Die Gartenlaube (1882)/Heft 2

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 2.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Hatte bei dem unsicheren Dämmerlichte, beim raschen Wechsel der Blätter, das sonst so scharfsichtige Auge Hilda getrogen? Aber woher die Aehnlichkeit von Wilhelm’s Stimme mit jener so unheimlich aus den Brettern des Fußbodens herauftönenden? Hilda war von dem Laute betroffen worden, als antworte in der That ihr Bruder unter den Parketen herauf, auf denen sie stand. Wohl war ihr das Kunststück des Bauchredens nicht fremd, aber sollte es wirklich nur Zufall gewesen sein, daß diese forcirte Stimme jener anderen glich, die ihr noch so deutlich im Ohre klang, ohne daß der Täuschende sie je zuvor gehört? Und fanden sich denn ebenso leicht Erklärungen für den befremdlichen Sinn der Worte? „Bill“ hatte der Mann den Fernen angerufen, Amerika genannt, auf die Gefahr seiner Rückkehr nach Europa hingewiesen. Und das alles sollte wirklich nur ein harmloses Zusammentreffen von Umständen sein, nicht eine beabsichtigte Nachahmung der Stimme, eine bedeutungsvolle Mahnung, ein wohlvorbereitetes Spiel zu ganz bestimmtem Zwecke? Und welcher war dieser Zweck?

Darüber sollte der Mann selbst Auskunft geben. Es blieb ja immerhin möglich, daß hier der Hinweis auf eine alte Bekanntschaft als wirksame Unterstützung einer Bettelei benutzt wurde, aber vielleicht hatte dieser Mensch den Exilirten doch in neuerer Zeit erst gesehen und konnte Nachricht geben über ihn. Aber nein, vielleicht zerrann schließlich doch noch alles in Nebel – vielleicht war alles nur ein Traumbild, wie es, von einem Worte, einem Laute, irgend einem Anblick hervorgezaubert, in des Menschen Innern plötzlich auftaucht, in der Dichter-, in der Künstlerseele sogar greifbare Gestalt annimmt und doch vorüberzieht und verweht – ein Hauch, ein Nichts.

„Aber, Tantchen, wo bleibst Du denn so lange? Der Wagen ist schon vorgefahren, und Du verplauderst Dich in einem Kaffeestündchen mit Bußbuß.“

Mimi’s Stimme weckte die in tiefes Sinnen Versunkene. Ihre Stirn lehnte an der Fensterscheibe, und ihre Hand kraute in dem Pelze des schnurrenden Kätzchens, das sich zu ihr auf’s Fensterbrett geschmeichelt hatte.

Es mußte eine geraume Weile verstrichen sein, während sie auf den Mann mit den geheimnißvollen Andeutungen gewartet hatte; denn Dunkelheit hüllte bereits ringsum alles immer tiefer und tiefer ein. Aber wo war er geblieben, der unheimliche Eindringling?

Eben kam Liese fast athemlos herein.

„Ich weiß nicht, wo der Mensch hingekommen ist,“ berichtete sie. „Im Vorhause ist er nicht; in der Küche hat ihn Niemand gesehen und draußen auch nicht. Der Martin ist freilich erst vorgefahren, aber Fritz hätte doch besser aufpassen können. Er stand vor der Thür und machte noch schnell die Tannenbäumchen fest. Dort sei nichts vorbeigekommen, sagt er. Aber wie ein Geist kann doch Niemand bei lebendigem Leibe verschwinden.“

„Ausgenommen ein Zauberer,“ fiel ihr Mimi in’s Wort.

„O, auch die lassen eine Wegzehrung nicht im Stiche,“ parirte die praktisch denkende Liese den Schlag.

„Es giebt doch auch stolze Zauberer,“ widersprach Mimi lachend. „Wer weiß, ob er sich nicht durch die Zumuthung beleidigt fühlte, sich in der Küche wie ein Handwerksbursche ein Almosen zu holen. Ich lasse mir nun einmal meine gute Meinung nicht nehmen.“

Hilda that keinen Einspruch; sie ließ es auch geschehen, daß ihr das Mädchen Hut und Handschuhe reichte und Mimi ihr den weichen Herbstmantel um die Schultern legte. Die Frage, wie dieses Verschwinden zu deuten, beschäftigte sie noch, als ihr Meinhard, der sie am Kutschenschlage erwartet, in den Wagen half.

„Vielleicht hat Mimi Recht,“ dachte sie, erleichtert aufathmend. „Dann aber hatte es ja auch keinen Zweck, und es war doch alles nur eine Täuschung meiner Sinne.“




2.

Die Nacht war schon hereingebrochen; ihre Schatten schienen das Schloß zu verschlingen, während der Wagen in das Dunkel hinaus rollte. Dunkel herrschte auch in seinem Innern; denn von den Laternen drang kein so ausgiebiger Strahl herein, um etwas genauer erkennen zu lassen. Wie der nachdenkliche Ausdruck in Hilda’s Zügen, entging auch ihr Schweigen der Aufmerksamkeit ihrer beiden Gefährten. Mimi führte das Wort für alle Drei. Zunächst war es noch der Taschenspieler und sein gespensterhaftes Auftreten, worüber sie sich vollends aussprechen mußte. Die Bemerkung Meinhard’s, daß es in der Weise solch verkommener und zuweilen halb verrückter Genies liege, ihrem Erscheinen etwas Geheimnißvolles zu geben und sich, vielleicht mehr noch ihrer Eitelkeit, als dem zu erhoffenden Nutzen zuliebe, womöglich immer mit einem Theatercoup in Scene zu setzen, gefiel ihr schließlich doch noch besser, als die ebenfalls aufgestellte Vermuthung, diese vagabondirenden Subjecte hätten oft allerlei Gründe, ein Haus auszuspioniren.

„Ach, Gruselmacher giebt’s nicht!“ meinte sie. „Diese Taschenspielerei ist nicht gefährlich. Und geschickt ist er gewiß sehr – sehr!

[22] Wie er es nur angefangen haben mag, daß ihn nicht einmal die Hunde meldeten? Hektor ist sonst gerade nicht liebenswürdig gegen Unbekannte.“

„Solche Leute haben allerlei Mittel; das gehört zum Métier, erhöht aber nicht gerade ihre Vertrauenswürdigkeit.“

„Du lieber Gott, sagen Sie nur Papa nichts!“ bat die Kleine mit plötzlichem Schrecken. „Er würde von Einschleichen sprechen, über die Unordnung und Aussichtslosigkeit schelten. Ein Donnerwetter ginge los über Fritz, über Tantchen und Alle. Wenn Papa heftig wird, schont er nichts, so gut er sonst ist.“

„Er wird jetzt gar nicht Zeit haben, zu schelten,“ tröstete Meinhard. „Und wenn er übler Laune sein sollte, wird es nur ein gutes Wort von Mama bedürfen.“

„Das wäre noch schlimmer,“ fiel die Kleine beinahe mit der von ihr selbst gefürchteten Heftigkeit ein. „Tantchen wird doch nicht einer Fürbitte bedürfen von einer – einer Fremden – die erst in ein Haus kommt, in welchem Tantchen geboren ist und, so lange sie lebt –“

Hier unterbrach Hilda den stockenden und dann wieder sprudelnden Redestrom.

„Mimi, Du vergißt, von wem Du sprichst,“ sagte sie tadelnd. „Solche Aeußerungen klingen wie die Anklage gegen mich, Dich schlecht erzogen zu haben; sie wären zudem noch ein Grund für Deinen Vater, zu bedauern, daß er im Schmerze um den Verlust Deiner Mutter die Pflicht vernachlässigte, Dir für sie einen Ersatz zu suchen, ehe Du der leitenden Hand entwachsen warst.“

„Aber warst denn Du nicht für mich die sorgsamste Mutter?“ erwiderte die Zurechtgewiesene. „Ich brauche keine andere, und ich verlange keine andere.“

Das kam aber mit solchem Ungestüm heraus, daß es kaum noch den Charakter der Zärtlichkeit trug und Hilda keineswegs ganz Unrecht hatte, wenn sie kopfschüttelnd sagte:

„Du verlangst keine – das ist möglich, aber brauchen – das ist eine andere Frage, die nicht Du zu beantworten hast. Es scheint doch bisher an der rechten Strenge gefehlt zu haben.“

Da dieser Selbstvorwurf von der beschämt, gekränkt und wohl auch ein wenig trotzig in ihre Ecke sich drückenden Kleinen keinen Widerspruch erfuhr, so nahm Meinhard die Lanze auf.

„Sie beurtheilen eine ganz natürliche Regung, wie ich glaube, zu hart, Fräulein Hilda,“ begann er und fuhr, ohne sich von dem leisen, aber nachdrücklichen „Nicht wahr!“ Mimi’s unterbrechen zu lassen, im warmen Tone der Ueberzeugung fort: „Fast seit ihrer Geburt war sie in Ihrer Obhut; Sie nahmen der kränklichen Mutter von allem Anfange an die Mühe ab und traten nach deren Tod ganz an ihre Stelle. Sie pflegten und erzogen das Kind; Sie haben sich ihm ganz hingegeben und es so möglich gemacht, daß es die Heimath gar nicht zu verlassen brauchte und in der Nähe des Vaters bleiben konnte, der diese Erheiterung in seinem Gemüthszustande gar schwer vermißt hätte. Sie haben sich eine edle und bewundernswerthe Aufgabe gestellt, sich dieselbe zum ausschließlichen Lebenszwecke gemacht und derselben Alles zum Opfer gebracht.“

„Ah bah!“ fiel ihm hier die Gepriesene in einem Tone, der leicht sein und keine Rührung aufkommen lassen sollte, in’s Wort. „Welche Tirade! Was habe ich denn für Opfer gebracht? Ich habe noch nie etwas davon gemerkt.“

Einen Moment blieb er stumm; dann sagte er gedämpfter:

„Das ist kein Grund, Alles als selbstverständlich von Ihnen hinzunehmen, und ich begreife recht wohl, daß soviel Liebe und Hingebung tiefe Dankbarkeit erweckt, welche sich zu einem exclusiven, jede Theilung ablehnenden Gefühle entwickeln kann.“

Das Schweigen, in welches Mimi versunken gewesen, hatte nun lange genug gewährt. Sie nahm sich aus der schon ungeduldig mit angehörten Beweisführung, was ihr eben taugte, um daran anzuknüpfen.

„Ja, und wenn ich noch wüßte, weshalb ich theilen soll? Hat denn die neue Mama mir irgend ein Opfer gebracht? Vielleicht, daß sie Papa geheirathet hat? O, das ist gar kein besonderes Verdienst; Papa ist noch ein ganz hübscher Mann; nicht mehr jung freilich, aber man merkt ihm die vierzig Jahre gar nicht an. Nicht ein graues Härchen hat er, und wie er reitet und Schlittschuhe läuft! Sie hat ihn auch nicht meinetwegen geheirathet, so wenig wie Papa sie aus diesem Grunde nahm. O, gewiß nicht! Soviel kann ich auch schon beurtheilen – dazu brauche ich nur meine gesunden Augen. Im Anfange, als wir nach Teplitz kamen, hatte es wirklich den Anschein, als ob Papa mich zur Gesellschafterin brauche, um sich nicht gar zu sehr zu langweilen. Da verkehrte auch Fräulein Albertine hin und wieder mit mir, während Papa schlief oder sich im Bade befand; in den letzten Wochen aber war es, als ob ich für die Beiden gar nicht mehr vorhanden wäre, und Papas Arm nahm nun wieder an Geschmeidigkeit zu. Er wurde aber auch recht fleißig geübt.“

„Was sprichst Du wieder für tolles Zeug!“

„Nur was ich gesehen habe,“ wehrte sie sich gegen den Verweis. „Ich konnte doch nicht jedesmal die Augen schließen, wenn ich auf den Spaziergängen im Walde hinter ihnen drein kam und sie mich ganz und gar vergessen hatten. O, ich schämte mich ohnedem genug vor Herrn Edwin und hätte dann lieber gewünscht, er würde mich nicht begleiten, obwohl ich mich ohne seine Gesellschaft recht verlassen gefühlt hätte. Ich mußte wirklich noch froh sein, daß er sich meiner annahm.“

Die Folgen einer sehr langsam heilenden Muskelzerrung, die er sich bei einem Sturze mit dem Pferde geholt, fortzubaden, war Herr von Reinach schon zeitig im Frühjahre nach Teplitz gegangen, um es nach sechs Wochen als Bräutigam zu verlassen. Frau Rohrwek, die Besitzerin des Hauses „Zur Aurora“ in Schönau, wo er seine Wohnung genommen, war Wittwe und hatte zwei Kinder aus verschiedenen Ehen. Aus der oberflächlichen Bekanntschaft des Sohnes Edwin mit den neuen Miethsleuten entspann sich bald ein näherer Umgang zwischen den Familien; dem Vater schien der Verkehr der beiden Mädchen erwünscht, doch allmählich entzog er seinem Töchterchen die Gefährtin immer mehr. Der Zwang, den ihm die Gegenwart eines Dritten auferlegte, mochte ihn beengen, und er wußte es Albertinens Stiefbruder Dank, daß er an der Seite „des Kindes“ blieb und es anderwärts beschäftigte.

Den Abschluß dieser so leicht und arglos angesponnenen Beziehungen bildete dann Ende August jene Heirath, welche der langjährigen Wittwerschaft Franz von Reinach’s ein Ende machte, dem Gute Waltershofen wieder eine Herrin und dem sechszehnjährigen Kinde eine Stiefmutter gab. Die Nachricht von der bevorstehenden Aenderung der Dinge hatte Mimi nicht ganz ahnungslos getroffen; denn die vorwitzigen jungen Augen hatten schon zu scharf beobachtet. Von einem Ausbruche kindlicher Eifersucht, wie ihn Hilda befürchtet hatte, war keine Rede, und ein Ungestüm, zu dem die Kleine sonst sehr neigte und wie er eben jetzt zum Ausbruche gekommen, hatte sich damals nirgends gezeigt, aber das kam auch wohl daher, weil Mimi gar nicht daran dachte, daß ihr Verhältniß zu Hilda davon berührt werden könnte. War sie ja doch darin eingelebt von Kindheit auf. Es war so naturgemäß, so felsenfest, daß sie ein Rütteln daran gar nicht für möglich hielt und die bloße Andeutung, auch wenn sie von Hilda ausging, wie eine tiefe Kränkung empfand.

Daher der stürmische Protest, daher nach dessen Zurückweisung das schmollende Schweigen, unter dem aber das hieran nicht gewöhnte Zünglein am meisten litt. Jetzt revanchirte es sich; denn von jenem Aufenthalte in dem böhmischen Bade auf die Hochzeit selbst übergehend, reihte Mimi allerlei Bemerkungen über die neue Ehe ihres Vaters bunt an einander, wie sie dies in den letzten Wochen nicht müde geworden war zu thun, vielleicht eben deshalb, weil sie in ihren eigenen Gedanken eine gewisse Uebereinstimmung mit denen der Tante zu entdecken meinte.

Was hätte denn auch Tantchens Fernbleiben von der Trauung für eine andere Bedeutung gehabt? Der Katarrh war doch sicher nur ein Vorwand; das Haus wäre wegen der paar Tage Abwesenheit gewiß auch nicht zu Grunde gegangen, und das Einbringen des Grummets hätte schon der Oberknecht allein besorgen können. Mimi hatte mit dem Vater allein zur Hochzeit reisen und bei der Heimreise einer bekannten benachbarten Familie anvertraut werden müssen.

Das war für der Kleinen Logik ausschlaggebend gewesen. Sie fühlte sich der Unterstützung einer ihr im Stillen Verbündeten sicher; die Stiefmutter erschien ihr, wenn auch gerade nicht als ein Eindringling, so doch als ein gewissermaßen Fremdes in der Hausgenossenschaft, an das man sich aber gewöhnen könne, wenn es sich nicht unbequem mache. Und nun mit einem Male mußte sie Worte hören, die viel zu ernst klangen, als daß sie sich [23] noch der Zuversicht, ihre Gesinnung werde getheilt, hingeben konnte. Sie war betroffen, dann bäumte sich aber doch etwas in ihr auf gegen ein stilles ergebungsvolles Hinnehmen der Lehre, die ihr wie eine Ungerechtigkeit vorkam. Sie wollte dagegen plänkeln, und plauderte, je länger sich jetzt Hilda stumm verhielt – was doch offenbar ein Zeichen fortwährender Mißbilligung war – immer lebhafter, um sich selbst glauben zu machen, daß die Ungnade nur leicht zu nehmen sei, bis endlich das Rasseln der Räder auf dem Pflaster der Stadt diesen Anstrengungen ein Ziel setzte.

Aber auch nachdem das Geräusch beim Einbiegen in die nach dem Bahnhof abzweigende Allee ein Ende genommen, fand sich ihre Beredsamkeit nicht wieder ein. Die Strecke war übrigens nur noch kurz, und als der Wagen hielt, hörte man schon das Gebimmel der elektrischen Klingel, welche die Abfahrt des Zuges von der letzten Station signalisirte. Der durch den Taschenspieler verursachte Aufenthalt hatte doch beinahe zu einer Verspätung geführt, und die Damen mußten sich beeilen, auf den Perron zu gelangen.

Der Stationschef grüßte sie mit besonderer Ehrerbietung und gab auf Meinhard’s Frage die Versicherung, daß immerhin noch fünf bis sechs Minuten bis zur Ankunft des Zuges vergehen würden. Fast unwillkürlich nahm Hilda Meinhard’s Arm, um sich von ihm durch die drängenden Menschen zu einem ruhigen Plätzchen führen zu lassen. Manchen Gruß hatte er dabei zu erwidern, der nicht nur der hervorragenden Stellung in der kleinen Stadt, sondern auch der persönlichen Beliebtheit des angesehenen Mannes galt; dennoch wurde seine Aufmerksamkeit nicht so ganz abgezogen, daß ihm der ungewöhnliche Ernst seiner Begleiterin und ihre Blässe entgangen wäre, die freilich einem weniger theilnehmenden Auge in dem Scheine der spärlichen Laternen kaum aufgefallen sein dürfte. Er benutzte das Alleinsein mit ihr; denn Mimi war ein wenig abseits damit beschäftigt, Fritz die beiden großen Bouquets abzunehmen, mit denen er den Damen gefolgt war.

„Was ist Ihnen?“ wiederholte Meinhard seine schon früher gestellte Frage. „Hat Sie Mimi’s Geplauder verstimmt, und ist Ihnen, indem Sie das Kind auf Theilung der Pflichten verwiesen, plötzlich auch der Gedanke an die Theilung Ihrer Rechte erschreckend nahe getreten?“

Hilda schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf.

„Mimi’s Herz wird mir ja immer bleiben,“ entgegnete sie überzeugt. Sie hatte vielleicht eine Zustimmung erwartet, statt derselben aber ging der Freund nach einer kurzen Pause in seinen Nachforschungen weiter.

„Dennoch ist etwas vorgefallen, was Ihr schönes Gleichgewicht stört,“ sagte er mit der Bestimmtheit eines Menschen, der aus der jahrelangen Beobachtung eines Anderen und aus dem liebevollen Eingehen in dessen Wesen beinahe jeden seiner Gedanken zu errathen gelernt hat. „Ist am Ende wieder ein Brief aus Amerika gekommen?“

„Was bringt Sie gerade darauf?“ fragte sie überrascht.

„Es sind eben schon wieder mehrere Monate verstrichen, seit jene Frau an Ihr gutes Herz appellirte. Die Perioden waren sonst nicht so lang gestreckt und pflegten sich sogar in einer gewissen Regelmäßigkeit zu verkürzen, genau der Willfährigkeit entsprechend, mit der Sie Ihre Sparbüchse, allen Abmahnungen entgegen, in dieses Danaidenfaß leeren. Es wäre auch zu verwunderlich, wenn die Ausdauer der Begehrenden eher ermüden sollte, als die Geduld der Spenderin.“

„Sagen Sie: das Mitleid.“

„Es dünkt mich sehr übel angebracht, dieses Mitleid, und es wird ohne Scham mißbraucht, um Sie gewissenlos auszusaugen.“

„Davor bin ich ja durch doppelte Vorsorge hinreichend geschützt; Franz und Sie behandeln mich ja ohnedem wie ein unmündiges Wesen, und ich glaube, ich müßte vor Gericht klagbar werden, um nur wieder das Dispositionsrecht über mein Eigenthum zu erlangen.“

„O, es würde dessen bei mir nicht bedürfen, wenn Sie mir Ihr Vertrauen entzogen haben –“

„O, nicht diese Empfindlichkeit, Meinhard! Sind Sie denn nicht mein Freund?“ unterbrach sie ihn, seine Hand mit leisem Drucke fassend, und sah dabei so voll Herzlichkeit zu ihm auf, daß auch ein weit tieferer Groll unter diesem Strahl hingeschmolzen wäre. „Ich weiß ja, Sie meinen es gut mit mir, und Sie schneiden auch sonst meine Erörterungen nicht mit der Barschheit meines Bruders ab, doch eben darum sollten Sie auch ein wenig Nachsicht mit meinen Empfindungen haben. Mein Mitleid gilt ja nicht Wilhelm, obgleich er mein Bruder ist. Er hat sein Schicksal verdient; er hat Schande über uns gebracht, und nicht einmal die Folgen seines Verbrechens haben ihn zur Umkehr geführt. Unmännlich, thatlos und ohne Energie ist er geblieben. Für ihn habe ich keine Regung des Mitgefühls; ihm wäre es gleich, wenn sich Franz vollends für ihn zu Grunde gerichtet hätte und Waltershofen, das ohnehin so schwer zu erhalten gewesen, ganz für uns verloren gegangen wäre. Er hat nie eine Rücksicht gegen uns gezeigt – seine Liebenswürdigkeit war nur Schwäche. Aber Derjenigen kann ich meine Theilnahme nicht entziehen, die am Schwersten darunter leidet.“

„Und die Ihnen jene impertinenten Briefe schreibt, in denen aus einander gesetzt wird, daß eine Frau von Reinach das Recht nicht nur auf die Anerkennung, sondern auch auf die Unterstützung der Familie habe, die ihr beides rücksichtsloser Weise verweigere.“

„Sie kämpft für ihr Kind,“ sagte Hilda und sah mit ernstem Nachdenken zu Boden.

„In der kecken Weise der einstigen Soubrette vom Theater.“

„Was auch ihre Vergangenheit gewesen sein mag, jetzt ist sie einmal Wilhelm’s Frau und die Mutter seines Kindes. Ich kann nicht ohne Mitleid an die Beiden denken, wenn ich mir vorstelle, wie dürftig, wie elend sie sind, vielleicht nahe am Verhungern, trotz des unablässigen Kampfes und der Arbeit, mit welcher diese Frau eine Existenz möglich zu machen sucht, die ihres Mannes Leichtsinn und Arbeitsscheu immer wieder in Frage stellt.“

„Ihr gutes Herz dichtet Zaubermärchen. Unsere Berichte –“

„Ich vertraue meinem Gefühle mehr als allen Berichten. Nehmen Sie mir den Glauben nicht!“

„Und das Seelenbedürfniß, sich immer für andere zu opfern.“

„Auch das kann Glück sein.“

Sie sagte das so innig und voll so tiefer Ueberzeugung, daß Meinhard bewegt auf sie niedersah.

„Das Glück der Märtyrer,“ sagte er leise, „und die werden heilig gesprochen.“

„Ach, darnach trage ich kein Verlangen,“ entgegnete sie lächelnd. Sie hob freundlich ihren Blick zu ihm auf; doch es lag nicht in ihrem Wesen sich rühren zu lassen, und auch jetzt wurde sie durch die feucht blickenden Augen ihres Freundes nicht gerührt. Wohl aber regte sich das Vertrauen in die alte treue Freundschaft, der Mittheilungsdrang, und entschlossen begann sie: „Wissen Sie denn –“

Wie zur Strafe für ihr früheres Zögern blieb es ihr aber jetzt versagt, zu vollenden. Die Fortsetzung wurde unbarmherzig von dem Gellen des „ersten Läutens“ verschlungen.

Unwillkürlich wandte Hilda den Kopf gegen den einfahrenden Zug und trat einen Schritt vor, wie alle Andern, die hier harrten. Den Augenblick benützte auch Mimi, um der Spannung ein Ende zu machen, die sich deutlich genug – wie sie meinte – in der Achtlosigkeit kundgegeben, mit der sie behandelt und von der Unterhaltung ausgeschlossen worden.

Sie schlang die Arme um Hilda.

„O Tantchen, bist Du noch böse?“ flüsterte sie mit gepreßter Stimme. „Bitte, bitte, sei wieder gut! Ich habe ja doch nur Dich lieb, aber ich will so freundlich wie nur möglich gegen die neue Mama sein. Gewiß!“

„Das setze ich voraus,“ tröstete die durch den Ueberfall Ueberraschte das dem Weinen nahe Kind. „Ich wußte es, und Deinen Papa wird es freuen.“

„Und Du bist nicht mehr böse? Ach, Du kannst ja gar nicht böse sein.“ Und in raschem Umschwunge, die zurückgedrängten Thränen noch im Auge, lächelte Mimi und küßte das Tantchen mit nochmaliger stürmischer Umarmung.

Sie sahen aus wie zwei im Alter wenig verschiedene Schwestern, die sich trennen sollten. Niemand außer Meinhard hatte den kleinen Zwischenfall beachtet; Abschiedsscenen spielten sich ja mehrere ab auf dem Perron.

Der Zug hielt; die Thüren öffneten sich, und in dem Gewirre der nach den Coupés Drängenden und der Aussteigenden war bei der schwachen Beleuchtung einen Moment lang kaum Jemand zu erkennen. Mimi hatte sich am ersten orientirt.

„Ah, da sind sie! da sind sie!“ rief sie. „Hab’ ich Dir’s nicht gesagt, daß er mitkommt? Nein, wie drollig! Er sucht uns [24] offenbar und sieht uns nicht. Da, da! Ach, und die Aurora ist auch dabei.“

„Aurora? Wer ist denn das?“

„Weißt Du denn das nicht? Die – – O Papa, Papa!“

Sie hatte sich nicht vergeblich auf die Fußspitzen erhoben und ihr schlankes Figürchen, das ohnedem Hilda um ein weniges überragte, so lang gestreckt als möglich. Jetzt lag sie ihrem Vater an der Brust und stieß ihm von rückwärts mit dem Strauß, der für die „neue Mama“ bestimmt war, den Hut über die Augen.

Darnach kam freilich auch diese an die Reihe, und der Strauß an seine Bestimmung. Was aber der Kleinen diesmal an Zärtlichkeit, trotz aller guten Vorsätze, doch gebrechen wollte, ersetzte die junge Frau durch ihr Entgegenkommen. Sie zog Mimi liebreich an ihr Herz, und es war sogar etwas wie Rührung in ihren schönen regelmäßigen Zügen, als sie einen langen Kuß auf die Stirn des Wesens drückte, dem sie Mutter zu sein versprochen.

„So ist es recht. Ihr müßt Freundinnen werden!“ meinte Mimi’s Vater, der wohlgefällig die Gruppe betrachtete, indem er sich den Jägerhut über dem gebräunten energischen Gesichte wieder zurecht schob.

„Das sind wir schon. Wir wollen aber mehr werden – Schwestern! Nicht wahr?“ sagte die junge Frau, sich abermals zu Mimi herab neigend, und hatte sich mit dem einzigen Worte in deren Herzen mehr Platz erobert, als das verwöhnte Kind für möglich gehalten. Nur von einer andern Mutter wollte es nichts wissen – eine Schwester aber –

„Gut, gut,“ meinte Herr von Reinach mit etwas rauhem Humor. „Der erste Trieb ist vorbei – jetzt aber vertagt Eure Herzensergießungen! Du kennst ja Hilda noch gar nicht, liebe Albertine. Erlaube! Ah, das ist brav, daß Du auch mitgekommen bist, Bruno! Das ist erst die rechte Heimath, wenn sie uns aus den alten Gesichtern grüßt. Bin doch froh, daß ich wieder daheim bin. Albertinchen, Statthaltereirath Meinhard, Respectsperson, Oberster des Amtsbezirks, Minister des Innern in spe und mein treuer Jugendfreund.“

„Ach welche Rücksichtslosigkeit! Kein Anstand, keine Achtung!“ unterbrach hier eine Stimme die Reihe der Vorstellungen. Die dicke Dame, welche sich so beklagte, schoß vernichtende Blicke um sich, während sie die kleine Gruppe, an welche sie herantrat, zur Rache aufzurufen willens schien.

Der junge schlanke Elegant, auf dessen Arm sie sich schwerfällig stützte, erklärte lachend:

„Mama beging die Unvorsichtigkeit sich einigen Kofferträgern in den Weg zu stellen, und wäre in der That beinahe über den Haufen gerannt worden.“

„Ueber den Haufen – über den Haufen,“ wiederholte sie mit tadelndem Gemurmel das anstößige Wort. Ihr durch den Eifer stark geröthetes Antlitz verklärte sich aber plötzlich und mit einem überraschenden Uebergang, wie durch den Verwandlungsapparat bei Nebelbildern, zu dem einschmeichelndsten Lächeln, als sie sich Hilda gegenübersah.

Eine Ahnung hatte dieser schon gesagt, wen sie vor sich habe, ehe ihr Bruder noch Zeit fand, seine Schwiegermutter mit ihr bekannt zu machen. Vielleicht hatte Mimi’s Ausruf und eine dadurch hervorgerufene Ideenverbindung diese Erkennung erleichtert.

Die Besitzerin des Hauses „Zur Aurora“ neigte sich mütterlich wohlwollend zu den sie freundlich Begrüßenden.

„Ach, wie lieb!“ sagte sie mit Gefühl. „Also auch an mich haben Sie gedacht, Fräulein Hilda? Sie sind zu aufmerksam! Wirklich, zu freundlich! Das schöne Bouquet für mich! Wie soll ich Ihnen danken? Sieh doch nur, Edwin, wie liebenswürdig! Diese prachtvollen Blumen so spät im Herbst! Mein Sohn, Edwin von Tonner. Mein erster Mann war ein von Tonner, wie Sie vielleicht gehört haben. Edwin, Fräulein Hilda erlaubt Dir gewiß, ihr die Hand zu küssen. Wir sind ja nun eine Familie.“

Zu gutmüthig, um Jemand absichtlich eine Enttäuschung zu bereiten, überließ Hilda den eigentlich gleichfalls für die junge Schwägerin bestimmten Strauß deren Mutter, wie sie auch den verordneten Handkuß hinnahm, obwohl sie sich von dieser Begegnung im Grunde wenig angemuthet fühlte. Vielleicht hätte sie unter anderen Umständen mehr das Komische als das Befremdliche der Situation herausgefunden, im Momente aber fehlte ihr der Humor; denn noch wirkten die in der Unterredung mit dem Freunde angeregten Gedanken in ihr nach, und überdies quälte sie der plötzlich auftauchende Gedanke, daß für die Aufnahme dieser unerwarteten Gäste gar keine Vorbereitungen getroffen waren.

Sie kannte ihres Bruders Ungeduld in solchen Dingen, und diese machte sich auch wirklich schnell genug fühlbar. Einstweilen ertheilte Herr von Reinach seinem Bedienten, Fritz, einige Befehle. Dieser hatte sich beeilt, das Handgepäck aus dem Coupé zu räumen, und stand nun mit dem abgenommenen Hut in der einen und einem Handkörbchen in der anderen Hand da. Unter dem festgebundenen Deckel des Korbes zwängte sich der Kopf eines Hündchens hervor, das nahe daran war, sich bei seinen ungestümen Befreiungsversuchen selbst zu erwürgen.

„Nur einen Wagen, sagt mir Fritz? Wie konntest Du doch daran denken, Hilda, nur einen Wagen für uns alle herzuschicken?“ zog Herr von Reinach seine Schwester zur Verantwortung. „Was nutzt der Korbwagen? Die zweiten Pferde hätten vor die Halb-Chaise gespannt werden sollen; für die Bagage konnte ein Bauerngespann kommen.“

„Wenn wir nur früher gewußt hätten –“

Aber Entschuldungen waren dem an’s Befehlen gewöhnten Gutsherrn ein Gräuel.

„Früher, früher! Wann denn? Wir trafen uns unterwegs – das hatten wir verabredet, um einige Tage noch gemeinsam zu verleben, aber ich habe die großen Städte jetzt für eine Weile satt, und war froh, als sich die Schwiegermama entschloß mitzukommen. Das alles wurde gestern Morgen erst abgemacht, und ich schrieb auf der Stelle; den Brief hast Du doch erhalten? Die Depesche heut auch? Da es der Brief noch halb im Zweifel ließ – –“

„Das Telegramm wohl, aber nicht den Brief.“

Damit war jedoch Oel in’s Feuer gegossen. Der Unmuth Reinach’s wandte sich nun gegen die Postverwaltung, das Communicationswesen, die Verwaltung überhaupt und schließlich gegen alle Einrichtungen des gesammten Staatswesens; nicht einmal ein freundlicher Beschwichtigungsversuch der jungen Frau wollte recht einschlagen. Erst Meinhard gelang es zuletzt, den Unwirschen leidlich zur Ruhe zu bringen.

Er hatte, während sich der Freund seinem Unmuthe hingab, Rath geschafft, wenigstens für das nächste Bedürfniß in dem „arg zerrütteten Staatswesen“.

Von den Passagieren des mittlerweile wieder weitergefahrenen Zuges war nur ein einziger dem harrenden Hôtelomnibus der „Krone“ zugefallen. Durch eine höfliche Einladung hatte Meinhard dessen Uebersiedelung in jenen des „Goldenen Adlers“ bewirkt; der kam ja doch auch an der „Krone“ vorüber, und ein anderes Mittel als diese Fusionirung der beiden concurrirenden Großmächte stand eben nicht zu Gebot, da sich Miethwagen an der dem Städtchen so nahen Bahnstation nur auf Bestellung einzufinden pflegten. Das einspännige Fuhrwerk bot zwar keine übermäßige Bequemlichkeit, aber es war ein Auskunftsmittel, und Mimi gab sofort ihre Bereitwilligkeit zu erkennen, von demselben Gebrauch zu machen, natürlich unter dem Schutze Edwin’s, mit dem sie unterdessen die heiterste Begrüßung gewechselt.

„Ich habe schon eine Ahnung davon gehabt, daß Sie mitkommen,“ hatte sie ihm in aller Eile anvertraut.

„Wirklich? Sie erwarteten mich? Darf ich hoffen, mit Ungeduld?“

„Davon habe ich nichts gespürt.“

Aber das freundliche Lächeln, mit dem sie seinen feurigen Blick erwiderte, benahm selbst dem grausamen Beisatze: „Nur mit Hunger, weil wir heute so spät zum Abendessen kommen,“ seinen Stachel. Sie nahm es denn auch nicht sonderlich huldvoll auf, als Frau Rohrwek mit einem ziemlich bestimmt lautenden: „Nein, nein, das Töchterchen gehört zu uns,“ die Entscheidung in entgegengesetztem Sinne traf. „Man darf Vater und Kind die Freude des Wiedersehens nicht verkümmern,“ fügte sie hinzu.

So war es selbstverständlich Hilda, welche auf die Gesellschaft des jungen Mannes angewiesen blieb, der ihr auf einen Wink seiner Mutter zuvorkommend den Arm bot. Beide blieben allein; denn Meinhard war nicht mit eingestiegen; er hatte es vorgezogen, die so unvorhergesehen vergrößerte Familie an diesem Abende discret sich selbst zu überlassen, und Hilda war kaum dazu gekommen, ihm noch „gute Nacht!“ zu sagen und die Hand aus dem Wagen zu reichen.

Es beschäftigte sie auch so vielerlei, daß sie kaum die Hälfte

[25]

„Een Boot is noch buten?“
Nach dem Oelgemälde von Prof. H. Knorr in Karlsruhe.

[26] von dem hörte, was ihr Begleiter mit geläufiger Zunge erzählte; nur dort, wo eine Antwort unerläßlich war, gab sie dieselbe kurz und zerstreut. So viel Mühe er sich auch nahm, die Zeit der Fahrt angenehm auszufüllen – ihr war noch nie eine solche langweiliger erschienen als die gegenwärtige, und sie war froh, als endlich die einfachen Linien des zwar nicht großen, aber doch recht stattlichen Schloßbaues hellerleuchtet aus der Finsterniß auftauchten.

„Allerdings – recht praktisch – nichts fehlt – auch die weißgekleideten Ehrenjungfrauen nicht,“ stimmte sie den scherzhaften Bemerkungen ihres Begleiters zu, indem sie dieselben fast wörtlich wiederholte und dabei an ganz andere Dinge dachte:

„Die Gastzimmer und dann der Tisch – zwei Gedecke mehr, und ob auch die Susanne –“

Der Wagen hielt an. Eiligst huschte Hilda voran in’s Haus, während ihr Bruder mit Frau und Schwiegermutter noch unter der grünen Triumphpforte stand und beim bunten Scheine der in dem Fichtenreisig angebrachten Lämpchen die Glückwünsche von seinen Leuten entgegennahm.

Da krachte plötzlich ein Schuß durch die Nacht und darauf noch ein zweiter. Frau Rohrwek, welche mit großer Genugthuung und herablassendem Kopfnicken die Anreden mit angehört, stieß einen Schrei aus und klammerte sich an den Altknecht, der ihr zunächst stand.

„Ein Attentat, ein Attentat!“ kreischte sie auf.

Sie achtete nicht auf seine beschwichtigenden Worte, es sei ja nur das gnädige Fräulein gewesen; da brauche man nicht zu erschrecken. Aber zu gleicher Zeit fast ließ sich Mimi’s Stimme vernehmen mit einem schallenden:

„Hurrah!“

„Weißt Du, Papa,“ setzte sie dann erläuternd hinzu, „Tantchen wollte von Böllern nichts wissen – da mußt Du schon mit meiner kleinen Jagdflinte vorlieb nehmen. Eine Hochzeit muß doch angeschossen werden! Hurrah!“

„Teufelsmädel!“ meinte der Vater schmunzelnd und wehrte den Hunden, die winselnd vor Aufregung an ihm hinaufsprangen. Die junge Frau äußerte ihre Besorgniß über die Gefahr.

„Es ist keine Gefahr dabei, soll ich wieder laden?“ lachte Mimi.

„Ich sterbe,“ ächzte Frau Rohrwek. „Ein entsetzlicher kleiner Kobold.“

Der Kobold aber lachte über die gelungene Verherrlichung des Einzuges.

(Fortsetzung folgt.)




Mohammed und sein Werk.

Ein Vortrag von Johannes Scherr.
(Fortsetzung.)


3.

Am 20. April des Jahres 571, eines Montags, gebar zu Mekka eine Frau des Stammes Koraysch, Amina geheißen, deren Gatte Abd Allah etliche Monate zuvor gestorben war, einen Knaben, welcher den Namen Mohammed erhielt. Dieser Name wird verschieden geschrieben und gesprochen: Mohammed, Muhammed, Mohammad, Muhammad – und A. Sprenger, der gründlichste Biograph des Propheten, ist geneigt, den Namen nicht für einen ursprünglichen Eigennamen, sondern für einen späteren Ehrennamen zu halten, welcher bedeutet „der Vielgepriesene“ und seinem Träger beigelegt worden wäre, wie seinem Vorgänger Jesus der Verehrungsname Christus. Seine Zukunft wäre dem Neugeborenen nicht an der Wiege gesungen worden, auch wenn er eine solche gehabt hätte. Das ganze Vermögen, welches Abd Allah seinem nachgeborenen Sohne hinterlassen, soll bestanden haben aus zwei Kameelen, etlichen Schafen und einer abyssinischen Sklavin. Der Knabe war demnach arm und sah sich, als ihm auch die kränkliche Mutter bald wegstarb, auf den Schutz seines Großvaters von väterlicher Seite, Abd-Al-Mokalib, und nach dessen ebenfalls bald erfolgtem Tode auf den seiner beiden Oheime Abu Talib und Zuheir verwiesen. Sie konnten aber bei eigener Dürftigkeit nicht viel für ihn thun, und er sah sich genöthigt, in früher Jugend schon sein Brot zu verdienen und zwar als Schafhirtenjunge. Dann, mehr herangewachsen, hat er seinen Oheimen, welche Händler waren, auf Karavanenzügen als Kameeltreiber gedient, sowie gelegentlich auch als Bogen- und Köcherträger in einer der Klanfehden, in welcher seine Verwandten mitfochten. Viele Jahre nachher hat die Erinnerung an seine gedrückte Jugend dem Propheten die Verse in der 93. Koransure in den Mund gelegt: „Hat Gott dich nicht gefunden als Waise und dich behütet? Hat er dich nicht arm gefunden und dich reich gemacht? Hat er dich nicht gefunden irregehend und dich geleitet auf den richtigen Weg?“ Später hat die gläubige Einfalt der Muslîm diese einfache und armsälige Jugendgeschichte Mohammeds mit den buntesten Mirakeln ausstaffirt, mit allen den wunderbaren Umständen und Vorgängen, womit die myhthenbildende Volksphantasie die Herkunft, Zeugung, Geburt und Kindheit der Helden, Helfer und Heilande der Menschheit auszuschmücken liebt, nicht bedenkend und nicht verstehend, daß die Gestalten dieser Unsterblichen nur um so größer und strahlender erscheinen, je enger und dunkler der Hintergrund ist, aus welchem sie hervortreten. Schade übrigens, daß neben allen den überflüssigen Wundern, womit die Legende Mohammeds Kindheit umgeben hat, das nothwendige nicht geschah, nämlich die Heilung des Knaben von Anfällen der Epilepsie oder, wie die moderne Forschung wissen will, der von Schönlein so benamseten Hysteria muskularis, welche Krankheit auch noch den Mann häufig heimsuchte.

Er war 25 Jahre alt geworden, als sein Geschick eine günstige Wendung nahm. Diese kam vonseiten einer Frau, der reichen Kaufmannswittwe Chadyga, deren Name jetzt in der Anschauung der islamischen Welt mit den Namen der Schwester Mose’s, Mirjam, der Mutter Jesu, Maria, und der Tochter Mohammeds, Fatima, die Vierzahl der auserwählten und vollkommenen Frauen ausmacht. Chadyga muß jedenfalls ein Weib von ungewöhnlichen Gaben und hoher Sinnesweise gewesen sein. Der große Einfluß, welchen sie auf Mohammed übte, welcher ohne ihre Liebe, ihren Glauben, ihren Muth und ihre Standhaftigkeit wahrscheinlich nie zum Propheten geworden wäre, ist ein vorragendes Beispiel von jener stillen, unscheinbaren und doch so wunderbar mächtigen Wirksamkeit, welche die Frauen, und zwar nicht allein die auserwählten, in der Geschichte der Civilisation von jeher entfaltet haben und hoffentlich, mit Beiseitelassung aller der lächerlichen Verrücktheiten der sogenannten Frauenemancipation, zum Segen der Menschheit auch fürder entfalten werden. Der reichen, nicht mehr ganz jungen, d. h. vierzigjährigen Händlerswittwe Chadyga empfohlen, wußte sich Mohammed als Führer ihrer Geschäfte rasch das Vertrauen seiner Dienstherrin zu erwerben und bald noch mehr. Die Ueberlieferung meldet uns: Als Mohammed von seiner zweiten im Dienste der Wittwe unternommenen Geschäftsreise heimkehrte, sah Chadyga vom Söller ihres Hauses aus, wie zwei Engel den Heimkehrenden mit ihren Fittigen bedeckten. Hätte die gute Dame etwas von griechischer Mythologie gewußt, so würden ihr die zwei Engel zweifelsohne wie Amoretten vorgekommen sein, und übersetzen wir den Vorgang aus dem Legendarischen ins Deutsche, so gewinnen wir das Facit: Chadyga hatte ihren Diener, der ein stattlicher, kluger, anstelliger und redlicher Mann war, herzlich liebgewonnen. Sie reichte ihm ihre Hand, nachdem sie ihrem Vater Chuwaylid, welcher von einem so armen Schwiegersohne nichts wissen wollte, seine Einwilligung abgelistet, d. h. dem von ihr trunken Gemachten weisgemacht hatte, daß er in die Heirat gewilligt hätte. Mohammed war dankbar. Er hielt seine Frau, welche an Intelligenz und Bildung offenbar ihre Landsmänninnen weit überragte, sehr hoch. Um ihr Aerger und Kummer zu ersparen, zähmte er, so lange sie lebte, seine nachmals unbändig hervorgebrochene Sinnlichkeit, welche der dunkelste Fleck an seiner Erscheinung war, und ergab sich erst nach Chadyga’s Tod der Vielweiberei. Aber auch dann noch blieb ihm ihr Andenken heilig. Bei jeder Gelegenheit pries er ihren hohen Sinn und ihre Tugenden, so daß seine spätere Lieblingsfrau, die schöne Ayischa, ärgerlich zu sagen pflegte, sie wäre auf kein Weib eifersüchtig als auf die todte Chadyga. Daß sie Grund dazu hatte, dafür ist uns ein schönes Zeugniß überliefert worden. Eines Tages fragte die prächtige, aber ränkevolle und nicht eben sehr tugendliche Ayischa [27] den Propheten: „Nun sage, bin ich nicht besser als Chadyga? Die war ja alt, zahnlos und unschön. Du liebst mich mehr, als Du sie geliebt hast, nicht wahr?“ Aber darauf Mohammed: „Nein, beim Allah, nein! Sie glaubte an mich, als niemand an mich glauben wollte. Auf der ganzen weiten Erde hatte ich nur einen Freund, und das war sie.

Bis zu seinem 40. Jahre lebte und arbeitete Mohammed als Händler. Dann erst ist er als Prophet und Religionsstifter aufgetreten. Er scheint aber doch schon ziemlich lange vorher mit Höherem sich befasst und den Handelsgeschäften nur noch geringe Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Hierauf deutet auch die Nachricht, daß er seines erheirateten Vermögens verlustig gegangen, sowie die Thatsache, daß er viele Zeit dem Sinnen und Denken widmete, zu diesem Zwecke die Einsamkeit suchte und darum bald allein, bald mit Chadyga, der Vertrauten aller seiner Gedanken, auf Tage und auf Wochen in eine Höhle des unfern von Mekka gelegenen Berges Hara sich zurückzuziehen pflegte. Ich brauche kaum daran zu erinnern, daß wir eine solche Zurückgezogenheit, ein Aufsuchen der Einsamkeit in Wildnissen oder Gebirgen auch in dem Dasein anderer Religionsstifter finden. Mose, Zarathustra, Buddha, Jesus sind in die Wüste gegangen, um, so zu sagen, allein zu sein mit ihrer Seele und in der erhabenen Stille der Einöde die Kraft zu sammeln, das Geheimniß ihrer Mission auf dem lärmenden Markt des Lebens zu enthüllen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß Mohammed in beschaulicher Einsamkeit über sich und seine Aufgabe klargeworden. Sein bis jetzt zurückgelegter Lebensweg hatte ihn an den verschiedenen Seiten der Daseinsweise seiner Landsleute vorübergeführt, wie er auch auf seinen Händlerfahrten mit den Lehren und der Lebensführung der Juden und der Christen Bekanntschaft zu machen ausreichende Gelegenheit gehabt. Er hatte Steppen durchwandert und in Städten gelebt; er war Hirt und Händler gewesen, Knecht und Herr, arm und reich; er hatte die Anschauungen und Bedürfnisse, die Tugenden und Laster der Menschen beobachtet; er hatte auch ein Stück Krieg gesehen. Aber alle diese Beobachtungen, Erlebnisse und Erfahrungen hatten ihn nicht befriedigt. Er ahnte, wußte, wollte Besseres. Auch in ihm glühte jene Flamme, ein Funke von jener Centralsonne der moralischen Welt, welche Begeisterung heißt und ihre berufenen Träger befähigt, in die Geschicke der menschlichen Gesellschaft schicksalsmäßig einzugreifen, selber ein Stück Schicksal. Wie alle Menschen, in welchen der „göttliche Anhauch“ (afflatus divinus), der Genius, sich offenbart, dachte er mehr an andere als an sich selbst. Ihn bekümmerte die Finsterniß, in welcher sein Volk wandelte, das infolge seiner politischen Zersplitterung und religiösen Zerfahrenheit seine beste Kraft in zwecklosen Fehden vergeudete. Als das Grundübel seines Landes erschien ihm der Mangel eines großen, umfassenden und einigenden religiösen Princips. Ein solches müßte aufgestellt und in Wirksamkeit gesetzt werden. Ob dem Propheten dabei auch schon der Gedanke vorschwebte, sein Volk würde, unter dem Banner eines neuen Glaubens gesammelt und geeint, wohl das Zeug haben, eine große politisch-geschichtliche Rolle zu spielen, diese Frage ist mit Bestimmtheit weder zu bejahen noch zu verneinen. Für wahrscheinlich kann gelten, daß Mohammed anfänglich nur eine religiöse Reform seiner Nation im Auge hatte, daß aber die Logik der Thatsachen, der Zwang der Verhältnisse ihn bald nöthigte, mit dem Reformator den Feldherrn und den Staatsmann in seiner Person zu vereinigen.

Vor allem war er kein in elegischem Brüten über einer großen Idee sich verzehrender Mensch, sondern ein Thatmann. Er wollte, das Licht, welches er in seiner Seele brennen fühlte, sollte hinleuchten über ganz Arabien, hellend und wärmend, und mit echtarabischer Begeisterung und Tapferkeit, nicht weniger auch mit echtarabischer Klugheit und Zähigkeit ging er daran, seinen Gedanken zu verwirklichen.

Hiernach ist die Frage, ob Mohammed es mit seinem Glauben an seine Berufung und mit seinem aus diesem Glauben entsprungenen Werke ehrlich und ernstlich gemeint habe oder ob er nur ein schlauer Betrüger, ein eigen- und ehrsüchtiger Schwindler und Streber gewesen sei, mit gebührender Verachtung beiseite zu stellen. Diese Frage überhaupt aufzuwerfen, konnte nur die Dummheit oder die Unwissenheit sich einfallen lassen. Eine weltgeschichtliche That wie die Gründung des Islâm kann zu ihrem Vater ganz unmöglich den Betrug haben. Man gründet wohl Großscheinendes, momentan Blendendes sogar, auf Lug und Trug, niemals aber wirklich Großes und Dauerndes. So auch keine Weltreligion. Erst dann, wann der religiöse Gedanke seine ursprüngliche Triebkraft eingebüßt hat, sucht und findet er in dem Betrug einen zweideutigen Helfer. Ganz fraglos war Mohammed ein Mensch von ganzer und voller Ueberzeugung. Sogar ein Fanatiker war er, wie denn, genau angesehen, wahrhaft Mächtiges, Völkergeschicke Entscheidendes gar nie ohne einen gewissen Grad von Fanatismus auf-, durch- und zurechtgebracht wird. Endlich steh’ ich nicht an, Seneka’s bekannten Satz: „Kein Genie ist ohne Beimischung von einigem Wahnsinn“ – auf den arabischen Propheten, insbesondere im Hinblick auf seine erwähnte Krankheit, anzuwenden, und erinnere hier auch noch an das im „Sommernachtstraum“ stehende shakspeare’sche Wort:

Des Dichters Aug’, in schönem Wahnsinn (fine frenzy) rollend,
Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erde nieder.“

Mit solchen Augen, aber zugleich ein scharfer Beobachter und ein nachdenklicher Erwäger, hatte sich unser Mann umgesehen in der Welt. Er war, wie vorhin schon flüchtig erwähnt worden, auf seinen Handelsreisen mit Juden und Christen in Verkehr gekommen und in Gesprächen mit denselben hatte er ihre religiösen Ueberlieferungen, Glaubenslehren und Gottesdienste kennen gelernt. Denn eine andere Quelle der Belehrung über Judenthum und Christenthum, über die heiligen Schriften und Satzungen dieser Religionen sprudelte ihm nicht, da der „ungelehrte Prophet“ weder zu lesen noch zu schreiben verstand. Das ist allerdings neuerlich angezweifelt, aber das Gegentheil keineswegs glaubhaft erwiesen worden. Wir, an dieser Stelle, können den gelehrten Streit hierüber billig auf sich beruhen lassen, bedenkend, daß es am Ende aller Enden ganz gleichgiltig, ob Mohammed den Koran mündlich oder schriftlich verfasst habe. Viel wichtiger ist der Umstand, daß die Einflüsse von jüdischer und von christlicher Seite her der Unabhängigkeit seines Denkens und der Selbstständigkeit seines Urtheilens keinen Abbruch thaten. Er ließ die jüdische Lehre gelten, und er ließ auch die christliche gelten, beide bis zu einem gewissen Punkte. In Mose, so, wie er denselben kannte und verstand, achtete er den Feststeller des Begriffes eines einzigen, außerweltlichen, geistigen Gottes. In Jesus, soviel er von ihm wußte, ehrte er den großen Reformer des Judenthums, welcher dieses aus der Rasse-Selbstsucht, aus der nationalen Beschränktheit herauszuheben und zum Rein-Menschlichen emporzubilden unternommen hatte. Allein das Judenthum genügte ihm nicht, weil dasselbe die durch den Propheten von Nazareth angestrebte Reform verworfen hätte, und das Christenthum, welches ihm zudem nur in der widerwärtigen Gestalt anatolisch-byzantinischer Fetischisirung vor Augen getreten war, wollte er nicht, weil dasselbe durch die Vergottung Jesu den einheitlichen, den monotheistischen Gottesbegriff getrübt und geschwächt hätte. Ihm schwebte als verständig, ersprießlich und erstrebbar ein Drittes vor. Er wollte nämlich den Grundgedanken des jüdischen Jahvethums, d. i. die Einheit, Alleinheit und Geistigkeit Gottes, verkünden, und zwar verbunden mit einem Gottesdienst, welcher, im Gegensatze zu dem starren, weitschweifigen und bornirt nationalen jüdischen Ceremoniendienst, mehr die ethisch-praktische Seite hervorkehren und also die humanen, im Christenthum gelegenen Elemente in sich aufnehmen und zur Entwickelung bringen sollte.




4.


Nun aber ist es die Wonne und das Weh genialer und zugleich charakterstarker Menschen, daß, wann sie einmal von einer großen Idee erfüllt sind, sie von derselben ganz und gar ergriffen, geradezu besessen werden. So ein Gedanke wird in dem auserwählten Menschen zu Fleisch und Blut, pulsirt in seinen Adern, vermischt sich mit allen seinen Vorstellungen, lässt ihm nicht Rast bei Tage, nicht Ruhe bei Nacht, treibt alle seine Empfindungen auf die Spitze und versetzt sein Nervengeflecht in krankhaft-reizbare Schwingung. Dieses Seelenfieber – denn so darf ich vielleicht den gemeinten Zustand bezeichnen – macht sich in Delirien Luft, welche in phantasiereichen Naturen zur zeitweilig-somnambulistischen Ekstase sich steigern können. Eine solche Natur war Mohammed und überdies, was hier wiederum sehr in Betracht kommt, eine epileptische. Daraus dürfte es sich erklären lassen, daß die den Mann besitzende und beherrschende Idee ihm allmälig visionär gegenständlich wurde, d. h. daß er das, was er fühlte, dachte und wollte, in der Form von Hallucinationen leibhaftig, greifbar deutlich [28] vor sich zu sehen glaubte. Diese rein innerlichen Vorgänge, diesen psychologischen Proceß würde selbstverständlich die Menge weder begriffen, noch würde sie daran geglaubt haben. Um so etwas dem Volke mundgerecht zu machen, mußte überall und allezeit die Maschinerie des Uebersinnlichen, des Mythologischen in Bewegung gesetzt werden. Die islamische Ueberlieferung weiß darum von der „Erleuchtung“ und „Berufung“ des Propheten dieses zu melden: „In seinem 40. Lebensjahre erschien dem Mohammed der Engel Gabriel als Ueberbringer der göttlichen Offenbarung und befahl ihm, als Prophet Allah’s, des höchsten Gottes, diese Offenbarung den Menschen zu verkündigen.“ In dieser Weise, d. h. durch Vermittelung des Engels Gabriel seien dann dem Propheten die einzelnen Abschnitte des Korans, d. h. der islamischen Bibel geoffenbart worden.

Während der ersten Jahre seiner Erleuchtung und Berufung gab sich Mohammed nur seiner Frau Chadyga und etlichen vertrautesten Freunden gegenüber als Prophet. Seine erste, eifrigste und treueste Jüngerin Chadyga ist es gewesen, welche den ersten kleinen Kreis von Muslîm, d. i. Gläubigen, für das islamische Evangelium gewann. Zu diesem Kreise gehörten Mohammeds Sklave Zayd, nachmals vom Propheten an Sohnesstatt angenommen, dann die beiden angesehenen Mekkaner Abu Bakr und Othman, sowie der junge Aly, ein Sohn von Mohammeds Oheim Abu Talib, später, mit des Propheten Tochter Fatima vermählt und, mit dem Preisnamen „Der Löwe Gottes“ geschmückt, einer der herrlichsten, aber auch unglücklichsten Helden des Islâm. Es giebt eine Erzählung, welche dem jungen Aly schon zum Anfang eine vortretende Rolle zuweis’t. Bekanntlich ist es ein fragwürdiges Vorrecht der Jugend, über jedes und alles, was sie versteht und nicht versteht, mit mehr oder weniger liebenswürdiger Unverfrorenheit absprechen zu dürfen, weil sie ja nur ein Achselzucken vonseiten der Wissenden riskirt. Die Jugend besitzt aber auch das edle Vorrecht, oft mit dem Instinkt des Herzens das Große und Wahre rasch und begeistert ergreifen zu können, während demselben das reifere Alter noch zaudernd, zweifelnd und zagend gegenübersteht. Nach dreijähriger Prophetenarbeit war Mohammed erst soweit, daß er eines Tages etwa vierzig seiner Verwandten und Freunde, welchen seine Bestrebungen einige Theilnahme eingeflößt hatten, in seinem Hause versammeln konnte, um ihnen die Frage vorzulegen: „Glaubt ihr an mich und meine Sendung? Und wer will mir beistehen in meinem Werk?“ Da hätten alle geschwiegen. Aber der sechszehnjährige Aly wäre aufgesprungen und hätte mit ungestümem Enthusiasmus ausgerufen: „Ich will!“ Es scheint demnach, daß der nachmalige „Löwe Gottes“ in einer Stunde der Entscheidung eines jener durchschlagenden Worte gesprochen habe, welchen die Bedeutung von Thaten zukommt.

In demselben Maße jedoch, in welchem die kleine islamische Gemeinde sich mehrte, wuchs auch der Widerstand gegen sie und nahmen die ihr bereiteten Widerwärtigkeiten zu. Mächtigste Männer vom Stamme Koraysch – auf dessen Stimmung und Haltung doch vorerst alles ankam – traten gegen die neue Heilsbotschaft und deren Träger auf. Wie es unter ähnlichen Umständen anderwärts geschehen war, so forderten die Widersacher auch hier vor allem, der Prophetseinwollende sollte seine angebliche Sendung bewahrheiten mittels Wunderwirkens. Darauf Mohammed: „Allah hat mich nicht gesandt, Wunder zu thun, sondern nur, seine Offenbarung den Menschen zu bringen. Dieser Offenbarung Inhalt ist Wunders genug.“

Allein damit gaben sich die Korayschiten nicht zufrieden. Der Witz Börne’s, daß seit dem Tage, wo Pythagoras nach Findung des pythagoräischen Lehrsatzes dankbar eine Hekatombe darbrachte, d. h. hundert Ochsen zum Opfer schlachtete, jeder Ochse zittere, wann ein neues Licht aufgehe in der Welt, ist und bleibt ein guter Witz, zeichnet jedoch die Sachlage, von welcher ich handle, nicht völlig. Auch mit dem allerdings tausendfach bestätigten Erfahrungssatz, daß die Beschränktheit und der Neid der Mittelmäßigkeit überall und immer gegen das Genialische und Originelle gehässig, abwehrend und feindselig sich verhalten haben, reicht man nicht aus. Mehr schon trifft es das Wesen der Sache, wenn man sagt, daß die Menschen und die Völker allzeit und allenthalben weit lieber und schneller dem Dummen, Gemeinen und Schlechten als dem Gescheiden, Edeln und Rechten zugefallen seien. Uebrigens konnten ja die Leute vom Stamme Koraysch für ihren Widerstand gegen die neue Lehre auch anführen, daß die Begriffe neu und gut keineswegs immer sich decken. Aber schließlich war, wie das in unserer „besten der Welten“ so oft, ja zumeist der Fall zu sein pflegt, die ganze Angelegenheit eine Geldfrage. Die Korayschiten fürchteten, der Prophet wollte an den allerempfindlichsten Theil ihrer heidnischen Orthodoxie rühren, d. h. an ihren Geldsäckel, indem die neue Lehre ihre, der Korayschiten, Einkünfte als Eigenthümer, Hüter und Sakristane der Kaabah schmälern oder ganz versiegen machen könnte. Endlich mögen die Schwierigkeiten, mit welchen Mohammed zu ringen hatte, nicht unbeträchtlich verstärkt worden sein durch den Umstand, daß er nicht mehr reich war. Einem Reichen, welcher mit Millionen gefüllte Säcke als Schutz- und Trutzschilde vor sich hinstellen kann, pflegt ja die menschliche Niedertracht, wenn nicht alles, so doch vieles hingehen zu lassen, sogar wohl auch die Gründung einer neuen Religion. Die Rothschilde und Konsorten haben sich jedoch, soviel man weiß, nie und nirgends mit Religionsgründerei befasst. Wozu auch? Sie standen sich ja bei dem urväterlichen Kultus des Goldkalbes ganz gut.

Es liegt ein tiefer Sinn darin, daß der Königssohn von Kapilavastu sich erst aller Reichthümer und Herrlichkeiten seiner Prinzenschaft entäußern und sich zu einem Armen, zu einem Bettler machen mußte, bevor er aus dem Prinzen Siddharta zum Buddha d. h. zum Erweckten, Erleuchteten, Wissenden werden konnte und als solcher der Stifter der Religion, welche von allen auf dem Erdball heimischen Religionen die meisten Bekenner zählt. Zur Rothschilderei hatten alle die großen und guten Menschen, die Kulturhelden, die Lehrer und Tröster der Menschheit, entschieden kein Talent.

Langsam also, sehr langsam kam Mohammed vorwärts. Der Tod Chadyga’s war für den jungen Islâm ein unersetzlicher Verlust. Die ungetrübte Lauterkeit der neuen Religion, die Makellosigkeit des Verkündigers derselben verschwand mit dieser Frau. Ein bedeutender Gewinn dagegen war es, daß einer der angesehensten Korayschiten, Omar, der neuen Lehre beitrat. Der ist nachmals, als zweiter Chalif, eine der Grundsäulen des Mohammedanismus geworden. Diesen, d. h. die islamische Doktrin, wollen wir uns jetzt rasch vergegenwärtigen.




5.


„Islâm“ – d. i. Hingebung, nämlich an den Willen Gottes – nannte der Prophet die von ihm gepredigte und begründete Religion. Die Bekenner derselben nannten und nennen sich „Muslîm“, wovon unser verderbtes Wort Muselmanen kommt. „Muslem“ im Singular bedeutet einen sich Hingebenden, nämlich an Gott, also einen Bekenner, einen Gläubigen, welcher zu seinem Gegensatz den „Giaur“ hat, den Ungläubigen, weil nicht an den Islâm Glaubenden. Denn das Allahthum hält sich ebenso gut für alleinseligmachend wie das Judenthum und das Christenthum. Es ist in seinem innersten Wesen unduldsam, wie das ja – alle Redensarten beiseite gestellt – sämmtliche monotheistische Glaubenssysteme von jeher waren und ihrer Natur gemäß sein mußten.

Die Lehre des Islâm ist enthalten im „Korân“ (mit dem Artikel „Al Korân“), welches Wort bedeutet „Die Schrift“ oder „Das Buch“ und folglich genau den Sinn unseres aus dem Griechischen herübergenommenen Wortes „Die Bibel“ hat. Der Korân ist den Muslim das Buch der Bücher, das Buch schlechthin, die heilige Schrift, das geoffenbarte Wort Gottes. Jeder orthodoxe Allahbekenner ist felsenfest überzeugt, daß die Urschrift des Korân von Ewigkeit her im siebenten Himmel vorhanden gewesen sei. In Wahrheit ist „Al Kitab“[WS 1], das Buch, die Schrift, wie die islamische Bibel auch genannt wird, das Werk des Propheten, nicht aber als Ganzes genommen, sondern nur in den einzelnen Theilen. Mohammed hatte bei seinen Lebzeiten in verschiedenen Epochen und bei verschiedenen Veranlassungen den Inhalt des Korân seinen Jüngern und Jüngerinnen stückweise mündlich mitgetheilt. Einzelne Abschnitte mag er wohl auch geradezu diesem oder jenem diktirt haben. Bei seinem Tode befanden sich Bruchstücke dieser Bibel, auf Pergament, auf Leder, auf Palmblätter, auf die Schulterknochen von geschlachteten Schafen geschrieben, in verschiedenen Händen. Andere hatten sich ungeschrieben in dem Gedächtnisse von Gläubigen erhalten. Der Prophet selbst hatte weder eine Zusammenstellung veranstaltet, noch auch eine befohlen. Maßen sich aber schon unter dem ersten Chalifen Abû Bakr – Chalif ist Stellvertreter oder Statthalter,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Kitah

[29] nämlich des Propheten – die Räthlichkeit, ja Nothwendigkeit einer Sammlung der Offenbarungsschriften des neuen Glaubens herausstellte, so wurde eine erste Redaktion unternommen, welcher unter dem Chalifat Othmans eine zweite und endgiltige folgte. Beidemale verfuhren die Redaktoren ohne alle Methode, und darum ist der Korân, dessen Volumen nicht die Hälfte des Umfangs unserer Bibel beträgt, ein wahres Wirrsal von Buch, ich möchte sagen ein in’s Quadrat erhobenes Sammelsurium. Das einzige Princip, von welchem die Sammler und Ordner desselben sich leiten ließen, scheint gewesen zu sein, die längsten Stücke voran, die weniger langen in die Mitte, die kürzeren und kürzesten an’s Ende zu stellen. So, wie sie jetzt vorliegt, zerfällt die islamische Bibel in 114 Suren, d. i. Kapitel, von sehr ungleichmäßiger Ausdehnung. Einige sind bandwurmlang, andere enthalten nur wenige Zeilen. Der Korân ist in einer Art rhythmischer Prosa verfasst, welche am Ende der Zeilen nicht selten zu Reimen sich zuspitzt. Geist und Ton sind in den einzelnen Abschnitten sehr verschieden; den ganzen Korân aber in einem Zuge durchlesen zu müssen, das dürfte als eine der schwersten Geduldproben zu bezeichnen sein, welche dem Menschen, wenigstens dem abendländischen, auferlegt werden könnte. Der jeden unbefangenen Sinn so sehr anmuthende naiv-epische Stil von manchem der alttestamentlichen Bücher fehlt der islamischen Bibel. Das merkt man deutlich an der Art und Weise, wie im Korân die alttestamentlichen Mythen- und Sagengeschichten von Abraham bis zur Zeit Jesu in ewigen Wiederholungen mitgetheilt sind, mit buntscheckigem Märchenflitterzeug verunziert. Auch der alttestamentliche Schöpfungsmythus kehrt im Korân wieder, aber wunderlich verschnörkelt und so, daß dabei der islamische Teufel, der Iblis, eine vortretende Rolle spielt. In der Regel spricht Mohammed als bombastisirender Rhetor, mitunter jedoch auch als wirklicher Dichter. Dann findet er, emporgetragen auf dem Feuerwagen seiner Einbildungskraft und seiner Leidenschaft, für eifervolle Anschauungen auch den entsprechend gewaltigen sprachlichen Ausdruck. Ihren höchst-pathetischen Schwung, so zu sagen eine Poesie des Zorns, erreicht die heilige Schrift des Islâm, wann sie die Schrecken des Weltgerichts und die Qualen der Hölle schildert, ihre höchste Anmuth und Feierlichkeit, wann sie von den Freuden redet, welche der Seligen im Paradiese harren.

(Schluß folgt.)




Das neue Wien.

Bei der Erwähnung der herrlichen Metropole an der Donau überkommt heute Jeden ein Gefühl der Trauer und der Wehmuth, wie wir es wohl empfinden, wenn wir ein Haus betreten, in dem noch die letzten Hauche eines eben Verstorbenen wehen. Seit der grauenhaften Ringtheater-Katastrophe ist Wien ein Haus der Trauer geworden. Aber man soll, wenn der Zoll des Schmerzes gezahlt worden, sich allmählich den Lebenden wieder zuwenden; es ist eine Forderung der Humanität, der Barmherzigkeit, daß man nicht endlos an den Bildern der Trauer hängt: den Schwerbetroffenen ist es ein Trost, die Gedanken von der eigenen Trauer wohlthätig ab- und heiteren Bildern freundlich zugelenkt zu sehen.

Versuchen wir daher heute auf einen Moment die traurige Katastrophe vom 8. December vorigen Jahres zu vergessen, und wenden wir den noch umflorten Blick fort von den Schrecken der jüngsten Vergangenheit und dem in seinen ersten Anfängen schon herrlich strahlenden Wien der Zukunft zu!

Blühender als je zuvor steht auf ihre alten Tage die prangende Vindobona da. Es war und ist ihr vergönnt, eine förmliche Auferstehung zu feiern, und das unter Umständen, wie sie sich gleich günstig kaum noch jemals für eine Großstadt ergeben haben. Aus den Bedrängnissen und Unbequemlichkeiten früherer Generationen ist für die jetzige ein wahrer Segen geworden; so konnte das Unglück Pompejis eine Quelle freudigsten Genusses für unsere Tage werden. Doch vielleicht ist unser Vergleich nicht ganz zutreffend; dafür ist’s ja auch ein Vergleich, und der hat das Recht, zu hinken.

Man stelle sich einmal den Situationsplan von Wien vor! Den Mittelpunkt der Stadt bildet eines der edelsten Baudenkmäler aller Zeiten, der erhabene, in majestätischer Glorie himmelaufragende Stephansthurm; ihm zu Füßen breitet sich die innere Stadt, die eigentliche City aus. Es sind noch keine fünfundzwanzig Jahre her, daß die innere Stadt mit einem steinernen Gürtel umschnürt war, daß ihr schier der Athem verging, und diesen Gürtel bildeten die Stadtwälle, welche im Kreise um die Stadt herum aufgeführt waren. Zu den Wällen gehörten naturgemäß die Gräben; um diese dehnten sich in weitem Bogen die Glacis, und erst dann kamen die nach Dutzenden zählenden Vorstädte, aber auch diese wurden wieder durch einen kolossalen Ring eingeschlossen. Wieder gab es Wälle und Gräben, die bei dem ersten dieser beiden concentrischen Kreise aus militärischen Rücksichten aufgeführt worden waren, während sie hier bei dem zweiten lediglich der lieben Verzehrungssteuer wegen aufrecht erhalten wurden und noch werden. Außerhalb des zweiten Kreises erfreuen sich die Vororte – nicht zu verwechseln mit den Vorstädten, obschon einige derselben recht respectable volkreiche Städte abgeben würden – ihres idyllischen verzehrungssteuerlosen Daseins. Diese Vororte bilden selbstständige Gemeinden, wenn auch kein Fremder, wenn er die gerade Straße fortwandelt, je in seinem Leben bemerken würde, daß er, die Mariahilfer oder Hernalser Linie überschreitend, aus der Stadt Wien hinausgekommen sei. Es wird auch kein Fünfhauser oder Hernalser jemals zugeben, daß er kein Wiener sei; allein gegen die formelle Einverleibung seiner Commune in die Großcommune Wien sträubt er sich doch. Denn wenn er auch nur fünfzig Schritte von der Stadt entfernt wohnt, so bezahlt er doch das Kilo Rindfleisch, Mehl, Zucker, Kaffee, Petroleum, Obst, Gemüse, ja selbst den Wein und das Bier um so und so viel Kreuzer billiger, als der Wiener.

Der Situationsplan von Wien ist im Ganzen und Großen auch heute noch, wie er vor einem Vierteljahrhundert war. Der Stephansthurm bildet noch immer das Centrum, und die beiden concentrischen Kreise existiren nach wie vor, der kleinere derselben allerdings in außerordentlich vortheilhaft veränderter Form. Am 1. Januar 1858 sprach Kaiser Franz Joseph der Erste das Machtwort, daß die die innere Stadt umgebenden Stadtwälle zu fallen hätten. Es war das ein großes, bedeutungsvolles, entscheidendes Wort, und hatte es auch nicht das Gewicht einer Weltkugel, wie eine beliebte journalistische Phrase lautet, so war es doch gewichtig genug, um die alte, ehrwürdige Kaiserstadt förmlich aus den Angeln [30] zu heben, sie sofort zu verjüngen und einer früher nicht geahnten Pracht und Blüthe entgegenzuführen. Die Thore der Stadt thaten sich weit auf, und durch dieselben hielt seinen triumphirenden Einzug der Geist der neuen Zeit.

Die erste Folge des kaiserlichen Machtwortes war natürlich ein ganzer Rattenkönig von Processen, die zum Glück abermals durch ein Wort des Kaisers rasch niederschlagen wurden. Es hatten sich nämlich zum Antritt des Besitzes sofort mehrere Erben gemeldet. Die Commune vertrat die Ansicht, daß die nun frei gewordenen Gründe städtischer Boden seien. Der Kriegsminister wieder fand es für selbstverständlich, daß nicht nur Wälle und Gräben, sondern auch die Glacis in sein Ressort gehörten. War es doch von jeher sein Recht gewesen, auch mehrere hundert Klafter über die Wälle hinaus keinen Bau zu dulden; folglich mußte jetzt auch ihm allein das Verfügungsrecht zustehen. Endlich machte auch das Oberhofmeisteramt ein Recht an das Terrain geltend.

Durch einen Machtspruch des jetzigen Kaisers wurde jedoch die ganze complicirte Angelegenheit sehr bald zum Segen der Stadt Wien geordnet. Der Staat bemächtigte sich der Gründe; die concurrirenden Parteien bekamen, was sie nothwendig brauchten: die Stadt den Grund für den wundervollen Stadtpark und für andere Gartenanlagen, für das Rathhaus, für Schulen und Markthallen, der Kriegsminister für sein General-Commando und für Casernenbauten, das Hofärar für die Hofmuseen und Mittel für den projectirten Umbau der Burg. Der Rest sollte der Verwaltung des Ministeriums des Innern untergestellt werden; dieses sollte die Gründe parcelliren, veräußern und aus dem Erlöse selbst gemeinnützige Prachtbauten aufführen lassen. So die Anordnungen des Kaisers! Es war ein Machtspruch, den er gethan hatte, und es giebt heute noch Viele, die einen Rechtsspruch des Richters vorgezogen hätten. Das Volk im Ganzen und Großen segnet seinen Kaiser ob dieses weisen Machtspruches; denn wenn es wirklich zu jenem Monstreprocesse gekommen wäre, wer weiß, wann er ein Ende genommen hätte!

Ueber den Gesammtwerth der nach der oben erwähnten Vertheilung erübrigten Gründe liegen mir keine authentischen Daten vor. Bisher soll der Stadterweiterungsfonds 42 Millionen Gulden, also 84 Millionen Mark aus dem Verkaufe der Gründe erzielt haben, die ausschließlich für die Verschönerung Wiens zu verwenden sind. Man kann sich nun denken, wie unter so bewandten Umständen die Bauthätigkeit in Wien sich entwickeln mußte. Anstatt der Stadtgräben schlingt sich nun die Ringstraße um die innere Stadt, ein Ring, der reich besetzt ist mit architektonischen Perlen und Edelsteinen, und wo früher wüste und öde Glacis sich ausdehnten, erheben sich jetzt glanzvolle, stattliche neue Stadttheile. Die Vorstädte, nun mit der inneren Stadt in innige Verbindung gebracht, hörten auf, Vorstädte zu sein und zu heißen. Wien wurde in zehn Bezirke eingetheilt, und die innere Stadt ist der erste Bezirk, ein Bezirk wie die übrigen – primus inter pares – der Erste unter Gleichen. Das ist die Geschichte des inneren der beiden concentrischen Kreise, und gerade jetzt ist wieder einmal die Bewegung so recht im Zuge, dieselbe Geschichte in noch vergrößertem Maßstabe bei dem äußeren durchzuführen

Die noch disponiblen Gründe des Stadterweiterungsfonds werden in nächster Zeit ganz verbaut sein, und wenn auch die Linienwälle nicht so bald fallen sollten, wie es jetzt den Anschein hat, so wird deshalb die Bauthätigkeit in Wien doch nicht ins Stocken gerathen. Im Gegentheil, es hat heute ganz den Anschein, als sollte sie jetzt sich erst recht heben. Denn nunmehr geht es an den Umbau der inneren Stadt, der durch die Neubauten zu einer fast unvermeidlichen Nothwendigkeit geworden ist. Es ist von ganz eigenthümlichem Interesse, zu beobachten, wie ein neues Haus neben den alten Häusern wirkt. Man glaubt zu sehen, wie die letzteren förmlich krank werden und alle Lebenslust verlieren neben den neuen; sie machen es gewöhnlich auch nicht mehr lange. Die Straßenzüge, die bis an die Stadterweiterungsgründe reichen, werden zuerst inficirt. Dem Hausherrn des alten Eckhauses wird’s ungemüthlich; er fängt an, sich zu schämen, und er hat nicht eher Ruhe, bis auch sein Besitz so stattlich dasteht. Nun ist einmal Bresche gelegt. Der Eingang der Straße ist erweitert; das alte Nachbarhaus zeigt nun sogar ein Stück Feuermauer; es bietet einen abscheulichen Anblick; zudem ist es ein Verkehrshinderniß und ein Aergerniß für die ganze Stadt – es muß fallen, und es fällt förmlich von selber. So geht das fort. Das Neue dringt immer mehr nach dem Centrum vor, und neben dem Neuen vermag sich das Alte nicht mehr zu halten. So kommt es, daß in Wien seit zwei Decennien mehr und glänzender gebaut wird, als sonst in einer Stadt der Welt.

Die größte Beachtung verdienen zunächst natürlich die öffentlichen Monumentalbauten, und eine Reihe derselben stellt heute die „Gartenlaube“ ihren Lesern in sorgsam ausgeführten Bildern vor die Augen. Auf Vollständigkeit macht das Bild keinen Anspruch.

Zum Beweise dessen sei hier nur die Liste der wichtigsten dieser Bauten hergestellt: Museum für Kunst und Industrie, Gewerbeschule, Akademisches Gymnasium, Musikvereinsgebäude, Künstlerhaus, Opernhaus, Akademie der bildenden Künste, kunstwissenschaftliches Museum, naturhistorisches Museum, Parlament, Justizpalast, Rathhaus, Burgtheater, Universität, Telegraphengebäude, Generalcommando, Votivkirche, chemisches Laboratorium, Börse. Zu diesen Bauten kommen außer dem leider in Trümmern liegenden Ringtheater noch der Cursalon im Stadtpark, das Stadttheater, verschiedene Schulhäuser, Markthallen und eine unübersehbare Reihe von glanzvollen Privatpalästen, das adlige Casino, einige erzherzogliche Palais, Paläste von Eisenbahn-Gesellschaften und solche von den vornehmsten Mitgliedern der Geburts- oder Finanzaristokratie, großartige Hôtels, das städtische Pädagogium – doch geben wir es auf, die Liste zu Ende zu führen.

Was wir da angeführt, reicht wahrlich aus, um einen Begriff von der imposanten Bauthätigkeit Wiens während der letzten Jahre zu vermitteln. Als Schlußeffect wird nun der Umbau der kaiserlichen Burg in Angriff genommen. Es war der ausdrückliche Wunsch des Kaisers, daß sein Haus zuletzt an die Reihe komme. Das Neu-Wien des inneren Kreises wird also bald fertig dastehen. Jemehr sich aber Wien zu einer modernen Weltstadt entwickelt, desto dringlicher wird auch das Bedürfniß nach Verkehrsmitteln großartigen Stiles, und die Stadtbahnen werden nunmehr als unmittelbare Nothwendigkeiten betrachtet. Der Betrieb der Stadtbahnen hat aber die Auflassung der Linienwälle zur nothwendigen Voraussetzung, wodurch Wien wieder tausende von überaus günstig gelegenen Baustellen gewinnen wird.

Unsere Architekten sahen sich plötzlich vor große Aufgaben gestellt, und mit jeder neuen Aufgabe wuchsen ihre Kräfte sichtlich. Es schoß ein junger Nachwuchs in die Halme, der sehr bald reif wurde unter dem Sonnenstrahle der günstigen Gelegenheit, und heute ist Wien in der That eine wahre Hochschule der Architektur und wird weit und breit als solche anerkannt. Die Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sie macht auch große Künstler. Das lehrt uns eine Promenade über die Ringstraße. Die dort zuerst gebauten Häuser sind auch die nüchternsten und geschmacklosesten. Das Schönheitsgefühl erwachte nur nach und nach, und nicht nur bei den Künstlern, sondern auch beim Publicum.

Das früher der Architektur gegenüber so gleichgültige Publicum Wiens verfolgt jetzt die Bauten mit warmer Theilnahme, mit geschultem Blick und verständnißvollem Interesse, und eine öffentliche Geschmackswidrigkeit erregt unfehlbar die öffentliche, allgemeine Entrüstung – es ließen sich dafür Beispiele anführen. Freilich giebt es auch Fälle, wo das Publicum sich nicht zu rathen weiß. Vor dem Rathhause beispielsweise zieht sich ein hübscher Park hin, der den Kindern der Umgebung prächtige schattige Spielplätze bietet. Nun kommen die Gartenarchitekten und sagen: der Park muß fallen; denn ein Haus, das jetzt schon, da es noch lange nicht fertig ist, mehr als zehn Millionen Gulden kostet, baut man nicht, um es hinter Bäumen und Sträuchern zu verstecken. Der Stil des Gebäudes erfordert auch seinen besonderen Stil für die Gartenanlagen; es muß daher an Stelle des Parkes ein schönes, geometrisch abgezirkeltes Gartenparterre kommen.

„Was aber,“ wendet eine Mutter ein, „sind zehn Millionen und alle Kunststile der Welt gegen die Gesundheit meines Kindes!“ Und auch sie hat Recht. Das einzige Glück bei der Sache ist nur das, daß man erstlich den herrlichen Bau auch so sehr gut sieht und daß die grünen, lebendigen Coulissen dieses Parkes auch in künstlerischer Hinsicht geradezu eine Wohlthat sind. Denn gerade hier ist auf einer relativ sehr kleinen Fläche eine ganze Musterkarte aller erdenklichen Baustile ausgebreitet: Früh- und Hochrenaissance, Gothik, deutsche Renaissance, griechische Antike. Alle diese verschiedenartigen [31] Bauwerke müssen aus einander gehalten werden, wenn sie sich nicht gegenseitig beeinträchtigen und den Beschauer schließlich ganz confus machen sollen. Da sind die grünen Scheidewände gerade recht gut angebracht.

Die Architekten, welche Neu-Wien geschaffen, haben sich einen unvergänglichen Ruhm erworben. Gedenken wir zuerst pietätvoll der beiden dahingegangenen Meister Van der Nüll und Siccardsburg, der Erbauer des neuen Opernhauses! Gleichzeitig mit ihnen, wenn auch meist bei Privatbauten, wirkte Architekt Romano, der, als er für seine künstlerischen Verdienste auf der Ringstraße geadelt wurde, sich das hübsche, selbstbewußte Prädicat erwählte „Ritter vom Ring“. Wer hat nicht von dem weltbekannten Meister F. Schmid gehört, dem wackeren Dombaumeister, der durch die Bauhütte des Kölner Domes gegangen ist, ehe er das große Werk der Restauration des Stephansthurmes unternahm, um dann mit seinem neuen Rathhaus sich selbst und der kunstsinnigen Wiener Bürgerschaft ein gigantisches Denkmal zu setzen?

Anfänglich war man durchaus nicht allgemein damit einverstanden, daß die Burg unserer Bürgerschaft in gothischem Stil ausgeführt werde. Die Gothik taugt nicht für Profanbauten, und sie entspricht durchaus nicht unseren modernen bürgerlichen Baubedürfnissen – das waren die wichtigsten und die am häufigsten vorgebrachten Einwendungen, aber in dem Maße, wie der wuchtige und dabei doch zierliche Kolossalbau aus der Erde herauswuchs, wurden auch die Einwendungen und Nörgeleien seltener. Schmid hat sich seine Wiener erobert. Früher waren allerhand Scherze an der Tagesordnung; man machte Witze über den strengen Stil und schilderte, malte und zeichnete die Wiener Rathsherren und Rathsdiener in altdeutschen Gewändern, da sie doch unmöglich das Stilgefühl so verletzen könnten, um in diesem Gebäude in moderner bürgerlicher Tracht zu erscheinen. Aus dem Scherze wurde Ernst – ernste Bewunderung.

Wie die Italiener sich die strenge, nordische Gothik für ihren heitern Himmel zurecht zu legen, wie sie für ihre malerisch-decorativen Zwecke die nöthigen Wandflächen zu schaffen wußten, so hat es speciell Meister Schmid verstanden, die imposante Kirchengothik für einen monumentalen Profanbau umzugestalten. Das Rathhaus hat nichts Kirchliches an sich, trotz seines, allerdings noch nicht fertigen, den Mittelbau krönenden mächtigen Thurmes. Es repräsentirt vielmehr in außerordentlich prägnanter und stolzer Weise die Baufreudigkeit, den ganzen edlen, selbstbewußten Sinn einer deutschen Stadtväter-Genossenschaft. In fröhlicher, recht weltlicher Art wird der große Thurm auf beiden Seiten von je zwei bewimpelten, schlanken Thürmchen flankirt werden. Und der Bürger, dem auch diese Thürmchen keine genügende Aufheiterung bieten werden, der wird sich, ist er ja einmal von der Sorge der Berathung oder des Steuerzahlens im neuen schönen Hause gepackt, sicherlich in dem großartig angelegten Rathhauskeller seine schlechte Laune vom Halse schaffen können.

Der plastische Schmuck des Hauses ist echt deutsch; alle erdenklichen bürgerlichen Gewerbe sind durch charakteristische Statuen vertreten. Da ist nichts allegorisirt und nichts idealisirt; der Schuster ist ein wirklicher Schuster und der Maschinenbauer ein wirklicher Maschinenbauer. Der große Festsaal, so groß, daß in demselben beinahe eine Reiterschlacht geschlagen werden könnte, wird mit Deckengemälden von Makart geschmückt werden. Schmid hat versprochen, daß zu dem Jubelfeste Wiens im Jahre 1883 – zweihundert Jahre nach der letzten Türkenbelagerung – der Bau seiner Bestimmung wird übergeben werden, und was Schmid verspricht, das hält er.

Wer kennt ferner Meister Theophilus Hansen nicht, den nordischen Mann, der nicht nur Wien, sondern Hellas selbst mit seinen aus hellenischem Geiste geborenen Werken beschenkt? Wie Wien hat er auch Athen mit Monumentalbauten geschmückt, die seinen Namen auf die spätesten Geschlechter bringen werden. Um nur einige seiner Wiener Bauten zu nennen, seien die reizvolle protestantische Schule, das Musikvereinsgebäude, die Börse, der imposante Heinrichshof gegenüber der Oper und das Parlament genannt.

Wie Schmid die kirchliche Gothik, so hat Hansen bei dem letzterwähnten Baue den griechischen Tempelstil für unsere modernen Bedürfnisse umgewandelt. Ueber einer kühn geschwungenen Rampe thront ein mächtiger, säulengetragener griechischer Tempel als dominirender Mittelbau; an beiden Seiten, ihm untergeordnet, erblicken wir zwei kleinere Tempel, welchen ein rusticirtes Erdgeschoß gleichsam zum Sockel dient. Die Giebelfelder der Tempel zeigen reichen plastischen Schmuck, und die Rückseite des Baues entspricht bis auf die Rampe genau der Vorderseite. Die beiden anderen Seiten des großen Quadrats zeigen erst den griechischen Stil in seiner Anwendung für den modernen Palastbau.

Sie sind, so gut es eben thunlich war, organisch mit den Tempeln verbunden und ragen doch als zwei ziemlich selbstständige Bauten in die Höhe. Ihre Bedachung ist flach und läßt an den Ecken freien Spielraum für je eine Quadriga (Viergespann), deren Ausführung dem reichbegabten Bildhauer Pilz anvertraut ist. Im Ganzen werden acht von Siegesgöttinnen gelenkte Viergespanne, also zweiunddreißig monumentale Rosse das Gebäude krönen. Eine Quadriga ist bereits probeweise aufgestellt und läßt ahnen, wie wirkungsvoll dieser reiche Schmuck sich ausnehmen wird.

Hansen beabsichtigt, aus seinem Parlament ein wahrhaftiges goldenes Haus zu machen. Neben reicher vielfarbiger Verzierung will er auch Vergoldungen in großem Stile vornehmen. Es sollen die Giebelfelder, Friese, die Säulenfüße und Capitäler, Zahnschnitte und dergleichen mehr vergoldet, andere Bauglieder wieder mit prangendem Farbenschmuck versehen werden. Die parlamentarische Baucommission ist freilich für diese Pläne noch nicht gewonnen. Sie neigt vorläufig noch mehr zur „edlen Einfachheit“, wohl zumeist darum, weil diese entschieden billiger ist. Es würde in der That auch eine schwere Menge Goldes aufgehen, bis dieses gewaltige Gebäude seinen ausreichenden Goldschmuck angelegt hätte. Einstweilen hat es der große Baukünstler, dem der Schalk im Nacken sitzt, damit versucht, der Commission den Mund wässerig zu machen, indem er einen kleinen Theil des Gebäudes mit Farbe und Gold geschmückt hat. Vielleicht nützt es.

Glänzende Verdienste um Neu-Wien hat sich auch Ferstel mit seiner Votivkirche, der Universität und zahlreichen anderen Bauten erworben. Die Votivkirche darf wohl ohne Uebertreibung als der zierlichste gothische Riesenbau unseres Jahrhunderts bezeichnet werden. Den Anlaß zu dem Bau gab das verbrecherische Attentat jenes ungarischen Schneiders auf Kaiser Franz Josef den Ersten, und Erzherzog Max, der nachmalige unglückliche Kaiser von Mexico, war der erste Begründer des Baues. Fast ein Jüngling noch hat ihn Ferstel begonnen, und er hat die Freude, nun im kräftigsten Mannesalter sein Auge an dem fertigen Werke weiden zu können. Seine Universität ist in dem edlen, vornehmen Stile der toscanischen Frührenaissance gehalten. In glücklicher Weise wurde hier der Palaststil den speciellen Zwecken einer Hochschule dienstbar gemacht. Der Hof der Universität und ihre Bibliothek sind jetzt schon, bevor sie noch dem Publicum zugänglich sind, für Fachkreise wahre Berühmtheiten. Es giebt keinen Bau in Wien, der mit sympathischeren Blicken betrachtet würde, als gerade dieser.

Hufenauer, der Baumeister des neuen Burgtheaters und der designirte Leiter des Umbaues der Hofburg, hat sich mit seinen Museen den Wienern in’s Herz hineingebaut. Das Initialbildchen dieses Artikels zeigt uns eines der beiden Museen, die sich gegenüberstehen und sich vollkommen gleichen. Sie weisen die Spuren der formenfreudigen Hochrenaissance auf und werden, wenn erst die Hofburg aufgebaut sein wird, in schöner architektonischer Beziehung zu dieser stehen. Stolz ragen ihre mächtigen Kuppeln in die Höhe, auf ihnen die Kolossalstatuen des lichtspendenden Helios und der die Häupter erleuchtenden Minerva. Ein Kranz von Standbildern von Künstlern und Gelehrten aller Zeiten blickt von der Dachhöhe auf das Treiben der Menschlein da unten herab.

Wiedemans, eine jugendlich aufstrebende Kraft, hat sich mit seinem Justizpalaste, den er sich mit glücklichem Wurfe auf dem Concurrenzwege errungen, in die vorderste Reihe der Wiener Architekten gestellt. Er zeigt sich hier als geschmackvoller Eklektiker; die deutsche Renaissance waltet jedoch vor und drückt dem Ganzen ihr malerisches, reich gegliedertes Gepräge auf. Besonders erwähnt zu werden verdient es, daß dem Baumeister hier auch nicht annähernd so bedeutende Mittel zu Gebote standen, wie den übrigen Künstlern bei ihren Monumentalbauten. Um so anerkennenswerther ist die dennoch unleugbar vorhandene monumentale Wirkung, die der Künstler mit so geringen Mitteln zu erzielen gewußt hat.

[32]

NEUE WIENER MONUMENTAL-BAUTEN. UNIVERSITÄT. PARLAMENT. VOTIV-KIRCHE. RATHAUS. JUSTIZPALAST.

Neue Wiener Monumentalbauten.
Originalzeichnung von A. Kronstein in Wien.

[33] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [34] Noch viele Andere aus der illustren Schaar der Wiener Baukünstler haben sich rühmlich hervorgethan; denn zu der langen Reihe der schönen Bauten von Neu-Wien gehört auch eine lange Reihe guter Namen. Es ist erfreulich, zu berichten, daß es all diesen Talenten an Anerkennung nicht gefehlt hat. Die Wiener Baukünstler haben sich eine Stellung in der Welt errungen, auf welche stolz zu sein sie ein gutes Recht haben. Wien ist auch stolz auf sie und auf ihr Werk, auf Neu-Wien. Balduin Groller.     




Adolf Wilbrandt.

Von Wilhelm Goldbaum.

Unsere Zeit, sagt man, sei eine realistische und demgemäß auch für die Entwickelung unserer poetischen Literatur keine allzu günstige. Jedes Decennium in unserem Jahrhundert, mit Ausnahme des letzten, welches wir durchlebt, habe seinen bestimmten literarischen Charakter gehabt, das erste durch die Romantiker, das zweite durch die Schicksalstragödien, das dritte durch die Schwaben und Heinrich Heine, das vierte durch das „Junge Deutschland“, das fünfte durch die politische Lyrik, das sechste durch Victor Scheffel und Friedrich Bodenstedt, das siebente durch die großen Zeitromane Gutzkow’s, Auerbach’s und Spielhagen’s, nur das achte sei der Poesie fast Alles schuldig geblieben, weil es ausschließlich der Wirklichkeit sich zuwenden und der Lösung politischer Probleme nachleben mußte, welche ihm der deutsch-französische Krieg und die deutsche Einigung hinterlassen. Was ist richtig an dieser Wahrnehmung, und in welchen Punkten widerspricht sie den Thatsachen? 

Gewiß ist, daß wir über die Zeit der blos literarisch genießenden Geschlechter weit hinaus sind; der Inhalt unseres geistigen Lebens hat sich complicirt und Elemente politischer, socialer, materialistischer Art in sich aufgenommen, welche jeden Rahmen eines poetischen Kunstwerkes sprengen. Wir vermögen nicht mehr in der engen Umfriedung eines poetischen Almanachs uns zu bescheiden und blicken über die Dichtung, die unsere Aufmerksamkeit beansprucht, hinweg auf die geschwätzige Zeitung, in welcher täglich der elektrische Draht seine Neuigkeiten ablagert. Wir vermögen uns nicht zu sammeln, wie es die Dichtung von uns fordert, weder im Schaffen noch im Genießen. Vordem war manches Buch ein Ereigniß, konnte sogar ein einziges Gedicht ein Ereigniß sein. Man sprach in allen Cirkeln von den „Spaziergängen eines Wiener Poeten“, von Börne’s „Pariser Briefen“ und Heine’s „Reisebildern“, von Ferdinand Freiligrath’s Gedichten und dem „Mirza Schaffy“, von Gustav Freytag’s „Soll und Haben“ und Gutzkow’s „Rittern vom Geiste“, als wäre damit das gesammte Leben der Nation erschöpft.

Das ist vorbei. Der Dichter bildet nicht mehr den Mittelpunkt unserer geistigen Interessen und Bedürfnisse; das Amt ist von ihm genommen, der einzige Dolmetsch derselben zu sein; es ward auch auf die Redner in den Parlamenten, auf die Staatsmänner, auf die Presse übertragen. Aber hat dadurch der Dichter auch den Beruf eingebüßt, der Verkündiger des Schönen und Guten zu sein? Ist es nicht mehr wahr, was Anastasius Grün gesungen, daß der letzte Mensch der letzte Dichter sein wird? Nein, das kann der Sinn der Klage nicht sein, welche über den Realismus unserer Tage angestimmt wird. Der Poet ist geblieben, was er war, ein Fürsprecher aller edleren und höheren Triebe, welche die Seele der Völker bewegen; nur die Wirkungen, welche er übt, haben sich eingeschränkt; nur die Gemeinde, welche ihm lauscht, hat sich verringert; nur die Kränze, welche man ihm windet, sind spärlicher geworden. Wenn er nicht dem Götzen des Tages  schmeicheln, nicht hasten und jagen will, um mit dem größten Sensationsmacher unserer Tage, dem Telegraphen, zu wetteifern, so herrscht Stille und Geräuschlosigkeit auf seinen Wegen. Aber er ist darum nicht weniger ein Dichter, nicht weniger ein Liebling Aller, denen im andächtigen Verkehr mit Kunst und Poesie die Herzen aufgehen. Und hat auch die Zeit, in der wir leben, keine ausgesprochene literarische Signatur, so hat sie doch ebenso wie vergangene Jahrzehnte hervorragende Dichter, deren sie sich rühmen darf, darunter den liebenswürdigen Adolf Wilbrandt, der soeben zum Leiter des Wiener Burgtheaters, zum Nachfolger Franz Dingelstedt’s bestellt worden ist.

Still und unverdrossen ist Wilbrandt zum deutschen Parnaß hinangeklommen. Der schmale Mann mit dem blassen, länglichen Gesichte, den ernsten dunklen Augen und der hohen Stirn, bescheiden, fast schüchtern in seinem Auftreten, hat rastlos gearbeitet, bei den Griechen und Römern gelernt, an Heinrich von Kleist sich gebildet, für unsere nationale Idee an der Seite des unvergeßlichen Karl Brater publicistisch gestritten, bis es ihm vergönnt ward, durch eigenes dichterisches Schaffen seinen Platz zu gewinnen. Heute ist dem Vierundvierzigjährigen dieser Platz von Niemandem bestritten. Wilbrandt ging von seiner Geburtsstadt Rostock, der mecklenburgischen Universitätsstadt aus, wo sein Vater Professor war. Es zog ihn nach dem Süden hinab, nach München, wo er studirte und dann als Redacteur der „Süddeutschen Zeitung“ thätig war, welche das oberdeutsche Volk dem Nationalverein zuführte, nach Wien, wo allezeit der echte Dichter eine trauliche Heimstätte gefunden. Der Norden hatte sich ihm in seinem Aeußeren nur wenig eingeprägt, in den zurückhaltenden Umgangsformen, in dem Ernste der Ausdrucksweise; dagegen in seiner Physiognomie schien er für den Süden gleichsam prädestinirt; schwarzes, dichtes Haar, tiefliegende brennende Augen, festgeschlossener Mund, gebogene Nase. Und in Wien erschloß sich ihm erst die Pforte des Ruhmes, nachdem er lange vergebens an sie geklopft. Die Bühne nahm ihn auf ihre Schwingen, und sie schenkte ihm auch in der hochbegabten, geistsprühenden Burgschauspielerin Auguste Baudius eine Lebensgefährtin. Jetzt hat die Kaiserstadt an der Donau ihm den höchsten Preis zuerkannt, den sie für literarisches Verdienst zu vergeben hat, die Führung ihres Burgtheaters, welches die erste deutsche Bühne ist.

Dabei kann auch der hochfliegendste Ehrgeiz der Erfüllung froh sein; denn es ist allezeit eine Stelle für vornehme Geister gewesen, welche die Hohenpriester in dem ehrwürdigen Musentempel am Michaelerplatze einnahmen: Heinrich Laube, Friedrich Halm, Franz Dingelstedt haben sie geheiligt.

In seiner Geschichte des Wiener Burgtheaters erzählt Laube, wie er selbst den Directionsstab in die Hand bekam. Eine stürmisch applaudirte Vorstellung seines „Struensee“ bahnte ihm den Weg. Bei Adolf Wilbrandt hat sich die Sache umgekehrt vollzogen; sein Stück „Johannes Erdmann“ mißfiel, und dennoch wurde ihm Tags darauf der Posten an der Spitze des Burgtheaters angeboten. Er hatte es eben nicht nöthig gehabt, just mit diesem Stücke seine Befähigung zu erweisen, nachdem er dieselbe vorher[WS 1] wiederholt offenbart hatte. Das Mißgeschick des Dramatikers war nicht dasjenige des Dramaturgen. Der Dramatiker ist von dem Publicum abhängig; die Laune des Parterres ist sein Schicksal. Der Dramaturg aber ist der Vermittler zwischen dem Dichter und dem Publicum; seine Gottheit ist die Kunst, um deren willen er Allen, dem Dichter, den Darstellern, dem Publicum, die gleiche Liebe und Aufmerksamkeit zuzuwenden hat. Der Dichter muß auf sein unparteiisches Urtheil, das Publicum auf seinen Geschmack, das Bühnenpersonal auf die Ueberlegenheit seines Geistes zählen dürfen. Besitzt Adolf Wilbrandt die Eigenschaft des echten Dramaturgen? Kann man von ihm erwarten, daß er jene glorreiche Ueberlieferung lebendig erhalten werde, an welcher die deutsche Bühne seit Goethe zehrt, der sie einen Karl Immermann, einen Laube und Dingelstedt verdankt?

Es ist schwer, diese Fragen zu beantworten, wenn man Wilbrandt blos nach seinen theatralischen Erfolgen beurtheilt; man muß ihn als literarische Individualität aus seinem gesammten Schaffen zu begreifen suchen. Und geht man ihm auf solchem Wege nach, so findet man leicht, was seiner Persönlichkeit in Leben und Dichtung ihren besonderen Reiz verleiht. Er ist interessant. Durch diese Eigenschaft hängt er mit seiner Zeit zusammen, ja ist er ihr prägnanter Ausdruck. Das Interessante gefällt uns Heutigen; es ist der Maßstab unseres kritischen Urtheils, das Merkmal unserer poetischen und künstlerischen Empfindung. Das Interessante aber besteht nicht für sich; es ist nicht vom Können abhängig, sondern es bildet eine unfaßbare Zugabe, einen ganz und gar


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verher

[35] individuellen Besitz, der je nach der Persönlichkeit seines Inhabers wechselt, aber immerdar das Mittel darstellt, durch welches der Redner, der Künstler, der Dichter auf uns wirkt. Kein Philosoph vermag das Interessante zu definiren, wie er etwa das Gute, das Schöne, das Wahre begrifflich genau zu umschreiben vermag; interessant ist an dem Einen, was an dem Andern abstoßend sein kann; interessant findet man in dieser Stimmung, wovon man in einer andern sich vielleicht abkehrt. Das ist der Charakter unserer Zeit, rasch mit den Sympathien und Antipathien zu wechseln, von gestern auf heute die Maßstäbe zu vertauschen, Liebe und Haß nicht als ein Gegeneinander zu empfinden, sondern als ein Nacheinander, Geschmack zu entwickeln an Contrasten, die ästhetisch sozusagen einander anschreien. Wer dieser wechselnden Hast der Zeit sich anzupassen versteht, wer sie in sich selbst als einen wesentlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit besitzt, der ist der Künstler, der Dichter, der Staatsmann dieser Zeit.

Man hat unsere Literaturepoche diejenige der allgemeinen Bildung genannt; als solche würde sie kaum einen einzigen Vertreter besitzen, der sie getreuer widerspiegelt, als Adolf Wilbrandt. Denn Wilbrandt hat unglaublich viel gelernt und gearbeitet, auf den mannigfachsten Gebieten und zu den verschiedensten Zwecken. Er übersetzt antike Tragödien, liefert eine Monographie über Heinrich von Kleist, welche fast abschließend die Literatur dieses unglücklichen Genies bereichert, macht Hölderlin zum Gegenstande einer geistvollen Studie und veranstaltet eine Ausgabe der Werke Fritz Reuter’s, der zwar sein Landsmann war, aber sich von ihm unterschied, wie etwa der „Entspecter“ Bräsig von einem modernen Schöngeist.

Doch das ist es nicht allein; man kann als Polyhistor der alleruninteressanteste Mensch von der Welt sein. Es klebt an dem vielen Wissen nicht selten dicker Bücherstaub und unleidliche Pedanterie. Erst wenn der Polyhistor sich modisch kleidet und benimmt, wenn sein Wissen von dem Hauche der Anmuth und Schönheit durchweht, mit Geschmack und Gewandtheit geordnet ist, dann ergiebt sich die interessante Persönlichkeit. Bei Wilbrandt ist dies der Fall. Man sieht es diesem bleichen Manne mit dem halbmüden, halb wehmütigen Lächeln an, daß er Vieles weiß und Alles wissen möchte, aber er spreizt sich nicht mit seinem Wissen und Können; er drängt es nicht auf, sondern schrickt im Gegentheil zusammen, wenn banaler Vorwitz sich anschickt, ihm seine Weisheit abzufragen. In seiner Erscheinung ist eine seltsame Keuschheit, etwas Gedämpftes und Verhaltenes, das seine Dichtungen am allerwenigsten charakterisirt; über seiner Persönlichkeit liegt bisweilen eine Stille und Verschämtheit, wie über derjenigen eines Mädchens, welches noch niemals einen Mann geküßt.

Das ist der merkwürdige Contrast in dem Wesen Wilbrandt’s, der das Geheimniß der interessanten Wirkung in sich birgt, zumal der Lebensgang des Dichters zweifellos geeignet war, diesen Contrast zu verwischen. Als Journalist pflegt man sich eine gewisse Sicherheit des Auftretens, ja eine unverhohlene Selbstgefälligkeit anzueignen: man muß rasch mit seinem Urtheil über Menschen und Ereignisse fertig sein, muß den Muth haben, den Anderen zu sagen, was sie nachsprechen und nachfühlen sollen, muß streiten und polemisiren, kämpfen und widerlegen, angreifen und abwehren. Und Wilbrandt war ein Journalist, noch dazu in einer bewegten Zeit; er hat in der „Süddeutschen Zeitung“ für den Anschluß Schleswig-Holsteins an Deutschland vortreffliche publicistische Arbeit gethan. Dann hat er mit der Bühne Fühlung gesucht, das Leben hinter den Coulissen studirt, von den Brettern herab sich seine Gattin geholt, und der Verkehr mit der Bühne ist bekanntlich ebenfalls nicht geeignet, das Wesen in keuscher Schüchternheit und Befangenheit zu erhalten, die angeborene Bescheidenheit zu conserviren und dem Geiste eine vornehme Zurückhaltung aufzuprägen.

Das Sonderbarste bei alledem aber ist, daß der Dichter Wilbrandt eine fast völlig andere Physiognomie zeigt, als der Mensch Wilbrandt. Da ist in den Novellen, den Romanen und den späteren Dramen kein Problem zu dreist, kein Conflict zu gewaltsam, kein Verhältniß zu fragwürdig, daß der Dichter damit nicht operirte. Eine schreiende Sinnlichkeit tritt unverhüllt zu Tage, eine wahre Wollust, sich an den äußersten Grenzen des ästhetisch Statthaften zu bewegen, drängt sich hervor, und der Kritiker, der den Dichter auch aus dem Leben kennt, steht rathlos diesem klaffenden Widerspruche gegenüber, weiß zwischen dem Sein und Schaffen keine Vermittelung zu finden, es sei denn diese, daß Wilbrandt augenscheinlich über seinen Problemen grübelt wie ein Einsiedler, zu dem die Stimmen der Welt nicht dringen, wie ein Philosoph, der abseits gekehrt seinen Gedanken nachirrt und dennoch den Nerv des Publicums in lebhafte Schwingung zu versetzen weiß.

Ist dies nicht der wahre Typus des interessanten Poeten, ja ist es nicht der echte Dichter unserer Zeit, welche, just wie er, ernsthaft und rastlos, aber auch unstet und unberechenbar zu sein scheint? Was haben wir nicht Alles in den letzten zwanzig Jahren angefaßt und wieder bei Seite geschoben, glorificirt und dann in den Winkel gestellt! Von Arthur Schopenhauer ging’s zu Charles Darwin; das Mittelalter stritt um unser Interesse mit dem ägyptischen, dem römischen Alterthum; die Novelle, welche einen kurzen Athem hat, concurrirte mit dem Drama, das sich mit einem flüchtigen Eindrucke nicht begnügt. Und man frage Adolf Wilbrandt, ob es ihn nicht gedrängt, alledem einen poetischen Ausdruck zu verleihen.

Der Darwinismus bot ihm novellistische Probleme; man lese „Fridolin’s heimliche Ehe“; das Mittelalter gestaltete er dramatisch im „Graf von Hammerstein“, das römische Alterthum in „Gracchus, der Volkstribun“, in „Arria und Messalina“. Dabei ließen ihm auch andere Impulse der Zeit keine Ruhe. „Durch die Zeitung“ heißt eines seiner Lustspiele, und Giordano Bruno, der Philosoph, ist einer seiner Stoffe. So sensitiv ist dieser Dichter, daß es mitunter scheint, als gäbe es keinen festen Punkt, keine Axe in seinem Wesen, sondern immer blos Peripherie. Aber das gerade ist das Moderne an ihm, daß er von den allgemein menschlichen Vorwürfen seiner ersten dramatischen Production, von dem reizenden Einacter „Jugendliebe“, von den beiden vortrefflichen Lustspielen „Die Vermählten“ und „Die Maler“ resolut abschwenkt, weil er zeitig erkennt, daß die Gegenwart nicht lyrisch, nicht sentimental gestimmt ist, sondern gewaltsam packender Effecte bedarf, um in dem Interesse für die Dichtung festgehalten zu werden.

Dieses Verständniß für alle Regungen der Zeit ist an und für sich eine Bürgschaft für Wilbrandt’s Beruf zur Leitung des Wiener Burgtheaters. Aber mit einer einzigen Bürgschaft wäre es vielleicht nicht gethan; er bietet ihrer mehrere. Schon bevor er sich Auguste Baudius zur Gattin wählte, lebte er fast ausschließlich mit dem Theater und für dasselbe; er schrieb seiner nachmaligen Gattin mehr als eine Rolle, wie es im Schauspieler-Jargon heißt, auf den Leib, und die große Ueberlegenheit seiner Bildung kam ihm dabei vortrefflich zu Statten. Er war nicht der rohe Handwerker, der ein Stück „zerschneidet“; die Feinheit seines Geistes übertrug sich auf den Dialog, auf die Oekonomie, auf die technische Construction seiner Stücke. Sie zeichnen sich allesammt nicht blos durch virtuose „Mache“ aus, sondern es schwebt über ihnen ein Hauch modernster Theaterempfindung; wovon das geistige Leben der Zeit nur irgend bewegt schien, das brachte er auf die Bühne. Jener äußere Zusammenhang mit dem Theater und diese Vielseitigkeit sind die weiteren Bürgschaften. Das Bühnenpersonal vermag zu seinem sittlichen und künstlerischen Ernste Vertrauen zu hegen, der Dichter, welcher für das Theater schafft, darf auf sein feines Verständniß zählen, das Publicum gewiß sein, daß er zumeist gerade das bringen wird, was in dem Mittelpunkte des allgemeinen Interesses steht.

Modern und interessant als Mensch wie als Dichter — interessant als Mensch, wie es in anderer Art Franz Dingelstedt gewesen; modern als Dichter, wie es Heinrich Laube war: ist auf diese Weise durch Wilbrandt’s Ernennung die Tradition nicht am besten fortgeführt, welche allezeit bestimmend gewesen für die Besetzung des Directorpostens im Wiener Burgtheater? Und könnte man beiläufig nicht auch in manchem Nebenumstande ein Zeichen erblicken, daß Wilbrandt der rechte Mann auf dem rechten Posten sein werde? Franz Dingelstedt war dem Theater gewonnen durch die Verbindung mit der Sängerin Jenny Lutzer, Friedrich Halm’s Egeria war die unvergeßliche Schauspielerin Julie Rettich. Auch Wilbrandt ist wohl eigentlich erst durch Auguste Baudius dem Theater erobert worden, welche in ihrer künstlerischen Blüthezeit weit über jegliche Routine hinausragte, und wegen der Durchgeistigung ihrer Rollen, wegen ihres entzückenden, zwischen Heiterkeit [36] und Sentimentalität schwebenden Naturells ein Liebling des Publicums war.

Die Frage nach dem Berufe Adolf Wilbrandt’s für eine leitende Theaterstellung ist also mit Zuversicht zu bejahen. Wohlwollen und Verständniß für die dramatische Production, Einsicht in das Bedürfniß des Publicums, Kenntniß dessen, was zu einer guten Regie erforderlich ist, sind vorhanden; die Energie und Ausdauer werden sich mit dem Amte einfinden. Jede Individualität hält die Zügel anders. Heinrich Laube entwickelte eine an den Starrsinn grenzende Beharrlichkeit nach oben wie nach unten hin; er hat durch dieselbe das Burgtheater rechtzeitig vor dem Niedergange bewahrt; Franz Dingelstedt liebte die gewundenen Wege; er diplomatisirte gern und lenkte das Schiff, dessen Steuer er führte, glücklich zwischen mancherlei Klippen hindurch. Adolf Wilbrandt hat zweifellos ein sicheres Urtheil darüber, was er von Laube’s Directionsweise, was er von derjenigen Dingelstedt’s in sein Programm herübernehmen muß. Und er kann um so beruhigter an die Arbeit gehen, als Laube und Dingelstedt ihm ein Regie-Collegium von hervorragender Tüchtigkeit, ein Bühnenpersonal von gewaltiger Leistungskraft hinterlassen haben. Sonnenthal, Lewinsky, Baumeister, Hartmann, zugleich Zierden deutscher Schauspielkunst, sind die Regisseure des Burgtheaters; Charlotte Wolter und Zerline Gabillon, Meixner und Frau Hartmann bilden mit jenen den unvergleichlichen Stamm des Personals.

Jedoch das Theater hat nicht das ausschließliche Recht auf Adolf Wilbrandt; er gehört der deutschen Literatur an. Und wenn ihm vor einigen Jahren der Schiller- und Grillparzer-Preis zutheil ward, so bedeutete diese Auszeichnung nicht so sehr, daß das Theater, als daß die dramatische Muse sich seiner zu freuen habe. Freilich, von diesen Preisausschreibungen und deren Erfolgen, von der Weisheit der Dichtercollegien und der befruchtenden Kraft des Wettbewerbes denkt man heutzutage gering; das Publicum hat in den meisten Fällen den Spruch der Preisrichter nicht bestätigt. Schauffert’s „Schach dem König“, Wichert’s „Ein Schritt vom Wege“ haben vor dem Parterre so wenig Gnade gefunden, wie Lindner’s „Brutus und Collatinus“. Aber wenn Wilbrandt auch jenen Preis nicht empfangen hätte, so wäre er gleichwohl als dramatischer Dichter der bedeutendste unserer Zeit, in seinen Treffern nicht minder als in seinen Verirrungen. Und damit ist seine dichterische Bedeutung nicht einmal erschöpft; als der literarische Mann, als Romanschriftsteller und Novellist, zum kleinen Theile auch als Lyriker steht er eingeschrieben in der Geschichte des zeitgenössischen Schriftthums, an hervorragender, wenn auch nicht an erster Stelle.

Es ist überaus verlockend, dem Dichter Wilbrandt auf seinen Wegen nachzugehen. Wie das Talent nicht selten von der Bildung, die Lust am Schaffen von der Hast des Schaffens überflügelt, die Poesie der Nothwendigkeit untergeordnet wird, das ist an Wilbrandt’s Producten sehr lehrreich wahrzunehmen. Man könnte sich getrauen, an jeder seiner Novellen, an jedem seiner Bühnenstücke zu zeigen, wo das Talent geruht und die Bildung allein thätig gewesen, wo kein innerer Impuls, sondern ein äußerer Anstoß seine Wirkung geübt, wo die Nothwendigkeit, schnell zu Rande zu kommen, das freie Spiel der Kräfte grausam unterbunden. Daß der Dichter unter Anderem nach dem „Graf von Hammerstein“ und, wenn wir nicht irren, auch nach dem „Gracchus“ mit seiner notorisch aus der Schulzeit stammenden Uebungsarbeit „Giordano Bruno“ nicht zurückhielt, sondern sie zum Schaden seines Ansehens der Oeffentlichkeit preisgab, das hat viele seiner Freunde gar sehr geschmerzt. Man könnte auch darnach fragen, warum seine Sprache durchweg conventionell, mehr aus dem Wortschatze der sogenannten guten Gesellschaft als aus dem des Volkes entnommen ist. Jedoch nicht um eine akademische Untersuchung ist es uns hier zu thun, sondern lediglich um die Feststellung des wesentlichen, bestimmenden Zuges in der Dichterphysiognomie Wilbrandt’s.

Es hat selten einen Poeten gegeben, der das Publicum so rasch und nachhaltig sich gewann, aber die Kritik so wenig — und man kann sagen, von Jahr zu Jahr weniger — für sich zu erwärmen vermochte. Woran liegt das? An dem Doppelleben des Dichters selbst, an den „zwei Seelen in seiner Brust“. Es ist ein mystisches Etwas in ihm, eine Vorliebe für das Fremdartige, Undefinirbare, ja für das Kranke. Dem Publicum ist dieses Abschweifen in das Gebiet der pathologischen Processe interessant; der Kritiker muß es tadeln. Die Helden in Wilbrandt’s Novellen führen ein Doppelleben, eine Art von Eheverhältniß mit sich selbst, wie Fridolin, oder aber sie sind wie das Mädchen aus der Fremde von einer anderen Welt, „Gäste vom Abendstern“, welche in unsere Wirklichkeit nicht hineinpassen, zu dünn, zu ätherisch, um mit uns zusammen zu leben, anziehend durch ihre Fremdartigkeit, aber untauglich, unter uns zu existiren. Man vermöchte fast zu glauben, es sei sozusagen eine „vierte Dimension“, ein dunkles Zwischengebiet jenseits der Grenze unserer Wahrnehmungen, wo des Dichters Geist beim Schaffen mitunter weile oder wohin ihn zum mindesten ein geheimes Sehnen unwiderstehlich fortlocke.

Dieser Wandertrieb nach dem „Unbewußten“ hin zeigt sich vom ersten Augenblicke an; er ist für Wilbrandt als Erzähler, für Wilbrandt als Literar-Historiker, für Wilbrandt als Bühnendichter bezeichnend, wenn er auch, je nach Stoff und Tendenz, verschiedener Richtung zugewendet scheint.

Als Romanschriftsteller beginnt Wilbrandt mit der zweibändigen Erzählung „Geister und Menschen“; der Held ist Swedenborg, das Urbild aller Spiritisten und Hypnotisirer. Als Literar-Historiker fühlt er sich zu Heinrich von Kleist, zu Hölderlin hingezogen, zu Kleist, dessen Genie zweifellos in finstere Umnachtung untertauchte, obwohl erst an der letzten That der Irrsinn deutlich zu Tage kam, zu Hölderlin, dem unglückliche Liebe zeitig die Sinne verwirrte, wenn auch noch mitten im Wahnwitz der poetische Genius eine Weile siegreich den rechten Weg einhielt. Es sind pathologische Processe, bei denen die Katastrophen auf eine krankhaft erregte Phantasie zurückweisen, auf verhängnißvolle Einwirkungen durch mehr oder minder vom graden Pfade abgelenkte Frauen. Der Dramatiker Wilbrandt nimmt anfangs eine freundlichere Bahn, aber bald schlägt auch er sich in jenen dunklen Bezirk, wohin es vordem nur den Erzähler und Literar-Historiker Wilbrandt gezogen, in den Bezirk, wo gigantische Verirrung ihre Verheerungen anrichtet. Wenn man den „Graf von Hammerstein“ mit „Arria und Messalina“ vergleicht, so meint man, es mit zwei verschiedenen Dichtern zu thun zu haben; es ist aber der nämliche Dichter, nur daß er allmählich auch auf die Bretter jene mystische, grübelnde, pathologische Vorliebe für das Unheimliche verpflanzt hat, welcher er sonst blos auf seine Erzählungskunst und auf seine literar-historischen Studien einen bestimmenden Einfluß verstattete. Messalina ist wie Nero — ebenfalls ein Wilbrandt’scher Stoff — eine Figur aus der Krankheitsgeschichte der Menschheit; sie wirkt nicht in jenem Sinne zur Läuterung durch Mitleid und Furcht, wie es Aristoteles und nach ihm die Kunstlehre aller Zeiten gewollt; sie kann nur aufrührend, empörend, verwirrend wirken. Der äußere Erfolg mag demjenigen, der sie auf die Bühne bringt und eine Darstellerin wie Charlotte Wolter für sie in Bereitschaft hat, gesichert sein, aber es bleibt trotzdem ein problematisches Verdienst, den Nerven des Publicums mehr als seinem Kunstgefühl zuliebe ein großes dramatisches Talent in Bewegung zu setzen, zumal der Dichter selbst von der Leidenschaft des Verstandes, nicht von derjenigen des Herzens beseelt erscheint. Wilbrandt muß trotz der großen scenischen Wirkung, welche er mit „Arria und Messalina“ erzielte, empfunden haben, daß er auf diesem Wege nicht verharren dürfe: er hat seitdem zu anderen Stoffen, wenn auch vorerst mit geringerem Erfolge, sich hingewendet. Die praktische Thätigkeit, welche ihm fortan im Burgtheater aufgenöthigt ist, wird ihn aller Voraussicht nach vollends jenem Gebiete der Geister und Dämonen entfremden, auf welches man ihm folgte, ohne ihm zu vertrauen.

Die Methode Thomas Buckle’s, die klimatischen und geographischen Existenzbedingungen der Völker als das Maß ihrer historischen Entwickelung zu erachten, ist in der Literaturgeschichte von je her in Anwendung gewesen. Von den Homeriden auf der Insel Chios bis zu den Dichterschulen in Schwaben und Oesterreich wird das ganz äußerliche Merkmal der landschaftlichen Zusammengehörigkeit als Merkmal methodischer Eintheilung mißbraucht. Adolf Wilbrandt ist in seiner dichterischen Erscheinung geradezu ein Protest gegen diese Landkarten-Methode in der Dichtungsgeschichte — wie vermöchte man ihn, den nervösen, hastigen, modernen Poeten, mit seinem urgesunden Landsmann Fritz Reuter in dieselbe Rubrik zu pressen, das Sentimentale mit dem Naiven? Freilich, auch in Niederdeutschland gab es einen Dichter der „Bernsteinhexe“, wie in Süddeutschland einen poetischen Adepten der „Seherin von Prevost“, Jener hieß Wilhelm Meinhold, Dieser Justinus Kerner. Aber weder mit dem Einen noch mit dem

[37]

Adolf Wilbrandt.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

Andern ist Adolf Wilbrandt geistig verwandt. Seine Dämonologie ist etwas ganz Absonderliches, sie muß als das Product einer grübelnden, ungeduldigen Phantasie angesehen werden.

Wilbrandt ist als Dichter schlechthin eine Individualität; man kann ihn an keinem andern Poeten messen. Hätte er vor zweihundert Jahren gelebt, so wäre er vielleicht ein alchymistischer Professor in Helmstedt oder Ingolstadt gewesen; da er in unserer Zeit lebt, hantirt er, anstatt mit dem Schmelztiegel, mit dem Zauberstabe der Poesie, mit dem er Gestalten schafft, an welchen die Wirklichkeit bisweilen zu geringen, die Phantasie häufig einen zu großen Antheil hat. Was Hans Makart für die Malerei, das ist – nur in unendlich vertiefterem Sinne – Adolf Wilbrandt für die Poesie unserer Tage. Sie sind beide die echten Söhne dieser farbentrunkenen, in allen ihren Sinnen aufgewühlten Zeit, der Maler der „sieben Todsünden“, wie der Dichter der „Messalina“.

[38]

Der Kienhusar.

Ein Bild aus dem Leben von Karl Theodor Schultz.


1.

Es war, wie immer, eine heitere, glückliche Tafelrunde, welche um den großen Tisch im Wohnzimmer des fürstbischöflichen Intendanten Wendland beim Abendbrode saß. Draußen lag hoher Schnee, und so mächtig schüttelte der Nordwest, der noch eben über das Meer hingestrichen und voll des Meerodems war, die alten Linden im Parke, daß es von ihren Seufzern herauf klang – hier drinnen jedoch schien der Sommer noch nicht geschwunden. Bis zur Wölbung des breiten Fensters rankten sich Schlingpflanzen auf; das ganze Fensterbrett stand voll blühender Rosen, Levkoyen, Reseda, und selbst an beiden Seiten des Spiegels, der wie sämmtliche Meubles die geraden Linien des Empire zeigte, trieben zwei Tuberosen aus ihren Schilfblättern die duftigen weißen Blüthenähren empor. Blumen und Bilder mußten die freundlichen „schwachen“ Seiten der Frau Intendantin sein; denn wie Blumen alle irgend möglichen Plätze einnahmen, so bedeckten Bilder die Wände buchstäblich von unten bis oben, und zwar Bilder jeder Gattung, Art und Gestalt: kleine, große, runde, eckige, ovale Oel- und Pastellgemälde von Werth neben grob colorirten Kupferstichen und schlichtesten Holzschnitten. Ueber dem flammrothen Sopha, das sich lebhaft von dem Goldschimmer der Tapete abhob, hingen als Hauptzierden die Copie eines Bildes der Königin Louise von Preußen, welches diese mit blauseidenem, als elsasser Schleife gebundenem Kopftuch darstellt, und auf jeder Seite derselben einer der Engel der sixtinischen Madonna, vortreffliche Pastellbilder.

Eben hatte die Frage eines hier zum ersten Mal anwesenden Caplans über das Portrait der Königin Louise, eines Geschenkes des Fürstbischofs, ernstere Töne in die Unterhaltung gebracht, als der Frau Wendland von dem aufwartenden Mädchen etwas gemeldet wurde. Sie lachte in ihrer frohen gutmüthigen Weise kurz auf, sah nach ihrer Stieftochter hinüber, deren Geburtstag man feierte, und nickte derselben scherzhaft zu.

Die übrige Gesellschaft hatte des kleinen Auftritts nicht Acht gehabt, nur ein junges, ganz blondes Mädchen mit dem schneeigsten Teint der Welt, das zunächst der Thür saß, kehrte sich ängstlich um. Jeder Hauch von Röthe erblich auf ihren Wangen; denn durch das Nebenzimmer kam oder huschte vielmehr eine Gestalt daher, welche solchem jungen Ding allerdings sehr fragwürdig erscheinen durfte: ein hagerer, hoher Mann mit verwildertem Haar und Bart und großen traurigen Augen, deren Blicke scheu über die Gesellschaft hinstreiften, indem sie etwas zu suchen schienen, stand plötzlich, wie aus dem Boden emporgewachsen, inmitten des Thürrahmens. Bald flog ein Lächeln, welches dem verwitterten Gesichte einen Schein von Jugendlichkeit zurückgab, über des Greises Züge, und er glitt unhörbar hinter der Gesellschaft fort bis zu dem Stuhle der Tochter des Hauses.

Seitwärts von diesem blieb er stehen und blickte nun, indem er auf nichts weiter um sich her achtete, in das ihm lachend zugewandte Gesicht seines „Prinzeß Louischens“, wie er die junge Frau nannte. Er mußte sie wieder lange nicht gesehen haben; denn es dauerte eine ganze Weile, bis er sich gleichsam satt gesehen und auch darauf besann, daß er ihr etwas mitgebracht, sein gewohntes Geschenk, nämlich einen kleinen Blumenstrauß, der von frischem Waldmoose umgeben war. Prinzeß Louischen bedankte sich schönstens, wobei sie ihren nicht kleinen, aber durch herrliche Zähne verschönten Mund leicht verzog, und fragte dann ihren stummen Verehrer nach diesem und jenem.

Der Caplan war dem Vorgange mit höchstem Erstaunen gefolgt und sah den Intendanten nun fragend an. Dieser, der wie alle Uebrigen die seltsame Scene mit halbem Lächeln, halbem Ernst verfolgte, wandte sich sofort dem Nachbar zu und sagte mit gedämpfter Stimme:

„Es sind alte Liebesleute, obgleich er Louise auf den Armen getragen hat.“

„Er ist wohl ein wenig verstört?“ bemerkte der Caplan.

„Das so eigentlich nicht!“ erwiderte der Intendant, „freilich ein Original ist er mit der Zeit geworden. Was er da an hat, war einmal ein Dolman, in welchem er sogar in Böhmen gewesen. Anno 1778 im Kartoffelkriege! Und selbst der große Friedrich soll ihn seines Rappens und Reitens wegen belobt haben – also Respect! Damals mag er übrigens ein schmucker Bursche gewesen sein, trotz des Löwenkopfes – sehen Sie nur, jede Linie so regelmäßig wie gemeißelt.“

„Was ist er aber jetzt?“ fragte der Caplan voller Antheil.

„Der Kienhusar!“ rief der Intendant.

Mit einem Aufzucken schreckte der Greis zusammen und sah blitzenden Auges herüber. Doch geschah das blos auf einen Moment; dann wandte er sich wieder still seinem Prinzeßchen zu.

„Lüschnat hört das nicht gern,“ nahm der Intendant wieder das Wort, „dem alten Husaren muß die Verbindung mit Kien unreputirlich vorkommen.“

„Was versteht man denn unter Kienhusar?“

„Er versorgt unsern Ort und selbst einen Theil der städtischen Haushaltungen mit Kien und Wachholder, wildem Rosmarin und dergleichen. Fürstliche Gnaden haben ihm erlaubt, sich eine Erdhütte im Walde anzulegen, und dort lebt er nun bereits seit einem Jahrzehnt als völliger Einsiedler.“

„O, schon seit beinahe fünfzehn Jahren!“ verbesserte Frau Wendland.

„Man darf bei ihm sogar von einem Schicksal sprechen,“ fuhr der Intendant, ernster werdend, fort. „Als er aus dem Kriege heimkehrte, wurde er hier bei einem benachbarten Gutsbesitzer Gärtner – ein Metier, das er schon früher mit Leidenschaft betrieben hatte. Die Stelle warf ihm ein genügendes Einkommen ab, und da er, wie gesagt, ein stattlicher Bursche war, welcher sehr auf sich gehalten haben soll, gewann ihn eine vermögende Bauerntochter lieb, welche es auch gegen den Willen ihrer Eltern durchsetzte, sich mit ihm zu versprechen. Er trug nun seiner Braut öfter Sträuße hinüber, die er natürlich – ohne sich dabei eines wirklichen Unrechts bewußt zu werden – im Garten seines Herrn schnitt. Dieser hörte eines Tages davon, und das Unglück wollte es, daß ihm Lüschnat schon an demselben Tage auf einem solchen Gange begegnete. Was da zwischen den beiden heftigen Männern vorgefallen ist, hat man nie recht erfahren; jedenfalls jagte ihn der Herr sofort aus dem Dienste, nachdem er sich nur mit Mühe beschwichtigen gelassen, ihn nicht als Dieb zu denunciren. Die Geschichte wurde ruchbar; die Braut sagte Lüschnat ab, und er verschwand aus der Gegend. Nach langen Jahren, in denen er sich in Polen aufgehalten, trieb es ihn wieder hierher zurück: er sah schon damals – natürlich jünger, doch nicht viel anders aus, als Sie ihn jetzt sehen. Von dem früheren Lüschnat keine Spur mehr; nur noch ein halb verwilderter Mensch, der jedoch sprüchwörtlich ehrlich ist und überall zuspringt, wo es etwas zu helfen giebt. Durchlaucht ließen ihn anfangs im Schloßgarten beschäftigen, es ging aber nicht recht; er trieb sich oft Tage lang im Walde umher, mochte mit Keinem zusammen arbeiten, und so wurde er denn endlich zu unserer und seiner Zufriedenheit – der Kienhusar.“ Diesmal legte der Intendant keinen Ton auf das Wort.

„Und diese Liebe zu Ihrer Frau Tochter –“

„Louise soll,“ fiel der Intendant ein, „jener ungetreuen Braut sprechend ähnlich sehen. So spielt denn solche Scene, wie die heutige, jedes Jahr an ihrem Geburtstage. Ich muß sie jetzt aber befreien – sonst schilt meine Frau. Sein Stück Geburtstagsbraten in der Küche ist das beste Mittel.“

Damit erhob er sich und ging zur Tochter.

Gleich darauf verließ Lüschnat mit einem letzten, wie erlöschenden Blick auf sein Prinzeßchen in derselben spukhaften Weise, wie er gekommen war, das Zimmer.

Erst jetzt vermochte das blonde Mädchen an der Thür – wieder aufzuathmen.




2.

Der Frühling war in all seiner Pracht gekommen. Durch das junge Grün der Buchen in den Waldungen lief es gleich einem Schauer über so viel Schöne hin: am Himmel hatte seit Tagen keine Wolke gestanden; nur die Sonne und strahlendes Blau lachte herab – überall im Moose sickerten Quellen und wo sich Abhänge oder ein Hünengrab des Lichtes freuten, standen Blumen ohne Zahl.

[39] Lüschnat hatte unter dem Schmettern der Finken und dem furchtlosen Hin- und Wiederflattern der Schwalben, die in seiner Nähe kaum mehr ihren Warnungsruf anschlugen, schon früh Morgens ganze Bündel von Springauf, Nachtschatten und Waldmeister gepflückt und vertheilte sie nun auf seiner Karre. War noch etwas vom Gärtner in ihm geblieben? Kam ihm das duftige Blumen und Kräuterzeug zu lieb vor, um es in die Säcke zum Kien zu stecken? Er band lauter kleine Sträuße davon, machte dann aus vielen derselben ein kräftiges Bund und steckte diese zwischen die Kiensäcke, sodaß die Karre schier selbst zu einem Stückchen Frühling wurde. Sonst war dergleichen stets mit einer gewissen Hast gethan worden, als gälte es viel zu versäumen, wenn er nicht pünktlich um Acht auf seinem Posten am Ecksteine des Rathhauses einträfe. Hente ließ er sich augenscheinlich Zeit, sprach auch öfter und erregter, als gewöhnlich, mit sich selbst, ja setzte die Karre ein paarmal nieder, bevor er zu seinem gewohnten soldatischen Schritte kam. Dann ging es aber scheinbar in alter Weise, nur daß er nicht wie sonst den Umweg über die Waldschenke machte, sondern den kürzeren Fußpfad nach der Chaussee einschlug. An Begegnenden karrte er, wie meistens, stumm vorüber, und als ihm der Förster trotzdem einen Gruß nachrief, war seine Antwort ein unverständliches Brummen. Sein weißes Haar wehte im Winde; es war unbedeckt wie die nackten Füße, das dünne leinene Beinkleid schlotterte um die Knöchel, und der Dolman, auf welchem Flick an Flick saß, daß aus dem Ehrenkleide ein Spottkleid geworden war, flog hinter ihm her. So betrat er die kurze Querstraße, die nach dem Marktplatze führte, und wie gewöhnlich johlten ihm Knabenstimmen entgegen:

„Der Kienhusar! Der Kienhusar!“

Sonst hatte er dann gedroht, auch wohl gegen Einen, den ihm die Anderen zu nahe auf den Leib gestoßen, eine Wachholderruthe erhoben, heute sah er nur gerade aus und ließ, endlich an seinem Platze angelangt, die Karre beinahe fallen, indem er sich schwer athmend an den kühlen Stein lehnte. Der Verkauf ging aber sofort los: dieses Mädchen brauchte Kien, jenes Wachholder, ein Fräulein nahm ein ganzes Bund Nachtschatten, der dicke Kellner aus dem „Englischen Hause“ viel Maikräuter, und eine Gnädige wollte ihm für ein paar Sträußlein Springauf sogar den ganzen Groschen lassen. Er brummte aber nur wieder, und sie mußte die beiden Dreier zurücknehmen.

Als die Säcke leer waren, auch von dem Grünzeuge blos noch abgefallene Blüthen umherlagen, brach er wieder auf, doch selbst die leere Karre, welche er nun hinter sich herzog, schien ihm zu schwer. Es war wohl recht warm geworden, fast schwül: als er auf die Chaussee herauskam, sah er, daß über dem Meere ein starkes Gewitter niederging. Dann und wann ein wenig ausruhend, hörte er auf den fernen Donner und verfolgte den Zickzack der Blitze. Außer einigen Wagen mit altem Eisen, die nach den Hämmern im Thale fuhren, begegnete ihm Niemand. In der Nähe der Waldschenke hörte er aber etwas kommen, was leichter dahinrollte, nachdem er die Biegung erreicht, sah er ein Gefährt, dessen Grauschimmel ihm bekannt erschienen.

Er bog seitwärts aus und blieb stehen, um den Wagen vorbei zu lassen. Eine Dame saß im Fond, schon ehe sie ganz nahe gekommen, nickte sie ihm zu. Da ließ er die Karre fallen und blickte, die Hände faltend, wie in Verzückung zu ihr auf. „Prinzeß Louischen!“ weiter kam nichts über seine Lippen.

Prinzeßchens Mund verzog sich wie immer zu einem Lachen; dann war der Wagen vorbeigerollt, allzu bald auch die Biegung erreicht und der wehende Schleier unter dem Gezweige des Birkenwäldchens verschwunden.

Der Alte lief die paar Schritte zur Biegung zurück und stand, bis ihm eine neue Wendung des Weges auch das Letzte entzog. Sehr langsam, wie schwankend, ging es dann von Neuem vorwärts.

Die Wirthin vor der Waldschenke saß vor der Thür und sagte, als er herangekommen war, kopfschüttelnd:

„Was ist Euch, Lüschnat?“

„Ich wüßt’ nichts,“ versetzte er heiser und trat in die Schenkstube.

„Er sieht heut’ wie ein recht armes Lastthier aus,“ wandte sich die Wirthin an ein Weib, das seinen Tragkorb zuband.

Lüschnat, der wieder auf die Schwelle getreten, rief, heftig nach den Frauen gesticulirend:

„Die Thiere sind nicht arm; sie sind immer gekleidet; ihr Haus ist unter’m Himmel, und zu fressen finden alle.“

Die Wirthin zuckte die Achseln mit einer Bewegung, als lohne es ja nicht, sich mit ihm einzulassen, ging in die Stube voran und gab ihm so viel Brod und Wachholderbranntwein, wie er für die Woche zu bedürfen glaubte. Kein sonstiges Wort wurde mehr gewechselt; er hüllte seinen Einkauf behutsam in die Säcke, und ein wenig später sah die Wirthin seinen weißen Kopf sich noch einmal nach der Schenke zurückwenden, bevor er zwischen den Fichten verschwand.

*      *      *

Am nächsten Sonnabend war der Alte, wie er doch stets pflegte, nicht bei der Schenke vorgesprochen. Den Wirth, dem er lieb geworden, überfiel es wie Sorge, und schon am Sonntag Vormittag ging er das halbe Stündchen zu des Alten Hütte hinüber, um nach ihm auszuschauen. Im Walde war es so festlich still, nur die langgezogenen Ringel aus der Pfeife des ruhig Hinschreitenden zeigten, daß ein leichter Wind ging.

Als der Wirth sich der Hütte näherte, bemerkte er, daß eine Spinne ein großes Netz über den Eingang zu derselben gesponnen hatte und ein paar Mauerschwalben ihre Köpfchen neugierig aus einer Spalte hervorreckten. Erschrocken öffnete er die Thür: da lag der Alte friedlich entschlafen auf seinem Mooslager – und sein Dolman, der ihn bedeckte und der so lange ein Spottkleid gewesen, war nun wieder ein Ehrenkleid.




Traum und Wahrheit.

Das war vor vielen, vielen Jahren,
0Daß ich durch dies Gelände zog,
Ein Jüngling, dem von braunen Haaren
0Ein froh Gelock das Haupt umflog.

5
Und lachend, wie dies Thalgefilde,

0Lag meine Zukunft hell vor mir:
Rings sah ich gold’ne Traumgebilde –
0Jedoch den schönsten Traum in – Dir.

In Dir, Du Kind von fünfzehn Lenzen,

10
0Du scheues Reh am Waldessaum:

Es hing die Welt voll Blüthenkränzen,
0Und Alles war mir wie ein Traum. –

Heut abermals durch dies Gelände
0Thu’ ich erinn’rungsvolle Fahrt:

15
Schon neigt mein Leben sich zum Ende;

0Im Herbstwind weht mein grauer Bart.

Da seh’ ich Herdesflammen glimmen:
0Das ist Dein Haus – hier waltest Du:
Da hör’ ich helle Kinderstimmen –

20
0Dein Töchterlein hüpft auf mich zu.


Dein Töchterlein von fünfzehn Lenzen!
0Bist Du’s nicht selbst? Ich weiß es kaum:
Nur fühl ich feucht mein Auge glänzen,
0Und Alles ist mir wie ein Traum. –

25
Nein! Nicht ein Traum! – Was wir gesonnen,

0Was wir gelebt, gewirkt, erreicht,
Das ist kein Schatte, rasch zerronnen,
0Das ist kein Schein, der schnell entweicht.

Nein, was sich einmal schön vollendet,

30
0Von zartestem Gefühl geweiht,

Das wird uns nie mehr rückgewendet,
0Das ward ein Tropfen Ewigkeit.

 Felix Dahn.




[40]

Blätter und Blüthen.


Hygienische Milchwirthschaften. Die vor einem Jahrzehnt erwiesene Thatsache, daß ansteckende Krankheiten manchmal durch die Milch verbreitet werden, beschäftigt seit längerer Zeit lebhaft die maßgebenden medicinischen Kreise Englands und bildet auch das Thema eines von Dr. E. Hart auf dem internationalen medicinischen Congresse in London gehaltenen Vortrages. Diese Thatsache selbst und die in neuester Zeit zur Sicherheit der Milchconsumenten theilweise mit Erfolg durchführten Maßregeln sind so interessant und wichtig, daß wir es für unsere Pflicht erachten, die Ausführungen des englischen Arztes kurz mitzutheilen.

Auf die Möglichkeit von Uebertragung ansteckender Krankheiten durch den Genuß roher Milch hat zum ersten Male Dr. Ballard gelegentlich einer Typhus-Epidemie in Islington hingewiesen. Die Aufmerksamkeit weiterer Kreise wurde auf diese Thatsache jedoch erst im Jahre 1873 in Folge einer ähnlichen Epidemie, welche in London aufgetreten war, gelenkt. Mehrere Aerzte machten damals die Beobachtung, daß die von der Krankheit heimgesuchten Familien ihren Milchbedarf von einer und derselben Milchwirthschaft bezogen hatten. Wiewohl die in Folge dessen unternommene amtliche Revision jener Milchwirthschaft für dieselbe günstig lautete, wurde dennoch eine Gegenuntersuchung verlangt. Der nunmehr mit der Ausführung dieses Auftrages betraute Beamte schloß sich in seinem Gutachten dem Urtheil seines Vorgängers in allen Punkten an und trank, um die Richtigkeit seiner Aussagen zu beweisen ein großes Glas der für gesund erklärten Milch. Der Wahrheitsbeweis war ihm jedoch vollständig mißlungen, denn schon nach wenigen Tagen lag er selbst am Typhus darnieder. Jetzt erst erfuhr man, das sich in der Farm, welche die fragliche Milch lieferte, ein Typhuskranker befand, dessen Auswurfstoffe einen Brunnen verunreinigten, aus welchem man Wasser zum Ausspülen der Milchgeräthe zu schöpfen pflegte.

Seit jener Zeit mehrten sich die Beobachtungen ähnlicher Fälle, und in seinem dem medicinischen Congresse in London mitgetheilten Berichte hat Dr. Hart gegen 70 Epidemien aufgezählt, in denen die Milch als die Trägerin des Infectionsstoffes bezeichnet werden mußte. Von diesen Epidemien waren 50 typhöser Natur, während der Scharlach 14 Mal und, wie man annimmt, die Diphtheritis 7 Mal in Folge des Genusses von roher Milch ausgebrochen waren. Die Zahl der unter diesen Umständen Erkrankten betrug bei den Typhus-Epidemien 3500, bei dem Scharlach 800 und bei der Diphtheritis 700 Personen.

Die eingehende Untersuchung ergab ferner, daß die typhöse Ansteckung meist durch die Inficirung des Brunnenwassers mit Abfällen von Typhuskranken bewirkt wurde, da man dieses Wasser bald zum Reinigen der Milchgefäße, bald sogar zur Verdünnung der Milch benutzte. Der Scharlach dagegen verdankte in den oben erwähnten Fällen seine Verbreitung dem Umstande, daß Leute, welche in den Molkereien beschäftigt waren, gleichzeitig Scharlachkranke verpflegten. Was schließlich die Diphtheritis anbelangt, so war es bis jetzt unmöglich nachzuweisen, auf welchem Wege die Ansteckung erfolgte, wiewohl der Milchgenuß in den erwähnten sieben Fällen wahrscheinlich den Ausbruch der Epidemie veranlaßte.

Seit dem Jahre 1873 sann man inzwischen auf Mittel, welche geeignet wären, diese Gefahr zu verringern, und begründete schließlich auf durchaus neuen Principien die bedeutende hygienische Milchwirthschaft von Aylesbury, deren Einrichtung wir im Folgendem kurz beschreiben.

Alle Oekonomien, welche dieser Musteranstalt beitreten wollen, werden zunächst durch einen Ingenieur untersucht, welcher die Beschaffenheit der Brunnen und sonstiger Wassersammler der genauesten Prüfung unterwirft. Ferner verpflichten sich die Besitzer der einzelnen Farmen, die Centralverwaltung der Milchwirthschaft sofort zu benachrichtigen, wenn in ihren Farmen irgend jemand, der zu der Wirthschaft Zutritt hat, von einer anstehenden Krankheit befallen wird oder mit derartigen Kranken in Berührung kommt. Unterläßt einer von den Farmern diese Anzeige, so ist er verpflichtet, eine Conventionalstrafe von etwa 2000 Mark zu zahlen und alle Kosten für den Schaden zu tragen, welchen der Genuß mit Krankheitsstoffen behafteter Milch nach sich ziehen würde. Erfüllt er dagegen rechtzeitig seine Verpflichtungen, so läßt die Administration der Anstalt die betreffenden Kranken auf ihre Kosten verpflegen und garantirt dem Besitzer den vollen Ersatz des Schadens, der ihm aus der Confiscation der Milch erwächst. Nach erfolgter Anzeige wird der Verkauf der Molkereiproducte aus der von einer ansteckenden Krankheit heimgesuchten Farm sofort eingestellt, bis in genügender Weise sanitäre Vorsichtsmaßregeln getroffen worden.

Außerdem verfügt die Anstalt über ein vortreffliches Laboratorium, in welchem die eingehende Milch auf ihre Zusammensetzung etc. von Sachverständigen regelmäßig geprüft wird, und schließlich wird der Gesundheitszustand der Farmbewohner und der dort vorhandenen Thiere von Aerzten und Thierärzten inspicirt, wodurch die Consumenten gegen den etwaigen Gebrauch der von kranken Kühen herrührenden Milch geschützt werden.

Man kann zwar mit Recht einräumen, daß derartige complicirte Anstalten sich allgemein nicht werden durchführen lassen, weil ihre Vorschriften und Satzungen zu tief in das gewohnte Treiben unserer Landwirthe und Milchverkäufer eingreifen. Dieselben sind aber überall anzustreben, wo die äußeren Verhältnisse zum Nutzen der Menschheit die Durchführung dieser Organisation ermöglichen. Der Erfolg der Milchwirthschaft von Aylesbury war wenigstens ein vollständiger, denn schon gegenwärtig sind ihr über 70 Oekonomien beigetreten, welche täglich im Durchschnitt 24,000 Liter frische Milch und 1000 Pfund frischer Butter für die Stadt London liefern, während noch bedeutende Mengen künstlicher menschlicher Milch für Säuglinge (durch Zusatz von Zucker etc.) in der Anstalt selbst bereitet werden. Zum Nachahmen muß auch die Thatsache ermuntern, daß die von dieser Wirthschaft verkauften Producte bis jetzt kein einziges Mal irgend welche Ansteckung hervorgerufen haben.




Der elektrische Schmelztiegel. Ueber den von Wilhelm Siemens erdachten und in unserem Schlußberichte über die erste elektrische Weltausstellung (vergl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1881, Nr. 52) bereits erwähnten Schmelztiegel wird uns von sachverständiger Seite noch Folgendes berichtet:

„In diesem Schmelzapparate wird die gewaltige Hitze verwerthet, welche sich in dem sogenannten Voltaischen Bogen, den wir bereits ziemlich vielfach zur Beleuchtung unserer Bahnhöfe, Läden, Fabrikräume und Straßen angewendet sehen, entwickelt. Der elektrische Tiegel ist in der That einer elektrischen Lampe der älteren Construction im Princip völlig vergleichbar. Die beiden, meist wie gewöhnlich aus dicken Kohlenstäben gebildeten Pole treten hier jedoch durch runde Oeffnungen des Deckels und Bodens in den aus Graphit oder feuerfestem Thon gebildeten Schmelztiegel ein, der seinerseits mit einem Mantel von schlechten Wärmeleitern (grobe Holzkohle oder dergl.) umgeben ist. Und zwar tritt der positive Pol, an welchem sich die intensive Gluth entwickelt, durch den Boden ein, sodaß er von dem zu schmelzenden Metall bedeckt wird; der den Deckel durchbohrende negative Pol wird dagegen durch einen selbstthätigen Regulator, wie bei den elektrischen Lampen, in einer bestimmten gleichmäßigen Entfernung von der Metalloberfläche erhalten.

Dieser negative Pol kann für bestimmte Zwecke aus Kupfer oder Platin hohl hergestellt und durch darin circulirendes Wasser kühl erhalten werden, während der zwischen ihm und dem positiven Pol überschlagende Funkenstrom eine Hitze entwickelt, die mit Leichtigkeit Stahl und Platin oder Iridium, also die schwerstschmelzbaren Metalle, schmilzt. Unter Anwendung einer dynamoelektrischen Maschine, zu deren Betriebe sieben Pferdekraft Dampf hinreichen, können in einem solchen Tiegel, der sofort in jedem Laboratorium oder Hörsaal aufgestellt werden kann, in einer Viertelstunde zwei Kilogramm Stahl geschmolzen werden. jedes Pfund Kohle, welches zum Heizen der Dampfmaschine verwendet wird, schmilzt hier ein Pfund Gußstahl, während in den Sheffielder Gebläse-Ofen anderthalb bis drei Tonnen Coaks erfordert werden, um eine Tonne Gußstahl zu schmelzen. Ebenso leicht lassen sich die anderen schwerschmelzbaren Metalle und Metallgemische in diesem bequemen Laboratoriumsapparat in Fluß bringen. Ja, während es schwer ist, in einem Schmelzofen eine Hitze zu erzeugen, welche über 2500 bis 2800 Grad hinausgeht, ist die Hitze, welche der elektrische Schmelztiegel liefert, unbegrenzt, und man wird darin vermuthlich auch gewisse längst angestrebte chemische Experimente ausführen können, die eine Hitze erfordern, wie man sie bisher nur auf dem Sonnenball und gewissen sehr hell leuchtenden Fixsternen aus der Spectralanalyse vermuthet hat. Es handelt sich nämlich dabei um eine wahrscheinliche weitere Zersetzung unserer sogenannten chemischen Elemente oder Grundstoffe, die man in sehr großer Hitze zu bewerkstelligen hofft. In dieser Richtung erscheint uns der elektrische Tiegel zugleich als ein Werkzeug der Zukunftschemie, mittelst dessen der Wissenschaft vielleicht dereinst ganz neue Bahnen erschlossen werden können.“




„Een Boot is noch buten.“ (Mit Abbildung S. 25.) Jedes Land, jeder Himmelsstrich bedroht seine Bewohner mit besonderen Gefahren; Bergrutsche und Lawinenstürze sind die Schrecken der Gebirgsvölker; der Samum und die sengende Hitze des Sommers gefährden das Leben der Beduinen der Wüste, und das Meer mit seinen Stürmen und Ueberschwemmungen hält täglich und stündlich die Küstenbewohner in Schach. Aus dem gefahr- und kampfvollen Leben der Letzteren bietet uns unser heutiges Bild eine fesselnde Scene dar.

„Een Boot is noch buten – ein Boot ist noch draußen.“ Dieser Schreckensruf erschallte an einem stürmischen Abende durch die Gassen eines kleinen Fischerdorfes an der Nordseeküste. Sie waren des Morgens in die ruhige See hinausgefahren, die Fischer des Dorfes, jung und alt, eine ganze Karavane von Böten, und im Laufe des Tages waren sie einzeln heimgekehrt, je nachdem das Glück des Fanges und das persönliche Bedürfniß den Entschluß des Einzelnen bestimmt hatte. Da plötzlich war der Wind umgeschlagen, die See hatte ihre weißen Häupter erhoben; die Wellen gingen hoch, und die Fahrt durch die Brandung war im Handumdrehen eine gefahrdrohende geworden. Nun wendeten auch die letzten noch draußen befindlichen Boote den Kiel und suchten, kundig und vorsichtig, die sichere Küste zu erreichen. Inzwischen brach die Nacht herein – dunkler und dunkler. Der Fischer-Aelteste zählt die eingelaufenen Boote, und „Een Boot is noch buten“ – sagt er. Jochen Langhinrich treibt noch in der stockfinsteren Nacht mit seiner Jolle (kleines Boot) auf der brandenden See. Wie leicht kann er in der Dunkelheit auf die schlimmen Sandbänke der Küste getrieben werden! Vergebens sucht er den richtigen Curs, die Nacht ist zu schwarz. Jede Minute erhöht die Gefahr. Da ist schnelles Handeln nöthig, und der Seemann handelt stets schnell, denn der Kampf mit den Elementen hat ihm rasches, entschlossenes Eingreifen anerzogen. Auf der äußersten Spitze eines hohen sturmfesten Mastbaumes, der im Küstensande tief in den feuchten Grund gegraben wurde, wird ein Bündel theergetränkten Wergs befestigt und zu einer helllodernden Flamme entzündet. Dieser improvisirte Leuchtthurm ist die letzte Rettung des draußen auf der öden Salzfluth angstvoll Irrenden, und wenn das Boot seetüchtig und der Lenker desselben ein erfahrener kaltblütiger Mann ist, so pflegt die nächste Stunde den Vermißten glücklich in die Arme der Seinigen zurückzuführen.

In die Arme der Seinigen! Auch auf unserem stimmungs- und lebensvollen Bilde harrt neben den ruhig ihres Amtes waltenden Fischern eine bang hinausschauende Gattin, ein ängstlich wartendes Kind des ausgebliebenen Familienvaters. Möge er, dem weithin leuchtenden Scheine des Küstenfeuers folgend, bald heimkehren an das rettende Land, an die klopfende Brust der Seinigen, unter das schützende Dach seines strohbedeckten einfachen Hauses!



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)