Die Gartenlaube (1882)/Heft 3
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No. 3. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Mit der Heimkehr des jungen Ehepaares und den Gästen war reges Leben in Waltershofen eingezogen. Schon mehrere Tage waren seit ihrer Ankunft verflossen, und noch hatte Hilda nicht zur Ruhe kommen können. Zu ihren verschiedenen Obliegenheiten im Haushalte hatte sich nun noch die Obsorge für den so unangesagt gekommenen Besuch gesellt, dem gegenüber die Ehre des Hauses vertreten werden mußte, und Hilda, die nun schon so lange Jahre an der Seite ihres Bruders demselben vorstand, setzte ihren Stolz darein, auch das tadelsüchtigste Auge keinen Mangel gewahren und auch die verwöhntesten Wünsche nichts vermissen zu lassen.
Es war weniger die junge Frau, die für Alles ein freundliches und anerkennendes Wort hatte, welche dabei in Betracht kam, als vielmehr deren Mutter; die Art, wie sie sich um Alles bekümmerte, Erkundigungen über jegliche Angelegenheit einzog und über Dies und Jenes Bemerkungen fallen ließ, war eben nicht geeignet, ihr Hilda’s Zuneigung im Fluge zu erwerben, aber sie entschuldigte dieses „in die Töpfe gucken“ mit dem natürlichen Interesse, das eine Mutter für die künftige Heimath ihrer Tochter haben mag. Wer wollte es ihr da übel nehmen, wenn sie sich selbst von den Verhältnissen zu überzeugen suchte, mochte dies auch nicht immer gerade in der delicatesten Weise geschehen. Der Zärtlichkeit mußte man da gutschreiben, was an Zartgefühl dem Herzen gebrach, und Hilda besaß von diesem selbst zu viel, um nicht die Controlle der Schwiegermutter ihres Bruders geduldig zu ertragen.
Die alte Dame – obwohl erst im Beginne der Fünfziger, machte sie doch durch ihre Schwerfälligkeit diesen Eindruck – gab sich ungemein anspruchsvoll; vielleicht weniger, weil sie es wirklich von Haus aus war, als weil sie sich hier in der Fremde vor den Augen ihres Schwiegersohnes und seiner Familie dadurch einen besonders vornehmen Nimbus zu geben glaubte.
Es war Hilda recht wohl bekannt, daß jener frühere Gatte, mit dessen adeligem Namen Frau Rohrwek gleich bei der ersten Begegnung auf sie Eindruck zu machen gesucht, nur ein armer Hungerleider auf der letzten Stufe der Beamtenhierarchie gewesen, der das schöne Bürgerskind, das er geehelicht, nach seinem Tode in größter Noth zurückließ, sodaß der hülflosen Wittwe keine Wahl blieb, als ihr von einem älteren Manne Herz und Hand und der Mitgenuß eines ansehnlichen Vermögens angetragen wurde. War sie nun in dem ärmlichen Haushalte des kleinen Beamten nicht gerade verwöhnt worden, so mochten ihre späteren Verhältnisse, trotz aller Behäbigkeit, wohl auch kaum dazu angethan gewesen sein, ihr die Prätensionen anzuerziehen, mit denen sie hier die große Dame zu spielen versuchte.
Hilda ließ es sich nicht verdrießen, den Wünschen der Frau Rohrwek möglichst gerecht zu werden, und griff in ihrer energischen Art dort selbst mit ein, wo sich Liese und die andern, welche alle Frau Rohrwek noch neben der von ihrer Tochter mitgebrachten Jungfer zu beschäftigen und auf die Beine zu bringen verstand, keinen Rath mehr wußten.
So war es auch heute Morgen gegangen; Frau Rohrwek war nämlich auf den Einfall gerathen, einen Heizversuch in ihrem Zimmer anstellen zu lassen, und während sie sich ankleidete, war es dann der vollsaftigen Dame zu heiß geworden; Liese mußte die Fenster öffnen und Wasser auf das Feuer gießen. Als Hilda herbeikam, fand sie das Gemach voll Rauch und die Bewohnerin in einem Erstickungsanfalle. Sie hatte Mühe, dieselbe zunächst aus dem Zimmer zu schaffen, wo deren Hülferufe Allen die Köpfe verwirrte.
Es war bald wieder Ordnung geschafft, doch kam Hilda darob später zum Frühstückstisch hinab. Die Herren waren schon bei der Cigarre, und selbst die Unheilstifterin hatte über Kaffee und Kuchen den Schreck schon so ziemlich verwunden. Sie saß in ihrem bunten Cachemirschlafrocke mit aller Grandezza nur noch an der Tafel, um ihr Hündchen, das sie zärtlich auf dem Schooße hielt, mit den ausgewähltesten Bissen zu füttern.
„Was ist denn das mit dem Ofen?“ wurde die Eintretende von ihrem Bruder gefragt.
Sie war es so gewöhnt, ihm in allen Dingen Rechenschaft zu geben, daß sie zu anderer Zeit kaum Anstoß an diesem Ersatze für einen herzlichen „Guten Morgen“ genommen hätte. In Gegenwart der Fremden aber fühlte sie sich von dieser echt brüderlichen Nachlässigkeit ein wenig verletzt. Sie trug es still.
„Ein kleines Versehen,“ sagte sie ruhig. „Ich habe mich überzeugt, daß Alles in Ordnung ist; übrigens soll der Töpfer gerufen werden.“
Hilda ließ sich an ihrem Platze nieder, allein die Kannen standen nicht vor demselben wie gewöhnlich, sondern dort, wo ihre Schwägerin die letzten Tage gesessen hatte. Edwin reichte sie ihr, seine Zeitung im Stiche lassend, diensteifrig zu.
„Es thut mir leid, daß Albertine sich bemühen mußte,“ sagte sie leichthin.
„Es ist jedoch nur ihres Amtes und steht ihr ganz gut,“ meinte der Gutsherr und bewirkte dadurch ein überraschtes Aufblicken seiner Schwester.
[42] „Mein Gott,“ fiel hier Frau Rohrwek mit dem süßesten Lächeln, das ihr zu Gebote stand, ein. „Wir müssen uns ohnedem schwere Vorwürfe machen, daß wir Ihnen so viel zu schaffen geben. Ich kann wirklich nicht genug danken, liebe Hilda, Sie haben mich gerettet, ich wäre ohne Ihre Hülfe verloren gewesen.“
„Das ist wohl eine kleine Uebertreibung sowohl der Gefahr wie des Beistandes,“ versuchte Hilda zu scherzen, aber Frau Rohrwek ließ die Ablehnung nicht gelten.
„Glauben Sie ihr nicht, lieber Franz!“ wandte sie sich an ihren Schwiegersohn. „Nur die Bescheidenheit spricht so aus ihr. Ersticken hätte ich können, hätte ich müssen. Ich weiß wirklich nicht, wie es gehen wird. Der Ofen scheint mir einer gründlichen Untersuchung zu bedürfen. Denken Sie, wenn ein Feuer auskäme! Ich begreife überhaupt nicht, lieber Franz, wie Sie noch eine hölzerne Treppe in Ihrem Schlosse dulden können, und dazu noch eine so steile, daß ich mit meinem Asthma sie kaum ersteigen kann. Im Fall einer Feuersgefahr wäre ich ein Kind des Todes.“
„Beruhigen Sie sich, Mama!“ sagte Herr von Reinach, ein wenig ungeduldig auf dem Sessel rückend. „Es wird nicht dahin kommen. Zum Glücke brauchen Sie ja nicht zu heizen. Es sind noch ganz warme Tage; selbst die Nächte – heute Morgen hatten wir nicht einmal einen Reif. Ich begreife nicht, wie das Feuer –“
Er sprach nicht aus; dafür griff Edwin die abgebrochene Frage auf.
„Wahrscheinlich war der Spiritus ausgegangen,“ meinte er, „und Mama wollte ihre Lockeneisen heiß machen.“
Im Hinblick auf die große Haube der Frau Rohrwek, unter der sich nur ein paar gekräuselte Haarbüschelchen auf die Stirn hervorstahlen, klang die verrätherische Mittheilung so komisch, daß sich auch Hilda eines Lächelns, das sie freilich in die Tasse versteckte, nicht enthalten konnte.
Für Frau Rohrwek aber bot sich im Momente glücklicher Weise ein Mittel, über diese unangenehmen Enthüllungen hinwegzukommen.
„Um Gotteswillen, die Katze! Die Katze ist wieder da!“ rief sie und fuhr, als ob sie von derselben schon an der Kehle gepackt würde, entsetzt empor, um wieder, einer Sterbenden gleich, unter Zuckungen auf ihren Sitz zurückzusinken.
Der kleine weiße Pintscher, auf diese Weise unangenehm aus seinem trägen Wohlleben aufgestört, glitt zur Erde und gab seinen Unmuth in einem wüthenden Gekläffe kund, wobei er mit der possirlichsten Entrüstung, so schnell es ihm seine Wohlbeleibtheit erlaubte, auf die arme Bußbuß losfuhr, die pfauchend auf’s Büffet flüchtete und sich dann mit einem ungeheueren Buckel in ihrer unzugänglichen Stellung zur Gegenwehr rüstete. Während der Belagerer bellte und an seinem Zorngekeife zu ersticken drohte, lag seine Herrin mit zurückgeworfenem Kopfe und geschlossenen Augen in ihrem Fauteuil, focht mit den Händen und ächzte und stöhnte, wie in den heftigsten Krämpfen.
„Ruhig, Fipps!“ rief Edwin ein Mal über das andere. „Hierher, kleine Canaille! Wirst Du Frieden geben!“
Es war ein Spectakel, daß die Eile begreiflich war, mit der plötzlich die junge Frau und Mimi auf der Schwelle erschienen. Die offen gebliebene Thür wurde von der armen Mieze, die sich in ihrem eigenen Territorium nicht mehr sicher sah, sofort für den Rückzug in’s Auge gefaßt, und dieser konnte um so geordneter in’s Werk gesetzt werden, als es nun auch Edwin gelungen war, den athemlosen und nur noch quäkenden kleinen Köter im Genick zu fassen und vom Boden aufzuheben.
„Bußbuß muß mit mir hereingekommen sein,“ suchte Hilda in bedauerndem Tone zu entschuldigen. „Sie ist so gewöhnt daran, beim Frühstück zu sein, und unsere Hunde vertragen sich alle mit ihr.“
„Ach was, die sind auch nicht hier. Warum sperrst Du die Katze nicht ein, wenn Du schon weißt –“
Sie nahm ihres Bruders Vorwurf, der sich in ein ärgerliches Brummen verlief, ohne Entgegnung hin, aber das Schweigen war nicht das der Ergebung, sondern nur das der guten Sitte, welche Zurückhaltung gebietet. Sie beeilte sich übrigens nicht übermäßig, der aus ihrem nervösen Anfalle nun langsam zu sich Kommenden mit einem Glase Wasser oder, wie dieselbe für gewöhnlich vorzog, mit einem Tropfen Rum auf Zucker zu Hülfe zu springen. Hilda empfand wenig Mitleid für Frau Rohrwek. Ihrer starken, geistig und körperlich in gleicher Gesundheit blühenden Natur waren solche krankhafte Eigenheiten unfaßbar.
Weil der Einzelne zu schwach war, sich zu beherrschen, mußten darum alle Uebrigen leiden? Bußbuß einsperren! Als ob das so leicht ginge, und wozu hatte sie denn die Katze, wenn sie nicht vom Boden bis zum Keller das Haus durchstreifen durfte? War es nicht schon schmählich, daß des streitsüchtigen weißen Seidenballs wegen Hektor von seinem angestammten Erbsitze zu Füßen seines Herrn verbannt war?
Indessen hatte die junge Frau in aller Gelassenheit ihrer Mutter Beistand geleistet, und diese ergab sich in die Nothwendigkeit, die Augen endlich aufzuschlagen.
„Ach, wie mich das wieder alterirt hat!“ stöhnte sie mit eigenthümlichem, durch das rumgetränkte Zuckerstückchen verursachtem Wispern. „Mich greift alles so sehr an. Ich verstehe nicht, wie man diese abscheulichen Thiere in seiner Umgebung dulden kann; mir flößen sie das unüberwindlichste Grauen ein, und ich habe doch sonst wirklich keine Vorurtheile und Schwächen. Ich könnte, glaube ich, eine Spinne fortkehren oder das Abschlachten einer Henne mit ansehen. Aber Katzen! Huhu! Mich schüttelt’s, wenn ich nur den Namen aussprechen soll. Und so ein widerliches Geschöpf hätscheln? Solche Altjungfernliebhabereien sollte man, meine ich, denen überlassen, die schon wirklich auf dieses letzte Subject ihrer Zärtlichkeit beschränkt sind – auf die Katze.“
„Object, meinst Du Mama,“ corrigirte Edwin mit Humor.
„Ach geh, Du machst mich nur verwirrt. Ich werde doch wissen, was ein Subject ist. Oder soll ich Dich vielleicht ein loses Object nennen?“
Hilda hatte recht gut die mißbilligende Bewegung bemerkt, mit welcher Albertine der Mutter Aeußerung begleitete, und wandte sich nun lächelnd an die junge Frau.
„Ich bin ja aber eine alte Jungfer; da darf man mir die Liebhaberei wohl gönnen.“
„Du darfst das nicht auf Dich beziehen.“
„Warum denn nicht? Mit fünfunddreißig Jahren hat man wohl Anspruch auf diesen Ehrentitel.“
„Ist es möglich, daß Sie das auf sich bezogen?“ wandte sich Frau Rohrwek an Hilda. „Ach, wie empfindlich heutzutage die jungen Leute sind! Jedes Wort muß man auf die Wagschale legen, und ich bin so gewohnt, ohne alles Arge zu reden. Nein, meine liebe Hilda, nicht einmal im Scherze dürfen Sie mir eine solche Tactlosigkeit zutrauen. Ich sollte mich eigentlich ernstlich beleidigt fühlen. Gerade weil ich es unpassend finde, daß sich junge Mädchen selbst vorzeitig so alt machen, durfte ich mir erlauben – ich, die alte Frau, an das Kind – in aller Delicatesse eine Mahnung ergehen zu lassen. Ach ja, ein wahres Kind! Und es liegt ja auch ganz in Ihrer Hand, der Fatalität vorzubeugen, wenn Sie selbst auf die Jahre ein so großes Gewicht legen – obwohl ich immer sage, die Jahre sind es nicht, die alt machen, auf die kommt es nicht an. Sie brauchen ja nur zu heirathen. Glauben Sie mir, Liebste, das ist das beste Mittel. Ein altes Mädchen wird eine junge Frau. Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht lange bedenken und rasch den Sprung thun. Es ist nichts schrecklicher als eine alte Jungfer zu werden.“
„Aber nichts bequemer und friedlicher, als es zu bleiben.“
„Zu bleiben! Nein, so hören Sie doch! Es ist schrecklich, diese Empfindlichkeit! Aber so sag’ Du ihr doch, Edwin, daß sie ein Kind ist! Dir, dem jungen Manne, wird sie schon glauben.“
„Unsinn!“ brummte der Gutsherr. Der Aufgerufene aber verbeugte sich mit dem artigsten Lächeln vor Hilda.
„Wenn ich mich auch Mama’s letztem übertreibendem Ausspruch nicht anzuschließen vermag,“ erklärte er, „da man darin vielleicht auch eine Beleidigung erblicken könnte, so muß ich mit Rücksicht auf meinen Zeugeneid doch nach bestem Wissen und Gewissen die Ueberzeugung aussprechen, daß hier offenbar eine böswillige Fälschung des Taufscheines durch die Besitzerin des wichtigen Documents selbst stattgefunden hat. Leugnen nützt nichts. Sie müssen mich schon als Sachverständigen in dem Wettkampfe gelten lassen, in dem Wettkampfe, aus dem Sie siegreich selbst gegen die jüngsten Ihrer schönen Schwestern hervorgehen müssen.“
„Bravo, wenn auch Rococo. Aber das wird ja wieder Mode!“ rief schlagend seine Schwester.
Aber er hatte in der That nicht so ganz Unrecht mit seiner letzten Behauptung, so sehr sie auch nach einer Schmeichelei klang.
Die feine Röthe, welche bei dem Anhören der von Frau Rohrwek vorgebrachten Widersprüche trotz der angenommenen Ruhe [43] in Hilda’s sonst nur matt gefärbtes Antlitz getreten war, dessen reinen Teint keine Sonne zu bräunen, kein Wetter, dem es sich tapfer aussetzte, rauh zu machen vermochte, zauberte eine Jugendfrische über diese reizvollen Züge, die ganz mit den anmuthigen Bewegungen der feinen elastischen Gestalt harmonirte. Hilda war Mimi’s ansprechender, aber noch nicht zur vollen Entwickelung gereifter Erscheinung weit überlegen und durfte für den Moment selbst den gefährlicheren Vergleich mit der üppigen strahlenden Schönheit der jungen Frau nicht scheuen. Nur ein Lächeln fehlte auf diesen jetzt eben herb geschlossenen Lippen, um unwiderstehlich hinzureißen, aber es fand sich nicht ein, auch über die Lobsprüche nicht, wenn ihr dieselben auch nicht ganz mißfielen.
Der Gutsherr hatte den Rest seiner Cigarre weggelegt und war aufgestanden.
„Na, es kann ja recht schön werden,“ sagte er, „wenn mit den Complimenten so fortgefahren wird. Am Ende trifft auch mich eins an den Kopf; da will ich mich lieber bei Zeiten aus dem Staube machen. Ich meinte, Du wollest mich begleiten, kleine Hexe,“ fuhr er dann mit einem Blick auf seine Tochter fort, „aber Du bist wohl auch abtrünnig geworden wie Edwin. In solchem Wichse geht man nicht auf die Pürsch in den Wald.“
„In der That, man sollte eher glauben, zu einer Visite bei Hof,“ stimmte Hilda mit etwas erkünsteltem Scherze zu. Sie war froh, von dem unbehaglichen Gesprächsthema abzukommen, und nahm somit lebhafter einen Umstand auf, den sie vielleicht sonst kaum der Beachtung werth gefunden hätte. „Mimi, Du hast ja große Toilette gemacht, wie ich sehe. Schon jetzt am frühen Morgen das neue Tuchkleid mit der Goldstickerei.“
Mimi zuckte die Achseln und erwiderte schnippisch:
„Wann soll ich es denn tragen? Mama hat es mir doch nicht gebracht, damit es im Kasten liege.“
„Da wirst Du freilich nicht mit dem Papa in den Wald gehen dürfen,“ sagte Hilda, „und auch mich wirst Du nicht begleiten können, wenn Dir auch ein Morgenspaziergang ganz wohl bekäme.“ Sie wollte vor den Anderen ihrem Tadel keine schärfere Form geben, milderte sie sogar noch durch die Erklärung, zu einem eigentlichen Spaziergange habe sie übrigens keine Zeit. Da kein Reif gefallen, sei das Gras trocken und so recht ein Tag zum Auflesen des Frühobstes. Sie habe schon Befehl gegeben, die Bäume zu schütteln.
„Und da wollen Sie sich selbst bemühen?“
„Bemühen?“ entgegnete sie lächelnd auf Edwin’s Frage. „Es muß doch Jemand die Leute beaufsichtigen.“
„Wie fleißig! Immer thätig! Siehst Du, Edwin!“
Der Anruf enthielt aber vielleicht noch eine andere geheime Mahnung von Seite der Mutter; denn Edwin bat Hilda sofort um die Erlaubniß, sie begleiten zu dürfen, sodaß seine Schwester den verwunderten Ausruf nicht zurückhalten konnte:
„Du warst ja selbst gegen jeden Ausgang.“
„Nur gegen die Jagd, nur speciell gegen die Jagd,“ befliß er sich zu erläutern. „Genau genommen ist sie doch ein sehr barbarisches Vergnügen.“
„Danke schön! Das war nicht immer Deine Meinung,“ warf die Gutsherrin ein.
„Ja siehst Du, Schwager, ich will Dir nicht zu nahe treten – ich kann doch nicht revociren. Man lebt so hin und thut und treibt, was man so bei Andern sieht – findet sogar Gefallen daran – ich will es nicht leugnen. Aber es kommt ein Tag – ein Tag, an dem man plötzlich stutzt und sich Rechenschaft zu geben anfängt.“
„Wenn das bei Dir nur der Fall wäre!“ ließ seine Schwester einfließen, aber er hatte kein Ohr für diesen Seufzer, fuhr vielmehr mit einer gewissen Beredsamkeit fort:
„Was ist es eigentlich, was uns an der Jagd Vergnügen macht? Das Schießen? Nein. Dazu braucht man nur Soldat oder Mitglied einer Armbrustgesellschaft zu werden. Das Treffen? Nein. Das kann man beim Scheibenschießen executiren. Der Todeskampf des erlegten Wildes? Gewiß nicht. Wer könnte es ungerührt mit ansehen, wenn sich der brechende Blick des armen Thieres mit fast menschlichem Ausdruck auf den Mörder richtet? Ein Schatz von Poesie liegt in diesem vorwurfsvollen brechenden Auge, den ich heben würde, wenn er – nicht schon so häufig gehoben und in gangbarstes lyrisches Kleingeld ausgemünzt wäre. Was also, frage ich Dich, Nimrod, was ist die Freude an der Jagd?“
„Die Jagd,“ antwortete Franz mit Nachdruck.
„Nein, der Braten,“ entgegnete Edwin mit Emphase. „Pfui, über die leidige Prosa! Als ob man den nicht beim Wildprethändler zu kaufen bekäme!“
„Wo er auch nicht lebendig hinkommt,“ warf Franz ein.
„Das ist mir alles in einem Momente klar geworden,“ fuhr der Andere fort. „Ich entsage der Jagd – für heute wenigstens; denn der Mensch kann nie für seine Regungen stehen. Er ist Sclave äußerer Einflüsse – Sclave!“
Mimi, zu welcher sein Blick bei der Wiederholung dieses tragischen Ausrufes seltsamer Weise hinüberirrte, bezwang ihr unverhohlenes Mißvergnügen, um ihm eine vorwurfsvolle Mahnung zuzuwerfen, welche beinahe wie eine Einladung klang.
„Wir rechneten so sicher auf Sie, zur Begleitung unseres Duetts.“
„Wenn Du vielleicht doch mitkommen wolltest, Mimi, da das Duett nun doch einmal gestört ist,“ schlug Hilda freundlich vor. „Ich fürchte, Herr von Tonner wird an mir eine unaufmerksame und anderweitig beschäftigte Begleiterin haben, und Dir dürfte die frische Luft gut thun.“
Das gute Wort fand aber keinen guten Ort. Schmollend nickte die Kleine.
„Ich danke. Wir können uns auch vierhändig durchhelfen.“
„Das heißt, wenn Du es erlaubst, liebe Schwägerin,“ sagte Albertine. „Bis mein Instrument ankommt, müssen wir schon das Deine benutzen.“
„Es freut sich der Ehre,“ ging auch Hilda in den scherzenden Ton ein. „Vielleicht ist es mir auch später gestattet, ein wenig dem Concerte beizuwohnen. Ein Viertelstündchen etwa, wenn ich nach neun Uhr in’s Haus komme, den Leuten das zweite Frühstück herauszugeben.“
„Warum willst Du Dir mit dem Frühstück so viele Mühe machen? Willst Du das nicht lieber mir überlassen? Ich brauche ja nur die Schlüssel.“
„Die Schlüssel?“
Hilda hob unwillkürlich den Kopf.
„Ja, das Schlaraffenleben muß wohl ein Ende nehmen,“ entgegnete die junge Frau mit ruhigem Lächeln und jener sanften Gelassenheit, aus der sich vielleicht in späteren Jahren eine Aehnlichkeit mit dem trägen Hindämmern ihrer Mutter entwickeln konnte, die aber zur Zeit noch dieser blonden weichen Frauenerscheinung einen besonderen Reiz verlieh, der seine Anziehungskraft nicht allein auf die Männerherzen übte, sondern ihr auch aus den Reihen ihres eigenen Geschlechtes Freundinnen erwarb.
„Seit drei Tagen schon gehe ich hier umher und lasse mich bedienen, als ob ich ein Gast in diesem Hause wäre,“ fuhr sie fort. „Ich beginne mich wirklich zu schämen. Was mußt Du eigentlich von mir denken, daß ich so alles auf Dir ruhen lasse, Deine Zeit und Deine Mühe in Anspruch nehme, als ob ich ein Recht darauf hätte? Ich weiß, daß ich Vorwürfe verdiene, und muß Dir danken, daß Du mich nicht tadelst, aber ich will mir bei Euch eine bessere Meinung verdienen, bei Dir und – bei Franz. Er soll in mir nicht seine Hausfrau vermissen. Ich fand es sehr angenehm, von der Reise auszuruhen, aber es ist nun an der Zeit, auch an die Pflicht zu denken. Sollte ich mich nicht gleich zurecht finden in Allem, so wirst Du mir ja Deinen Rath nicht vorenthalten, oder ich werde mir eine Wirthschafterin zu Hülfe nehmen, aber Dir darf das Opfer nicht länger zugemuthet werden. Erlaube also, daß ich Dir die Schlüssel abnehme! Mit der Bürde kommt wohl auch ein wenig die Würde.“
„Die Schlüssel!“ wiederholte Hilda mit seltsam zitterndem Tone. Sie trat dabei einen Schritt zurück, und ihre ganze Haltung verrieth Bestürzung und Empörung. Sie stand da wie ein Krieger, dem man ein anvertrautes Heiligthum entreißen will. Alsbald aber senkte sich ihr kampfbereiter Blick; ihr Antlitz röthete sich und neigte sich langsam auf die Brust.
„Sie sind auf meinem Zimmer,“ sagte sie leise, aber fest.
Der Kampf war vorüber.
Vielleicht hatte auch der jungen Frau davor gebangt; denn sie athmete nun freier auf und sah lächelnd zu ihrem Gatten empor, welcher sie unter heiteren Lobsprüchen an sich zog.
„Gesprochen wie ein Salomo und gehandelt wie eine tüchtige brave kleine Frau. Ich hatte eigentlich schon seit unserer Ankunft auf diesen Act der Schlüsselübernahme gewartet. – So,“ sagte [44] er dann, „jetzt will aber auch ich gehen und mir Hektor mitnehmen – die Diana ist doch noch zu kindisch. Einen Begleiter finde ich, da mich alles im Stiche läßt, wohl im Jägerhause. Hoffentlich bringen wir für’s Nachtessen ein paar Hühner herein. Sag: ‚Waidmannsheil!‘, Albertinchen!“
„Und ich, Papa?“ verlangte Mimi eifersüchtig ebenfalls ihren Kuß auf die Stirn.
Frau Rohrwek nickte vergnügt vor sich hin, streichelte ihr Hündchen und folgte mit schlauem Blicke Hilda, die langsam das Gemach verließ.
„Wie schade um meinen Bruder!“ äußerte Albertine, welche sich ihr angeschlossen hatte. „Er ist so talentirt. Zu allem Möglichen hat er Anlage, Malerei, Musik, Poesie, auch mit den verschiedensten Wissenschaften hat er sich schon beschäftigt und in allen Fächern eine Weile debutirt, aber ihm fehlt die Ausdauer, und so bringt er es zu nichts. Das Schlimmste ist, daß er für jede Untreue an seinen Vorsätzen immer wieder die schlagendsten Gründe findet, wie eben jetzt. Ich weiß nicht, was noch aus ihm werden soll, und bei einem Manne, der nicht mehr weit von seinem dreißigsten Jahre ist, sollte sich das doch schon entschieden haben.“
Hilda hatte keine Erwiderung darauf, und selbst Mimi’s vorwitzige Zunge schwieg diesmal.
Mit einschmeichelnder Zudringlichkeit hatte das Mädchen den Arm in den der Stiefmutter geschlungen, wie um ihrer Unzertrennlichkeit auch eine äußere Form zu geben. Sie liebkoste sie, schäkerte mit ihr, nannte sie ihr liebes, scheues Mamachen, spielte mit ihrem Haar und stahl ihr plötzlich das Häubchen vom Kopfe, daß die goldenen Wellen in breitem Falle über den losen Pudermantel herniederrieselten.
„Ach wie prächtig!“ rief sie entzückt. „Warum trägst Du Dich nicht so?“
„Du Närrchen!“ schalt Albertine. „Das paßt nur für Kinder.“
Dann mag ich aber auch nicht mehr so gehen. Nicht wahr, Du zeigst mir eine Frisur? Ich möchte sie so haben, wie die Deine. Ach, könnte ich nur Dir gleichen, so groß sein wie Du, so hübsch und elegant! Dann –“
Was dann geschehen sollte, blieb unverrathen; die Kleine war ja auch zu emsig beschäftigt, die blonde Fluth aufstecken und unter dem Morgenhäubchen bergen zu helfen, was nicht ohne kleine Neckereien und einen Kuß zum Schlusse abging.
Diese Zärtlichkeiten der kleinen Ueberläuferin thaten Hilda fast noch weher, als der Gedanke, daß sie nun ihre Schlüssel, das Attribut ihrer Hausfrauenherrschaft, ausliefern solle. Aber tapfer wußte sie ihrer Bewegung Herr zu werden.
„Hier!“ sagte sie, indem sie die zierlich gearbeitete Schlüsselcassette öffnete. „Jeder hat seine Bezeichnung.“
Die Uebergabe war in aller Form erfolgt.
Die künftige Hausfrau nickte nur freundlich und hütete sich wohl, mit einem tactlosen Worte – und welches wäre es nicht gewesen? – die scheinbare Ruhe und Gleichgültigkeit zu stören, die dem großen Acte das Gewicht benehmen sollte, und kein Zug in Hilda’s ernstem Antlitz verrieth andererseits die Bedeutung, welche er für sie hatte.
Sie raffte ihr einfaches graues Kleid auf, so daß die festen und doch zierlich schmalen Stiefelchen frei wurden, setzte den schmucklosen schwarzen Strohhut auf, zog die rehledernen Handschuhe an, und, ein Henkelkörbchen ergreifend, verließ sie mit Mimi und Albertine das Zimmer; sie schritt über die Stufen, die in den Blumengarten führten, hinab.
„Man braucht mich nicht mehr!“ Das war der Gedanke, mit dem sie gesenkten Blickes durch den Garten schritt, der hier vor dem südwestlichen Flügel den Parkgrund ersetzte, welcher auf den anderen Seiten und gegen die Wirthschaftsgebäude hin das Haus umschloß. Diesmal hatte sie kein Auge für die Lieblinge, die sie unter ihre specielle Pflege genommen. Der Herbst hatte die Blumen schon gelichtet; sie schnitt die verwelkten nicht ab, wie sonst im Vorüberstreifen. Langsam trat sie durch das Gatterthürchen hinaus auf den Wiesplatz, wo die Aepfel und Birnen schon im Grase unter den Bäumen kollerten und Diana mit täppischem Spiele denselben nachsprang, um sie lüstern den auflesenden Mägden abzujagen.
Sie hatte keinen Zuruf für den Hund, der ihr übermüthig entgegen kam, kein aneiferndes Wort für die Dienstleute, kaum einen Gruß für sie. Beinahe hatte sie vergessen, daß sie hier Aufsicht üben wollte. Was sich begeben hatte, nahm all ihre Gedanken in Anspruch.
Freilich, hier hatte sie noch Theil; das schlug in die Bewirthschaftung des Gutes, und auf diesem stand ja, mit Ausnahme des kleinen, ihr später zugefallenen Capitals, welches auf des Bruders eigenen Wunsch unter andere Verwaltung gestellt worden, ihr ganzes Vermögen. Freiwillig hatte sie nach des Vaters Tode, als sie sah, mit welchen Schwierigkeiten ihr ältester Bruder zu kämpfen hatte, auf die Herausbezahlung desselben verzichtet. Das Gut gehörte nicht zu den großen; es hätte eine so schwere Belastung kaum ertragen; sie selbst aber forderte keine Verzinsung ihres Antheils. Das Gedeihen des Gutes war ihr Alles; von Kindheit auf hatte sie da gelebt, es nie verlassen; sie fühlte sich mit demselben verwachsen, und nichts hatte dieses Bewußtsein der Zusammengehörigkeit zu sprengen vermocht, selbst nicht die Aussichten, die sich ihr von Zeit zu Zeit geboten, in ein eigenes Hauswesen einzuziehen und eine eigene Familie zu gründen. Sie hatte ja beides und trug kein Verlangen nach einem Wechsel. Mit Pflichten und Rechten war sie auch hier reichlich bedacht. Seit dem früh erfolgten Tode ihrer Schwägerin war sie an deren Stelle getreten, und wie sie dem kleinen zappelnden Dinge, das von seinem Verluste noch nichts wußte, Mutter wurde, so suchte sie auch die Schwere des Verlustes den Anderen zu mildern. Schon zu Lebzeiten des Vaters hatte sie die Leitung des Haushaltes übernommen, und da Franz das Gut als Haupterbe übernahm, war es so geblieben – geblieben, bis auf den heutigen Tag.
Hatte sie gemeint, es müsse ewig so bleiben?
Die erste Aufführung von Schiller’s „Räubern“.
Am 13. Januar dieses Jahres ist gerade ein Jahrhundert vergangen, seit Schiller’s „Räuber“ zum ersten Male zur Aufführung gelangten. Es ist dies einer der wichtigsten Säculartage der deutschen Bühne; denn Schiller’s Genie war vor Allem berufen, dieselbe auf eine höhere Stufe zu heben und das Künstlerische und Volkstümliche in einer Weise zu verschmelzen, wie sie nur den Glanzepochen dramatischer Dichtung eigen ist. Es war in Schiller etwas von Shakespeare’s urwüchsiger Kraft und hinreißendem Feuer; später kam besonders durch Goethe’s Einfluß der Adel und die Grazie künstlerischer Ruhe hinzu, doch in keinem andern Dramatiker war so mächtig wie in ihm der Sturm und Drang des geschichtlichen Geistes, und keiner hat wie er der Bühne ein Repertoire von Dramen großen Stils geschenkt, welche alle in sich die Bürgschaft unverwüstlicher Dauer tragen.
So großartig wie die Gesammtwirkung dieses hervorragenden Genius war auch schon sein erster Wurf: „Die Räuber“ flammten auf wie ein wunderbares Phänomen, entzückend für die Einen, schreckhaft für die Andern; es war eines jener dramatischen Ereignisse, dem gegenüber man Partei ergreifen mußte; es war die fulminante Ankündigung eines durchgreifenden dramatischen Genius; eine brüske Usurpation der Herrschaft über die Bühne mit dem kühnen Griffe eines unfehlbaren Instinctes. Der gute Geschmack mochte sich vor diesem Schauspiele bekreuzen, die feinfühlige Kritik ihm die schweren Sünden gegen die Gesetze geläuterter Schönheit vorwerfen[1]: „Die Räuber“ waren eine dramatische That, die sich von der Bühne nicht fortdisputiren ließ. In der That kann man
[45][46] nicht ohne Schadenfreude die Prophezeiungen damaliger tonangebender Recensenten lesen, welche, wenn irgend eine Vorstellung des Stückes einmal weniger besucht war, gleich verkündeten, es könne keine Dauer auf der Bühne haben, während dasselbe noch heute ein Repertoirestück, noch heute so frisch und wirksam ist, wie vor hundert Jahren. Mag man „Die Räuber“ für eine dramatische Jugendsünde des Dichters halten: nie hat sich eine solche Jugendsünde so glücklich conservirt. Mag man zugeben, daß der Dichter mit einer Explosion seines Genies seine Laufbahn eröffnete: es war dies kein verpuffendes Feuerwerk, sondern dieses Feuerzeichen leuchtete noch den kommenden Geschlechtern. Gerade hierin sind „Die Räuber“ ein Phänomen, wie die Literatur aller Zeiten kein zweites aufzuweisen hat.
Der Säculartag der ersten Aufführung des Stückes ruft alle Erinnerungen an dieselbe wach; diese erste Aufführung fand unter Verhältnissen von seltener Abenteuerlichkeit statt, die sich so leicht nicht wiederholen dürften.
Auf der Militärakademie des Herzogs von Württemberg hatte Schiller „Die Räuber“ gedichtet, und das Jahr 1780 kann als ihr Geburtsjahr betrachtet werden. Den äußern Anlaß hatte ihm eine Erzählung in Haug’s „Schwäbischem Magazin“ gegeben, auf welche ihn sein Freund von Hoven aufmerksam gemacht. Doch fanden sich in dieser Erzählung nur die beiden Brüder, der leichtsinnige und der intrigante, welcher letztere den Brief des ersten unterschlägt, während dieser später dem Vater das durch den andern bedrohte Leben rettet. Der schließliche Ausgang der Handlung war noch dazu ein versöhnlicher. Daß die Erzählung bei ihrer Umwandelung in’s Drama in die Räubersphäre hinübergespielt wurde, daran trug wohl der Räuber Roque im Cervantes die Schuld, zu der ganzen Auffassung des Helden aber gaben die Theorieen des Plutarch und Rousseau von den erhabenen Verbrechern Anlaß. Den revolutionären Geist, der die Handlung durchweht, schöpfte Schiller aus dem eigenen Ingrimm und dem der Genossen über die strenge militärische Disciplin der Anstalt und aus der glühenden Freiheitssehnsucht, welche sich aller Gemüther bemächtigt hatte. Der Materialismus des Franz Moor aber war das Resultat medicinischer Studien, welche der junge Schiller als Fachwissenschaft betrieb; es bereitete ihm Vergnügen, mit cynischem Hohn ihre letzten Consequenzen zu ziehen. Unter solchen Einflüssen entstanden die „Räuber“, aber nicht im freien Fluß und Guß einheitlichen Schaffens. Der Dichter mußte sich die Muße zum Dichten stehlen; er meldete sich krank, um Abends und Nachts das Licht im Krankenzimmer benutzen zu können. Und so schrieb er zunächst nieder, was ihm am lebendigsten vor der Seele schwebte, die am meisten hervortretenden Scenen und Situationen; nicht in geschlossener Scenenfolge entwickelte sich das Gesammtbild der Dichtung. Was er geschaffen, las er in unbewachten Augenblicken den Commilitonen vor und hörte dabei auf ihren Rath; er wurde ermuthigt durch ihren begeisterten Beifall, manchen Charakterzug der Genossen aber nahm er in die Charaktere seiner Räuber auf. Die verbindenden kleineren Scenen, die Zwischenglieder der Handlung, fügte er später ein.
Als Schiller die Militärakademie verließ, nahm er das fertige Manuscript der „Räuber“ mit in die bescheidene Stube, die er als Regimentsmedicus bewohnte. Sein heißester Wunsch war, das Stück gedruckt zu sehen. Doch in Stuttgart fand sich kein Buchhändler, der dazu bereit gewesen wäre, und auch in Mannheim nicht, trotz aller Bemühungen, die sich sein gerade dort anwesender Freund Petersen gab, einen Verleger zu entdecken. Schiller hatte Petersen geschrieben: „Was über fünfzig Gulden abfällt, ist Dein,“ und in einem Postscriptum hinzugefügt: „Höre, Karl, wenn’s reussirt, will ich mir ein paar Bouteillen Burgunder darauf einschänken lassen.“ Da Petersen aber nicht reussirte, so wagte Schiller, das Stück auf eigene Kosten drucken zu lassen, und borgte die dazu erforderliche Summe. Als die ersten sieben Bogen im Druck vollendet waren, sandte er sie an den Buchhändler Schwan in Mannheim, der als ein kunstsinniger und urtheilsfähiger Mann in Süddeutschland wohlbekannt war. Schwan erkannte das Talent des Dichters und machte den Intendanten des Mannheimer Theaters, Freiherrn von Dalberg, zuerst auf das Stück aufmerksam; er veranlaßte ihn, wegen einer Bühnenbearbeitung der „Räuber“ sich mit dem Dichter in Beziehung zu setzen. Auch theilte er Schiller kritische Bemerkungen mit, welche dieser willig beachtete, ja manches schon Gedruckte wurde wieder umgedruckt; die erste Ausgabe zeigt daher bisweilen zwischen den Absätzen große Zwischenräume. Sie erschienen indeß, was Druck und Papier betrifft, keineswegs in so abschreckender Gestalt wie die zweite, mit welcher sie oft verwechselt wird. Auch der Löwe, der sich gegen die Tyrannen aufbäumt, schmückte erst die letztere, während die erste Ausgabe als Titelbild die Schlußscene des vierten Actes zeigte. Der buchhändlerische Betrieb dieses im Selbstverlag erschienenen Artikels war indeß anfangs nichts weniger als glänzend, und melancholisch blickte der junge Schiller auf den Stoß von Exemplaren, den er in seiner Stube aufgethürmt hatte und der sich mit der Zeit, nach dem gemeinen Loos sterblicher und unsterblicher Werke, in Maculatur zu verwandeln drohte.
Aus den Berichten der Genossen des Dichters, eines Streicher und Scharfenstein, kann man sich ein treues Bild dieser Situation entwerfen, die freilich nichts von dem Zauber hat, den das verklärende Auge der Nachwelt gern in sie hineinlegen möchte. Da sehen wir eine Stube, die mit einer gewöhnlichen Wachtstube eine bedenkliche Aehnlichkeit hat. Das Parterrezimmer auf dem „Kleinen Graben“, das stark nach Tabak duftete, hatte, außer einem großen Tisch und zwei Bänken, nichts an Mobiliar aufzuweisen; sein dekorativer Schmuck aber bestand in Militärgarderobe und angestrichenen Hosen; in der einen Ecke lag ein Haufen Kartoffeln nebst leeren Tellern, Bouteillen und dergleichen, in der andern der Bücherballen der „Räuber“.
Und der Dichterjüngling selbst entsprach keineswegs dem Ideal, welches eine mädchenhafte Phantasie sich von gottbegnadeten Poeten zu entwerfen pflegt. Er kam vielleicht gerade aus dem Dienste, eingepreßt in seine nach altem preußischen Schnitt fabricirte Uniform, auf jeder Seite des Gesichtes drei starre vergipste Rollen, welche Locken vorstellen sollten, einen kleinen Militärhut auf dem Scheitel, einen langen dicken Zopf am Hinterkopf und weiße Kamaschen an den Füßen, die er in dieser einzwängenden Bekleidung kaum bewegen konnte, sodaß er wie ein Storch einherstelzte. Und dann die Erscheinung des Dichters selbst, die baumlange, für einen Flügelmann prädestinirte Gestalt, die rothen Augenbrauen über den tiefliegenden grauen, meist entzündeten Augen, in denen nicht, wie in den Augen Goethe’s, der Ordensstern des Genius leuchtete! Dazu die blassen, eingefallenen Wangen, das dunkelrothe, buschige Haupthaar! Das war kein Adonis, und wenn sich der Dichter nicht, wie dies oft vorzukommen pflegt, in späteren Jahren verschönert hätte, so würde man alle seine Bilder und Statuen der verwegensten Schmeichelei anklagen müssen.
Das erlösende Wort für die in den Bücherballen gebundenen Geister der „Räuber“ sollte von Mannheim kommen; der Zauberstab der Bühne sollte, wie schon so oft, eine schlummernde Dichtung zu nationalem Leben erwecken. Dem Wunsche einer Umarbeitung, welchen der Mannheimer Intendant ausgesprochen, kam Schiller bereitwillig entgegen: sollte er doch auch ein bestimmtes Honorar dafür erhalten; er erklärte dem Freiherrn von Dalberg, „er werde es für ein ausnehmendes Glück schätzen, Seiner Excellenz wärmster Literaturliebe sich mit allem, was er sei, zu eigen zu machen“. Am Eifer des Dichters lag es nicht, wenn sich die Umarbeitung bis in den October 1781 hinein verzögerte, sondern an einem sehr unpoetischen Zwischenfall, an einer unter den Grenadieren ausgebrochenen Ruhrepidemie, welche die Thätigkeit des Regimentsmedicus in hohem Maße in Anspruch nahm und ihn besonders nöthigte, täglich auf der Wachtparade Rapport zu erstatten. Daß er diese Epidemie mit sehr energischen Mitteln bekämpfte, dafür bürgt zunächst schon sein Eifer, sie so rasch wie möglich aus dem Felde zu schlagen, weil sie seinem poetischen Schaffen gerade damals sehr im Wege war, doch auch sonst besaß er den Ruf eines Mediciners, der starke Dosen zu geben liebte; er war ein Kraftgenie in der Heilkunst, wie in der Dichtkunst. Das umgearbeitete Stück schickte er zunächst seinem Freunde Petersen zu, der ihm über Charakter, Vermittelung, Entwickelung, Dialog etc. eine mindestens sechs Bogen lange Kritik schreiben sollte. Dann wanderte das Manuscript nach Mannheim.
Doch der künstlerisch gebildete Intendant hatte immer neue Vorschläge zu Abänderungen zu machen: die Rathschläge der tonangebenden Dramaturgen sind den Dichtern oft genug verhängnißvoll geworden. Die Theaterausgabe der „Räuber“, die in solcher Weise zu Stande kam, steht gegen das Stück, wie es der Dichter im ersten Wurf gestaltete, wesentlich zurück, und es ist bedauerlich, daß [47] noch heutigen Tages oft genug die „Räuber“ in dieser „verdalbergten“ oder vielmehr „verballhornten“ Gestalt über die Bühne gehen.
Von einzelnen annehmbaren Zusätzen, wie die eingelegte Scene zwischen Franz und Hermann abgesehen, waren es besonders zwei wichtige Aenderungen, gegen welche sich der Dichter vielleicht lange gesträubt haben mag, welche die Physiognomie des Stückes zu Ungunsten desselben veränderten. Die erste betraf das Costüm: die „Räuber“, die zur Zeit des siebenjährigen Krieges spielen sollten, wurden in die Zeit Maximilian’s und des deutschen Landfriedens zurückverlegt. Wo blieb da das tintenklecksende Säculum, aus dessen Geist heraus das Stück gedichtet war? Schiller selbst sagt in seiner anonymen Selbstkritik darüber: „die Zeit wurde verändert; Fabel und Charakter blieben. So entstand ein buntscheckiges Ding wie die Hosen des Harlekin.“ Noch empfindlicher war die zweite Aenderung; denn sie traf den dramatischen Nerv des Stückes. In der Theaterbearbeitung tödtet sich Franz nicht selbst, sondern er wird gefesselt vor seinen Vater und das Tribunal der Räuber geführt und von Karl in den Thurm geworfen, in dem der alte Graf so lange schmachtete. Damit war Karl’s Charakter aus den Fugen geworfen; er wird dasselbe Scheusal wie Franz, und aus einem Räuber von großartigem Schwunge zu einem Marterknecht und raffinirten Mörder, wie sein Bruder.
Für die Aufführung mußte Schiller sogar noch weitere Zugeständnisse machen, die er nicht in die Theaterausgabe aufnahm: so den Selbstmord Amaliens, mit welchem er dem Kunstgeschmack des Freiherrn von Dalberg eine kleine Freude bereitete, während er selbst als Dichter an dem Ausspruch festhielt: „Moor’s Geliebte darf nur durch Moor sterben.“
Daß das so zugerichtete Stück einen glänzenden Erfolg davon trug, müßte Wunder nehmen, wenn nicht die Macht des echten Genius einen Kern schüfe, der als unverwüstlich sich bewährt, mag auch die Schale noch so sehr zerhackt werden. Und glänzend war der Erfolg, den die „Räuber“ bei ihrer ersten Aufführung in Mannheim am 13. Januar davontrugen. Die Aufführung sollte eigentlich schon früher stattfinden; doch am 10. Januar war der Geburtstag der Gräfin Franziska von Hohenheim, und Schiller mußte sich bei der Gratulationscour mit einfinden. Am 13. Januar aber war überall in Mannheim der Theaterzettel angeschlagen: „Die Räuber, Trauerspiel in sieben Handlungen, für das Mannheimer Nationaltheater vom Dichter neu bearbeitet; gleichzeitig war dem Publicum über die sittliche Tendenz des Stückes eine beruhigende Auskunft ertheilt, welche Schiller selbst verfaßt, Dalberg aber verbessert hatte. Die Aufführung begann wegen der Länge des Stückes um fünf Uhr Nachmittags, doch schon lange vorher hatten sich die Räume des Theaters gefüllt; denn aus allen Nachbarstädten waren zu Roß und Wagen Schaulustige gekommen. Schiller selbst hätte sich fast verspätet, wie Petersen berichtet. Ein Kellnermädchen in Schwetzingen übte solche Anziehungskraft auf ihn aus, daß er sich verplauderte, die Zeit darüber vergaß und die Versäumniß nur mit Mühe wieder einholen konnte.
Wenige wußten, daß der Dichter bei der Aufführung seines Stückes anwesend war, wäre es aber auch allen bekannt gewesen, die Unsitte unserer Tage, die Dichter selbst auf die Bretter zu rufen, war der damaligen Zeit fremd. Mit welchen Gefühlen mag Schiller zum ersten Male die Gestalten seiner Phantasie verkörpert auf der Bühne vor sich gesehen haben! Der Antheil des Publicums war nicht gleich von Anfang an ein begeisterter, erst die letzten Acte schlugen zündend durch. So mochte Schiller selbst nicht ohne eine gewisse Bangigkeit dem Ausgange dieser ersten Feuerprobe seines dramatischen Genius entgegensehen. Was ihn aber von Hause aus ermuthigen mußte, war das glänzende Spiel der Darsteller der Eckhof’schen Schule, welche sich durch einen glücklichen Zufall in Mannheim zusammengefunden hatten, um das erste Werk eines Dichters über die Taufe zu heben, der später die deutsche Bühne beherrschen sollte.
Böck als Karl Moor hatte hinreißendes Feuer, obschon er in seiner Erscheinung die ideale Jünglingsgestalt des Räuberhauptmannes nicht deckte. Der dreiundzwanzigjährige Iffland aber machte als Franz Moor den größten bewältigenden Eindruck auf das Publicum; er wußte diesem Charakter, welchem der Dichter in seiner Selbstkritik später alle menschliche Wahrheit absprach, dennoch große Wirkungen abzugewinnen, besonders wo er die innere Zerrüttung und Gewissensangst des Bösewichts darstellte, in den großen Scenen des letzten Actes. Nach allen Schilderungen war dieser Franz Moor Iffland’s eine ebenso großartige wie in allem Detail kunstverständig ausgeführte Leistung. Beil als Schweizer, Beck als Kosinsky werden als treffliche Darsteller gerühmt. Nach dem glänzenden Erfolge speiste Schiller mit den Schauspielern zusammen; das Gespräch war anregend; es lief indeß auch viel „Kunstgeschwätz“ mit unter.
Nach Stuttgart zurückgekehrt, empfand Schiller um so tiefer den Zwang seiner freudlosen Lebensstellung. Der Herzog war sehr ungnädig über das wüste Stück wie über des Dichters ganzen Lebenswandel, und als dieser ohne Urlaub, in Begleitung seiner Freundinnen, der Frau von Wolzogen und jener mumienhaft häßlichen Frau Vischer, in welcher man jetzt allgemein das Ideal seiner „zur Statue entgeisternden“ Laura erblickt, abermals einer Aufführung der „Räuber“ in Mannheim beigewohnt hatte, erfuhr der Herzog davon und gab ihm Arrest. Das Verbot, Dichtungen zu veröffentlichen, die nicht vorher dem Fürsten selbst zur Prüfung und Beurtheilung vorgelegt worden waren, reifte seinen Entschluß zur Desertion und Flucht, den er am 17. September 1782 mit seinem Freunde Streicher während eines Festes auf der Solitude ausführte; er ging nach Mannheim, dem Eldorado seiner Zukunftshoffnungen. Doch noch stand ihm eine Zeit schwerer Prüfungen bevor.
Jedenfalls war die erste Aufführung der „Räuber“ vielleicht das entscheidendste Ereigniß in Schiller’s Leben; er selbst schrieb bald nach der Aufführung an Dalberg, dem er den wärmsten Dank aussprach:
„Beobachtet habe ich sehr vieles, sehr vieles gelernt, und ich glaube, wenn Deutschland einst einen dramatischen Dichter in mir findet, so muß ich die Epoche von der vorigen Woche an zählen.“
Nun, Deutschland hat seinen größten dramatischen Dichter in Schiller gefunden und wahrt mit Recht eine pietätvolle Erinnerung an jenen wichtigsten Tag der Mannheimer Theaterchronik.
Die Heidenlöcher bei Ueberlingen.
- „Drüben, am Ueberlinger See, wo die Felswand sich steil in die Fluth herabsenkt, ist aus alten Zeiten mancherlei Gelaß zu menschlicher Wohnung in den Stein gehauen.“
Scheffel’s „Ekkehard.“
- „Drüben, am Ueberlinger See, wo die Felswand sich steil in die Fluth herabsenkt, ist aus alten Zeiten mancherlei Gelaß zu menschlicher Wohnung in den Stein gehauen.“
Ich kam mit einem guten Freunde vom Hohentwiel. Der „Ekkehard“ hatte es uns angethan.
Es ist überhaupt mit dem „Ekkehard“ eine gar böse Sache. Wer ihn mit einem bischen Liebe zu den kräftigen Gestalten der alten deutschen Geschichte gelesen und sich in unserer nervös hastenden Zeit noch etwas Sinn bewahrt hat für die letzten, ehrfurchtgebietenden Reste einer weit zurückliegenden Vergangenheit, der ist einem bestrickenden Zauber verfallen, der ihn bei Tag und Nacht verfolgt. Ihm ist ein wunderlich Traumbild erstanden, nicht mehr Sage und doch auch nicht Geschichte; all die Personen, die schon längst zu Staub geworden, umringen ihn wie gute alte Bekannte und nehmen ihm die Sinne gefangen; er kann sich von ihnen nicht trennen, bis er selbst dort gewesen, wo sie dereinst geschaltet, bis er mit eigenem Fuß die Scholle betreten, auf der sie gewandelt, und mit vollen Zügen die Luft geathmet, in welche sie der Dichter versetzt.
Wir waren nun endlich oben gewesen auf dem wunderbaren Berge mit seinen unendlichen Trümmermassen und hatten in Romantik geschwärmt. Wohl sind von der Burg der gestrengen Frau Hadwig kaum noch einige Grundmauern zu erkennen – aber was thut’s? Aus dem Dunkel des Kellers leuchtete uns des ewig durstenden Spazzo Nase; im Flüstern des Windes hörten wir bald das silberne Lachen des fröhlichen Griechenkindes, bald Virgil’s schön gebaute Verse. Und dazu dröhnten Kanonen eines fernen Manövers, Salve auf Salve, und zwei unserer Begleiter, [48] bekannte Berliner Virtuosen, schickten Trompetenfanfaren hinunter in die Thale und hinüber zum Hohenkrähen und bliesen uns dann schöne patriotische Weisen.
Es war Mittag, als wir uns zur Thalfahrt rüsteten, und dann ging’s nach Radolfzell, wo im neunten Jahrhundert der heilige Ratold sein clausnerisch Dasein gefristet und jetzt im neunzehnten der Dichter unseres „Ekkehard“ haust, und weiter längs des pfahlbaubesetzten Ufers, vorbei an der uralten Abtei Reichenau, wo einst der blöde Heribald als Einziger die Hunnen erwartet, nach Constanz.
In Constanz wußten anthropologische Studien und Interessen den Hohentwiel mit all seinen guten und bösen Geistern in den Hintergrund zu drängen; nahm doch dort das Museum im Rosgarten, eine Musteranstalt ersten Ranges, unsere vollste Aufmerksamkeit in Anspruch. Die reichen Schätze aus den Pfahlbauten, die seltsamen Funde aus Thayingen in der Nähe des Hohentwiel gaben uns viel zu staunen und zu denken, und wir merkten, daß wir uns doch auf einem eigenthümlichen Fleckchen Erde befanden, das mancherlei Zeiten durchgemacht hatte, deren Denkmale uns der Rosgarten aufbewahrt: aus deutscher Geschichte und Römerherrschaft, aus der Pfahlbauperiode und weiter zurück, als noch mächtige Gletscher den Bodensee deckten, aus der Renthier- und Höhlenzeit. Und lange vorher waren schon die Saurier dagewesen.
Wir suchten spät Abends noch Erholung und stilles geistiges Ausruhen auf dem lieblichen Eiland der Mainau. Und doch gab es wüste Träume in der Nacht: der Eindrücke waren zu viele und zu verschiedenartige gewesen für einen Tag, und die Meersburger Auslese, welche das Tagewerk krönte, hatte auch nicht sonderlich die erregten Geister beschwichtigt. Der brave Ekkehard war mit seinem Weltschmerz unter die Renjäger gerathen, und der stolze Hohentwiel schrumpfte sichtlich zusammen zu einem wohlgefügten Holzbau im See, gerade vor unserem Hôtel und darauf hantirten biedere Pfahljungfrauen und Hadumoth trieb die Gänse über den künstlichen Steg; da kamen die Hunnen; es gab ein böses Durcheinander – ich glaube, ich habe selbst mit gestritten – und endlich ritt er an, den sie für den Erzengel Michael gehalten, und der die Hunnenschlacht entschieden: der Alte aus der Heidenhöhle.
Am Morgen aber stiegen wir auf den ersten Dampfer, der sich von Constanz löste, dem alten Herrn den schuldigen Besuch abzustatten, und hatten eine reizende Fahrt auf dem Ueberlinger See, der von den Touristen viel zu wenig besucht und gewürdigt wird. Zuerst hinüber nach dem romantischen Meersburg mit seinen uralten Schlössern und Thürmen, dann weiter, während drüben im Morgensonnenschein die Mainau leuchtete, an einer ganzen Reihe von Pfahlbaustationen vorbei, die alle leider hohes Wasser deckte, nach dem interessanten Städtchen Ueberlingen, das, terrassenförmig am Ufer hinaufgebaut, ebenfalls gar trutziglich mit seinen Thürmen und Zinnen sich im Wasser spiegelt.
Und hier ging’s auf die terra firma, das heißt auf den Molassesandstein, der schon längst dem Ufer seinen eigenthümlichen Charakter aufgeprägt hatte. Als mächtige freie Mauer erhebt er sich über den schmalen Saum des See-Ufers – mußten ja doch schon die Stadtgräben von Ueberlingen in ihn eingehauen werden, und immer näher drängt sich seine Wand an’s Wasser, je weiter wir nun auf der neuen Landstraße wandern, die von der Stadt nach Sipplingen und Ludwigshafen führt. Wohl liegen anfangs noch reiche Obst- und Gemüsegärten zu beiden Seiten unseres Weges mit schönen Häusern, bald aber bleibt kaum mehr Platz für ein schmales ansteigendes Aeckerchen oder einen kleinen Weinberg. Dabei ist das Gestein vielfach von Rissen durchzogen und zeigt mancherlei Höhlenbildung, mit theils natürlicher, theils künstlicher Rundung, den Feld- und Weinbauern ein geeigneter Keller oder Lagerraum, zu dem sie oft schwindelnde Steige angelegt haben. Endlich ist selbst die Straße dem Felsen abgerungen, der hier, glatt abgearbeitet, senkrecht in die Höhe strebt, ja stellenweise die Straße überdacht.
Nach kurzer Wanderung kamen wir, die plätschernden Wogen des Sees immer hart auf unserer linken Seite, zum Dörfchen Goldbach, von dem ich außer einem freundlichen Wirthshause und, irre ich mich nicht, einer kleinen Capelle – nicht viel Weiteres entdeckt habe. Die Bergwand war hier wieder ein wenig zurückgetreten; sie selbst erschien bekleidet von einer Anzahl breiter, gleichmäßig gehauener Treppenfluchten, welche die steile Wand auf und ab, hinüber und herüber führten und jedenfalls blos für Schwindelfreie gebaut waren. Sie schienen uns eine weitere Bedeutung zu haben, als blos den dürftigen Verkehr zwischen dem schmalen Küstensaum und dem rebenbedeckten Plateau zu vermitteln; auch das blondhaarige, liebliche Wirthstöchterchen vermochte uns keine genügende Auskunft zu geben, als wir in der nächsten Minute bei einem guten Markgräfler saßen, um uns für den Besuch beim Alten in der Heidenhöhle zu stärken. – Die seltsame Clause, in welche der Dichter den weltverschollenen, dicken Kaiser versetzt hat, liegt nur wenige Schritte hinter dem Wirthshause und führt den prosaischen Namen der Heidenlöcher. Der Fels, in seiner unteren Hälfte von der Straße aus zum Theil durch Bäume und Gesträuch versteckt, springt hier in einzelnen schrägen Abtheilungen vor, mannigfach zerrissen und zerklüftet, aber durchsetzt mit Gemächern und Gängen, Thüren und Fenstern, Bögen und Nischen, Façaden und Treppen – daß der Wanderer sich mit staunender Ehrfurcht gebannt fühlt. Man wird auch wohl in ganz Deutschland nichts Aehnliches wiederfinden; treten doch selbst die berühmten Zellen in der Nagelfluewand des Leichenhofes St. Peter in Salzburg vollständig gegen diese Gebilde zurück. Daß die Arbeit sehr alt ist, zeigt sich auf den ersten Blick, aber sie ist zum großen Theil nichts weniger als kunstlos, und bald glaubt das Auge hier römischen Stil, dort sogar beginnende Gothik zu erkennen. Viel schon freilich ist abgebröckelt und niedergestürzt im Laufe der Zeiten und bei der Weichheit des Gesteines; am meisten zu bedauern ist der Verlust der zweiten größeren Hälfte dieser „Heidenlöcher“, die sich in Form einer großen Capelle mit [49] Nebengemächern in einem mächtigen über den See ragenden Vorsprung des Felsens befunden haben soll, welcher den nüchternen Forderungen der Jetztzeit, dem Bau der neuen Straße, geopfert werden mußte und nach Angabe der Anwohner einen um Vieles imposanteren und eigenthümlicheren Eindruck machte, als die jetzt noch erhaltenen Reste.
Schon auf der Thalsohle zeigt die Felswand eine Reihe einzelner, mehr oder weniger tiefer Höhlenbildungen, bei welchen allen die menschliche Hand abrundend, glättend und erweiternd eingewirkt hat; an den Wänden finden sich noch verschiedentlich Spuren der ursprünglichen steinernen Bänke. Eine im Vordergrunde stehende isolirte Zwischenwand ist sogar zur kurzen Säule bearbeitet, mit nach oben sich ausbreitendem mächtigem, zwar kunstlosem, aber doch gleichmäßigem Capitäle. Eine defecte Kellerthür, den einen Höhlenzugang nothdürftig schließend, lehrt die neue Verwendung der alten Wohnplätze.
Nun aber steigen wir nach oben, wo die Flucht der alten, steingehauenen Gemächer in einer annähernden Horizontale sich durch das helle Molassegestein mit dunkelgähnenden Thüröffnungen und Fenstern hindurchzieht.
Ein schmaler, ausgetretener Treppenweg, der tief in den Sandstein eingeschnitten ist, ermöglicht uns den Zugang. In Stockwerkhöhe führt er vor eine glattgehauene Felswandung mit regelrecht viereckiger Nische in Form einer Thür, die der Fels in mächtiger Ausdehnung überragt, dann in steiler Wendung hinauf zum Portale des ersten der noch erhaltenen Räume. Wir sind erstaunt, vor einem rein romanischen Thorbogen zu stehen, der in exacter Weise ausgearbeitet ist mit einfacher Ornamentik und von gleicher Höhe wie das ganze, ziemlich quadratische Gemach, das, wie die anderen, nach oben die erste Anlage eines Klostergewölbes zeigt. Es ist leer; die Sitzbänke scheinen weggebrochen worden zu sein; Fenster sind nicht vorhanden; dagegen befinden sich an der Außenwand Nischen verschiedener Größe, nicht ohne Spuren ehemaligen Ladenverschlusses. Von der kleinen Plattform vor dem Thore führt ein ebenso schmaler Treppenweg an der Felswand erst ab-, dann wieder aufwärts zum zweiten Gelasse, dessen Thoröffnung schon ziemlich verfallen ist, das aber durch einige Fenster erhellt wird und im Innern Sitzbänke und Nischen, groß und klein, und allerhand Wandvorsprünge zum Hinstellen und Legen enthält – Alles aus dem Steine herausgearbeitet. Merkwürdig ist, daß die hinaufführende Treppe eine Doppeltreppe ist, da die erhalten gebliebene Steinbrüstung derselben ebenfalls in Stufen gehauen war. Die Außenwand dieses Gelasses zeigt sorgfältige Glättung und Spuren streifenartiger Verzierung, die sich über den Eingang und die Treppen hinzieht.
Ein großes, oben abgerundetes Fenster, oder eine Thür in einem schön concav ausgebuchteten Felsvorsprunge mag früher den Uebergang von dieser Wohnung zur nächsten vermittelt haben – jetzt geht eine ziemliche Kluft zwischen den beiden hindurch, welche die ganz eigenthümlich gestaltete, entgegenstehende Seite des dritten Gelasses bloßlegt. Möglich, daß hier eine Palissadenbrücke hinüberführte. Eine weitere Communication besteht aber zwischen beiden Gemächern durch einen niedrigen, engen Gang, der, durch den Fels getrieben, von hinten einmündet und nur ein gebücktes Durchgehen gestattet. Das dritte Gemach endlich ist das größte von allen; es besitzt auch einen Herd mit Rauchfang; im Uebrigen ist seine Einrichtung die gleiche wie im vorhergehenden Gemach, auch hat dasselbe ebenso seiner Eingangsthür gegenüber eine zweite; neben dieser aber hat ein Bergrutsch alle alten Culturanlagen vor langer Zeit vernichtet. Sehr interessant ist die Façade dieser dritten Felswohnung; sie macht mit ihren kleinen, fast spitzbogig zulaufenden Fenstern den Eindruck einer alten christlichen Kirche.
Nachdem wir von den Steingemächern Abschied genommen und auf demselben Wege hinabgelangt waren, wie wir hinaufgestiegen, betrachteten und bewunderten[WS 1] wir von unten aus noch lange die Heidenlöcher. Wie packend mag hier der Anblick erst in der Nacht sein, wenn der Mondschein auf den Wellen des Sees zittert und durch die Bäume hindurch sein fahles Licht über
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: bewunderteten
[50] die zerfallenden Steindenkmäler längst entschwundener Zeiten gleiten läßt! –
Um Alles zu kosten, ließen wir uns von dem schönen Wirthstöchterlein auch den berühmten Sipplinger credenzen. Das Mägdlein that’s mit großem Sträuben, und ich möchte auch Jedem rathen, von diesem Weine abzusehen; denn er ist noch heute der sauern sauerster am Bodensee. Aber er schafft ruhiges Ueberlegen, und so einten wir uns denn dahin, daß die Heidenlöcher in ihrer ursprünglichen natürlichen Höhlenform gerade so, wie andere in ihrer Nachbarschaft den ältesten Einwohnern des Landes, den Kelten oder Urgermanen und allen später folgenden Heidengeschlechtern ein willkommener Wohnplatz gewesen sein mögen. Später, zur Zeit der Römerherrschaft und des beginnenden Christenthums, mögen sich dort Christen angesiedelt haben – nicht als Märtyrer; denn dazu wäre ihr Versteck zu Wasser viel zu leicht zu erreichen gewesen, wohl aber als Anachoreten, die mit römischer Kunst und mit römischem Meißel im höhlenreichen Steine sich jene Gelasse schufen und in diesem traumverlorenen Erdwinkel ihrem Cultus, ihrem Gotte lebten. Von jener Zeit an blieben die Heidenlöcher wohl nie ganz unbewohnt und haben zumal während des Dreißigjährigen Krieges, in welchem die weite Umgegend harte Unbilden erlitt, wohl mancher bedrängten Familie ein schützendes Obdach geboten. Auch heute noch deuten frische Rauchspuren auf zeitweilige Insassen.
Der Dichter aber konnte jedenfalls für seinen alten Kaiser kein besseres Plätzchen stiller und einsamer Abgeschiedenheit finden, als diese verwitterten, sagenhaften Höhlen, und wir wollen ihm Dank wissen, daß er durch seinen „Ekkehard“ auch sie der Vergessenheit entrissen hat.
Wir sind noch länger in Goldbach sitzen geblieben und haben dem Sänger des „Ekkehard“ noch manches volle Glas dargebracht – aber nicht in Sipplinger.
Die Beantwortung der Frage: Welche Glaubenslehre wird im Korân vorgetragen? suche ich möglichst knapp zu formuliren. Bekanntlich ist die Vorstellung vom Dasein einer Gottheit der Punkt, von welchem alle systematisirten Religionen ausgehen und in welchen jede zurückmündet. Der Mensch glaubt, daß ein Wesen über ihm sei, ein höheres, übermenschliches, göttliches Wesen, welches er verehrt, liebt, fürchtet, eine Macht, von welcher er Hilfe und Trost erwartet im diesseitigen und Seligkeit in einem gehofften jenseitigen Dasein. Der Islâm nun, von der Voraussetzung getragen, es wäre rein unmöglich, nicht zu wissen, daß Gott sei, hat sein Gottesbewußtsein, sein Grunddogma zusammengefasst in das lakonische Symbolum: „Lâ ’ilâha illâ ’llâhu,“ d. h. „Kein Gott außer Allah.“ Der Gottesname Allah, sprachlich naheverwandt mit den hebräischen Bezeichnungen der Gottheit (el, eljon, elohim), ist zusammengezogen aus dem Artikel al und dem Substantiv elah und bedeutet „der Verehrungswürdige“, „der Erhabene“. Sein streng-monotheistisches Grunddogma betont der Islâm fortwährend. Der Korân kommt immer wieder auf den Satz von der unwandelbaren Ewigkeit Gottes zurück, nicht selten mit einem polemischen Seitenblick auf die christliche Trinitätslehre. So lautet am Ende der islamischen Bibel die 112. Sure noch einmal nachdrucksam: „Gott ist Einer. Er ist von Ewigkeit. Er ward nicht gezeugt und hat nicht gezeugt. Ihm gleich ist Keiner.“ Trotzdem vermochte dieser strenge und starre Eingottesglaube sich nicht folgerichtig zu erhalten. Alle entwickelteren Religionen beweisen das Bedürfniß des Menschen, zwischen Menschheit und Gottheit eine Mittelstufe zu setzen, und so sah sich auch Mohammed gedrungen und gezwungen, sei es in Anlehnung an die persisch-jüdische Lehre, sei es in Erinnerung an den uralten Geister- und Dämonenglauben seines eigenen Volkes, seinen alleinigen Gott mit Scharen von Engeln als mit dessen Dienern und Boten zu umgeben. Und worauf sollte ferner das in der Welt vorhandene Böse zurückgeführt werden? Doch nicht auf den allmächtigen, allweisen und allgütigen Gott?
Da mußte also die Annahme eines Satans oder Teufels aushelfen, welcher Widersacher Gottes und Verführer der Menschen den Namen Iblis erhielt. Der Gegensatz von Gott und Teufel ist jedoch in der islamischen Dogmatik bei weitem nicht so bestimmt herausgebildet wie in der christlichen. Auch die Bedeutung und Stellung der Dämonen, der sogenannten Djinne, ist im Korân eine unklare und verschwommene, insofern sie nicht immer als böse Geister erscheinen.
Der zweite Hauptlehrsatz des Islâm enthält die Vorherbestimmung der menschlichen Geschicke durch Gott, jene Prädestinationslehre, welche auch in der Geschichte des Christenthums einen so großen Raum eingenommen und so viel Lärm gemacht, im Mohammedanismus aber das große Schisma zwischen Sunniten und Schiiten herbeigeführt hat.
Das dritte Dogma beschlägt das Prophetenthum, indem es feststellt, daß Mohammed der wahre Prophet und Uebermittler der göttlichen Offenbarung sei. Mohammed ist also der Prophet, der Prophet par excellence, jedoch nicht der erste und nicht der einzige. Denn als seine Vorgänger anerkennt der Korân ausdrücklich Mose und Jesus, aber Mohammed ist der Vollender des Prophetenthums.
Das vierte Hauptdogma handelt von der Unsterblichkeit der Seele, von der Auferstehung der Todten, vom Weltgerichte, von der schließlichen Belohnung der Guten und der Bestrafung der Bösen. Diese islamische Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) ist ganz augenscheinlich altpersischen und christlichen Vorstellungen nachgebildet, in ihren Einzelnheiten aber sehr geschickt auf die sinnliche Anschauungsweise der Orientalen berechnet und darum heißblütig-phantastisch ausgemalt.
Wenn das Dogma die Seele der Religion, so ist der Kultus bekanntlich ihr Leib. Da finden wir nun, daß im Islâm das Verhältniß zwischen Seele und Leib, d. h. zwischen Gotteslehre und Gottesdienst, mit äußerster Konsequenz durchgeführt ist. Die strenge Festhaltung des Begriffs eines abstrakten, außerweltlichen, leib- und bildlosen Gottes verwarf und verwehrte das Hereinbrechen weiterer mythologischer Elemente in den Kult und verwarf und verwehrte demzufolge gleichermaßen das Herantreten der Künste zum Gottesdienst. Nur zu Gunsten der Baukunst war eine Ausnahme gestattet, allein die in den Dienst der Religion gezogene Architektur sollte sich bei Schaffung und Auszierung der islamischen Tempel auf das Nothwendigste beschränken. Einen Gottesdienst der Gemeinde kennt eigentlich der Islâm nicht. Die Andachtverrichtung ist Sache des Einzelnen. Den Hauptbestandtheil des muslimischen Gebetes macht die Sure aus, welche den Korân eröffnet. Die Auslegungen von Korânstellen durch die Imame von den Kanzeln der Moscheen herab können als Predigten in unserem Sinne kaum bezeichnet werden.
Die vier großen gottesdienstlichen Pflichten des Muslem aber sind: 1) Das Gebet, täglich fünfmal zu verrichten, mit zur Kaabah gen Mekka gerichtetem Antlitz; 2) das Fasten, namentlich während des ganzen Monats Ramazan vom Sonnenauf- bis zum Sonnenuntergang; 3) das Almosenspenden, d. h. die Mildthätigkeit im engsten und im weitesten Sinne des Wortes; 4) die Wallfahrt nach Mekka, welche jeder Rechtgläubige wenigstens einmal im Leben machen soll. Für weitere gottesdienstliche Verbindlichkeiten gelten: 1) die Beschneidung, 2) häufige Waschungen und Reinigungen, 3) der „Djihad“, d. i. der Krieg gegen die Kiaffir oder Giaurs, d. h. gegen alle Nichtmuslim.
Einen geschlossenen Priesterstand oder gar eine geistliche Kaste hat der Islâm nie gekannt. Er kennt nicht einmal ein Priesterthum, sofern dieses im christlich-kirchlichen Sinne auf einer Weihung beruht. Eine Theokratie allerdings hat der Prophet gestiftet, insofern, dem dogmatisches Ansehen genießenden „Imamet“, d. h. dem Gesetz der Erbfolge, gemäß, die höchste geistliche und weltliche Macht und Gewalt bei seinen Nachfolgern und Statthaltern, den Chalifen, sein sollte. Allein dieser islamische Cäsaropapismus hat seine Einheit und Obmacht bekanntlich nicht lange [51] zu behaupten vermocht. Auch andere Vorschriften des Propheten verloren mit der Zeit ihre Geltung. So hat er z. B. die Möncherei ganz ausdrücklich verworfen, allein dieselbe hat sich dennoch in den Islâm einzuschleichen gewußt. Endlich muß hier noch daran erinnert werden, daß der Korân zugleich Dogmatik, Ritualgesetz, Sitten- und Rechtslehre ist. Die mohammedische Bibel enthält also die kanonische Norm nicht allein für das religiöse, sondern auch und ebensosehr für das sociale und politische Dasein der Muslim: sie ist das Civil- und Strafgesetzbuch der gesammten islamischen Welt, in allem die letzte und höchste Instanz. An diesem Felsen ist die Zukunft des Mohammedanismus gescheitert. Denn wie wäre gegenüber der Elasticität und Entwickelungsfähigkeit des Christenthums, welches den verschiedenartigsten Klimaten, Rassen, Völkern und Staatseinrichtungen bieg- und schmiegsam sich anzupassen wußte, eine Fortbildung oder auch nur eine Erhaltung der mohammedanischen Macht in die Länge möglich gewesen bei dieser Unfähigkeit, die intellektuelle und die praktische Seite des Lebens auseinanderzuhalten, bei dieser trägen Gewöhnung, auf Anschauungen und Satzungen zu beharren, welche dem Araberthum des 7. Jahrhunderts auf den Leib geschnitten waren?
Von der Skizzirung seiner Lehre wenden wir uns wieder zu der Person des Propheten zurück.
Er galt, wie sprichwörtlich alle Propheten, in seinem Heimatlande lange soviel wie nichts. Dann begann er etwas zu gelten, als Gegenstand der Sorge, der Furcht und des Hasses seiner Stammesgenossen, der Männer vom Stamme Koraysch. Die Ausbrüche dieses Hasses haben ihn genöthigt, längere Zeit hindurch ein abenteuerlich-unstätes Dasein zu führen. Mehrmals mußte er vor den Nachstellungen seiner Feinde aus Mekka entweichen, um sich in der Wüste, in Schluchten und Höhlen zu bergen. Immer wieder in seine Vaterstadt zurückkehrend, suchte er sich bis zum Aeußersten darin zu behaupten, dieweil er gar wohl wußte, von welcher Wichtigkeit es wäre, von diesem anerkannten Vororte Arabiens aus seine Lehre zu verbreiten. Nun aber verschritten die Korayschiten zur Ausführung des Anschlags, mittels Mordes dem lästigen Neuerer den Mund zu schließen. Dieser Gefahr mußte Mohammed weichen, und er entkam derselben durch Anwendung einer echtbeduinischen Kriegslist. Aus Mekka entflohen, gelangte er unter vielen Fährlichkeiten nach der Stadt Medyna, allwo ihm eine Zuflucht bereitet war durch Anhänger, welche als Wallfahrer den Islâm in Mekka kennen gelernt, angenommen und nach Medyna gebracht hatten. Auch waren dem Propheten seine sämmtlichen Anhänger, seine beiden Fluchtgenossen Abu Bakr und Aly abgerechnet, aus Mekka nach Medyna vorangeflohen. Die Korayschiten setzten erfolglos einen Preis von 100 Kameelen auf den Kopf des ihrem Mordanschlag entgangenen Propheten.
Am 14. September des Jahres 622 langte der Flüchtling in dem vor den Thoren Medyna’s gelegenen Dorfe Koba an. Von dieser Flucht („Hidjrah“) Mohammeds datirt bekanntlich die Zeitrechnung der mohammedanischen Welt. Nicht ohne Grund. Denn die Hidjrah markirt in der Laufbahn des Propheten den ausschlaggebenden Wendepunkt. Jetzt erst wurde seine Stellung eine öffentliche und seine Rolle eine geschichtliche; jetzt erst wich das Dunkel und die Stille seines Privatlebens dem Glanz und Geräusch eines Daseins, auf welches die Augen und Gedanken von Tausenden und bald von Myriaden von Menschen als auf ihren Mittelpunkt sich richteten. Denn mit dem Amt eines Predigers und Propheten, eines durchweg nur auf die friedlichen Mittel der Unterweisung angewiesenen Lehrers verband von jetzt ab Mohammed die Arbeit, das Wesen, Walten und Wirken eines Staatsmannes, Feldherrn und Fürsten.
In Medyna nämlich entwickelte sich die islamische Sekte binnen kurzem zu einer großen religiösen und politischen Partei, welche der Prophet auch als solche zu lenken und zu leiten, zu mehren und zu meistern hatte. Hierbei nun ist der ihm eingeborene Genius des Mannes, die ganze Macht seines Ich und Selbst, die Fülle und Vielseitigkeit seiner Begabung, die von ihm ausstralende Souveränität seines Wollens und Thuns so recht kundgeworden. Wie alle auserwählten Geister besaß auch er in vollem Maße das Geheimniß der Machtübung über Menschen. Mit der Fürstlichkeit Mohammeds freilich ist es noch sehr ärmlich und kärglich bestellt gewesen, wie beispielsweise die wahrhaft beduinische Einfachheit zeigt, womit in Medyna die Hochzeit seiner Lieblingstochter Fatima mit dem treuen Aly gefeiert wurde. Der ganze Hochzeitschmaus bestand aus einer mit Datteln und Oliven gefüllten Schüssel, und die Ausstattung des jungen Paares war eine geradezu bettelhafte. Aber trotz der Armsäligkeit seines Haushalts war er doch bald nach seiner Ankunft in Medyna in der Verfassung, der Verkündigung seiner Lehre die Ueberredungskraft seines Schwertes beizufügen. Es erwies sich eben auch beim Aufkommen des Islâm die leider durch den ganzen Verlauf der Geschichte bestätigte Wahrheit, daß keineswegs nur aus dem sehr wünschenswerthen Wege ruhiger Bildung und mit den friedlichen Mitteln der Belehrung und Ueberzeugung die großen Wandlungen in der menschlichen Gesellschaft sich bewerkstelligen und vollziehen. Der kindische Traum vom ewigen Frieden mag in Kinderfibeln paradiren, um Kinder zu ergötzen. Das Buch der Geschichte ist aber keine Kinderfibel, sondern lehrt denkende und wissende Menschen, daß es bei den großen Umwälzungen in der Menschheit niemals ohne Gewaltsamkeit abgegangen sei. Das Christenthum hat übrigens in dieser Beziehung dem Islâm bekanntlich gar nichts vorzuwerfen. Denn keine Religion hat so viel Blut und so viele Thränen gekostet wie die christliche.
Sobald der Prophet in Medyna festen Sitz gewonnen, fasste er als nothwendiges Ziel die Bewältigung von Mekka ins Auge, ganz richtig rechnend, daß mit Mekka ganz Arabien binnen kurzem ihm zufallen müßte. Er begann also von Medyna aus an der Spitze seiner Anhänger den Krieg gegen die vom Stamme Koraysch, nachdem er den „Djihad“ gegen die Ungläubigen als ein förmliches Gebot Allah’s proklamirt hatte. Selbstverständlich wurde dieser Krieg zunächst im Stil echt arabischer Razzia’s geführt. Einen ersten wirklichen Sieg über die Korayschiten gewann Mohammed im Treffen bei Bedr. Zwar schwankte die Entscheidung noch lange und eine erste Berennung Mekka’s misslang sogar; allein der Islâm gewann doch allmälig Boden; der Anhang des Propheten wuchs im Lande, und das konnte nicht ohne Rückwirkung auf seine Gegner bleiben. Ein Stammeshäuptling in den Dörfern und Städten, ein Beduinenschech der Steppe nach dem andern stellte sich unter das Banner Allah’s, und der neue Glaube wurde nachgerade zu einer nationalen Macht, welche alle Hindernisse überwältigte. Zu Ausgang des Jahres 629 vermochte Mohammed mit 10,000 Streitern vor Mekka zu rücken und schon im Januar von 630 zog er als Sieger in die bezwungene Stadt ein. Er übte Mäßigung und Milde. Arabischem Kriegsrechte zufolge, waren sämmtliche Bewohner der besiegten Stadt dem Untergange verfallen. Der Prophet begnügte sich jedoch, etliche der verstocktesten Korayschiten zum Tode zu schicken.
In der Kaabah wurden die Götzenbilder feierlich zerschlagen und verbrannt, das also gereinigte Haus aber zum Haupttempel des Islâm erklärt. Im folgenden Monat zog Mohammed von Mekka aus, um den letzten Widerstand, welchen seine Lehre und sein Herrscheramt noch in Arabien zu befahren hatten, niederzuschlagen. Er that dies mittels seines großen Sieges im Thale von Honayn, und jetzt reichte sein Machtgebot über die ganze Halbinsel, ja er konnte seine Waffen bereits nach Syrien hinaustragen und den Kaiser von Byzanz bekriegen. Verständigerweise verfolgte er jedoch die kriegerische Laufbahn nicht weiter, sondern wandte den Rest seines Lebens auf die Durchbildung und Festigung seines Werkes, indem er auf der Basis des Islâm Arabien neu organisirte. Sein Lieblingsaufenthalt war Medyna, und da wollte er auch begraben sein. Im 10. Jahre der Hidjrah wallfuhr er zum letztenmal nach Mekka, diesmal ganz im Stil eines anerkannten und hochverehrten Fürsten der Gläubigen. Der Einzug in die Kaabah war der Triumphalpomp seiner Prophetenschaft. Nach Medyna zurückgekehrt, erkrankte er und auf dem Krankenlager wies er wiederum, wie er schon oft zuvor gethan, die Versuche seiner Jünger, ihn zu vergotten, ihn für Gottes Sohn zu erklären, fest und bestimmt zurück. „Gott hat keinen Sohn, und ich bin nur ein Mensch wie ihr alle“, sagte er. Seine Vertrautesten versammelte er zu einer letzten feierlichen Ansprache, welche der Ueberlieferung zufolge lautete: „Ich höre, der Tod eures Propheten erfülle euch mit Schrecken. Aber hat denn je einer der vor mir gekommenen Propheten ewig gelebt? Ihr mußtet also wissen, daß ein Tag käme, wo ich von euch getrennt werde. Ich wandere jetzt zum Allah, meinem Herrn, euch aber [52] ermahne ich zur Eintracht.“ Dann befahl er, allen seinen Sklaven die Freiheit zu schenken und alles Geld, welches in seiner Kasse, den Armen zu geben. Es war freilich wenig genug, 6 oder 7 Denare. Denn der Fürst der Gläubigen, der Beherrscher Arabiens starb arm. Der 7. oder 8. Juni von 632 war sein Todestag. Da, wo sein Sterbebett gestanden, wurde sein Grab gegraben, bestimmt, das sehnsüchtig erstrebte Ziel der Pilgerfahrt von Millionen zu werden.
Der menschliche Hang zur Mythenbildnerei im allgemeinen und die arabische Fabulirsucht im besonderen haben nicht gezögert, nach dem Hingange des Propheten die Erscheinung desselben, auch die körperliche, mit einem so dicken Nimbus des Wunderbaren zu umhüllen, daß man denselben vorher energisch zerreißen und beseitigen muß, wenn man die wirklichen Umrisse und die wahren Züge des großen Mannes erkennen will. Es ist auch wohl nur billig, daß man bei Vergegenwärtigung seines Gesammtcharakterbildes den Propheten nehme, wie er in seiner besseren und besten Zeit war, wennschon nicht verschwiegen werden darf, daß er in späteren Jahren mitunter, sogar häufig, bedenklich von jenem bösen Gebresten angekränkelt war, welches ich die Weihrauchskrankheit nenne. Gegen die giftigen, Unheil stiftenden Dünste derselben scheint leider kein menschliches Gehirn fest genug vermauert zu sein.
Fassen wir die Züge zusammen, welche uns über die Persönlichkeit Mohammeds überliefert worden, so gewinnen wir dieses Bild: Von Mittelgröße, besaß er einen schlanken, geschmeidigen, sehnigen Wuchs, einen wohlgeformten Kopf, ein rundliches, braunes, rothwangiges Gesicht, mit einer hohen, schön gewölbten Stirn, unter welcher große schwarze Augen hervorblickten, gewöhnlich sanft und träumerisch, stralenwerfend in Augenblicken der Begeisterung, feuersprühend im Zorn. Die schmalrückige Adlernase mit ihren sehr beweglichen Flügeln deutete auf Leidenschaftlichkeit, der Mund mit den vollen, aufgeworfenen Lippen auf Sinnlichkeit, das massive, von einem starken Bart bedeckte Kinn auf Energie hin.
Leicht und lustig ertrug der Prophet Anstrengungen und Strapazen aller Art, ließ sich von Hitze und Frost, von Hunger und Durst wenig anfechten, war ein kühner Reiter, ein geschickter Bogenschütze und Schwertkämpfer, persönlich tapfer, als Führer in der Schlacht ebenso scharfblickend und umsichtig wie als Politiker, als welcher er seine Entwürfe auf das Fundament tiefer und vielseitiger Menschenkenntniß stellte, um sodann mit geduldiger Beharrlichkeit an der Durchführung derselben zu arbeiten. Seine Stimmung äußerte sich in Haltung und Miene zumeist als milder Ernst, aber im Umgang und Gespräch waren ihm die Formen anmuthsvoller Leutseligkeit eigen. Wann Zeit, Ort und Anlaß es forderten, hat sich der sonst gewöhnlich wortkarge Mann zur hinreißenden Beredsamkeit erhoben. Dann strömte die Zunge des Dichters die Eingebungen des Propheten in Worten aus; die flammten wie Blitze und rollten wie Donner. Er war ein durch und durch ehrlicher Mensch, offen und ohne Hehl auch in seinen Fehlern und Ausschreitungen. Nichts Gleißnerisches, Scheinheiliges, Muckerisches war in ihm. Aus der Tiefe einer felsenfesten Ueberzeugung heraus handelte er. Er glaubte an das, was er verkündete, und darum glaubten die Menschen auch ihm. Er war ein Principmann, kein aalglatter Opportunist, kein zweiächslerischer Kompromissekünstler, sondern ein Geradausgänger und weder ein Höfling der Macht noch ein Schmeichler der Menge. Der Grundzug seines Wesens ist zweifellos Liebe zu den Menschen gewesen, wie denn ja, wo diese mangelt, wohl etwa so ephemere Scheindinge wie napoleonische Kaiserschaften aufgeschwindelt werden können, nie aber Bleibend-Großes gedacht, gewollt und geschaffen wird. Es fehlten ihm auch nicht die menschlich guten, feinen und edeln Charakterstriche, deren Mangel an dem berühmtesten Manne der ersten wie gleichermaßen an dem berühmtesten Manne der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so störsam auffällt. Der Prophet war gegen die Menschen billig und nachsichtig, liebte auch einen harmlosen Scherz. Als ihn eines Tages eine alte Frau hartnäckig behelligte mit der Bitte, er möchte doch beim Allah fürsprechen, damit sie ins Paradies käme, sagte er ungeduldig: „Es kommt keine alte Frau ins Paradies.“ Als aber die gute Greisin darob in Schluchzen ausbrach, tröstete er sie, sprechend: „Allerdings kommt keine Alte ins Paradies; denn an der Schwelle desselben werden die alten Frauen durch Allah’s Gnade wieder in schöne junge Mädchen verwandelt.“
Rastlos war sein Wunsch, wohlzuthun, und es ist bekannt, daß er sich in Speise, Trank und Kleidung die größte Mäßigkeit und Sparsamkeit auferlegte, um desto wohlthätiger gegen andere sein zu können. Auch jenes Kennzeichen menschlicher Herzensgüte, das Mitgefühl für die Thiere und die Fürsorge für dieselben, fehlte ihm nicht. Summa: Im seltensten Maße hat Mohammed Genie, Mannhaftigkeit, Einfachheit, Edelmuth und Thatkraft in sich vereinigt. Er war so recht eine elementare Persönlichkeit, ein ursprünglicher Mensch, ein Held im Hochsinn des Wortes, und zutreffender als von jenem etwas zweifelhaften römischen Helden hätte der große Tragiker von dem arabischen rühmen können:
„So mischten sich in ihm die Elemente,
Daß die Natur aufstehen durft’ und sagen:
Das war ein Mann!“ …
Einen Dichter, welcher seiner würdig wäre, hat der Prophet Allah’s noch nicht gefunden. Die bekannte Tragödie Voltaire’s ist nur eine im Sinne der aufklärerischen Philosophie des 18. Jahrhunderts gezeichnete Karikatur. Von dem wahren Wesen und Wirken seines Helden hatte der große Spötter gar keine Ahnung. Großartig zwar hat Julius Mosen in den Schlußgesängen seines „Ahasver“ den Eintritt des Islâm in die Weltgeschichte dargestellt, aber wie sehr haben wir es doch zu beklagen, daß die jugendfeurige Absicht Göthe’s, einen Mohammed zu dichten, nicht zur Verwirklichung gelangt ist!
Das Werk aber dieses Mannes darf nicht nach dem Anblick beurtheilt und gewerthet werden, den es heute darbietet. Vom Anfang an zwar war es, wie alles Menschliche, mit dem Mal der Vergänglichkeit bezeichnet, allein der Islâm in seinem Niedergang darf uns nicht ungerecht machen gegen den Islâm in seinem Aufgang. Seit länger als einem Jahrtausend ist dieser Glaube für hunderte und wieder hunderte von Millionen Menschen der Inhalt ihres Denkens, ihr heiligster Besitz, ihr höchstes Hoffen, ihre mächtigste Stärkung, ihr bester Trost gewesen. Und mit welcher Kraft und mit welchem Glanz hat diese Religion ihre Eroberungsrolle durchgeführt! Binnen des ersten Jahrhunderts schon nach dem Tode des Propheten langte der Mohammedanismus mit seiner linken Hand an den Ebro in Spanien und mit seiner rechten an den Ganges in Indien. Der arabischen Unwiderstehlichkeit hat nur germanische Unbesiegbarkeit den Weg zur Weltherrschaft zu verlegen vermocht. Großes also vollbrachte der Islâm mit dem Schwert, aber Großes auch mit dem Geiste. Was alles das christliche Mittelalter der weit vorgeschritteneren islamischen Bildung zu verdanken hatte, ist bekannt. Unter dem Schutze der Chalifate von Bagdad und von Kordova sind herrliche Kulturfrühlinge aufgeblüht. Die Prachtbauten von Kordova, Sevilla und Granada, wie die von Delhi und Agra, zeugen noch jetzt beredsam von dem künstlerischen Wollen und Können dieser Kultur, welche der Weltliteratur einen Firdusi, Sadi, Dschelaleddin, Hafis, Hariri und alle die spanisch-arabischen und sicilisch-arabischen Dichter gab, der Wissenschaft einen Avicenna und Averroes, eine ganze Reihe von Mathematikern, Astronomen, Forschungsreisenden und Heilkünstlern, sowie auch aus dem Boden philosophischer Spekulation den Sufismus hervortrieb, jenes pantheistische Evangelium freudiger Gotttrunkenheit. Das alles ist nicht verloren, sondern vielmehr zum Gesammteigenthum der civilisirten Menschheit geworden.
Derzeitig freilich scheint der Islâm, schon seit Jahrhunderten von innen heraus gewelkt, im Absterben begriffen – wenigstens in seinen staatlichen Formen und Gestaltungen. Der Möglichkeit einer Wiederverjüngung steht sein ganzes Wesen entgegen. Allah wird an ihm wohl kein solches Wunder thun, wie der Prophet jener weinenden Greisin tröstend eins in Aussicht stellte. Das Endschicksal alles Gewordenen und Werdenden, das Vergehen, das Schicksal von Religionen, Staaten, Völkern, Rassen, von Weltkörpern sogar, wird auch das des Islâm sein. Schon seit lange hört man ja in russischen und anderen Staatskanzleien die Diplomatenfedern kritzeln, welche ihm das Testament aufsetzen, dem armen „kranken Mann“ von Mohammedanismus, den die Unentwickelbarkeit seines Dogma’s und der daraus entsprungene dumpfe Fatalismus mit dessen ganzem verderblichen Gefolge, Sultanismus, Vielweiberei, Sklavenwesen, Unwissenheitsdünkel und Trägheit, zu
[53][54] einem unheilbaren Siechling gemacht haben. Der Tag wird und muß also kommen, wo die Geschichte über ihn zur Tagesordnung schreitet. Aber es ziemt uns, nicht mit Ueberhebung, sondern nur mit Mitleid dieses Ende einer so gewaltigen Erscheinung vorzufühlen, eingedenk, daß die Reihe auch an uns kommen, ja daß, wie unsere Weisen wollen, das in erhabenem Schweigen über, um und unter uns tagende große Parlament der Welten dereinst über unsere kleine Erdenwelt selbst zur Tagesordnung übergehen wird. Ob dannzumal das, was die Menschheit gefühlt, gedacht und gethan, erstritten und gelitten, alle ihre Triumphe und ihre Niederlagen, ihre Eroberungen und ihre Opferungen, ihre Verdienste und ihre Verfehlungen, all ihre Lust und all ihr Leid auf Wegen, welche selbst die Phantasie eines Dante nicht zu ahnen vermöchte, den Bewohnern anderer Welten zu gut kommen oder aber ob dies alles verweht sein werde, spurlos, ein Windhauch von gestern – wer weiß es?
Da ich in zwei früheren Artikeln (Jahrgang 1880, Seite 266 und 528) von den ersten erfolgreichen Versuchen gesprochen, die man angestellt hat, um den Einfluß der Sonne auf die Pflanzen durch elektrisches Licht zu unterstützen, so fühle ich mich verpflichtet, den Lesern auch über den Fortgang dieser Versuche Mittheilung zu machen. Es liegen darüber seit Kurzem zwei ausführliche Berichte vor, von denen der eine von Wilhelm Siemens, dem Bahnbrecher dieser neuen Errungenschaft, der britischen Naturforscherversammlung zu York (September 1881) vorgelegt, der andere von P. Dehérain im November nach Schluß der Pariser elektrischen Ausstellung über die Erfolge erstattet wurde, welche in Bezug auf die elektrische Pflanzenzucht in dem kleinen Gewächshause der Ausstellung erzielt wurden.
Nach einer Richtung hin waren die Ergebnisse der Bemühungen beider Experimentatoren ganz dieselben, indem sie zeigten, daß die Strahlen des offenen elektrischen Lichtes auf die Pflanzen, wenn sie dieselben unbehindert treffen, nicht nur nicht förderlich, sondern im Gegentheil außerordentlich schädlich wirken. Die Blätter der dem offenen elektrischen Lichte ausgesetzten Gewächse nahmen alsbald, soweit sie nicht von andern Blättern beschattet und beschützt wurden, eine runzlige Form und schwärzliche Färbung an, und eine ganze Pflanzensammlung ging zu Paris binnen kurzer Zeit, als der Versuch fortgesetzt wurde, zu Grunde. Es konnte dies aber nicht, wie man zuerst vermuthete, die Folge schädlicher saurer Gase sein, welche die glühenden Kohlenspitzen in dem geschlossenen Raume erzeugt hatten; vielmehr zeigte die genauere Beobachtung, daß es nur das Licht selbst sein konnte, welches den Pflanzen schadete. Dies erkannte man nämlich an dem Aussehen der Blätter, welche durch den Schatten anderer vor dem Einfluß der elektrischen Lichtstrahlen geschützt wurden. Schon nach einer Bestrahlungsnacht waren diese Schatten auf den Blättern derjenigen Pflanzen, welche dem Lichte näherstanden, mit gleichsam photographischer Genauigkeit abgebildet, indem nämlich die beschattete Fläche gesund geblieben war und scharf an den Rändern des Schattens das Verderben begann. Siemens erkannte bald, daß es der schon 1853 von Stokes nachgewiesene Reichthum des elektrischen Lichtes an den dem Auge unsichtbaren, ultravioletten oder sogenannten chemischen Strahlen ist, welcher diese Nachtheile hervorbringt; diese Strahlen wirken nämlich allzu energisch, ja geradezu zerstörend auf die Pflanzenzelle ein. Glücklicher Weise ist es sehr leicht, dieselben ohne wesentliche Behinderung der eigentlich leuchtenden und wärmenden Strahlen abzuschließen; man braucht das elektrische Licht, wie schon Stokes zeigte, nur mit einer Kugel von farblosem Glase zu umschließen, um den weitaus größten Theil dieser schädlichen unsichtbaren Strahlen abzuhalten. Aus diesem erst jetzt erkannten Grunde hatten auch in den früheren Versuchen von Siemens die Pflanzen in einem von außen beleuchteten Glashause das beste Gedeihen gezeigt.
Nachdem man nun das innerhalb der Glashäuser aufgestellte elektrische Licht mit einer Glashülle umgeben hat, hatten die Pflanzen nicht mehr das schwärzliche Aussehen, das man ursprünglich der Einwirkung der Kohlenstoff und Stickstoff enthaltenden Gase zugeschrieben hatte, welche die in der atmosphärischen Luft glühenden Kohlenspitzen erzeugen. Sollten sich diese Gase, welche größtentheils aus unschädlicher Kohlensäure bestehen, durch ihren Stickstoffgehalt wirklich als den Pflanzen schädlich erweisen, so würde man sie aus dem einschließenden Glasbehälter leicht hinaus in’s Freie leiten können.
Der Versuch auf der Pariser Ausstellung, wo den Pflanzen wegen der verborgenen Lage des Glashauses nur wenig Tages- und Sonnenlicht zufloß, zeigte durch das kümmerliche Aussehen der am 25. September neu hineingebrachten, gesunden Pflanzen, daß es vor der Hand nicht möglich sein würde, die Sonne ganz zu pensioniren und bei ausschließlich elektrischer Beleuchtung, z. B. in der Winternacht des Poles oder in unterirdischen Grotten, Pflanzen aus Samen zu ziehen und zur Reife zu bringen. Es liegt dies wahrscheinlich daran, daß das elektrische Licht nicht reich genug an gelben Strahlen ist, welche gerade am meisten die Fähigkeit der grünen Blätter, die Kohlensäure zu zersetzen und Sauerstoff aus der Luft einzunehmen, anregen. Versuche, die von Dehérain mit einer sehr üppig wachsenden Wasserpflanze, nämlich mit der stärker, als sie es verdient, verrufenen Wasserpest (Elodea canadensis) angestellt wurden, ergaben, daß dieses in mit Wasser gefüllten Glasgefäßen dem Lichte ausgesetzte Gewächs im Sonnenschein innerhalb einer Stunde mehr Sauerstoff ausschied, als innerhalb mehrerer Tage bei elektrischer Beleuchtung.
Da nun die Kohlenstoffaufnahme der Pflanzen in geradem Verhältniß zur Sauerstoffausscheidung steht, so geht schon daraus hervor, daß die elektrische Beleuchtung vorläufig noch in keiner Weise für gärtnerische Zwecke mit der Sonne concurriren kann. Möglich wäre es indessen immerhin, daß das elektrische Glühlicht, wie es in den Edison’schen Lampen und deren Nachahmungen wirksam ist, oder ein im Volta’schen Bogen glühendes Kalkstückchen reichlicher gelbe Strahlen aussenden möchten als das bisher ausschließlich in diesen Versuchen angewendete elektrische Kohlenlicht. Ich würde vorschlagen, die Kohlenstifte mit Kalk- und Natronlösung zu tränken, um günstigere Resultate zu erhalten.
Es mag hier noch kurz erwähnt werden, daß beide Experimentatoren auch bei elektrischem Lichte jene Versuche wiederholt haben, die schon 1843 von Draper bei Sonnenschein angestellt worden sind, um das Gedeihen der Pflanzen unter verschiedenfarbigen Gläsern zu studiren. Auch bei elektrischer Beleuchtung zeigte sich, daß die Pflanzen unter farblosem Glase weitaus am besten gediehen. Die unter gelbem Glase gezogenen Pflanzen kamen ihnen in der Größe am nächsten, doch waren sie entschieden von schwächlicherem Bau und kränklicher Färbung. In noch höherem und fortschreitendem Maße war dies bei den unter rothem und blauem Glase gezogenen Pflanzen der Fall, wie denn auch die Schädlichkeit des grünen Glases ebenfalls schon früher erkannt worden ist.
Im Allgemeinen viel günstigere Erfolge als der beinahe ganz auf elektrische Beleuchtung angewiesene Pariser Experimentator hat unser berühmter Landsmann in London erzielt, welcher das elektrische Licht in den beiden letzten Wintern als Hülfsarbeiter der Sonne angestellt hatte, um die Pflanzen zweier Gewächshäuser zu begünstigen. Das eine, halb in der Erde versenkte Glashaus wurde von einer zwölf bis vierzehn Fuß hoch darüber angebrachten Lampe beleuchtet, und das andere, dessen Rauminhalt 2318 Cubikfuß beträgt, durch eine drinnen über dem Thüreingang vor einem metallenen Reflector angebrachte Lampe, welche durch eine Glasglocke eingeschlossen wurde, nachdem sich die Schädlichkeit des offnen Lichtes im Laufe des vorigen Winters herausgestellt hatte. Jede dieser beiden Lampen entwickelt eine Helligkeit, die der von 5000 Kerzen gleichkommt. Die Versuche, über welche hier ausführlicher berichtet werden soll, wurden im October 1880 begonnen und bis in den Mai 1881 fortgesetzt und zwar in dem Umfange, daß das elektrische Licht mit Ausnahme der Sonntage täglich von fünf Uhr Abends bis sechs Uhr früh in Wirksamkeit war.
Wir erwähnen zunächst einige der sprechendsten Erfolge. Erbsen, welche Ende October ausgesät worden waren, brachten am 16. Februar reife Schoten. Um die Ueberzeugung zu gewinnen, [55] daß die so gewonnenen Samen völlig normal seien, pflanzte man sie zwei Tage nach der Ernte wiederum ein; sie gingen gut auf. Erdbeerpflanzen, die der Gärtner am 16. December[WS 1] in das Haus genommen hatte, trugen am 14. Februar, also schon nach sechszig Tagen reife Früchte von schöner Farbe und ausgezeichnetem Geschmack. An demselben Tage aus dem Freien in’s Haus genommene Himbeersträucher brachten zum 1. März Früchte von ebenfalls vorzüglicher Beschaffenheit. Weinreben, die erst am zweiten Weihnachtsfeiertage in das Glashaus versetzt worden waren, reiften schon zum 10. März Trauben, welche ein stärkeres Aroma hatten, als die im Sommer im Freien gezogenen.
Weizen, Gerste und Hafer schossen unter dem Einflusse des ununterbrochenen Lichtes mit außerordentlicher Schnelligkeit empor, aber sie kamen nicht zur Reife, weil sie eben im Verhältniß zu der Kraft ihrer Halme wohl zu hastig gewachsen waren; sie legten sich, nachdem sie eine Höhe von ungefähr zwölf Zoll erreicht hatten, um. Dieselben Getreidearten wuchsen jedoch unter dem Einfluß der im Freien befindlichen elektrischen Lampe, nachdem sie am 6. Januar 1881 in Furchen ausgesät und unter Schnee und Frost langsam gekeimt waren, sobald mildes Wecker eintrat, mit großer Schnelligkeit, und brachten bereits Ende Juni reife Aehren, obwohl das elektrische Licht ihr Wachsthum nur bis in den Beginn des Mai unterstützt hatte.
Die hierbei auftauchende und öfter erörterte Frage, ob die Pflanzen nicht auch einer nächtlichen Ruhepause für ihr Gedeihen bedürfen, ist schon früher mit Hinweis auf die Getreidearten und wildwachsenden Pflanzen der dem Pole näherliegenden Länder widerlegt worden, und wir haben darauf hingewiesen, daß das Getreide, die Gartengemüse, gewisse Beeren, die bei geringerer Wärme gedeihen, im Scheine der ununterbrochenen Polarsonne nicht nur unglaublich schnell reifen, sondern auch an Aroma alle anderen übertreffen (vergl. „Gartenlaube“ 1880, S. 528), während die Blumen lebhaftere Farben zeigen. Dieses stärkere Aroma zeigte sich, wie erwähnt, auch bei den in den Siemens’schen Glashäusern bei fortwährendem Lichte gereiften Früchten, aber gleichzeitig hatten sie nicht die aus dem Wärmemangel folgende Zuckerarmuth der nordischen Früchte, da ihnen ja jede erforderliche Wärme geboten wurde. Die mit Unterstützung des elektrischen Lichtes gezogenen Früchte übertrafen somit die im Freien gezogenen Früchte an Aroma, was schon an sich ein Grund wäre, die elektrische Obstzucht zu empfehlen. Dieser Vorzug bewährt sich besonders an Südfrüchten, die zum großen Theil den in gemäßigten Zonen gezogenen Früchten gegenüber bedeutenden Zuckerreichthum auf Kosten des Aromas entwickeln, wie z. B. die am Rheine so aromatischen Trauben im Süden viel ärmer an Aroma gefunden werden.
Ein entsprechender Vortheil der immerwährenden elektrischen Beleuchtung wurde in den Siemens’schen Gewächshäusern bei einer Banane beobachtet, die in zwei Wachsthumsperioden, nämlich bei ihrer ersten Entwickelung und dann wieder, als sie Früchte reifte (Februar und März 1880 und 1881), den Strahlen einer etwa sechs Fuß entfernten und durch eine Glasscheibe getrennten elektrischen Lampe ausgesetzt worden war. Das Ergebniß bildete eine fünfundsiebenzig Pfund schwere Fruchtähre, an der jede einzelne Banane von ungewöhnlicher Größe war und durch competente Richter von unvergleichlichem aromatischem Wohlgeschmack befunden wurde. Die Bananen haben bekanntlich den Geschmack einer feinen Birne, aber sie zeigen sonst in der Regel nicht viel Aroma. Ebenso wurden im Frühjahr 1880 und 1881 bei dem Scheine des beständigen Lichtes Melonen von außergewöhnlicher Größe und sehr reichem Aroma erzielt, sodaß kaum daran zu zweifeln ist, daß man bei richtiger Regelung der Temperaturen in dieser Richtung bedeutende Erfolge in der Obstcultur erzielen könnte. „Ich bin geneigt, zu glauben,“ sagt W. Siemens am Schlusse der Schilderung seiner Erfolge, „daß die Zeit nicht mehr sehr fern ist, in welcher das elektrische Licht von dem Pflanzenzüchter als ein sehr werthvoller Gehülfe für seine Zwecke angesehen werden wird, indem es ihn von Klima und Jahreszeit unabhängig macht und ihm die Macht verleiht, neue Varietäten hervorzubringen“
Um diese Hoffnung zu verwirklichen, dürfen die Kosten der elektrischen Pflanzenbeleuchtung nicht allzu groß sein, und in dieser Beziehung ist die Berechnung von Interesse, welche Siemens über seine Ausgaben angestellt hat. Wer Wasserkraft zu seiner Verfügung hat, würde das elektrische Licht zu einem äußerst mäßigen Preise haben können, da dann außer den Zinsen der Anlage nur der alle sechs bis sieben Stunden nöthige Ersatz der Kohlenstäbe und die Abnutzung in Rechnung käme, wobei ein Licht von fünftausend Kerzen Helligkeit für die Stunde auf nicht mehr als fünfzig Pfennig zu stehen kommen würde. Aber auch bei Dampfbetrieb, wie er in den Siemens’schen Gärten stattfindet, steigen unter gewissen Voraussetzungen die Kosten nicht höher als auf circa sechszig Pfennig pro Stunde, sofern nämlich die Kosten für die zur Heizung der angewendeten Hochdruckdampfmaschine von sechs Pferdekraft angewendeten Kohlen zu zwei Drittel dadurch aufgewogen werden, daß der condensirte Wasserdampf zur Heizung der Gewächshäuser verwendet wird.
Diese Berechnung ist indessen nur dann richtig, wenn die zum Betriebe der beiden elektrodynamischen Maschinen thätige Hochdruckdampfmaschine ununterbrochen Tag und Nacht thätig sein kann, weil bei Unterbrechung der Kesselheizung alltäglich ein großer Wärmeverlust stattfinden würde. Da nun die Heizung Tag und Nacht, aber das Licht nur in der Nacht gebraucht wird, so müssen die elektrischen Maschinen bei Tage anderweitig beschäftigt werden, wenn die Kosten mit dem Nutzen im Verhältniß stehen sollen, und dazu ist auf einem Grundstücke, wenigstens wenn es mit Landwirthschaft verbunden ist, stets vollauf Gelegenheit, da sich die Kraft durch Kupferdrahtkabel leicht nach jedem beliebigen, wenn nicht allzu entfernten Ort hinleiten und dort zum Wasserpumpen, Dreschen, Häckselschneiden, Holzsägen, Pflügen etc. verwenden läßt. (Vergleiche „Gartenlaube“ 1881, Seite 352.) Die Kupferdrahtleitung von der neben der Dampfmaschine aufgestellten Elektricität erzeugenden Maschine bis zu der transportabeln Maschine, welche den elektrischen Strom in Arbeitskraft zurückverwandelt, bedarf, wenn die Entfernungen nicht über eine halbe englische Meile betragen, keiner besonderen Isolation und kann über Holzpfähle, Baumäste etc. gelegt werden, namentlich, wenn die Rückleitung durch einen sehr guten Leiter, z. B. eine metallene Einzäunung des Gehöftes oder Gartens geschehen kann. Es gehen dabei unter Umständen vielleicht dreißig bis vierzig Procent der Kraft unterwegs verloren, aber dies kommt kaum in Betracht, wenn man die Bequemlichkeit der Arbeitsmaschine in Rechnung zieht.
Schließlich ist dieselbe unendlich leichter transportabel, als eine Locomobile, welche bei gleicher Leistungsfähigkeit das sechs- bis siebenfache Gewicht hat und außerdem Wasser zu ihrem Betriebe braucht, während die elektrische Maschine, ohne Wasser mitzunehmen, an jeder beliebigen Stelle im Umkreise des Gehöftes arbeiten kann. Sie empfängt eben alle ihre Kraft durch das Drahtkabel von der stehenden Maschine her, und es wird sich mithin empfehlen, diese möglichst mit den Gewächshäusern im Centrum der Besitzung anzulegen, um nach allen Seiten die Kraft mit gleichem Vortheil übertragen zu können.
Giebt es für die elektrischen Maschinen den Tag über vollauf Arbeit, so wird die nächtliche Erleuchtung der Gewächshäuser und des Wohnhauses selbst nur einen sehr geringen Mehrkostenpreis bedingen, da ein continuirlicher Dampfbetrieb im Verhältniß immer billiger ist, als ein allnächtlich unterbrochener. Für den elektrischen Betrieb einer Landwirthschaft bei Tage würde somit die nächtliche Pflanzenzucht eine Art von natürlicher Ergänzung bilden, zumal die letztere außer dem Maschinenbetrieb keine weitere Arbeit verursacht, als die je einmalige Erneuerung der Kohlenstäbe erfordert. Rechnet man dazu noch die Annehmlichkeit, den Park an jedem beliebigen Sommer- oder Winterabende mit einem Lichte erleuchten zu können, welches, auf Baumwipfel und Fontainen geworfen, feenhafte Wirkungen hervorbringt und den Wasserstrahl in Verbindung mit farbigen Gläsern bald in geschmolzenes Silber oder Gold, bald in Azur- oder Purpurfluth verwandelt, so dürfte die Einführung des elektrischen Betriebes für wohlsituirte Grundbesitzer schon heute sehr verlockend sein, zumal derselbe keine besonderen Maschinistenkenntnisse erfordert. Auf dem Siemens’schen Landgute wird der ganze Betrieb von dem Obergärtner geleitet und mit Hülfe des gewöhnlichen Stabes von Untergärtnern, Feld- und Gartenarbeitern, die wahrscheinlich niemals vorher von der gewaltigen Macht der Elektricität etwas vernommen hatten, besorgt.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Deeember
Das goldene Jubiläum einer deutschen Zeitschrift ist etwas so Seltenes, daß es schon an und für sich Erwähnung verdient; wenn dann aber außerdem noch die Jubilarin in der langen Reihe von fünfzig Jahren jederzeit sich der höchsten Achtung zu erfreuen hatte und fort und fort verdienstlich wirkte, so muß ihr Ehrentag noch ganz besonders hervorgehoben werden. Das sei denn auch mit dem Jubiläum der Fall, das am 1. Februar d. J. das „Magazin für die Literatur des In- und Auslandes“ festlich begeht! selten ist eine kritische Zeitschrift so festen Schrittes, so vollständig unbeirrt, so im edelsten Sinne vornehm ihres Weges gegangen, wie die Jubilarin. Freilich leuchteten ihr auch gleich von ihrem ersten Tage an die freundlichsten Sterne.
Das „Magazin“ ging noch aus den mannigfachen Anregungen hervor, welche die Romantiker unserem Literaturleben gaben. Durch die Schlegel, Tieck, Gries und Andere waren die Blicke der deutschen Leserwelt auch auf die Literaturschätze des Auslandes gelenkt worden, und es regte sich nun unter den Gebildeteren das Verlangen, die Kenntniß der ausländlischen Literatur auch weiter zu pflegen. Diesem Wunsche entsprach ein junger Publicist, der sich durch vielseitige Bildung und journalistisches Geschick bereits ausgezeichnet hatte, Joseph Lehmann in Berlin. Seit 1828 Mitredacteur der damals unter der Aegide des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten erscheinenden „Preußischen Staats-Zeitung“, hatte er in dem Redactionsbureau derselben die beste Gelegenheit, sich fortwährend über die neuesten Erscheinungen der Weltliteratur zu informiren, da die preußischen Gesandten des Auslandes beauftragt waren, alle interessanten Werke, die in ihrem Bereich auf dem Gebiete der politischen und wissenschaftlichen Literatur erschienen, der Redaction der „Staats-Zeitung“ einzusenden. Um dem von ihm geplanten publicistischen Unternehmen gleich eine feste Stütze zu geben, kam Joseph Lehmann durch den Curator der „Staats-Zeitung“, den Geheimen Legationsrath Karl Philipsborn, bei dem Minister Grafen Christian von Bernstorff und dem Staats-Secretär Ancillon um die Erlaubniß ein, dasselbe als eine Art Beiblatt der „Staats-Zeitung“ herausgeben zu dürfen, was beide Männer, die ebenfalls ein reges Interesse für die Weltliteratur zeigten, gern gewährten. Und so wurde die Redaction der „Staats-Zeitung“ ermächtigt, das „Magazin für die Literatur des Auslandes“ – so war damals der Titel – als ein mit besonderem Abonnement verbundenes Beiblatt der „Staats-Zeitung“ anzukündigen und herauszugeben, etwaige durch dieses neue Blatt (dessen Preis auf nur 9 Mark pro Jahr gestellt wurde) entstehende Ausfälle aus den Ueberschüssen der „Staats-Zeitung“ zu decken und dem Redacteur Joseph Lehmann alle dem Staats-Zeitungs-Institute zugesandten literarischen Hülfsmittel zur Mitbenutzung zu überlassen.
Das waren also die günstigsten Bedingungen, unter denen das „Magazin“ in’s Leben treten konnte, und da sich auch noch der über das Blatt gesetzte Censor – zu jener Zeit eine überaus wichtige Person für jedes literarische Unternehmen – der Geheime Ober-Regierungsrath Jakobi, als ein warmer Freund der jungen Zeitschrift erwies, so durfte sie frisch und fröhlich hinaussteuern und täuschte dann auch die Erwartungen nicht. Gleich der Prospect, welcher der „Staats-Zeitung“ beigelegt wurde und in welchem der Redacteur auf einen Gedanken Goethe’s hinwies, der sich zuerst des Wortes „Weltliteratur“ bedient hatte, fand so vielseitigen Anklang, daß sich schon in den ersten Wochen nach der Ankündigung zwölfhundert Abonnenten anmeldeten. Mit einem geistreichen Artikel Lehmann’s über das damals soeben herausgekommene Werk von Lord Dover: „The Life of Frederic the Second, King of Prussia.“ that die Zeitschrift sodann ihren ersten Schritt. Sie präsentirte sich in Folioformat und Fracturschrift und erschien darauf wöchentlich dreimal.
Seine Mitarbeiter hatte sich Joseph Lehmann zunächst unter seinen Collegen gesucht, bald aber gelang es ihm auch Professoren von Universitäten, bedeutende Lehrer von Gymnasien und geistvolle Schriftsteller wie Wilibald Alexis, Hesekiel, Mundt u. A. zu gewinnen, sodaß das Ansehen des „Magazins“ rasch stieg. Leider bestand damals noch nicht die gute Sitte, die Artikel mit dem Namen des Autors zu zeichnen; man kann daher bei vielen Beiträgen heute nicht mehr angeben, von wem sie herrühren.
Nach dem Rücktritte Philipsborn’s vom Curatorium und dem Rückgange der „Staats-Zeitung“ stellte sich das „Magazin“ 1843 auf eigene Füße und ging dabei in den Verlag der Firma Veit u. Comp. über, mit der es auch 1849 von Berlin nach Leipzig übersiedelte.
Von 1859 ab erschien es sodann, wie noch heute, nur einmal wöchentlich, und von 1864 ab, in welchem Jahre es wieder nach Berlin zurückkehrte, da es von F. Dümmler’s Verlagshandlung erworben worden war, in Groß-Quart. Dieses Format besitzt es auch noch jetzt, nachdem es abermals (am 1. Januar 1879) nach Leipzig gewandert ist, um fortan die Flagge der Verlagshandlung Wilhelm Friedrich zu tragen. Doch hat es mit dem neuen Ortswechsel sein Programm erweitert, indem es jetzt auch die Erzeugnisse der deutschen Literatur in den Kreis seiner Besprechungen zieht. Dem entsprechend nennt es sich jetzt „Magazin für die Literatur des In- und Auslandes.“ Außerdem änderte es noch sein Kleid, indem es die Fracturschrift mit der Antiquaschrift vertauschte. Seit dem 1. October 1881 ist es – last not least – officielles Organ des „Allgemeinen deutschen Schriftstellerverbandes“ geworden.
Von Joseph Lehmann wurde es bis zu dessen 1874 erfolgtem Tode redigirt; alsdann waren Stadtgerichtsrath Lehfeldt, Oberpostdirector Fischer, Dr. L. Homberger und auf kurze Zeit der jetzige Verleger Wilhelm Friedrich als Redacteure thätig, bis zum 1. October 1879 Dr. Eduard Engel in Berlin die Redaction übernahm. Mit ihm ist offenbar ein neuer frischer Zug in das Blatt gekommen, und wir dürfen hoffen, daß es unter seiner äußerst tüchtigen Leitung auch weiterhin ein treuer Spiegel der Weltliteratur sein wird.
In der Kurischen Nehrung. (Mit Abbildung S. 53.) „Contre“ ist er nicht, der Tanz, welchen Meister Rentel mit so lebenstreuen Strichen auf unserem heutigen Bilde dargestellt hat. Die biederen Fischer kennen augenscheinlich noch nicht die von der alles gleichmachenden Mode vorgeschriebenen Sprünge und „Pas“; sie tanzen nach alter Sitte, frei und ungebunden, wie da draußen im Spiel der Winde die Wogen der Salzfluth schäumen und tosen, um den vielumworbenen und vielumstürmten Strand mit Perlen durchsichtigen Bernsteins zu überstreuen. Der verfeinerte
Culturmensch würde freilich an diesem lärmend-fröhlichen Festgelage, in dieser primitiven Schenke, mitten unter diesen dicken Tabaksqualmwolken, die der Sonnenschein nur mit Mühe durchdringt, und in der Gesellschaft dieser oft allzu geradherzigen Leute keine richtige Freude haben. Aber auch dem Fischer von der schmalen ostpreußischen Nehrung, welcher im Saus und Braus der Seewinde die vielen Stunden seiner Arbeit dahinlebt, würde die Salonluft der Städte gar zu dünn vorkommen, wenn er zu seiner Erholung in derselben eine Quadrille oder sogar eine Polonaise bedächtig hertanzen sollte. „Jedem das Seine“ lautet der Wahrspruch des preußischen Staates, und so mögen denn diese Altpreußen nach ihrer Façon vergnügt bleiben in dieser schweren Zeit, da dem Alles umfassenden Zollstab auch die Fische des Meeres, grün oder geräuchert, unterthan bleiben müssen. Wahrlich, gönnen kann man diesen Fischern das Vergnügen; denn der Zollstab und der Steuerzettel sind lange nicht das Schlimmste, was sie zu ertragen haben. Das Land, auf dem sie leben, ist schon an und für sich nichts weniger als ein Paradieswinkel der Erde. Die Kurische Nehrung bildet, wie ihre Zwillingsschwestern, die „Frische“ und „Pommersche“, einen gar schmalen Streifen Landes, der viele Meilen weit in die See hineinragt; sie trennt das Kurische Haff von der Ostsee. An ihrer ganzen Länge ziehen sich gewaltige Sanddünen hin, die mächtigsten, die in dem alten Europa zu schauen sind, und die hier und dort bis zu 65 Meter Höhe sich aufthürmen. Wo aber viel Sand ist, da ist in der Regel wenig Segen, und auch hier ist der Sand kein Freund der Cultur. Hat man doch ausgerechnet, daß, wenn in der Ostsee alles beim Alten bleibt, das Kurische Haff binnen 300 bis 500 Jahren versandet werden und eine Art Sahara des Nordens bilden wird. Gegen diesen Sand muß nun der Fischer in der ostpreußischen Nehrung ebenso ankämpfen, wie der friesische Bauer gegen die Sturmfluthen; denn während an der Nordsee das nasse Grab des Meeres Länderstriche und menschliche Wohnstätten verschlingt, werden hier an der Ostsee die Dörfer versandet.
Doch was der Friese vermochte, das wird auch der Ostpreuße noch zu Wege bringen: über kurz oder lang wird der bösen Undine, die da im krystallenen Palaste auf dem Grunde der Ostsee hauset, nachdrücklichst bedeutet werden, daß ihr weißer Flugsand nicht auf die Felder gehört, auf denen „die holde Ceres lachen“ kann, und die Cultur wird dem Vorwärtsdringen der feindlichen Dünenlinie ein gewaltsames und entschiedenes Halt! gebieten. Das wissen wohl die Fischer der Nehrung, Alt und Jung, und darum lassen sie sich in ihrem Tanz nicht stören, unbekümmert darob, was da der morgende Tag bringen wird.
Fr. M. in Osnabrück. Herr Richard Hofmann gehört der Redaction unseres Blattes nicht an, sondern fungirt als „verantwortlicher Redacteur“ der „Allgemeinen Anzeigen zur ‚Gartenlaube‘“, eines Annoncenblattes, das in gar keinem inneren Zusammenhange mit unserem Journale steht und demselben nur beigelegt wird. Die Adresse Ihres Briefes war also eine durchaus irrthümliche.
Zwei sich streitende Abonnenten. Vergleichen sie den Artikel „Die Bändigung der drei Unbezwinglichen“, Jahrgang 1878, Nr. 5 der „Gartenlaube“!
Anna W. in Paschkowitz. Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder“ und unserer fesselnden Criminalgeschichten ist der jüngsthin verstorbene, hochverdiente J. D. H. Temme.
F. S. in Bukarest. Das geflügelte Wort stammt von Schleiermacher.
H. v. K. in Potsdam. Beruhigen Sie sich! Uns ist die schriftstellerische Thätigkeit des genannten Herrn gleichfalls völlig unbekannt.
Anonymus in Dresden. Sie stehen mit Ihrem Urtheile so allein da, daß wir aus demselben nur eine persönliche Rancune gegen den sehr talentvollen Künstler herauslesen können. Der Schleier der Anonymität, in den Sie sich hüllen, bestärkt uns in dieser Auffassung. Es ist in der That sehr hübsch, aus sicherem Versteck heraus ehrliche Leute mit dem Koth der Straße zu bewerfen.
Abonnent W. K–l. Die Adresse lautet: Leipzig, Weststraße 89.
Für den Jahrgang 1881 der „Gartenlaube“ empfehle ich geschmackvolle
Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
- ↑ Was die Kritik der Zeitgenossen über das neue Schauspiel betrifft, so findet man die Actenstücke zusammengetragen in dem verdienstvollen Werke von Julius W. Braun „Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen“ (Leipzig, Bernhard Schlicke), einer schätzenswerthen Publication, von welcher die ersten zwei Bände vorliegen und die einen der lehrreichsten Vorgänge der Literatur, das Werden und Wachsen der Classicität, im Wechsel günstiger und ungünstiger, anerkennender und feindseliger Urtheile aus authentischen Quellen auf das Interessanteste beleuchtet. Ich hatte selbst mehrfach in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ darauf hingewiesen, daß unsere überreiche Goethe- und Schiller-Literatur in Bezug hierauf noch eine Lücke enthält, und freue mich, dieselbe, wohl in Folge meiner Anregung, jetzt ausgefüllt zu sehen.