pädagogische Werkstatt aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Die erste Ferienzeit schon gab die erwünschte Gelegenheit, diesen Wunsch zu befriedigen. Vor seinem ersten Abschiede aus Yverdun faßte er sogleich den Vorsatz, sobald als möglich dorthin zurück zu kehren, also der Jünger Pestalozzi’s zu werden. Als er wieder in Frankfurt angekommen war, genügte dem aufstrebenden Schulmann die einseitige Thätigkeit in der Schule, die hier nur einen Theil der gesammten erziehlichen Thätigkeit umfaßt, nicht mehr. Er wird daher Erzieher zweier Knaben aus einem vornehmen Hause. Da er nun das vollständige Vertrauen dieses Hauses genießt, so weiß er die Eltern seiner Zöglinge zu bereden, ihn und die Knaben zu Pestalozzi zu senden, damit er Erzieher und Zögling zu gleicher Zeit sein kann und den ihm anvertrauten Brüdern eine Erziehung, die er für eine überaus segensreiche hält, zu bieten vermag. Wie redlich er diese seine Doppelstellung bei Pestalozzi ausgenutzt hat, davon giebt ein an die Fürstin von Rudolstadt gerichteter Bericht ein ausführliches und vollgültiges Zeugniß. Vollständige Befriedigung fand er indessen bei Pestalozzi nicht. Mit dem Meister sah der Jünger ein, daß alles Lernen auf den Erwerb klarer und ausreichender Anschauungen gestützt werden müsse, da, um Schopenhauer’s Worte zu gebrauchen, die Anschauungen in unserem Geiste die Constanten[WS 1], die Begriffe aber die Zettel sind, und da, wo die Anschauungen nicht in genügendem Maße vorhanden sind, der menschliche Geist einer Zettelbank gleicht, in der die nöthigen Deckungsmittel fehlen; allein es wurde unserem Forscher bereits klar, daß zur Erziehung doch noch etwas mehr gehört, als Lernen und wieder Lernen. Auch erkannte er haarscharf, daß nur derjenige von Naturgemäßheit des Unterrichts reden kann, welcher weiß, was Naturgemäßheit überhaupt ist, der also die Natur belauscht und den Gang ihrer Entwickelung erkannt hat. Der Entschluß, das Universitätsstudium wiederum aufzunehmen, lag also nahe. Meister und Jünger schieden übrigens auf das Freundlichste und Freundschaftlichste aus einander. Ahnungsvoll schrieb jener seinem größten Schüler in das Stammbuch: „Der Mensch vollendet sich selber durch Schweigen und Thun.“
1811 bezieht Fröbel, getrieben durch seine in Yverdun gewonnene Ueberzeugung, zum zweiten Mal die Universität und geht dieses Mal nach Göttingen, und ein Jahr darauf nach der neugegründeten Hochschule zu Berlin. Mit heiligem Ernste und riesigem Fleiße betreibt er jetzt das Studium der Naturwissenschaft und ergänzt nebenbei seine lückenhafte philologische Ausbildung. Da steht 1813 das Volk auf, und der Sturm bricht los. Vater Jahn wirbt unter den Studirenden Jünglinge für den Befreiungskampf, wirbt auch Friedrich Fröbel und führt ihn der Lützow’schen Schaar zu. Der also Geworbene lernt im Kriege Heinrich Langethal und Wilhelm Middendorff, beides junge Theologen, kennen und sucht sie für seine Lebensidee zu gewinnen. Für seine Lebensidee, sagen wir; denn in Fröbel’s Seele stand der Vorsatz fest, sich nicht allein der Erziehung auch ferner zu widmen, sondern auch auf dem von Pestalozzi eingeschlagenen Wege pädagogisch-reformatorisch zu wirken. Als Preußen 1806 durch Napoleon niedergeschlagen war, wurde in den edelsten Seelen der Fichte’sche Gedanke einer Totalverjüngung und Totalerneuerung der Nation auf dem Wege einer verbesserten Volkserziehung lebendig; wie also hätte sich ein Friedrich Fröbel diesem allgemeinen Streben und Ringen entziehen können? Keine Aussicht auf ein angenehmes Leben und eine ruhmreiche Stellung [7] hätte ihn bewegen können, seinen auf die Erziehung gerichteten Sinn zu ändern. Trotzdem nahm er nach dem Kriege eine Stellung als Custos im mineralogischen Museum zu Berlin an, schlug aber eine Professur der Mineralogie, die man ihm anbot, aus, legte plötzlich seine Stelle nieder und verschwand ebenso plötzlich und ohne Abschied zu nehmen aus dem Gesichtskreise seiner beiden intimen Freunde Heinrich Langethal und Wilhelm Middendorff.
Bald aber hörten die beiden Freunde wieder von ihm. Er war im Jahre 1816 nach Griesheim, einem thüringischen Pfarrdorfe, gezogen. Allda war sein geistlicher Bruder am Typhus gestorben, und die Wittwe fühlte sich verlassen mit ihren drei Söhnen Julius, Karl und Theodor. Dieser seiner Schwägerin wollte er Hülfe bringen und mit ihren Söhnen zugleich seine „allgemeine deutsche Erziehungsanstalt“ beginnen. Wilhelm Middendorff, sein vertrautester Freund, trat ihm alsbald zur Seite, während Heinrich Langethal zunächst seine theologischen Studien vollendete.
1817 wurde die Anstalt, die sich verhältnißmäßig rasch entwickelte, von Griesheim nach Keilhau bei Rudolstadt, in einen an Naturschönheiten reichen Thalkessel, verlegt, der von der Natur eigens für eine Erziehungsanstalt geschaffen zu sein scheint. Hier nun begann ein so reges und originelles erziehliches Leben und Streben, wie es die Welt vielleicht kaum zum zweiten Male gesehen hat. Bald schloß sich auch Langethal dem Kreise an, und so war für alle Lehrfächer des erziehlichen Ganzen gesorgt.
1818 giebt Fröbel dem Institute eine weibliche Stütze in einem feingebildeten, edlen Weibe, das in Keilhau von Anfang an in hohem Grade verehrt wurde. Henriette Wilhelmine, Tochter des Kriegsraths Hoffmeister in Berlin, verließ ihre großstädtische Situation, um dafür ein Leben in Dürftigkeit und voller Opfer und Entbehrungen aller Art einzutauschen. Bis zum Jahre 1839 hat sie ihrem ruhelos wirkenden Manne treu beigestanden und ist ihm auf geistigem Gebiete eine zuverlässige Stütze gewesen. Sie ruht auf dem Friedhofe zu Blankenburg in Thüringen.
Leider wurde das herrlich sich entwickelnde, originelle erziehliche Leben in Keilhau sehr bald gestört. Auf die Zeit des nationalen Aufschwunges folgten die Tage eines schmählichen Niedergangs. Nachdem 1819 die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse gefaßt waren, galten vaterländische Gesinnung und Erziehung plötzlich für ein Verbrechen. Und da beide in der Fröbel’schen Anstalt warm gepflegt wurden, so sah man sie bald mit scheelen Augen an und häufte Anklagen auf Anklagen gegen sie, die von der Rudolstädter Regierung energisch abgewehrt wurden, dennoch aber ihre Wirkung nicht verfehlten. Trotz der Großthat Christian Fröbel’s, des ältesten Bruders unseres Friedrich, der sein einträgliches Fabrikgeschäft verkaufte, all sein Hab und Gut dem Bruder bedingungslos zu Füßen legte und sich mit seiner ganzen Familie in seinen Dienst stellte, gerieth die Anstalt gegen das Ende der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts hart an den Rand des Verderbens, da man ihr den Zuzug abzuschneiden wußte. Der Schöpfer des Ganzen verließ 1831 verstimmt, aber nicht entmuthigt, die Stätte seiner ersten Wirksamkeit, gründete in der Schweiz zu Wartensee eine neue Anstalt, verlegte sie nach Willisau, richtete ein Waisenhaus in Burgdorf ein und leitete einen Wiederholungscursus für schweizerische Lehrer.
Dann aber geht er über seine bisherige Wirkungssphäre hinaus und richtet den Blick auf die früheste Erziehung. 1837 eröffnet er eine Anstalt für die früheste Kindheitspflege in Blankenburg und gelangt allmählich zur Darstellung jener erziehlichen Institution, die unter dem Namen „Kindergarten“ bekannt ist. Die alte Mutteranstalt Keilhau wurde inzwischen von dem Neffen und späteren Schwager Wilhelm Middendorff’s, Johannes Barop, fortgeführt und glücklich über Wasser gehalten, sodaß sie stets einen festen Stützpunkt für die weitgehenden Bestrebungen ihres Gründers bilden konnte. 1840 erläßt Fröbel einen Aufruf zur Gründung eines allgemeinen deutschen Kindergartens. Dann macht er, stets in Begleitung seines Busenfreundes Middendorff, gewissermaßen Missionsreisen in Deutschland; so wirkte er z. B. für seine Sache in Dresden und in Hamburg. 1849 siedelte er über nach dem Jagdschlosse Marienthal bei Liebenstein, das ihm der Herzog von Meiningen eingeräumt hatte. Hier erlebt er einen namenlosen Schmerz. Er wird nämlich von dem preußischen Ministerium unter von Raumer als ein Unchrist geächtet, und seiner jüngsten Schöpfung wird der Eintritt in Preußen verboten. Bald aber richtet die deutsche Lehrerwelt das Auge auf ihn, bereitet ihm 1852 zu Gotha eine herzerhebende Huldigung und nimmt sich seiner Sache an. Das war die letzte große Freude seines kampferfüllten, arbeitsvollen und vielbewegten Lebens. Er stirbt am 21. Juni 1852, und sein Freund Wilhelm Middendorff folgt ihm schon am 27. November 1853 nach.
Der Mann, der also lebte und starb, war nach Geburt, Charakter und Denkweise ein echter Sohn unseres Vaterlandes. Pestalozzi war ein deutscher Schweizer, Amos Comenius ein Czeche. Pestalozzi’s Pädagogik hatte von Anfang an eine socialpolitische Richtung: ihn jammerte des armen Volkes, und er wollte ihm durch eine verbesserte Erziehung aufhelfen; Fröbel aber ließ sich einzig und allein durch seine philosophische Weltanschauung leiten, aus der sich die Fortführung und theilweise Umgestaltung des Erziehungswesens mit nothwendiger Consequenz ergab. Jener erhielt seinen Anstoß durch die Idee Rousseau’s; dieser arbeitete aus sich selbst heraus, und seine Ideen verrathen nur hin und wieder rein zufällige Anklänge an die Geistesarbeit gleichzeitiger Denker. Fröbel ging zwar bei Pestalozzi in die Schule und glaubte zuerst Pestalozzianer zu sein; allein schon in seinem ersten schöpferischen Anlaufe schieden sich seine Wege von denen des großen Schweizers. Schwerlich wird man ihm wirkliche Menschengröße absprechen können; denn die eine Hälfte seines Daseins erscheint, wie bereits angedeutet, als ein unausgesetztes, rastloses, in die Tiefe gehendes Ringen nach innerer Erleuchtung, als ein ruheloses Streben nach Lösung des Welträthsels und Gewinnung einer Lebensidee. Und als ihm diese Lösung, gemäß seiner Individualität, gelungen und diese Idee ihm aufgegangen ist, giebt er sich in der zweiten Hälfte seines Lebens derselben interesselos und mit voller Aufopferungsfähigkeit hin, erträgt willig jede Verfolgung und jedes Ungemach, kennt keine Ermüdung und ist jeden Augenblick bereit, sich für seine Sache allenfalls kreuzigen zu lassen. Getragen und getrieben wird er allein von der Liebe zur Wahrheit, von der Liebe zur Menschheit, von der Liebe zur Jugend. Er erkennt den Entwickelungsgang aller Dinge, das Gesetz der Analogie, den harmonischen Einklang des Menschenlebens mit dem Naturleben. Tief erfaßt er die Menschennatur und täuscht sich doch in dem Einzelnen, bringt Allen ein Herz voll Wohlwollen und Vertrauen entgegen und wird gerade aus diesem Grunde von nicht Wenigen getäuscht.
In Folge seiner gründlichen Naturstudien hatte er die Ueberzeugung gewonnen, daß alles Leben trotz aller Gegensätze und Kämpfe im tiefsten Grunde ein einiges sei. Aber einen außerhalb der Welt wirkenden menschlich-persönlichen Gott konnte er ebenso wenig begreifen, wie ihn Goethe begreifen konnte.
„Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,
Sich und die Welt am Finger laufen ließe?
Ihm ziemt’s die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen.“
Dieser innerweltliche Gott, den Goethe und mit ihm Fröbel annahm, ist durchaus kein unchristlicher Gott; wenigstens widerspricht er nicht dem Paulinischen Christenthume. Denn dieses lehrt bekanntlich: „Gott ist nicht fern von einem Jeglichen unter uns; denn in ihm leben, weben und sind wir.“
Diese Ansicht von Gott aber führt schließlich zu einer Auffassung der Welt als eines großen, einheitlichen Lebganzen, das, um mit Goethe zu reden, weder Kern noch Schale hat, sondern beides mit einem Male ist und von einem vernünftigen und allmächtigen Allwillen nach ewigen Principien getragen, erhalten und entwickelt wird. Sprößling an diesem nach allen Seiten hin unendlichen Lebensbaume ist alles Lebendige, das, so weit wir das Ganze zu überschauen im Stande sind, im Menschen seinen höchstentwickelten Ausdruck erhält. Das Wesen des Ganzen waltet innerhalb der Schranken der Individualität auch in dem Einzelnen und kündigt sich im Menschen an als ein dreifacher Trieb: einmal als Sehnsucht nach Einklang mit dem alles bestimmenden, vernünftigen Allwillen, der Gottheit; zweitens als Sehnsucht nach Einklang mit allen übrigen Sprößlingen des alles umfassenden und alles erhaltenden Lebensbaumes, zuhöchst der Menschheit, und endlich als Sehnsucht nach innerem Einklang, welcher durch Unterordnung aller Triebe unter die durch ethische Motive erleuchtete Vernunft errungen wird. Es wohnt demnach [8] dem Menschen eine unendliche Sehnsucht inne nach Lebenseinigung: nach Einigkeit mit Gott, als religiöses Verlangen; nach Einigkeit mit der Welt, als Natur- und Menschenliebe; nach Einigkeit im eigenen Selbst als ethisches Streben, dessen Befriedigung Ruhe und Freudigkeit, dessen Hemmung Unruhe und Schmerz erzeugt. Somit ist auch die Parole für eine naturgemäße Menschenerziehung gefunden; sie lautet: allseitige Lebenseinigung. Alle Erziehung aber muß, von diesem Standpunkte aus betrachtet, nothwendig eine nachgehende, duldende, gewissermaßen leidende sein; denn wie das große organische Lebganze, die Welt, so entwickelt sich auch sein kleiner Sprößling, der Mensch, von innen heraus und gemäß einer bestimmten Gesetzmäßigkeit. Man kann von diesem gesetzmäßigen Entwickelungsprocesse nun die störenden Einflüsse fern halten und ihn in einem möglichst energischen Flusse zu erhalten suchen durch Anregung zu einer systematischen gedeihlichen Kraftbethätigung. Die Individuen sind eine besondere Mischung der menschheitlichen Elemente, und auch diese Mischung läßt sich nur auf Kosten des ganzen Menschen verändern oder gar aufheben. Die erziehliche Genialität zeigt sich in der scharfen Erfassung dieser Individualität und in der Geschicklichkeit, ihr entsprechend zu verfahren.
Abwehr der störenden Einflüsse und allseitige Kraftbethätigung — so heißt also die Doppelforderung menschlicher Erziehung. Die Kraftbethätigung kann aber wiederum eine doppelte sein: sie kann sich äußern als Receptivität oder Empfänglichkeit und als Productivität oder schöpferische Kraft. Der Mensch entwickelt sich nicht allein dadurch, daß er Aeußerliches innerlich macht, das heißt den geistigen Gehalt der Außenwelt zu seinem inneren Eigenthum erhebt, sondern noch viel mehr dadurch, daß er Innerliches äußerlich macht, das heißt Veränderungen an den Dingen der Außenwelt hervorbringt, die den Stempel seines Geistes tragen. Als Knospe am unendlichen Lebensbaume ist er seinem Schöpfer verwandt, ist also ein schaffendes Wesen, das sich nur durch Schaffen entwickeln und vollenden kann und darum auch im Schaffen seinen höchsten Genuß und seine reinste Freude findet. Daraus folgt, daß er von früh an angehalten werden muß, nicht allein zu hören und zu lernen, sondern auch zu schaffen und zu gestalten. Diese Forderung Fröbel’s ist vielfach mißverstanden und bespöttelt worden, weil man, sobald sie laut wurde, immer nur an das abstract geistige Produciren gedacht hat, wozu der Mensch die Fähigkeit erst in reiferen Jugendjahren erhält. Man hat dabei vergessen, daß es auch ein körperliches Gestalten und Schaffen giebt, welches zwar auch geistige Kraft verlangt, aber nur diejenige, welche dem Menschen von da an, wo sein Bewußtsein erwacht, unbestritten eigen ist. Die Anleitung des Menschen zu diesem Gestalten und Schaffen darf aber keine zufällige, planlose sein, wenn sie wirklich eingreifend wirken, dauernde Früchte tragen und der Gesammtentwickelung der Menschheit zum Heile gereichen soll, sondern muß systematisch geregelt, das heißt prinzipiell geordnet sein. Den Fingerzeig für diese Regelung giebt uns die Natur selbst an die Hand. Wie alle Lebenserscheinungen Vermittelungen entgegengesetzt-gleicher, das heißt im Spiegel sich deckender Hälften, so sind auch alle Lebensprocesse Ausgleichungen entgegengesetzter Strebungen. Sucht man daher Beschäftigungen, so muß man sich, falls man nicht der Willkür anheimfallen und dadurch seine Wirksamkeit in Frage stellen will, leiten lassen von diesem Gesetze aller Entwickelung.
Unser schöpferischer Pädagog hat diesen Weg betreten und mit aller Entschiedenheit eingehalten, als es sich um die Construction der Spielmittel für die vorschulpflichtige Jugend, also um die Einrichtung des Kindergartens handelte. Zu einer praktischen Anwendung und Darlegung seiner Anschauung und jener Principien auf die spätere Entwickelungszeit der Jugend ist er nicht mehr gekommen, sondern hat es der Zukunft überlassen müssen, diese Konsequenzen seiner Denkweise zu ziehen; ein Mensch, kann eben nicht alles leisten.
Mit aller Entschiedenheit aber betont er, daß die Abwehr schädlicher Einflüsse, wie er sie in seinem Kindergarten bietet, ähnliche Anstalten auch für die reifere Jugend fordere. Die Idee der „Jugendgärten“, die namentlich durch Schwab in Wien vertreten wird, fordert etwas Aehnliches. Sodann behauptet er ebenso entschieden, daß die jetzige Erziehung der reiferen Jugend an Einseitigkeit kranke, da sie einmal sich einer vollständigen Vernachlässigung des körperlichen Schaffens und Gestaltens, und zweitens einer Bevorzugung der Receptivität, also der Empfänglichkeit, vor der Productivität, also der schöpferischen Kraft, schuldig mache. Sie verleite, so sagt er, zur Körperträgheit und Werkfaulheit und lasse etwa die Hälfte der menschlichen Fähigkeiten unentwickelt. Getrieben von der Einsicht in unverkennbare wirtschaftliche Mißstände, fühlt man jetzt die Wahrheit dieser Behauptung vielfach heraus und verlangt häusliche Beschäftigungen, Arbeitsschulen etc. Das sind Zeichen dafür, daß die Zeit heranrückt, in welcher man zur Verwirklichung der Fröbel’schen Idee schreiten wird.
Für diese Verwirklichung erhoffte Fröbel nichts vom Staate, sondern alles vom Volke. Dereinst müsse die Zeit kommen — so meinte er — in welcher die ganze Gesellschaft die Erziehung als ihre wichtigste Angelegenheit betrachten werde, als eine Angelegenheit, in welcher Jeder, welchem Berufe er auch obliege, sich ein Stück irdischer Unsterblichkeit erringen könne; denn was man für die Jugend wirke, das trage Früchte, welche in die Ewigkeit hinein reifen. Dann werde man seiner Standarte folgen, auf welche er mit großen glühenden Lettern geschrieben hatte:
In dieser Zeit werde sich die Gesellschaft veranlaßt, sehen, sich in sogenannte „Erziehungsfamilien“ zu theilen. Eine Corporation von Familien also werde in ihrem Bezirke für die gedeihliche Entwickelung aller Kinder des Bezirks sorgen, auch für die der Armen und Aermsten. Sie werde sorgen für deren körperliche und geistige Pflege und Entwickelung durch Kinder- und Jugendgärten, und in ihnen das Gestalten und Schaffen, das körperliche und geistige Produciren zum leitenden Principe erheben — also einmal die nöthige Abwehr anti-erziehlicher Einflüsse in die Hand nehmen und dann dem Schöpfertriebe genügende Nahrung und Anleitung verleihen. Das abstracte Lernen werde basirt werden auf dieses Gestalten und Schaffen und dadurch der gesammte Unterricht eine urneue Grundlage erhalten. Die Folge müsse dann eine Erneuerung des gesammten nationalen und allgemeinen Menschenlebens sein.
Die Hoffnung unseres pädagogischen Kämpfers wird nicht zu Schanden werden, wenn sie auch heute oder morgen noch nicht in Erfüllung geht. Die ganzen Bewegungen auf socialem Gebiete drängen darauf hin, und die Bestrebungen, welche auf Errichtung von „Jugendgärten“ und „Arbeitsschulen“ hinauslaufen, erscheinen schon als Pionniere einer neuen pädagogischen Aera. Alle Vorschläge dieser Art aber stehen isolirt da und haben nur sporadische Bedeutung, so lange sie nicht durch eine consequente und allseitige Verwirklichung des Fröbel’schen erziehlichen Systems tiefen Grund und Boden und systematischen Zusammenhang erhalten.
Wir brechen hier des uns knapp zugemessenen Raumes halber ab, obgleich wir noch viel zu sagen hätten über diejenige Schöpfung Fröbel’s, welche ihn berühmt gemacht hat in aller Welt, nämlich über den Kindergarten und namentlich über dessen Bedeutung für das weibliche Geschlecht und das Familienleben. Der Entwurf dieser Fröbel’schen Schöpfung verräth fürwahr eine ebenso große Tiefe wie poetische und ästhetische Anziehungskraft. Schon das Wort „Kindergarten“, das unserem Reformpädagogen urplötzlich einfiel, bekundet die Doppelseitigkeit seiner Gestaltungen.
Wir wünschen unserem Helden, was Goethe seinem Freunde Schiller wünschte, daß ihm nämlich die Nachwelt ganz gewähren möge, was ihm das Leben nur halb ertheilt hat, und darum auch der bevorstehenden Feier möglichste Allgemeinheit und Würdigkeit. Wenn eine Nation ihre bedeutenden und großen Männer nach Gebühr ehrt, so ehrt sie sich selbst. Neben den jetzt die Generation beherrschenden materiellen Interessen giebt es bekanntlich auch geistige Interessen, und das deutsche Volk hat von jeher bewiesen, daß es diese höher zu schätzen weiß, als jene. Gerade dieser Umstand hat uns im Stadium unserer politischen Ohnmacht und Zerrissenheit die Bezeichnung „Volk der Denker und der Träumer“ eingetragen. Dieses „Volk der Denker und der Träumer“ ist mächtig und realistisch geworden, darf auch den nunmehr eingeschlagenen Weg nicht vernachlässigen; aber trotzdem sollte es mitten auf dieser Bahn und inmitten des realistischen Kampfes zeigen, daß der Deutsche niemals seine eigenste und beste Natur zu verleugnen vermag, wenn er auch seine Schwächen abzuschütteln weiß; es sollte am 21. April beweisen, daß es einen seiner genialsten Denker und Träumer zu würdigen versteht, nämlich den Pfarrerssohn von Oberweißbach, Friedrich Fröbel. [9]
Als ich zuletzt die Ehre hatte, in diesem Sale[1] zu sprechen, war mein Thema die Erscheinung jener lotharingisch-französischen Patriotin, die Gestalt und die That der Jeanne d’Arc, welche im 15. Jahrhundert den Anstoß zur Befreiung ihres Vaterlandes von der Zwingherrschaft der Engländer gegeben hat. Vom 15. Jahrhundert in’s 7. und 6., vom Mädchen von Orléans zum Propheten von Mekka ist ein weiter Rücksprung. Der Unterschied zwischen diesen beiden weltgeschichtlichen Figuren stellt sich beim ersten Anblick als ein so bedeutender dar, daß er bis zur Bizarrerie zu gehen scheint. Ein genaueres Zusehen und Vergleichen ergiebt jedoch eine unbestreitbare Aehnlichkeit. Ich meine damit nicht etwa den Schein des Wunderbaren, welchen die Laufbahn des orientalischen Religionsstifters und der occidentalischen Landbefreierin aufweisen, sondern vielmehr die Aehnlichkeit, daß in der glänzenden Gestalt des arabischen Helden, wie in der schlichten der Heldin von Domremy gleichermaßen eine große Wahrheit als weltgeschichtliche Thatsache hervortrat, — die Wahrheit: Nicht der klügelnde Verstand, nicht die besonnen rechnende und abwägende Bücher- und Kathederweisheit zeugt und wirkt die großen, die Menschen-, Völker- und Menschheitsgeschicke beginnenden und bestimmenden Gedanken und Thaten, wohl aber thut das jener heilige Sturm und Drang des Herzens, den man übermenschlich, göttlich nennen möchte und muß, die elementare Leidenschaft ursprünglicher Naturen, jene Herrschgewalt des Willens, welche, die „Angst des Irdischen“ weit hinter sich werfend, über alle Schmerzen des Lebens und über alle Schrecken des Todes zu triumphiren weiß. Angesichts dieser Wahrheit dürfte es angemessen sein, dann und wann den souveränen Wissensstolz unserer Tage daran zu erinnern, daß es allzeit Lebensmächte gab, gibt und geben wird, welche nicht zu messen und nicht zu wägen, nicht zu berechnen und nicht zu analysiren sind. Im gewöhnlichen Laufe der Dinge mag man ja wohl mit Maß und Wage, mit Ziffer und Zirkel, mit Agentien und Reagentien auskommen, aber wann ins Völkerleben große Krisen und Katastrophen hereinbrechen, dann wird immer wieder offenbar, daß die moralische Kraft doch die höchste Macht ist unter Menschen.
Die Wahl meines Gegenstandes trägt, will mir scheinen, ihre Rechtfertigung in sich selbst. Denn es dürfte sich in unserer wirrsäligen Gegenwart doppelt empfehlen, von Zeit zu Zeit betrachtende und aufhellende Blicke auf die unentweglichen Gestalten zurückzuwerfen, welche als leuchtende Marksteine und Pfadweiser die Entwickelungsstationen des Menschengeschlechtes bezeichnen. Sodann möchte heute, wo die sogenannte orientalische Frage, welche sich nachgerade zur Frage nach dem Sein oder Nichtsein der mohammedanischen Welt zuspitzen zu wollen scheint, alljährlich, ja alltäglich Europa in Brand zu setzen droht — heute möchte die mit raschen Strichen zu zeichnende Erinnerung an den großen Mann nicht ganz unwillkommen sein, welcher einer der gewaltigsten und folgenschwersten Revolutionen in der Geschichte der Menschheit den Stämpel seines Geistes und Namens aufgedrückt und die orientalische Frage in ihren Ursprüngen geschaffen hat, indem er der christlichen Religion die islamische gegenüberstellte. Die langen Jahrhunderte des Mittelalters hindurch war, wie jeder weiß, der Kampf zwischen dem europäischen Christenthum und dem asiatischen Islâm das eigentliche Grundmotiv der geschichtlichen Bewegung, und erst mit dem im 17. Jahrhundert begonnenen Niedergang des Osmanenreichs war der endgiltige Sieg des Europäismus über das Asiatenthum entschieden.
Die Augen von Menschen, deren Gedankenhorizont über das Nächstliegende, über das Gestern, das Heute und das Morgen hinausgespannt ist, sie werden stets mit Staunen auf die unscheinbar kleinen Anfänge so ungeheurer Erscheinungen blicken. Der Zimmermann Jesus verkündigt aus der Tiefe seiner von himmlischem Erbarmen mit seinen Mitmenschen erfüllten Seele heraus den Fischern vom See Genezareth die frohe Botschaft von der Allvaterschaft Gottes. Der Kameeltreiber Mohammed theilt seinen mekkanischen Hausgenossen die in der Einsamkeit der Wüste seinem inneren Auge vorübergeschwebten Visionen mit vom alleinigen Gott, von einer Vergeltung nach dem Tode, vom Himmel und von der Hölle. Und aus diesen in zwei abgelegenen Erdwinkeln gemachten Versuchen, das Judenthum weiterzubilden und zu vollenden, entspringen zwei Weltreligionen, welche für unzählige Geschlechter der Menschen die höchsten Güter werden und jahrhundertelang in furchtbarem Ringen mitsammen um die Weltherrschaft streiten. Noch heute ist die Kraft des Besiegten nicht völlig erschöpft, geschweige die des Siegers. Denn das religiöse Empfinden, Vorstellen und Glauben ist nicht, wie ein stumpfnüstriger Materialismus sich selbst und anderen weismachen möchte, eine rein willkürliche, dem Menschen [10] von außen an- und eingebildete Konvenienz, sondern vielmehr ein von allen besonderen, von allen „positiven“ Dogmen und Kulten Unabhängiges, ein dem Menschen Immanentes, d. h. eine mit dem Begriffe Mensch untrennbar verbundene Stimmung, entsprungen dem menschlichen Abhängigkeitsgefühl, der menschlichen Hülfe- und Anlehnungsbedürftigkeit, welches und welche nur von größenwahnwitzigen Doktrinären geleugnet werden können. Solche haben sich viele Mühe gegeben, ein ganz und gar religionsloses Volk aufzuspüren. Es ist ihnen nicht gelungen, obzwar, wie allen bekannt, der Funke des religiösen Gefühls in Völkerstämmen, welche der Thierheit nahestehen, nur schwach glimmt und nur in der Form kindisch fetischistischer und schamanistischer Aeußerungen aufdämmert. Aber doch bezeichnen diese Aeußerungen die Gränzlinie, wo die Bestie aufhört und der Mensch beginnt. Denn wie auf hohen Kulturstufen Religion in des Wortes höchstem Sinne das Sicheinsfühlenwollen des Endlichen mit dem Unendlichen ist, so regt sich auch schon auf unteren und untersten im Menschen der dunkle Trieb, seine Besonderheit mit der Allgemeinheit in Beziehung zu setzen und in Harmonie zu bringen. Das ist Idealismus, idealistisches Bedürfniß. Es liegt auf der Hand, daß und warum das Volk überall und allzeit für sein idealistisches Bedürfniß nur in der Religion, im religiösen Vorstellen, Glauben und Thun Befriedigung suchen und finden konnte und kann. Denn wenn ein unlange verstorbener berühmter Büchermann, welcher sich sein Lebtag mit Absicht und Aengstlichkeit volksfremd gehalten und verhalten hat, mit einer Zuversicht, welche dem Bildungsphilister natürlich gewaltig imponirte, die bevorstehende Ersetzung der Religion durch die Kunst ankündigte, wobei etwa der Genuß göthe’scher Dichtungen und beethoven’scher Symphonieen die Bedeutung von Kultakten haben würde, so war das eben nur eine volksfremde Zukunftsmusik, von welcher man wie von einer anderen, noch bekannteren, sagen kann: Viel Geschrei und wenig Melodie. Dazu muß ich jedoch anmerken, daß ich hier unter Volk selbstverständlich nicht die sogenannten „flottanten“ Bevölkerungen, welche, traurig zu sagen, von allem Zusammenhang mit naturgemäßen Verhältnissen mehr und mehr losgelös’t werden, verstanden wissen will, sondern das seßhafte oder, wie es Gottfried Keller so bündig als treffend genannt hat, „das bleibende Volk, das echte“.
Die Stellung des Historikers zur Religion ist übrigens gegeben. Die Geschichtewissenschaft kennt und anerkennt keinen alleinseligmachenden Glauben, keinen unfehlbaren Papst und kein unfehlbares Buch. Sie achtet in der religiösen Idee den edelsten Versuch des strebenden Menschengeistes, eine Lösung des großen Daseinsräthsels zu finden und die jedem denkenden Menschen unablässig sich aufdrängenden Fragen: „Woher kommen wir? Warum und wozu sind wir da? Wohin gehen wir?“ mehr oder weniger befriedigend oder auch unbefriedigend zu beantworten. Was jedoch die einzelnen Glaubenssysteme, Kirchen, Konfessionen und Sekten angeht, so soll sie der Historiker zwar nicht mit der Objektivität einer erkünstelten Gleichgiltigkeit, wie solche jetzt in der Mode ist, wohl aber mit der Objektivität der Gerechtigkeit, also unbefangen und ohne Parteibornirtheit, als die verschiedenen Erscheinungsformen der religiösen Idee betrachten, welche Erscheinungsformen allesammt nur eine zeitliche Bedeutung, allesammt keinen unbedingten, sondern nur einen beziehungsweisen Werth haben.
Ein tiefsinnigster Seher, Shakspeare, hat bekanntlich unsere sogenannte Welt eine Bühne geheißen, auf welcher jede menschliche Persönlichkeit eine Rolle spielen müsse. Man könnte das, meine ich, auch auf die Völkerpersönlichkeiten übertragen und dann sagen, daß die Wohnsitze der orientalischen Rassen, deren zugleich feurige und grüblerische Phantasie ihren Intellekt beherrscht, von jeher die Lieblingsstätten gewesen, allwo der rastlos in der Menschheit arbeitende religiöse Gedanke neue Formen anzuthun sich bemühte. Und weiter wäre zu sagen, daß wiederum den Orientalen semitischer Rasse, deren biblische Stammtafel mit den Ergebnissen der modernen Ethnologie freilich keineswegs sich völlig deckt, eine vorzugsweise religiöse Rolle zugetheilt worden sei. Zum Beweise dessen braucht man ja nur die drei Namen Mose, Jesus und Mohammed zu nennen. Wenn jedoch ein bekannter Orientalist unserer Tage, der Franzose Ernst Renan, all sein Wissen und seinen ganzen Scharfsinn aufgeboten hat, um die Aufstellung zu begründen, der Monotheismus, der eingottheitliche Glaube, sei ein ursprünglicher Besitz, sei eine Erfindung, ja so zu sagen eine uranfängliche Naturanlage der semitischen Rasse gewesen, so war das zwar ein geistreicher Einfall, ist aber keine religionsgeschichtliche Thatsache. Vielmehr steht fest, daß auch die Semiten, mit Einschluß der Hebräer, anfänglich nicht Monotheisten, sondern Polytheisten gewesen sind. Verschiedene semitische Stämme, z. B. die Assyrer, Babylonier, die Phöniker, hielten bis zu ihrem Untergange am Polytheismus fest, blieben also, was wir konventionellerweise Heiden zu nennen pflegen. Andere wurden im Verlauf ihrer Bildungsgeschichte aus der Sphäre der vielgötterischen Naturreligion in die Region der eingottheitlichen Geistesreligion herübergeführt, also die sogenannten Kinder Israel, die Hebräer, durch ihre großen und kleinen Propheten, die Ausgestalter des Jahvethums; ebenso die sogenannten Kinder Ismael, die Araber, durch ihren Propheten Mohammed, den Festbegründer und Gesetzgeber des Allahthums.
Das sind Vorgänge von ungeheurer Wichtigkeit und unberechenbarer Tragweite gewesen. Noch bis zu dieser Stunde trägt das Antlitz der civilisirten oder, genauer gesprochen, der europäisch-amerikanisch-christlichen und der mohammedanischen Welt die geistige Signatur, welche ihr der semitische, zuerst durch die hebräischen Propheten zu einer sittlichen Macht ausgebildete Monotheismus verliehen hat.
Aus dieser Weltanschauung heraus hat der Stifter des Islâm sein Werk unternommen und durchgeführt.
Lassen Sie uns nun zuvörderst einen raschen Blick auf das Land werfen, woher der Mann kam, und sodann diesen selbst ins Auge fassen.
Südlich von den großen syrischen und mesopotamischen Wüsteneien dehnt sich die mächtige Halbinsel Arabien zwischen dem rothen und dem persischen Golfe weit ins arabisch-indische Meer hinaus. So gelegen, hat das von einem Volke semitischer Abkunft bewohnte Land von unvordenklicher Zeit her ein abgeschlossenes, auf sich gestelltes und darum eigenthümliches Dasein geführt. Nicht aber ein einförmiges; denn es hatte sich je nach den verschiedenen Bodengestaltungen, den klimatischen Verhältnissen und den Nahrungsbedingungen verschiedenartig gestaltet. In den zwar schmalen, aber ungemein fruchtbaren Küstenlandschaften, von welchen die arabische Halbinsel von drei Seiten umsäumt ist, hatte sich frühzeitig eine auf emsige Acker- und Gartenwirthschaft gestützte seßhafte Kultur entwickelt, waren Dörfer und Städte entstanden, hatte sich gewerbliche Thätigkeit vielseitig geregt und hatte dieser ein lebhafter Handelsbetrieb sich zugesellt, Karawanenzüge nordwärts durch die Wüsteneien nach Syrien und in die Euphratgegenden, Handelsschiffe westwärts an die Küste Afrika’s, ostwärts an die Gestade Persiens und Indiens entsendend. Anders auf der gewaltigen Hochebene, welche das Innere der Halbinsel ausfüllt, eine unermeßliche Steppe mit bizarr gestalteten Felsbergen, wildzerrissenen Schluchten und zahlreichen Oasen mit brunnenreichen und früchteschweren Dattelpalmenhainen. Diese weiten Landschaften mit ihren plötzlichen Uebergängen von wildester, schreckhaftester Oede zur Ueppigkeit tropischer Vegetation, mit ihrer Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit, mit ihrem weitaus den größten Theil des Jahres hindurch wolkenlosen Firmament, aus welchem bei Tag eine glühende Sonne ihre Stralengüsse niedersendet, während bei Nacht die Gestirne groß und klar herableuchten, diese Landschaften mit ihren prächtigen Gewittern, ihren Orkanen, Sandhosen, Luftspiegelungen und Wolkenbrüchen haben etwas Eigenartiges, das an’s Unheimliche streift, etwas, was die Einbildungskraft höchst energisch an- und aufregt und sie mit den kühnsten Bildern füllt. In diesen Gegenden siedelten oder vielmehr wanderten, von ihren Stämmeschechs patriarchalisch regiert, die echtesten Araber, die Beduinen, Nomaden, deren Reichthum Kameele, Rosse und Schafe ausmachten und die zumeist in ihrer Person den Hirten, Jäger, Krieger und Räuber zu vereinigen wußten. Ein ganz unbändiges Freiheitsgefühl war diesen Wüstensöhnen eigen und, daraus entsprungen, ein in seiner Art äußerst reizbares Ehrgefühl. Damit verband sich eine wilde Rachelust, aber auch eine gewisse ritterliche Gastlichkeit und Galanterie, Treue in Freundschaft und Haß, sowie eine frohlockende Freude an Abenteuern und Wagnissen aller Art. Dies alles hat, in den Schmelztiegel einer heißen Phantasie geworfen, unter den Arabern der vormohammedanischen Zeit eine Poesie von außerordentlicher Eigenwüchsigkeit, Frische und Kraft [11] hervorgebracht. Die Schöpfungen dieser Poesie, welche eine kunstvoll entwickelte Rhythmik und Metrik aufzeigen, sind später, im 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, in dem nationalen Liederbuch gesammelt worden, welches den Titel „Hamâsa“ führt, Gesänge von 521 Dichtern und 56 Dichterinnen enthält und durch unseren großen Dolmetsch orientalischer Poesie, Friedrich Rückert, meisterlich verdeutscht wurde (1846). Erwägt man die außerordentliche Gunst und Einflußnahme, deren die altarabischen Dichter bei ihren Landsleuten allgemein genossen, so wird es kaum gewagt sein, anzunehmen, diese Kinder einer wilden und großen Natur müßten das dichterische Wort als eine Kundgebung von Göttlichem, als eine Offenbarung betrachtet haben. Darum untersteht es auch keinem Zweifel, daß Mohammed seine glänzenden Erfolge zu einem nicht kleinen Theil seiner nicht gewöhnlichen poetischen Begabung zu verdanken hatte.
Nun aber ist denkwürdig, daß ein so phantasiereiches und poesieliebendes Volk, wie das arabische, keine Mythologie besaß. Dessenungeachtet war dieses Volk keineswegs religionslos. Gleich den übrigen Semiten hingen auch die alten Araber einer sogenannten Naturreligion an, welche jedoch bei ihnen nicht zur Schaffung bestimmter, konkreter Göttergestalten vorschritt, sondern zu gemeinem Fetischismus ausartete. Das Idol trat an die Stelle des Ideals und, wie das ja in Sachen der Religion überhaupt so leicht und so häufig zu geschehen pflegt, die anfänglichen Sinnbilder des Göttlichen wurden zu diesem selbst, die Zeichen zu Wesen. Das sind dann die sogenannten „Götzen“ seines Volkes gewesen, gegen welche Mohammed mit so flammendem Zorneifer anging. Es ist jedoch wohl zu beachten, daß schon vor dem Auftreten des Propheten, wenigstens im nördlichen Arabien, infolge der Wirkungen jüdischer und christlicher Einflüsse in der Anschauung denkender und gebildeter Menschen die Vorstellung von Allah, als dem wahren und einzigen Gott, sich einzuwurzeln begonnen hatte. So wissen wir von den beiden berühmten Dichtern Aa’schâ und Labyd, daß sie Monotheisten gewesen sind. Die Erscheinung des Propheten traf also sein Land nicht unvorbereitet. Wohl ist, wie der Schotte Carlyle mit Bezug auf Mohammed schön gesagt hat, der große Mann immer wie ein vom Himmel fallender Blitz; die übrigen Menschen warten auf ihn und unter seinem zündenden Stral flammen auch sie auf. Aber – so möchte ich das carlyle’sche Gleichniß ergänzen – der Blitz entsteht nur, wann die Atmosphäre so beschaffen ist, daß sie ihn zu erzeugen vermag.
Die Bevölkerung Arabiens bildete keine einheitliche Masse. Sie zerfiel in zahlreiche größere und kleinere Stämme, und diese lagen in selten unterbrochenen Fehden gegen einander zu Felde. Neben dem nationalen Kitt der Sprache gab es jedoch für dieses zersplitterte Volk noch ein Gemeinsames und Einigendes. Das war die Ehrfurcht vor dem uralten Nationalheiligthum der sogenannten Kaabah in Mekka, welche Stadt, zwischen dem Steppenplateau und dem Küstenlande mitteninne gelegen, schon mittels ihrer Lage, dann aber auch durch die Beschaffenheit ihrer Einwohnerschaft, welche aus Hirten, Ackerbauern, Groß- und Kleinhändlern bestand, die Wechselbeziehungen zwischen dem Beduinenthum und dem civilisirteren Araberthum vermittelte und endlich als Stätte der Kaabah eines geradezu herrschenden Ansehens im ganzen Lande genoß. Die Legende will bekanntlich, Ismael, der Hagar Sohn, der angebliche Stammvater der Araber, hätte in Gemeinschaft mit seinem Vater Abraham die Kaabah erbaut. In Wahrheit war dieser Tempel von dem Stamme Koraysch gestiftet oder wenigstens ausgebaut worden, welcher Stamm, eben als Eigenthümer, Wächter und Nutznießer des Nationalheiligthums, für den vornehmsten und mächtigsten aller arabischen Klane galt. Unter den Heiligthümern, welche die Kaabah umschloß, waren die verehrtesten der berühmte schwarze Stein und der Brunnen Zem-Zem, beide vonseiten des urväterlichen arabischen Quell- und Steinkults dem Islâm vermacht. Außerdem war der Tempel die Stätte einer absonderlichen Götterversammlung, weil daselbst die Haus- und Stammgötzen der verschiedenen Stämme Arabiens ihre Plätze hatten. Zu diesen Idolen wallfuhren die Araber aus allen Ecken und Enden ihrer Halbinsel, um ihre Gebete und ihre Opfer darzubringen, und demnach war Mekka schon vor Mohammed seinen Landsleuten das, was Jerusalem den Juden, Delphi den Griechen, der Tempel des Jupiter auf dem Kapitol den Römern, das Sonnenhaus Korikancha zu Kuzko den alten Peruanern gewesen und Rom den Katholiken ist. So fest hatte sich die Vorstellung von der Heiligkeit dieses Ortes dem arabischen Bewußtsein eingeprägt, daß der Islâm, als seine Zeit gekommen, wohl die Götzenbilder in der Kaabah zerschlagen, jedoch den Ort in seinem Ansehen nicht erniedrigen konnte, sondern noch erhöhen mußte; die Kaabah zu Mekka ist ja, wie allbekannt, der hochheilige Mittelpunkt der ganzen islamischen Welt, in den Augen jedes richtigen Muslem der Nabel der Erde. Darum mußte es denn auch von größter Bedeutung sein, daß gerade an dieser Stätte der Mann aufstand, welcher sein Vaterland Arabien religiös und politisch vereinheitlichte und dasselbe aus geschichteloser Abgeschiedenheit und Dunkelheit auf die offene und helle Bühne herüberstellte, worauf die menschheitliche Tragikomödie sich abspielt. Denn von Mekka brach das islamische Araberthum erobernd in die Welt hinaus, glühend von dem jugendfrischen Eifer seines neuen Glaubens und alles vor sich niederwerfend wie die Wüstenorkane seines Heimatlandes. Damit war ein neues Kapitel aufgeschlagen im Buch der Weltgeschichte.
Auf der Richtstätte zu Constanz wurde noch am Tage seiner Hinrichtung die Asche des Reformators Huß gesammelt und in den nahen Rhein geworfen, damit von dem Todten nicht etwas übrig bliebe, was seine Anhänger nach Böhmen tragen und als Reliquie verehren könnten. Dennoch bewahrten die Jünger des Märtyrers eine Reliquie, die kein kaiserliches oder kirchliches Decret zu zerstören vermochte: die Erinnerung an die Lehren des Meisters und an seinen Märtyrertod, welche mächtig genug war, die Flammen eines der furchtbarsten Kriege, die Europa jemals geschaut hat, anzufachen und beinahe durch Jahrzehnte zu nähren.
Um den flammenden Scheiterhaufen von Constanz wob inzwischen die Phantasie des Volkes einen Legendenkranz, der bis auf unsere Tage unverwelkt geblieben. Eine spätere Zeit erdichtete den charakteristischen Ausruf „O heilige Einfalt!“ und die Prophezeiung von dem stolzen Schwane, der nach hundert Jahren das begonnene Werk der geistigen Befreiung vollenden werde. Und als der Sturm des mit wilder, dämonischer Macht geführten Hussitenkrieges vertobt war, da breitete sich der Kreis hussitischer Sagen noch mächtiger aus; denn in dem gewaltigen Ringen der feindlichen Parteien schuf der Krieg eiserne Charaktere und zeitigte Heldenthaten, auf welche die Nachwelt mit Staunen zurückblickte.
An das Geschlecht der Herren von Rosenberg, welche in jener Zeit treu zu ihrem König und dem rechtmäßigen Glauben standen und an der Spitze der Deutschen und der Katholiken Böhmens den Wagenburgen Ziska’s und der beiden Prokope trotzten, knüpfte sich gleichfalls eine Sage, die wegen ihrer dramatischen Momente ein besseres Loos verdient, als in den Staub der Vergessenheit zu versinken. Wir erzählen dieselbe nach dem Hormayr’schen „Taschenbuche für vaterländische Geschichte“ (Jahrgang 1823).
Die Zeit der Handlung dieser Sage fällt in den Abschnitt des Hussitenkrieges, in welchem nach der blutigen Schlacht bei Aussig am 16. Juni 1426 der Führer der Taboriten, Prokop Holy, auch der Große genannt, zum höchsten Gipfel seiner Macht gelangte. Die Sage selbst erzählt, daß der Kampf, von dem wir im Nachstehenden berichten werden, drei Jahre nach des blinden Ziska Tode, also im Jahre 1427, stattgefunden. Damals wurde nämlich der Plan des siegreichen Prokop, in die deutschen Lande einzudringen, von der Gegenpartei verworfen und der Beschluß gefaßt, die Burgen derjenigen Ritter in Böhmen und Mähren, welche dem katholischen Glauben treu geblieben waren, mit bewaffneter Macht zu bedrängen.
Unversöhnliche Rache hatte Prokop vor Allem den Rosenbergen geschworen, und während seine Hauptleute alles Rosenbergische Besitzthum weit und breit um Budweis und Tabor plünderten, zog er selbst mit dem Schlacht- und Gewalthaufen vor die feste Burg Kamenitz, in welche sich der Rosenberger, Prokop
[12][13] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [14] von Zesyma, geworfen hatte. Der hussitische Feldherr dachte nicht daran, den verhaßten Burgherrn zur Ergebung aufzufordern; Sturm und wieder Sturm war seine einzige Losung, da er die Burg für einen kleinen Stein im Wege erachtete, den er mit leichtem Fußstoße wegschleudern könne.
Aber vergebens rückten zu wiederholten Malen die siegesgewohnten hussitischen Schaaren gegen die Festungsmauern vor; der Schrecken ihres Namens raubte der Besatzung nicht den Muth zum Widerstande; Tage vergingen, und immer noch flatterte von den Zinnen der Burg Kamenitz das verhaßte Banner.
Vergebens wurde das Felsennest mit Steinwurfmaschinen und Donnerbüchsen beschossen; wohl waren die Außenwerke zerstört worden, wohl war die Zahl der Vertheidiger geschmolzen, aber die Wenigen, die der Tod verschonte, hielten den Schwur, einander treu zu bleiben, und stellten muthig ihre eigene Brust statt der gefallenen Bollwerke dem Feinde entgegen. Freilich war das Schicksal der Burg leicht vorauszusehen; früher oder später mußte die Uebermacht siegen, und manchmal stieg in Rosenberg’s Geiste der Gedanke auf, einen Ausfall zu wagen, den gerechten Durst nach Rache in Strömen feindlichen Blutes zu stillen und den hoffnungslosen Kampf durch einen glorreichen Tod zu beschließen. Jedesmal wies er aber den Gedanken zurück; hatte er doch seine älteste Tochter Agnes und vier jüngere Kinder zu sich auf die Burg genommen, für deren Freiheit und Ehre er allein zu sorgen und zu wachen hatte.
In einer finsteren verschwiegenen Nacht bemerkten die Wachtposten auf den Burgmauern ein eigenartiges Treiben in dem feindlichen Lager, welches auf einen Hauptsturm für den kommenden Morgen deutete. Die Warnung trog nicht, als der Tag zu dämmern begann.
„Der entsetzliche Prokop,“ erzählt unser Gewährsmann, „mit ungeschorenem Haupt, herabhängendem Knebelbart, kleinen gluthsprühenden Augen und Centaurenmuskeln, an der Spitze der Seinigen, suchte herausfordernd und drohend den verhaßten Zesyma zum letzten Streite.“ Die Besatzung begann ermüdet dem feindlichen Anprall zu weichen, und schon pflanzten mehrere Taboritische Streiter ihr Siegeszeichen jubelnd auf die Mauer. Da eilte der an einer anderen Stelle fechtende Burgherr herbei, stürzte die Kühnen hinunter und „trieb mitten im Gedränge, sein gutes Schwert in furchtbaren Kreisen schwingend, die vermeinten Sieger gleich einem Rudel scheuer Schafe vor sich her.“
Die Gefahr schien abgewendet zu sein; denn die Taboriten flohen ihrem Lager zu. Da entsendete ein feindlicher Schütze einen Pfeil von seiner Armbrust, und tödtlich getroffen sank Prokop von Zesyma „auf die Ringmauer hin, wie der Held auf den Schild, den er auch im Tode noch nicht lassen will. — — Angstvoll nach seiner geliebten ältesten Tochter, Agnes, rufend, hauchte er die starke Seele aus.“
Ein wilder Jubelschrei erscholl auf der feindlichen Linie; die aufgelösten Reihen schlossen sich wieder, und ein neuer Sturm begann. Die unerwartete Todespost brach den Muth der Besatzung, und wiederum neigte sich die schwankende Siegesschale dem Taboritenfürsten zu.
Da erschien Agnes plötzlich unter den zagenden Mannen. Die Sage schildert sie als eine Heldin mit behelmtem Haupte, von dem die langen goldenen Locken um Halsschiene und Brustharnisch wallten; mit den schönen Armen regierte sie, wie mit Zauberstäben, Schild und Schwert; sie glich einer Kriegsgöttin, zugleich anmuthstrahlend und furchtbar.
Der Anblick dieser heldenmüthigen Jungfrau wirkte so begeisternd auf die schwache Besatzung, daß selbst die Verwundeten sich wieder geheilt wähnten und auf den Mauern in Reih und Glied kämpften. Wiederum trieb das Häuflein Zesyma’s die Taboriten vor sich her, Agnes an seiner Spitze.
Diese übernahm von nun an die kriegerische Führung und schlug manchen Sturm zurück. „Die Heldin war nämlich überall,“ sagt unsere Quelle, „und überall,“ fügt sie originell hinzu, „schien die Gefahr zu fühlen, Agnes sei noch gefährlicher als sie, und — verschwand.“
Agnes von Zesyma sann jedoch auf kriegsgerechte Mittel zur Vertheidigung der Burg, an welche merkwürdiger Weise ihr im Kampfe erprobter Vater nicht gedacht hatte; denn inmitten der wilden Wetternacht sendete sie einen schlauen, aller Schliche und Wege kundigen Knecht durch des Feindes Lager an ihren Oheim, Meinhard von Neuhaus, und bat diesen um Hülfe. Der berühmte Feldherr rüstete auch sofort seine Mannen und zog zum Entsatze des bedrängten Kamenitz heran. Aber am Teiche Kalice kam ihm Prokop entgegen und trieb das Entsatzheer nach blutiger Schlacht in die Flucht.
Nachdem nun auch diese letzte Hoffnung auf auswärtige Hülfe geschwunden war, wurde die Lage der Heldin eine geradezu verzweifelte, und nun mußte ihr Muth die härteste Probe bestehen, indem sie der Versuchung ausgesetzt wurde, sich und die Ihrigen zu retten, aber dafür die Ehre ihrer Ueberzeugung preiszugeben.
Das Blutbad bei dem Teiche Kalice hat das innere Wüthen Prokop’s „etwas gestillt“. Ein Herold erscheint in den Trümmern von Kamenitz, und durch seinen Mund läßt der Taboritenfürst Agnesen freundlich entbieten:
„Ihres und der Ihrigen Leben solle geschont sein, wenn sie die Waffen strecke, die Burg öffne und sich — den Kelch reichen lasse.“
Mit edelstolzer Würde antwortet hierauf die Jungfrau:
Ein ruhmvoller Tod auf den Trümmern der väterlichen Burg sei ihrem geringsten Knechte lieber als Saus und Braus im taboritischen Heerlager. Sie vertraue auf Gott und überlasse die endliche Entscheidung den Waffen.
„Wohlan denn, so fallet, blutige Würfel!“ ruft hierauf Prokop, und wiederum wird die Burg beschossen und tagtäglich gestürmt. Da erhebt sich ob des fruchtlosen Kampfes ein lautes Murren unter den wetterharten Hussitenkriegern, und mit der Frische und Würde der alten römischen Historiker läßt unser Gewährsmann die Meuterer im feindlichen Lager also reden:
„Unsere Glaubensbrüder streifen in nahen und fernen Landen siegreich umher, überall reiche Beute machend. Wir aber liegen nun schon monatelang vor diesem Neste, das nur noch ein Steinhaufen ist, aber vor allem Zauber der Hölle beschützt wird. Arm und verspottet werden wir heimkehren. Uns, die wir mit unserem bloßen Namen die größten Heere geschlagen, die wir mit dem Schalle der Trommel von unseres blinden Ziska Haut Schrecken und Flucht in die Glieder weit überlegener Feinde gebracht — uns hat der Feldherr seinem Eigensinne geopfert; er hat den Frevel geübt, die Hölle selbst herauszufordern und mit jener Zauberin anzubinden. Wir, denen reiche Städte und glänzende Burgen ohne Zahl die stolzen Häupter gebeugt, verlieren nun den Ruhm zahlloser Siege an einen elenden Steinhaufen, an ein Weib. Pflicht ist es und Tugend, hier den Gehorsam aufzukünden und heimzukehren.“
In Folge dieser Gährung unter seinen Mannen sah sich Prokop genöthigt, der tapferen Burgherrin folgende Capitulationsbedingungen zu stellen: Agnes von Zesyma solle ihm die Schlüssel der Burg einhändigen und dafür mit ihrer Besatzung, an Ehren, Leben und Freiheit ungehindert, ziehen, wohin es ihr beliebe. Auf der Burg Kamenitz wurde dieses Anerbieten gern angenommen, und Agnes bedingte sich nur ein freies Geleite bis zu ihrem Oheim, Meinhard von Neuhaus, aus. Prokop ging auf diese Capitulation ein, legte betheuernd die Hand auf die Brust und nahm beschwörend den Kelch.
Am frühen Morgen des nächsten Tages wurde das Taboritenheer auf dem Abhange des Schloßhügels in Schlachtordnung aufgestellt, einen schimmernden Lanzenwald bildend. Seitwärts stand gesondert die Schaar, welche zum Geleite nach Neuhaus bestimmt war; in der Mitte, in düsterer Neugier, hoch auf seinem Kriegswagen, von Fahnen und Siegeskränzen umflattert, thronte Prokop, „ein Fürst der Hölle, der Mann des Schreckens und des Sieges“. Wild lärmte dazwischen die Kriegsmusik der böhmischen Spielleute.
Plötzlich verstummte auf ein Zeichen des Feldherrn das laute Treiben des siegreichen Heeres; dann thaten sich langsam die morschen Thore der Burg auf, und ein Trauerzug schritt feierlich über die Brücke dahin.
„Fünfzig Burgmannen,“ heißt es in der Schilderung des Auszuges aus der Burg, „waren noch übrig, alle mit Wunden bedeckt. In ihrer Mitte trugen sie die Leiche Prokop’s von Zesyma, offen, einen Siegeskranz auf dem Haupt, das bloße Schwert mit gekreuzten Armen an die Brust gedrückt; hinter der Bahre schritten, mit umflortem Helm und Schwert, den Blick zur Erde gesenkt, Agnes und ihre jüngeren Geschwister in tiefster Trauer. Die andere Hälfte der Besatzung schloß den Zug, der mit gesenkten Waffen, blaß, leidvoll, entschlossen – geisterähnlich daherschritt, leise und eintönig den Psalm des Todes und der Erbarmung betend.“
Das war also die Macht, welche der wüthenden Belagerung so lange getrotzt hatte. Ueberwältigt von diesem tragischen Anblick [15] zogen die hussitischen Streiter stillschweigend ihre Helmkappen, um der Leiche Zesyma’s die letzte Ehre zu erweisen.[2]
Agnes gelangte wohlbehalten zu ihrem Oheim, und nachdem in der Schlacht bei Lipan die beiden Prokope gefallen waren und also nach König Siegmund’s Wort Böhmen durch Böhmen selbst bezwungen war, wurde die heldenmüthige Jungfrau wiederum als Herrin in der väterlichen Burg eingesetzt.
Das ist der Inhalt der Sage, die wir erzählen wollten; sie ist dramatisch genug, aber sie läßt sich nicht leicht mit den Thatsachen der verbürgten geschichtlichen Ueberlieferung in Einklang bringen. Wohl wird in derselben von einer Schlacht bei Kamenitz, in welcher Meinhard von Neuhaus geschlagen wurde, und von der nach kurzer Belagerung erfolgenden Capitulation der Burg berichtet. Aber diese Schlacht hat am 31. October 1425 stattgefunden, also zu einer Zeit, da Prokop noch nicht Führer der Taboriten war, und als Burgherr wird nicht der Rosenberger Procop von Zesyma, sondern ein früherer Taborit, Prokop von Austi, genannt.
Dagegen wurde um dieselbe Zeit in Böhmen das Gerücht ausgesprengt, die Jungfrau von Orleans werde dem Könige gegen die Hussiten zu Hülfe kommen, und man verbreitete auch im Volke einen angeblich von der Johanna d’Arc herrührenden Brief, in welchem die Hussiten zur Bekehrung ermahnt wurden. Ihr baldiger Tod auf dem Scheiterhaufen vereitelte indessen die Heldenthaten, welche diese Jungfrau auf dem böhmischen Boden vollbringen sollte, und so ist es nicht unmöglich, daß die Phantasie des Volkes ihre Rolle, wenn auch in geringerem Maßstabe, auf eine andere tapfere Jungfrau übertrug.
Geschichtlich unwahrscheinlich ist auch die in der oben erzählten Sage gegebene Schilderung der Waffenthaten Prokop’s des Großen. Der Verfasser der „Geschichte von Böhmen“ entwirft uns eine ganz andere Charakteristik dieses Mannes:
„Er war von mittlerer Statur und hatte einen starken Körper, ein gebräuntes Antlitz, große Augen und ein furchtbares Aussehen; seine Kleidung war weltlich, dem Augenschein nach grob, inwendig aber kostbar und fein. Es darf nicht vergessen werden, daß er als Priester immer nur Führer im Kriege, keineswegs selbst Krieger war; nie betheiligte er sich beim Kampfe und trug nicht einmal Waffen bei sich; nichtsdestoweniger fand sein Wille und sein Befehl, je weiter, um desto größeren Gehorsam.“
Doch was kümmert sich die Phantasie des Volkes um die geschichtliche Wahrheit, wenn sie um ihre Helden das schimmernde Gewand der Sage webt! Und wie sollte sie sich zurechtfinden in den geschichtlichen Annalen der Hussitenkriege, die sämmtlich mit der ungerechtesten Parteilichkeit geschrieben wurden, und in denen Haß und Verehrung die einzelnen Ereignisse und Gestalten in dem sonderbarsten Lichte erscheinen lassen? Die Sage schuf sich, ohne auf die Geschichte zu achten, Helden nach ihrem Geschmack, Thaten, welche sich unverlöschlich dem Gedächtniß einprägen, und großartige Scenen, die schon oft den dankbarsten Stoff für echte Kunstwerke boten.
- ↑ Rathhaussal in Zürich.
- ↑ Der geniale Historienmaler W. Beckmann in Düsseldorf hat sein großes Gemälde, welches die „Gartenlaube“ in Holzschnittreproduction umstehend ihren Lesern vorführt, nach einer andern Variante dieser Sage entworfen. Agnes von Rosenberg reitet hier im Trauergewande vor dem Sarge, in welchem die Leiche ihres Vaters ruht, und der älteste Lehnsmann der Burg führt den einzigen männlichen Nachkommen Rosenberg’s, Hynek, an der Spitze des Zuges. Prokop der Große sitzt hoch zu Roß im eisernen Gewande und zieht seinen Helm, welchem Beispiel bald die anderen Taboriten folgen werden. Das meisterhafte Oelgemälde, für dessen dramatische Wirkung schon unser Holzschnitt beredtes Zeugniß ablegt, war auf der großen Düsseldorfer Ausstellung im Jahre 1880 zuerst dem Publicum vorgeführt worden und ging von dort direct in die Privatgallerie des deutschen Industriellen C. E. Franke in Stockholm. Es trug die Bezeichnung „Die Uebergabe der Feste Rosenberg“, indem die Burg selbst als der Stammsitz des Geschlechts Rosenberg aufgefaßt wurde.
Gegen zwölftausend Personen waren es, die im letzten Sommer, welcher der Reiselust nicht eben günstig war, die Albrechtsburg zu Meißen besuchten. Dabei zählen wir weder die frohe Schaar der deutschen Kunstgenossenschaft mit, welche in der dritten Septemberwoche hier ein Fest in mittelalterlichem Stil beging,[1] noch die Mitglieder der sächsischen Staatsregierung und Volksvertretung, mit denen König Albert im Banketsaal der Albrechtsburg das fünfzigjährige Jubiläum der Verleihung der ständischen Verfassung feierte (5. September). Dieser beispiellose Zufluß von Fremden erklärt sich leicht aus dem Interesse, welches die Restauration der Burg, namentlich aber die mit allen Mitteln der Kunst in’s Werk gesetzte Neugestaltung ihrer inneren Räume, in weitesten Kreisen wachgerufen hat.
In einem früheren Jahrgang der „Gartenlaube“ (vergl. Jahrgang 1861) ist bereits die Albrechtsburg nach ihrer Lage und ihrer historischen Bedeutung geschildert worden; jetzt, wo das Interesse der Reisenden sich auf’s Neue der alten Burg der Wettiner zuwendet, liegt uns nur ob, eine kurze Beschreibung ihrer vollendeten Restauration zu geben.
Scheuen wir denn die Mühe nicht, durch die engen Straßen und Gäßlein der alterthümlichen Stadt Meißen einen Aufweg zu suchen zur Albrechtsburg! Wir gehen zu Fuß; denn der alte, zwischen hohem Gemäuer unterhalb der Schloßbrücke hinaufführende „Hohlweg“ ist zu Wagen beinahe noch schwieriger zu passiren als zu Fuß, und die neuerbaute Königsstraße, die durch das Thal der Meisa sich emporwindet und auch erst zur Verfassungs-Jubelfeier fertig ward, würde uns nur auf großem Umwege zum Ziele führen. Treppenaufgänge von der Stadt giebt es aber nicht weniger als sechs, von denen jeder circa fünfzig bis hundert Stufen zählt. Den schönsten derselben bilden die sogenannten „Amtsstufen“, die zwischen Gartenterrassen emporführen, von deren oberster man einen herrlichen Blick auf und über die Elbe und in den zu Füßen liegenden Stadttheil genießt. Man steigt zuletzt eine im alten Amtsgebäude befindliche gewölbte Treppe empor, tritt auf den Bischof- oder Amtshof und dann aus diesem durch ein Thor auf den Schloßhof, wo der gothische Dom steht und neben ihm die herrliche Burg.
Als eigentlich officieller Aufgang zur Burg sind die „rothen Stufen“ zu bezeichnen, auf welchem Wege wir die alte Brücke passiren, die den St. Afraberg mit dem Schloßberg verbindet. Der neuerbaute, mit Eckthürmchen malerisch geschmückte Thorthurm bezeichnet gewissermaßen den Anfang der Restauration des Gebäudecomplexes. Ueber dem Eingangsthor befinden sich zwei Sgraffittobilder (eine Art italienischer Wandmalerei), vom Historienmaler Walther in Dresden gemalt, während man rechts den Evangelisten Johannes, links den Ritter Georg erblickt — Schutzherren der Ritterschaft des Geistes und der That. Links schließt sich der Wehrgang an, eine ebenfalls neu aufgeführte Zinnenmauer, durch welche man auf idyllische Landschaftsbilder des Meisagrundes schaut. Interessant ist rechts vom Wehrgang ein uraltes steinernes Kreuz, das aus dem vierzehnten Jahrhundert stammen und die Stätte der damaligen „Halsgerichte“ andeuten soll. Ebenfalls rechts befindet sich die Restauration „Der Burgkeller“, ein im mittelalterlichen Stil ganz neu aufgeführtes Gebäude, mit Thürmchen und Zinnen geschmückt, verbunden mit einem großen Garten, der wohl für tausend Personen Raum gewährt und zugleich eine herrliche Aussicht über die Stadt und Elbe hinweg auf prangende Rebenhügel bietet.
Auf dem Burghof befinden wir uns nun inmitten eines herrlichen, rundum geschlossenen Architekturbildes von imposantester Wirkung: links reiht sich an den Wehrgang das jetzt für den Marstall, Gefolge und Dienerschaft bestimmte Kornhaus an, das mit dem eigentlichen Schloß nur durch einen vorn offenen Verbindungsbau zusammenhängt. In diesem begrüßen wir vier von Chr. Behrens gearbeitete Holzstatuetten, welche den Küchen-, den Kellermeister, den Hofnarren und den fahrenden Sänger darstellen, während mitten im Hofe, auf einem Postament von röthlichem Rochlitzer Stein, die Statue Albrecht’s des Beherzten, des Erbauers der Burg, steht; sie wurde von Hultzsch in Dresden modellirt, in der Kunstgießerei zu Dresden gegossen und 1876 hier aufgestellt.
Die Freitreppe, „der große Wendelstein“ genannt, welche uns in das Innere der Burg führt, ist eines der herrlichsten Werke deutscher Architektur und hat sich bisher vollkommen gut erhalten. Die ganze Treppe dreht sich um eine Spirale, die oben in einer Steinblume endet; sie ist ein Werk Arnold Westfal’s, gleich dem [16] ganzen Plan der Burg, und von ihr aus betreten wir das erste Geschoß. Aber ehe wir die einzelnen Räume besichtigen, machen wir hier erst Halt, angeregt durch eine am Eingang zum herrlichen Kirchsaal angebrachte Inschrift, die nach einer alten Chronik meldet:
„Anno 930, also drei Jahre nach der großen ungarischen Schlacht, hat Kaiser Heinrich den Schloßberg gegen Mitternacht räumen, die Bäume und Sträucher ausrotten, ebenen und ein wohlverwahrt festes Schloß, beides zu einer Bastei und Brustwehr und zu einer fürstlichen Wohnung bauen und zurichten lassen, auf welchem nachmals je und allewege die Meißnischen Markgrafen ihr Hoflager gehalten, welches erstlich von den Feinden vielmal überfallen, eingenommen und zerstört und doch von den Markgrafen stets wieder gebaut und erhalten.“
Der Um- und Neubau dieses alten Schlosses ward bekanntlich von den fürstlichen Brüdern Ernst und Albrecht 1471 nach dem Plane Meister Westfal’s begonnen und in der Hauptsache bis 1483 vollendet, und so erscheint es vollkommen gerechtfertigt, daß es vorwiegend Scenen aus dem Leben der Nachkommen dieser beiden Fürsten sind, welche in farbenprächtigen Frescogemälden in den Burggemächern durch hervorragende Künstler der Gegenwart veranschaulicht werden. Wir nennen von diesen Künstlern nur Choulant, Dietrich, Diethe, Gei, Hofmann, Marshall, Oehme, Preller junior aus Dresden, Scholz und Spieß aus München.
Es giebt in der Geschichte der Albrechtsburg einen Moment, wo wir sie ihrer eigentlichen Aufgabe entfremdet finden: im Jahre 1710 war sie seltsamer Weise aus einem Fürstensitze zum Sitze einer Fabrik geworden. Da nämlich der sogenannte „Alchemist“ Böttger früher in der Albrechtsburg gefangen gehalten worden war und hier experimentirt hatte, so war die Burg als das passendste Local zur Zubereitung und Aufbewahrung eines kostbaren Fabrikates erschienen, das zugleich ein „kurfürstliches“ oder „königliches“ war und dessen Herstellungsart man als Geheimniß bewahren wollte: des Porcellans, das eben jener Böttger erfunden hatte. Als nun diese Fabrik schließlich immer größere Dimensionen an- und endlich den ganzen Bau einnahm, drohte derselbe Ruine zu werden. Die Kunstfreunde, an ihrer Spitze König Johann selbst, suchten hier Rettung zu schaffen durch Verlegung der Porcellanfabrik in ein neues Gebäude, zu dessen Errichtung auch die Landstände die nöthige Summe bewilligten, sodaß die Uebersiedelung im Jahre 1863 stattfinden konnte. Das bald hierauf begonnene Restaurationswerk der Burg ward durch die Kriegsjahre 1866 wie 1870 und 1871 sehr gehemmt, bis endlich 1875 auf dem Landtage beschlossen wurde, von der französischen Kriegsentschädigung eine halbe Million Mark dazu und auf die innere Ausschmückung zu verwenden: auf Wandmalereien nämlich 97,270 Mark, auf Statuen, Reliefs und Schnitzwerk 10,500 Mark, auf Decorationsarbeiten 66,590 Mark, auf Fußböden 27,000 Mark, auf Oefen und Kamine 13,000 Mark, auf Thüren 7400 Mark.
Oberlandbaumeister Hänel in Dresden hatte bis dahin die architektonischen Arbeiten geleitet; Hofrath Dr. Roßmann entwarf dann den Plan für die innere Einrichtung und das Decorative.
Treten wir denn nun ein in den großen Kirchsaal, an dessen historischer Inschrift wir Halt machten, um daran sogleich die wichtigsten Daten über Gründung und Restauration der Burg zu knüpfen. Gleich den folgenden Sälen, ist auch dieser von einer wundervollen Architektonik. Gold und Roth und bunte Arabesken — nicht angebracht in moderner Willkürlichkeit, sondern nach dem Muster gleichaltriger Schlösser — ziehen das Auge auf sich, und noch mehr die trefflich ausgeführten Wandgemälde von den schon erwähnten Künstlern. Da sehen wir zuerst König Heinrich den Ersten, wie er das Reichspanier aufpflanzt und der erste Markgraf von Meißen ihm Treue schwört. Einen Vorgang von 1015 verherrlicht dagegen ein zweites Bild: wie die Frauen durch ihre Betheiligung an der Vertheidigung der Burg gegen den Polenherzog Mesico (Mieschko) diesen zurückschlagen helfen. Gegenüber befindet sich der Einzug Conrad’s des Großen.
Einzelgestalten meißnischer Fürsten und Fürstinnen sind in den Fensternischen und unter dem „Trompetenstuhl“, von welchem aus die Fanfaren beim Einzuge der Gäste zu ertönen pflegten, dargestellt — und zwar sind alle diese Malereien in Wachsfarben ausgeführt von der Hand eines Meißner Kindes: von Anton Dietrich. Auch in der angrenzenden Burgcapelle sind von ihm die Gestalten Bischof Benno’s und Otto des Großen gemalt, während der kunstreiche Fußboden Meißner Fabrikat aus der Terracottafabrik Buschbad ist. Zittau lieferte die prächtigen Glasgemälde, die vom Kunstglaser Türke nach Diek’schen Cartons gefertigt wurden. Das dreiflüglige Altarwerk stammt dagegen aus dem fünfzehnten Jahrhundert; palmenartige Säulenschäfte einigen sich an der Decke zu dem wundervollen Gewölbe dieser Capelle, die auch dadurch noch an Interesse gewinnt, daß in ihr 1539 die erste lutherische Predigt in Meißen gehalten ward.
An den Kirchsaal schließen sich das erste und zweite Kurfürsten-Gemach; beide enthalten Wandgemälde von Professor Scholtz, welche Ereignisse aus dem Leben Herzog Albrecht’s darstellen. Durch ein paar kleinere Gemächer kehren wir zurück, um aus dem Kirchsaal in den großen Banketsaal zu treten. Es ist die bekannte Geschichte des sächsischen Prinzenraubes, welche hier in drei großen Scenen von Professor Oehme gemalt wurde, während an der Giebelwand A. Diethe ein Turnier Albrecht’s und seine Belehnung durch Kaiser Friedrich den Dritten dargestellt hat. Ringsum fanden Holzstatuetten sächsischer Fürsten ihren Platz, [17] welche von dem Bildhauer Schneider in Leipzig nach Modellen von Bergmann, Dietz, Echtermeyer, Härtel, Henze, Hultzsch und Rösch ausgeführt und gemalt wurden. Sprüche des Minnesängers Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob, sind an den Wänden angebracht. Im kleinen Banketsaal dagegen erinnern die von Friedrich Preller gemalten Landschaften: Grimma, Eger, Tharand und Emden an Albrecht’s Geburt, Verlobung, Jagdfreuden und Tod — in Morgen, Mittag, Abend und nächtlicher Mondbeleuchtung, illustrirt durch Tauf-, Hochzeit-, Jagd- und Leichenfackelzug.
Dieses Gemach war dasjenige, welches zuerst, vor allen andern, vollständig eingerichtet wurde, da die Kreisstände dem sächsischen Königspaar zur silbernen Hochzeit das stilvolle Möblement desselben verehrten. Dasselbe ist nach den Entwürfen von Professor Graff in Dresden theils daselbst, theils in Meißen ausgeführt; die Teppiche sind durch die Fabrik von Schütz in Wurzen geliefert worden. Noch früher hatte der Meißner Gewerbeverein ein geschnitztes Möblement geschenkt, welches die Meißner Damen mit Stickereien versahen. Wie es überhaupt zu loben, daß man nur deutschen Händen hier Beschäftigung gab, so galt es noch als besondere Ehrensache, sächsischen und auch vielen Meißner Künstlern und Kunsthandwerkern die nöthigen Arbeiten zu übertragen.
Das zweite Stockwerk ist etwas anders eingetheilt als das eben von uns verlassene. Wir treten zuerst in das „Vater-August-Zimmer“, das Scenen aus seinem und „Mutter Anna’s“ Leben und Wirken, meist humoristischer Art, im Bilde zeigt, sodann in den Wappensaal, der neben symbolischen Frauenbildern die in Stein gehauenen Wappen der sächsischen Länder und Schlösser zur Anschauung bringt.
Das folgende Zimmer ist den Frauen gewidmet; denn die Portraits von fünfzehn sächsischen Fürstinnen schmücken es, dazu Wandsprüche Heinrich Frauenlob’s. Es wird aber auch das Echozimmer genannt, weil es sich durch ein merkwürdiges Echo auszeichnet. Ein kleineres Zimmer mit der Inschrift, deren Worte unsern Artikel schließen, führt in die Sammetmacherstube , welche ihren Namen einem verunglückten Versuche „Vater August’s“, „venetianischen Sammet“ anfertigen zu lassen, verdankt.
In der großen Appellationsstube empfangen uns interessante Wandgemälde von dem Pinsel des genialen James Marshall, den kirchlichen Streitigkeiten unter Kurfürst Moritz und dessen Tode gewidmet, wogegen in dem „Böttger-Zimmer“, in welchem einst der berühmte Alchemist das von ihm erfundene Porcellan zu vervollkommnen suchte, zwei Gemälde P. Kießling’s den rastlosen Experimentator bei der Arbeit darstellen. Daneben befindet sich das „Johann-Stübchen“, schon in früheren Jahren ein Lieblingsaufenthalt König Johann’s; denn der hier befindliche trauliche Erker bietet eine herrliche Aussicht auf die Elbe, wie denn der Herrlichkeit des Innern dieser Burg die Lieblichkeit der Gegend da draußen vor jedem Fenster entspricht.
Wir führen die Leser zuletzt in die kleine Appellationsstube oder „das Meißener Zimmer“, so genannt, weil hier die vom Meißener Gewerbeverein gestifteten Möbel stehen und weil Meißen den Schauplatz der hier befindlichen Gemälde von A. Spieß bildet.
Sie sind es, welche, nach Photographien im Verlage von F. Köbcke und Comp. in Dresden im Holzschnitt ausgeführt, dieser Skizze als eine Probe des Bilderreichthums der Burg beigefügt wurden. Besser als unsere Feder mögen diese Abbildungen selbst sprechen, und so wollen wir nur an den Artikel über St. Afra in Meißen („Gartenlaube“ Nr. 26, 1879) erinnern, welcher unter anderm mittheilt, daß Herzog Moritz am 3. Juli 1543 die Fürsten- und Landesschule daselbst gründete. Wie man auch über die Stellung dieses Fürsten zur Reformation denken möge, so viel steht fest: er diente der Sache Luther’s, indem er die Güter der aufgehobenen Klöster und Stifte zur Errichtung von Schulen verwendete und so die bekannten Landesschulen zu Meißen und Pforta gründete.
Unser Bild zeigt ihn uns, wie er an der Eingangspforte von St. Afra dem ersten Rector derselben, Vulpius, die Stiftungsurkunde übergiebt. Es ist zwar historisch nicht genau festgestellt, daß Moritz diesen Act persönlich vollzogen — aber diese Urkunde trägt seine eigene Unterschrift mit dem betreffenden Datum.
Die zweite Abbildung versetzt uns in die Zeiten des Schmalkaldischen Krieges: Als Johann Friedrich gegen Leipzig rückte, das Moritz befestigte und der Obhut Bastian’s von Wallwitz anvertraute, ward die Universität, damit sie nicht geschlossen zu werden brauchte, Ende des Jahres 1547 nach Meißen und zwar in die Albrechtsburg verlegt. Da sehen wir denn die flotten Musensöhne, von dem Bürgermeister vor dem Rathhaus begrüßt, zunächst dem Rathskeller zuströmen, um sich im Meißener Wein ein Gütliches zu thun, indeß die Meißnerinnen neugierig nach ihnen ausschauen.
So haben wir hier nur diese zwei Proben herausgegriffen aus all den monumentalen Werken der bildenden Kunst, die auf der alten Wettinerburg sich in reicher Fülle darbieten. Verzichten wir darauf, noch das dritte Geschoß, das keine Gemälde schmücken, und die Gefängnisse in Augenschein zu nehmen, und schließen wir mit dem schon oben angedeuteten Spruche des Vorgemaches zu der Sammetmacherstube:
„Deutsche Burg und deutsches Land,
Schirm dich Gott mit starker Hand!“
[18]
Sylvesternacht – auf hohem Glockenstuhle
Webt um’s Getäfel tiefe Mondnachtstille;
Fahlgelb und öd’, in ungewissem Licht
Hängt gähnend um den Thurm die Himmelsleere,
Kaum daß ein Vogel durch die Lüfte schweift
Und in des Nebels Abgrund untertaucht.
Nur wo im engen Stübchen, wolkennahe,
Der Glöckner wohnt, der müde, altersgraue,
Da flammt am Fenstersims die Lampe noch.
„O, laß mich,“ ruft er aus dem Polstersessel
Und streckt die hag’re Hand dem Sohn entgegen,
Der jugendfrisch an seiner Seite lehnt,
Ist’s doch, als ob mir jung die Kräfte wüchsen
Mit dieses Jahres Flucht – das Siechthum weicht;
Es schwillt mir mächtig die Soldatenbrust,
Und meines Amtes walten will ich wieder.
Indem ihm Jener liebreich wehrt, steht er
Auf schwanken Füßen aufrecht – hebt sich – zieht –
Und voll und feierlich und allgewaltig
Tönt in die Nacht des Jahres letzt’ Geläute.
Sich abwärts schwingen in die Stadt da unten
Und aufwärts brausen um des Thurms Gemäuer –
„O zaubrisches Erinnern,“ ruft er da,
„Wie sprichst Du seltsam mit metall’ner Zunge
In blondem Haar, das Schwert an meiner Linken,
Seh’ ich mich singend ziehn zum Thor hinaus;
In den Franzosenkrieg mit den Cam’raden
Fühl’ ich mich wundermächtig fortgerissen –
Im Ohre tönt mir ehern noch dein Schritt,
Und schneller fließt mein Blut, gedenk’ ich dein.“
Da zieht er hastiger den Glockenstrang;
Er zieht ihn feurig mit der müden Hand.
Die Donner sind’s von Leipzig, Waterloo –
In Schmach der Corse und sein Reich in Trümmern,
Doch Deutschland, Deutschland siegreich, mächtig, frei – –“
Es schwankt der Alte, und sein Arm erlahmt;
Und wieder in die stille Nacht hinaus
Tönt, Hall auf Hall, das ernste Festgeläute,
Doch diesmal tönt es nicht wie Schlachtendonner;
Wie Wehmuth weint es, wie verhaltner Groll,
In wilden Klagen an.
„Verhaßte Ernte,“ stöhnt er zornig auf,
„Die, ach! solch edlen Krieges Saat entsproß!
Am blut’gen Lorbeer fraß des Volkes Gram;
Den Helden folgten der Bedrückung Schergen
Und großen Vätern kleine Enkel nach.
Der Höfling herrschte; schnöde Staatskunst schlug
In’s Pfaffenjoch die ewige Vernunft,
Saß die Verbitterung am kargen Tisch.
Da“ – voller weckt den Glockenklang der Alte,
Und kräft’ger schwingt sich das beseelte Erz –
„Da kam ein Tag: Die Langmuth ging zur Neige;
Auf Barricaden stand ich mit den Brüdern.“
Schwer seufzt der Greis; es hallt so matt die Glocke –
„Ein Wahn, ein Traum!“ haucht er mit müder Stimme,
„Das Ziel war groß, allein die Kraft war schwach;
Nun aber plötzlich hebt er stolz sein Haupt;
Er zieht die Glocke stürmisch, hochgemuthet,
Und „Heil Dir!“ spricht er, zu dem Sohn gewandt,
„Heil Dir, daß Du ein Spätgeborner bist!
Erstrahlt in seines jungen Ruhmes Glanze
Das theure Vaterland.
Den Kranz, den Du bei Sedan miterrungen,
O, sieh, Europens Völkern stolz voran,
Zu des Jahrhunderts höchster Staffel auf.
Und ob auch heut’ an Deutschlands bestem Mark
Mit gift’gem Zahn die inn’re Zwietracht nagt,
Obsiegen wird es über Roms Trabanten,
Wie es gesiegt in allen edlen Schlachten – –“
Er schweigt. Sein Auge flammt prophetenhaft,
Als schaut’ es ahnend in entlegne Fernen,
Und wie Verklärung weht’s von seinen Lippen:
Dein heiliges Panier, mein Vaterland,
Ein Hort dem Recht, ein Schrecken allem Bösen
Und eine Leuchte in dem Sturm der Zeit.
Ich seh’ Dich thronen an der Völker Spitze;
Und freudig harren Deines Richterspruchs
In Demuth und Bewundrung die Nationen.
Drum, die Ihr heut im Licht der Sonne wandelt,
Seid eingedenk der Tage, die da kommen!
Und schirme, was die Väter einst erstritten,
Tritt ein für Freiheit, Volk und Vaterland –
Tritt ein – tritt ein – –“
Er wankt; er bebt – noch einmal
Zieht er die Glocke – leise stirbt ihr Klang,
Sinkt lautlos er dem Sohn – –
Nun dröhnt vom Thurm der Jahres letzte Stunde
Und hallt und schweigt.
Auf hohem Glockenstuhle
Weht um’s Getäfel tiefe Mondnachtstille;
Nur in des Glöckners Stübchen, wolkennahe,
Knie’t bei dem todten Vater stumm der Sohn,
Und in die kalte Rechte des Soldaten
Schwört er der Freiheit und der Volkes Sache,
Unter dem üppigen Himmelsstriche des indischen Oceans, wo die äquatoriale Sonne ihre brennenden Strahlen senkrecht auf unsere Erde wirft, liegen, zu einem herrlichen Archipel vereinigt, zahlreiche fruchtbare Inseln, unter welchen Celebes im Westen und die Molukken im Osten die hervorragendsten sind. Auf diesen von der Natur so reich begabten Eilanden, wo unter einer überaus reichhaltigen und üppigen Vegetation die besten Gewürzpflanzen gedeihen, lebt ein sonderbares Thier, dessen Kopf mit seinem merkwürdigen Hörnerschmucke die Aufmerksamkeit der Naturforscher lange in Zweifel und Spannung hielt.
Dieses Thier ist der Hirscheber oder Babirusa (Porcus Babirusa), einer der eigenthümlichsten Repräsentanten des Schweinegeschlechtes, dessen getreue Abbildung wir heute unseren Lesern vorzuführen vermögen, obgleich er zur Zeit noch zu denjenigen Vierfüßlern gehört, welche nur selten aus ferneren Zonen zu uns gelangen. In früheren Zeiten wußte man in Europa über seinen Bau, den Schädel ausgenommen, den man seit mehreren Jahrhunderten kennt, nichts Genaues.
Besonders merkwürdig bei dem Hirscheber ist die eigenthümliche Zahnbildung des Oberkiefers, dessen Hauer, statt ihre Richtung nach außen seitwärts zu nehmen, die Rüsseldecke nach obenhin förmlich durchbohren und, nach einer sechs bis acht Zoll langen, bogenartigen Krümmung über die Augen hin, mit ihren scharfen Spitzen zuweilen bis in die Stirn hinein dringen. Ihrer auffallenden Länge und ihrer sonderbaren Richtung wegen haben diese Hauer mehr Aehnlichkeit mit Hörnern als mit Zähnen. Dagegen sind die untern Hauer kürzer, dicker und gerader nach oben gerichtet.
Diese mächtige Zahnbildung giebt dem Hirscheber das Aussehen einer viel größeren Gefährlichkeit, als man ihm in Wirklichkeit beimessen darf; denn die Hauer unserer Eber sind viel gefährlicher, als die der Babirusa.
Brehm berichtet, daß einige Jäger, welche das Thier in der Wildniß gesehen, behaupteten, es hätte die Größe eines mittelgroßen Esels. Diese Behauptung entspricht jedoch keineswegs der Wirklichkeit; denn die Exemplare, die wir gesehen, und darunter die des zoologischen Gartens in Köln, erreichen noch lange nicht
[19] [20] die Größe unserer völlig entwickelten Wildschweine. Die Beine sind verhältnißmäßig dünner und höher; der Körper ist gleichmäßig bogenartig abgerundet, sodaß die größte Höhe sich in der Mitte des Rückens befindet; er hat eine schmutzig aschgraue Färbung, ist mit zahlreichen Querfalten versehen und mit kurzen, dünnstehenden, kaum sichtbaren Borsten besetzt. Dieselben stehen längs des Rückens und zwischen den Falten dichter und bilden am Ende des ziemlich langen, dünnen, geringelten, gerade herunterhängenden Schwanzes eine förmliche Quaste, welche jedoch mit der Zeit gänzlich oder theilweise verschwindet.
Die Innenseite der Beine sowie die Bauchseiten sind rostroth. Bei dem Weibchen, welches stets etwas kleiner ist als das Männchen, sind die oberen Hauer bedeutend kürzer als bei dem Eber, ja zuweilen kaum sichtbar, oder sie fehlen auch gänzlich.
In ihrer tropischen Heimath wandern die Babirusa in steter Unruhe durch die feuchten, sumpfigen Waldungen, fressen gerne Laub, Gras und zarte Wasserpflanzen und schwimmen sehr geschickt, wie sie denn nach Brehm im Stande sein sollen, große Strecken über die See von einer Insel zur anderen zurückzulegen. Ihr Fleisch wird als geschmackvoll bezeichnet, obgleich sie einen starken, widrigen Geruch von sich geben. Berichte von solchen Beobachtern, welche den Hirscheber in seiner Heimath zu studiren Gelegenheit hatten, sind äußerst selten; um so weniger darf ich mir versagen, die Mittheilungen eines Augenzeugen über die Babirusa hier wiederzugeben.
„Als ich einst die niedrigen, feuchten Waldungen einer der Molukkeninseln — Buru — durchwanderte,“ erzählte mir derselbe, „wurde meine Aufmerksamkeit durch ein sonderbares Geräusch, dem Grunzen der Schweine nicht unähnlich, welches aus geringer Entfernung ertönte, in hohem Grade gespannt. Dazwischen ließen sich eigenthümlich pfeifende Töne vernehmen, die dem Angstgeschrei unserer Hausschweine fast gleichkamen. Nachdem ich ungefähr eine halbe Stunde durch das Dickicht des Waldes diesen Lauten gefolgt war, stob eine Heerde mir unbekannter Wesen mit auffallend gehörnten Köpfen pfeilschnell an mir vorbei, einem nahe gelegenen Gewässer zu, in welches sie sich in wilder Hast, Kopf über, hineinstürzte, um bald nachher auf der andern Seite wieder zum Vorschein zu kommen. Ich benutzte diese Zwischenzeit, um meiner Flinte, die nur mit Schrot geladen war, eine Kugel beizufügen, und feuerte los, als die Heerde eben an der entgegengesetzten Seite wieder auftauchte. Der Zufall wollte, daß gerade eines der größten Thiere der Heerde getroffen wurde und niederfiel. Das geschossene Wild ward sofort von seinen Kameraden umringt. Sie berochen es und machten Anstalten, es zu vertheidigen, als ich an das Ufer gelangte, allein ein zweiter Schuß veranlaßte sie, die Flucht zu ergreifen. Ich hatte ein völlig ausgewachsenes Männchen, das nicht weniger als 150 Pfund Gewicht zählte, erlegt. Sein dicker, runder walzenförmiger Körper maß drei Fuß in der Länge und über zwei Fuß in der Höhe.“
Zur Zeit Buffon’s, der dem Hirscheber einen äußerst feinen Geruch beimißt, hatte man noch kein lebendes Exemplar dieser Thiere in Europa gesehen; denn die ersten lebenden Babirusa, welche nach Europa kamen, verdankte man den französischen Naturforschern Ouoy und Gaimard, die während ihrer Weltumsegelung mit der Dumont d’Urville’schen Expedition ein Hirscheber-Pärchen von einem holländischen Gouverneur der Molukken-Inseln als Geschenk erhielten. Dieselben wurden sehr zahm und lebten mehrere Jahre im Pariser „Jardin des Plantes“. Besonders merkwürdig ist es, daß sie sich dort fortpflanzten, leider aber starb die junge Brut sehr bald.
Das erste Exemplar des Hirschebers, welches ich sah, traf ich im Jahre 1860 im zoologischen Garten zu Rotterdam, an dessen Spitze damals der berühmte alte Menageriebesitzer Martin stand. Ich gestehe, daß außer dem Nilpferd nie irgend ein Thier einen ähnlich überraschenden Eindruck auf mich gemacht hat, wie jener Hirscheber zu Rotterdam. Es war mir daher höchst erfreulich, als vor etwa vier Jahren ein Paar dieser Thiere von Amsterdam aus angeboten wurde. Ich reiste sofort dorthin, um die Eber in Augenschein zu nehmen, und erwarb das Pärchen für den Kölner zoologischen Garten. Leider gingen die beiden Thiere schon nach zwei Jahren zu Grunde.
Die oben erwähnten Beschreibungen stimmen vollständig mit unseren Exemplaren überein. Vom Capitain des Schiffes, der uns die Thiere verkaufte und der sie auch in ihrem Vaterlande beobachtet hatte, erfuhr ich manches über ihre Lebensweise, was im Allgemeinen das bereits Erwähnte bestätigt. Unter Anderem theilte er mir mit, daß die Hirscheber auf gewissen Inseln etwas größer werden, als auf anderen, und daß sie nur in Trupps von sechs bis acht Stück, worunter außer den jungen gewöhnlich nur ein völlig entwickelter alter Eber sich befindet, zusammen leben. Das Weibchen wirft ein bis zwei Junge, die von der ganzen Schaar liebevoll und zärtlich behandelt werden.
Meines Wissens sind unsere Hirscheber bis jetzt die letzten lebenden in Europa gewesen.
Köln, im December 1881.
Das Gift des Speichels. In der Auffassung vieler Naturvölker hat das Gift der Schlangen bekanntlich die ganze Thierclasse, in welcher es doch auch harmlose und mit ehrlichen Waffen kämpfende Glieder giebt, in Verruf gebracht und sie so gewissermaßen zur Personification des bösen Princips gemacht. Bis auf unsere Tage war es seither ein geheimnisvoller Saft geblieben, dessen Mysterium die Wissenschaft nicht zu entschleiern vermochte. Durch die Bemühungen einiger französischen Aerzte und Naturforscher ist jedoch bezüglich dieses Giftes in den letzten Monaten einige und zum Theil sehr überraschende Aufklärung erzielt worden. Das Gift der Schlangen ist bekanntlich die Absonderung mehrerer Drüsen des Oberkiefers dieser Thiere, und jene Drüsen entsprechen nach Lage und Bau den Speicheldrüsen. Neuere Untersuchungen von Pasteur, A. Gautier und Anderen haben nun ergeben, das keineswegs nur der Speichel der Schlangen, wenn er in eine Wunde geräth, giftig wirkt, sondern daß der Speichel der meisten anderen Thiere, z. B. des Hundes, des Kaninchens, ja sogar der des Menschen ganz ähnlich wirkt.
Ein aus dem menschlichen Speichel bereitetes wässeriges Extract tödtete einen kleinen Vogel, wenn es in den Blutumlauf gebracht wurde, beinahe ebenso schnell, wie Schlangengift. Die von aller Welt in die Acht erklärten Giftschlangen bilden also in dieser Beziehung nur insofern eine Ausnahme, als sie vor den Mündungen der betreffenden Drüsen mit offenen oder geschlossenen Rinnen versehene Zähne besitzen, durch welche eine ungewöhnlich große Quantität des Speichelgiftes in die Wunde befördert werden kann. Und wie das Gift einer und derselben Schlangenart unter verschiedenen Himmelsstrichen verschieden stark wirkt, so wird der menschliche Speichel ebenfalls den Umständen nach von sehr verschiedener Giftigkeit befunden, und zwar am stärksten der Morgens bei nüchternen Personen, wo er noch nicht durch Ausgaben verdünnt worden ist.
Was nun die eigentliche Ursache der Giftigkeit dieser sonst die Verdauung befördernden Absonderung betrifft, so besteht sie nach A. Gautier wahrscheinlich nicht, wie man wohl früher glaubte, in einer Art von organisirtem Ferment, welches das Blut in Gährung versetzt, sondern vielmehr in einem starkgiftigen Alkaloide; denn man kann z. B. das Gift, welches man einer Brillenschlange entlockt hat, indem man sie wiederholt in einen Bausch Baumwolle beißen ließ, mit Wasser verdünnen, bis zum Sieden erhitzen, filtriren, mit Alkohol behandeln, vollständig eintrocknen lassen etc., ohne daß es seine Wirksamkeit einbüßt, während man durch ähnliche Behandlung jede Art Hefe lösen und unwirksam machen würde.
Wenn aber der Speichel anderer Thiere dem Schlangengifte ähnlich wirkt, so steht andererseits das Schlangengift nach den Untersuchungen von De Lacerda dem gewöhnlichen thierischen Speichel und besonders dem Safte der sogenannten Bauchspeicheldrüse in seiner[WS 3] verdauenden Eigenschaft nahe; es löst unlösliche Nährstoffe und verwandelt Fettstoffe in Emulsion. Als wichtigstes Ergebniß der Untersuchungen des letztgenannten Naturforschers dürfte die Entdeckung eines Gegengiftes von der wunderbarsten Wirkung zu bezeichnen sein. Zwei bis drei Centimeter einer filtrirten einprocentigen Auflösung von übermangansaurem Kali in Wasser mittelst einer Pravaz’schen Spritze in die Bißwunde eingeführt, verhinderten in der Mehrzahl der Fälle nicht nur jede Entzündung der Wunde, sondern retteten selbst solche Thiere, bei denen das Gift bereits unter den bedenklichsten Symptomen in den Blutumlauf eingetreten war.
Die Versuche wurden in Gegenwart des Kaisers von Brasilien mit einer sehr giftigen Schlangenart (Bothrops) angestellt, der gegenüber sich alle sonst empfohlenen Gegengifte (Eisenchlorid, Borax, Tannin etc.) völlig unwirksam erwiesen. Fast alle Thiere, bei denen das Gegengift nicht in Anwendung gebracht wurde, gingen zu Grunde, dagegen starben von dreißig Stück, denen es eingespritzt wurde, nur zwei schwächliche Versuchsthiere.
Frl. G. in Hannover. Vielleicht wird Ihnen durch folgende Mittheilung geholfen: Der deutsche Generalconsul Bojanowski in London theilte vor Kurzem dem Berliner Polizeipräsidenten mit, daß in London ein Heim für deutsche Mädchen eröffnet wurde, welcher den Namen „Gordon House“ trägt und in 8 Engsleigh Gardens, NW, sich befindet. Dasselbe ist gegründet worden um deutsche Mädchen, welche in England Dienste suchen, vor den ihnen drohenden mannigfachen Gefahren zu schützen; es gewährt ihnen anständige Wohnung und kostenfreie Stellenvermittelung.