Die Gartenlaube (1882)/Heft 42

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[693]

No. 42.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Spätsommer.

Novelle von C. von Sydow.
(Fortsetzung.)


Arndt blieb inzwischen unruhig zurück und sah halb zerstreut, halb gefesselt auf Curt’s ganz vorzüglich ähnliches Portrait, welchem seiner Meinung nach nur noch sehr wenige unbedeutende Pinselstriche bis zur Vollendung fehlen konnten.

Einige Minuten später traten die zur Segelfahrt gerüsteten Schwestern wieder ein, und Arndt schloß sich ihnen, seinem Versprechen gemäß, an.

Er blieb den ganzen Tag nach einer bestimmten Richtung hin enttäuscht, weshalb seine Unterhaltung zuweilen eine leichte Schärfe annahm, die von der Gesellschaft der Segelpartie dermaßen geistreich gefunden wurde, daß man ihn einstimmig für „entzückend“ erklärte. Niemand von der Gesellschaft, mit alleiniger Ausnahme der beiden Malerinnen, schien zu bemerken, daß die Anwesenden selbst den Pfeilen feines scharfen Witzes als Schleifstein und zugleich als Zielscheibe dienen mußten.

Doch es war eigen – Arndt’s Verstimmung schwamm gleichsam nur auf der Oberfläche seines Gemüths: daß er enttäuscht war, ärgerte ihn, aber daß er es noch sein konnte, war ihm neu und an sich selbst interessant.

Wäre Henriette Brandenburg heute Nachmittag wirklich von der Partie gewesen, er würde ihr mit lebhaften Erwartungen und besonderer Aufmerksamkeit, aber doch ohne innerste Erregung entgegengetreten sein; daß sie es zufällig nicht war, erhöhte plötzlich ihren fremdartigen Reiz, und er konnte es nicht hindern, daß seine Phantasie ihr Nichterscheinen mehr und mehr mit einer geheimnißvollen, ja gewissermaßen absichtlichen Zurückhaltung zu motiviren versuchte. Dies machte ihn nur noch begieriger, sie kennen zu lernen, und eine so ausgesprochene Spannung drängte sich durch sein Empfinden, daß er sich nicht genug über sich selbst wundern konnte.

Zum zweiten Male an diesem Tage meinte er, Rügen habe ihn eigenthümlich verjüngt – und wie im Traume zogen Felsen, Wälder, Fluthengekräusel, fremdes Menschengeschwätz und eigene Worte an ihm vorüber. – –

Als die ersten Sterne heraufdämmerten, lief das Segelboot wieder in den Hafen des Stranddörfchens ein, und einige Minuten später schritt Arndt an der Seite der Schwestern durch die lange Hauptstraße des kleinen Ortes.

„Sie haben sich ein großes Verdienst um die Partie erworben,“ sagte Auguste.

„Es schien mir auch so,“ meinte Adelheid, und ihr tiefes Lachen klang angenehm an Arndt’s Ohr.

„Wie so?“ fragte Dieser. „Die Damen wollen mich doch hoffentlich nicht jetzt entgelten lassen, was ich soeben auf dem Wasser verbrochen habe?“

„Nein, durchaus nicht!“ erwiderte die Portraitmalerin. „Wir bedanken uns ganz ernsthaft dafür, daß Ihr Witz uns heute über Wasser gehalten hat.“

„Ja,“ warf wieder Auguste ein; „wenn wir hier Jemanden zu etwas auffordern, kann er sicher sein, daß es aus Egoismus geschieht. Ich wußte ganz genau, welchen Ballast an Dummheit wir heute Nachmittag laden würden“

„Sie sind keine von den schlimmsten Egoistinnen, mein gnädiges Fräulein, da Sie Ihre Karten so ehrlich aufdecken, und damit Sie sehen, wie wenig ich mich vor Ihnen fürchte, möchte ich um die Erlaubniß bitten, Sie dieser Tage wieder aufsuchen zu dürfen.“

„Aber bitte, nicht vor übermorgen! Uebermorgen wird Curt’s Bild fertig,“ sagte Adelheid.

„Uebermorgen – wie Sie befehlen!“

Arndt verabschiedete sich höflich von den Damen.

„Ein merkwürdiger Zufall!“ meinte die jüngere Malerin auf dem Reste des Heimweges. „Merkwürdig in der That! Du weißt, ich habe kein gutes Namengedächtniß, aber die Beschreibung paßt genau. Erinnerst Du Dich nicht, Auguste, daß Frau Lepel schrieb, mein Pathchen, Erna, interessire sich für einen Architekten? Und ich meine wirklich, er hieß Arndt. Wenn unser Arndt von heute nun wirklich der Arndt der Frau Lepel wäre, derselbe Arndt – ich meine doch, das wäre in der That ein merkwürdiges Zusammentreffen.“

Das Für und Wider dieser Frage wurde von beiden Schwestern heute Abend noch lange debattirt, den ganzen Heimweg lang, bis über die Schwelle ihres Zimmers hinweg, beim Schlafengehen und fast bis in den Schlaf hinein.



5.

Im benachbarten Stranddörfchen saß indessen Henriette Brandenburg noch wachend am Bette ihres Sohnes.

„Mutter,“ bat der Knabe, „geh’ noch nicht fort! Ich kann nicht einschlafen.“

„Aber sprich nicht mehr, Curt! Du wirst immer munterer,“ sagte Henriette und fuhr leise mit der Hand über seine Stirn.

[694] Da faßte der Knabe plötzlich ihren Arm und hielt ihn mit heftiger Leidenschaft fest, sodaß ihre Hand auf seinem Gesichtchen ruhen blieb.

„So ist’s schön,“ flüsterte er, und einige Minuten lang war es so lautlos still in dem kleinen dunklen Gemache, daß man deutlich unter den Fenstern das Anschlagen der See gegen das nahe Ufer vernehmen konnte; es klang unruhig träumerisch, bald leise flüsternd, bald voll aufrauschend.

Und ähnlich wie draußen die vom Halbschlummer der Natur umsponnenen Wellen mochten hier die Gedanken in einem Kindeshaupte auf- und abwogen.

„Mutter!“ rief der Knabe, als wäre er auf einmal aus dem Traume erwacht, „wie ist das? Ich las in dem Buche von Indien, die alten Brahmanen hätten geglaubt, das, was jetzt ist, die Welt und die ganze Erde, sei viel schlechter, als das Nichts, das vorher war; deshalb sagten sie: Brahm, ihre große Weltseele, schliefe jetzt und hätte früher gewacht. Mutter! und nun kann ich nicht einschlafen. Immer, wenn ich die Augen zumachen will, muß ich denken: ,Brahm schläft! Brahm schläft!‘ und immerzu: ‚Brahm schläft!‘ Mutter! und dann muß ich immer denken, Alles, was Du sagst und was ich sage, und was wir sehen und hören, das sind auch Alles bloße Träume. – O Mutter, Mutter, wenn der liebe Gott nicht schliefe, ließe er gewiß nicht so viel Unglück zu. Siehst Du?“

Henriette’s Hand, welche noch immer auf dem Haupte des Knaben lag, der sich jetzt hoch im Bette aufgerichtet hatte, zitterte.

„Du ängstigst Dich oft recht unnöthig, mein Sohn,“ sagte sie sanft. „Die alten Brahmanen dachten sich die Dinge anders, als sie sind. Gott schläft nicht. Wir brauchen gar nicht weit zu denken; wir wollen bei uns stehen bleiben. Hätte es Gott wohl klüger und besser machen können, als er es mit uns Beiden gemacht? Wenn ich nun nicht Deine Mutter geworden wäre, dann hättest Du Niemanden auf der weiten Welt, und wenn Du nicht mein Sohn geworden wärest, dann hätte ich auch …“

„Ja, ja,“ fiel der Knabe ein, „dann hättest Du auch Niemanden. Aber dann hättest Du vielleicht Jemand Andern – einen Mann, Mutter, der –“

„Nein, mein Sohn, den hätte ich nicht – und wenn Du erst groß bist, Curt, dann – –“

„Ja – ich freu’ mich auch auf’s Großsein,“ antwortete der Knabe lebhaft, „groß sein, ist noch mal so schön! – Herr Arndt, Mutter, das ist ein prächtiger Mann; Du sollst mal sehen. – Ich kannte ihn auch auf der Stelle wieder.“

Henriette lächelte dankbar; es war ihr wieder einmal gelungen, den erregten Geist des Knaben ohne Gewalt in das natürliche Bett kindlicher Enge zurückzudrängen. Als sie ihn nach einigen Augenblicken gleichmäßig athmen hörte, faltete. sie unwillkürlich die Hände und blieb noch eine Weile in Gedanken vor ihm sitzen. „Schlafe! Was willst Du mehr?“ flüsterte sie dann über seinem Haupte und erhob sich leise.

Sie trat an’s Fenster und horchte auf die gedämpfte, immer mehr und mehr in ein verworrenes Geplätscher übergehende Nachthymne der Natur.

„Brahm schläft!“ sagte sie unbewußt, dann aber schüttelte sie den Kopf und warf wie in plötzlichem Drange die Arme über das Haupt empor. „Nein, nein!“ flüsterte sie – „die Welt ist schön – und das Leben ist gut – wenn man nur will – und es glaubt.“ – – –

Um dieselbe Stunde – es war schon gegen Mitternacht – ging Arndt auf dem dunklen Strandwege zwischen den beiden benachbarten Dörfchen auf und ab.

„Uebermorgen!“ sagte er leise vor sich hin. „Uebermorgen!“ Er hatte wohl über zwei Stunden in seinem engen Wirthshauszimmer gesessen, indem er anfangs ein Werk über Norwegen vorgenommen, dann aber das Buch bei Seite geschoben und allerlei phantastische Zeichnungen zu einem „Schloß am Meere“ hingeworfen hatte.

Dabei war ihm das Schloß so mächtig vor die Einbildungskraft getreten, daß er noch hinausgehen und sich an Ort und Stelle ausmalen mußte, wie sich die mächtigen Strebepfeiler am Rande des steilen Ufers erheben und voll Trotz in die düster wallende See hinabsehen würden, gleichsam als sprächen sie zu den dumpf emporhallenden Wogen: Mächtig seid ihr, ihr Wellen, mächtig ist die Natur – aber mächtiger ist der Geist des Menschen in Wollen und Vollbringen.

„Man muß an sich glauben,“ sagte Arndt zu sich selbst, „sonst bleibt man ein Stümper. Glauben muß man wie die Kinder – und thun wie die Kinder. Denn wer ist thätiger als sie? Aufbauen, nur aufbauen und meinen, es hielte für die Ewigkeit. Mit einem Worte, man muß jung sein!“

Sicher wie am Tage schritt er immer weiter, am dunklen Ufer entlang. Seine Glieder waren noch rüstig und frisch, aber seine Phantasie wurde nachgerade träger, und wie eine versteckte Melodie rauschte ihm von Zeit zu Zeit das Wort „übermorgen“ aus den träumerische Variationen des Wassers auf.

Dann blieb er stehen und lächelte wegwerfend.

„Weiß Gott, Reisen wird eine Untugend, wenn man dabei sich selbst verzettelt,“ meinte er endlich. „Es geht mir mit dem Reisen wie den armen Schluckern, die lange nichts Gutes aßen, mit einem gehaltvollen Diner – sie vertragen es schließlich nicht mehr.“

Damit kehrte er entschlossen um und begab sich endgültig auf den Heimweg. –



6.

Curt’s Portrait war fertig. Der ungeduldige Junge hatte nach der letzten Sitzung das Weite gesucht, um seiner Mutter entgegen zu gehen, welche heute das vollendete Bild in Augenschein nehmen sollte. Arndt war mit den beiden Schwestern vor der Staffelei zurückgeblieben.

„Ich habe immer das Gefühl,“ sagte er, „als müßte sich dieser große, schön geschweifte Mund in der nächsten Secunde aufthun, um entweder das allernaivste Kindergeplauder oder irgend ein tiefsinniges, überreifes Wort hören zu lassen; mehr kann ich nicht sagen.“

Adelheid schwieg, war aber in fortwährender Bewegung vor dem Bilde, indem sie bald einen Schritt vorwärts, bald einen zurück trat, um die Wirkung des Portraits auf die verschiedenen Entfernungen hin zu prüfen; Auguste stand indessen in stummer Befriedigung auf einem und demselben Flecke und betrachtete das Bild ihrer Schwester von der Tiefe des Zimmers aus.

„Es muß eine höchst eigenthümliche Lebensaufgabe sein, diesen Knaben zu erziehen,“ nahm Arndt nach einer Weile wieder das Wort und zwar mit einem Blick auf Adelheid.

„Ja, ich würde dieser Aufgabe nicht gewachsen sein,“ sagte diese nachdrücklich.

„Frau Brandenburg ist früh Wittwe geworden, wie ich den Aeußerungen des Knaben entnommen habe,“ fuhr Arndt in halb fragendem Tone fort.

Doch Adelheid schien ihn diesmal zu überhören; denn sie trat vor das Bild und rückte die Staffelei, auf der es stand, mehr in die Mitte des Zimmers, ohne zu antworten.

„Ja, sie war erst einundzwanzig Jahre, als Professor Brandenburg starb,“ erwiderte Auguste an Stelle der Schwester.

„Ich kenne kein interessanteres Kind,“ bemerkte Arndt von Neuem. „Sieht der Knabe seiner Mutter ähnlich?“

„Das wissen wir nicht. Wir haben seine Mutter nicht gekannt,“ sagte wieder Auguste. „Die jetzige Frau Professor Brandenburg ist seine Stiefmutter. Sie haben sie ja wohl in Berlin schon gesehen?“

„Nur flüchtig und aus der Entfernung.“

„Nun, dann werden Sie in den nächsten Minuten den Vorzug haben, sie in der Nähe zu sehen.“

„Kennen Sie die Dame schon längere Zeit, mein gnädiges Fräulein?“

„Wie man’s nehmen will; wir kennen sie seit ihrer Kindheit. Wir kennen die Leute immer seit ihrer Kindheit, Herr Architekt,“ fügte sie lächelnd hinzu.

„Unter Umständen eine große Vergünstigung,“ meinte Arndt ebenfalls lächelnd.

„Wir finden das auch, und in diesem Fall gewiß. Nicht wahr, Adelheid?“

„Ja, gewiß,“ sagte diese flüchtig, begann eifrig ihre Pinsel zu waschen und verließ gleich darauf, als muthe diese Wendung des Gesprächs sie nicht an, das Zimmer.

„Ihr Fräulein Schwester scheint nicht gern von Frau Professor Brandenburg zu reden,“ bemerkte Arndt. „Ich bitte um [695] Entschuldigung, wenn ich irgendwie indiscret gefragt habe. Ich war mir dessen nicht bewußt.“

Auguste legte die Arme in einander und lehnte sich mit dem Rücken ungenirt gegen die Wand.

„Sie müssen sich über so etwas nicht wundern,“ sagte sie trocken. „Meine Schwester würde eher sich selbst rühmen, als ihre Freunde.“

„Ein feiner Zug!“ sagte Arndt mit lebhafter Ungezwungenheit und fragte dann, plötzlich in einen gleichgültigeren Unterhaltungston übergehend, ob denn auch Fräulein Auguste selbst mit der jetzigen Frau Professor Brandenburg befreundet sei.

„Etwas,“ antwortete die Malerin, und der kleine satirische Lachteufel, welchen Arndt schon an ihr kannte, sprühte wieder einmal aus ihren Augen.

Er bemerkte ihn auch diesmal wohl und fixirte sie einen Augenblick scharf.

Sein Blick schien sie zu amüsiren; denn sie schwieg eine Weile hartnäckig.

„Sie wundern sich schon wieder,“ sagte sie dann gelassen. „Ich bin eben der Schatten meiner Schwester. Haben Sie das noch nicht bemerkt? – Alles, was sie sehr ist – bin ich folglich nur etwas.“

„Dann müßte sich nach den Gesetzen der Logik das Verhältniß auch umkehren lassen – Ihr Fräulein Schwester also sehr paradox sein – und daran glaube ich, offen gestanden, nicht. Das möchte ich eher ....“

„Das möchten Sie eher mir zuschreiben?“

„Ich muß Ihrem Scharfsinn einräumen, daß Sie richtig gerathen haben,“ war Arndt’s belustigte Antwort. „Aber jetzt sollten Sie Ihr Versprechen erfüllen und mir auch Einiges von Ihren eigenen Malereien zeigen – ich bitte darum, mein gnädiges Fräulein.“

„O gern, außerordentlich gern!“ sagte Auguste und führte in gewisser Reihenfolge ihre während dieses Sommers entworfenen, theils noch sehr unfertigen landschaftlichen Oelskizzen vor, welche Arndt genau so anziehend und genau so barock wie die Künstlerin selbst fand.

Diese war mit eigenthümlichem Lächeln seiner Betrachtung und seinen Aeußerungen gefolgt. Plötzlich sagte sie ohne jeden scheinbaren Zusammenhang:

„Sie interessiren sich also auch für Curt’s Mutter?“

„Gewiß; wen der Knabe interessirt, dem kann natürlich die Mutter nicht gleichgültig sein. Ich wußte übrigens bisher nicht, daß die jetzige Frau Professor Brandenburg nur die Stiefmutter Curt’s ist.“

„Mir scheint, daß sie das nur interessanter macht,“ bemerkte Auguste. „Man findet es sonst schon erstaunenswerth, wenn Frauen überhaupt einen Charakter haben,“ fuhr sie dann halb ernsthaft, halb ironisch fort; „aber wenn sie einen solchen Charakter haben, wie Henriette Brandenburg, und nicht emancipirt sind – nun, dann ist es wirklich ein Wunder. Meine Schwester würde für Frau Brandenburg durch’s Feuer gehen.“

„Und Sie?“

„Ich – natürlich auch; ich bin ja ihr Schatten, wie Sie wissen.“

Arndt sah die sonderbare Sprecherin prüfend an.

„Warum zeigen Sie für gewöhnlich so viel weniger Gefühl, als Sie besitzen?“ fragte er lächelnd.

„Aus Bequemlichkeit!“ war die schlagfertige Antwort.

„Eine Maske denke ich mir unter allen Umständen unbequem.“

Auguste räusperte sich.

„In der Architektur maskirt man auch,“ meinte sie und streifte Arndt’s Gesicht mit einem anscheinend ganz unschuldigen Blick.

Was war das? Bildete sich dieses originelle, alte Mädchen ein, er habe mehr, als ein allgemeines Interesse ....?

Er sah mit einem Aufblitzen selbstbewußter Sicherheit zu ihr hinüber und nahm dann gewandt den hingeworfenen Scherz auf.

Man?“ sagte er, „ja, mein gnädigstes Fräulein, man ist allerdings der ärgste Sünder auf der Welt. Und ich habe gar nichts dagegen, wenn ihm auch in der Architektur die infamste Charlatanerie aufgepackt wird.“ –

In diesem Augenblick erklang Curt’s Stimme auf dem angrenzenden Flur, und gleich darauf trat er in Begleitung seiner Mutter in’s Zimmer.

Seltsam – Henriette Brandenburg war jünger geworden. Ihr Gesicht hatte etwas lebhaftere Farben und ihr Auge einen erhöhten Glanz angenommen. Und was auch der Knabe behauptet hatte, sie erschien weniger ernst, als früher.

Das sah und empfand Arndt auf den ersten Blick, indem er alles Zufällige des erwartungsvollen Momentes, in welchem sie das Bild ihres Kindes sehen sollte, von dem Wesentlichen streng unterschied.

Als er ihr vorgestellt wurde, erröthete sie leicht, reichte ihm aber mit ebenso viel Anmuth wie Sicherheit die Hand.

„Mein Sohn hat mir von Ihnen erzählt,“ sagte sie; „ich kenne Sie seit Jahren und schulde Ihnen noch einen herzlichen Dank für den zurückbeförderten Ball!“

„Mein Sohn“ – wie eigenthümlich ... rührend dieses Wort von ihren Lippen klang; sie sah eben so unendlich viel jünger aus, als sie war.

„Man hat selten das Glück, für einen so leichten Dienst einen Dank zu erwerben,“ antwortete Arndt lebhaft.

„Vielleicht, weil man die kleinen Dienste meistens allzu gering anschlägt und deshalb unterläßt. – Man bedenkt nicht, welche Freude man oft mit Wenigem machen kann,“ bemerkte sie unbefangen und warm.

Dann trat sie vor die Staffelei, welcher schon beim Eintreten in’s Zimmer ihr erster Blick gegolten hatte, und Arndt nahm dabei wieder in ihren Bewegungen dieselbe ruhige Leichtigkeit und sanfte Energie wahr, welche er schon früher bewundert hatte.

Willig trat er einige Schritte seitwärts und verlor sich, während sie das Portrait betrachtete, in den Anblick ihrer Erscheinung.

„Adelheid! mit nichts aus der Welt hättest Du mich glücklicher machen können, als mit diesem Portrait Curt’s,“ sagte sie nach längerer Zeit eifriger Betrachtung.

„Also findest Du es gut?“ fragte die Malerin mit Lebhaftigkeit, und ihre dunklen Augen hingen unbeweglich an Henriettens Gesicht.

Diese war wirklich wie verklärt in schwärmerischer Freude. Immer von Neuem schaute sie förmlich in das Bild hinein.

„Ja, das sind seine Augen – gerade so wendet er den Kopf, wenn er fragt,“ sagte sie wieder nach einer Weile und sah sich gleich darauf im Zimmer um.

„Er ist fortgelaufen, nachdem er Herrn Arndt die genügende Zeit angestarrt hatte,“ erklärte Auguste; „sein Freund Putbrese ging vorbei.“

Da kehrte Frau Professor Brandenburg sich sofort wieder dem Bilde zu:

„Und wie Du das zerstreute Lächeln hast über das bewegte Gesicht zaubern können – ich fasse es nicht. – Und dann das Näschen – lacht nicht über seine häßliche kleine Nase! – es ist, als sähe man ihre durchsichtigen Flügel in kindischer Leidenschaft zittern. – Aber die Augen! Wenn Du wüßtest, Adelheid, wie wunderbar gut sie sind!“

„Vielleicht weiß sie es!“ meinte Auguste.

Henriette lächelte.

„Nein,“ sagte sie gedankenvoll, „ich glaube nicht, Auguste, daß sie es so durchaus weiß. Dann würde mehr Absicht und weniger Unmittelbares in dem Bilde liegen.“

„Da hast Du ganz Recht, Henriette; das Beste wird einem erst klar, wenn es heraus ist – wenigstens mir!“ bestätigte Adelheid mit ausdrucksvoller Hast.

„Natürlich hat sie Recht,“ sagte Auguste, die wieder mit verschränkten Armen im Hintergrunde des Zimmers stand. Dann wandte sie sich an Arndt und fragte: „Was sagen Sie dazu, Herr Architekt? Ich hoffe, Sie stehen nicht über den Parteien?“

„Nein mein gnädiges Fräulein, in dieser Region der kalten Langeweile halte ich mich selten auf, muß Ihnen aber gestehen, daß ich mit der Majorität für die unbewußte Intuition des Künstlers stimme.“

„Dann bin ich wieder einmal die Einzige, die kein Verständniß für das Wirken des Genius hat,“ antwortete Auguste mit launigem Achselzucken.

„Ach, Adelheid! – verzeihen Sie, Herr Architekt! – Aber sobald kann ich mich nicht von diesem Bilde trennen,“ rief [696] Henriette. „Wann wird es trocken sein? – Aber nein – Du sollst es nicht so eilig loswerden. Wie schwer muß es sein, so etwas fortzugeben!“

Arndt hatte das Gefühl, als störe seine Gegenwart die beiden Freundinnen im unbefangenen Aussprechen über das Bild, als müsse, wenn er jetzt nicht zufällig da wäre, Henriette der Freundin leidenschaftlich die Hand drücken und sich freier im Gespräch ergehen; deshalb empfahl er sich, versprach aber den Malerinnen auf deren Bitte, in einer Stunde wiederzukommen, um sie und Frau Professor Brandenburg im Putbrese’schen Boot spazieren zu rudern, und mit der ihm eigenen vornehmen Natürlichkeit erbat er sich zugleich von Henriette die Erlaubniß, ihren Sohn aufsuchen und auf einer kleinen Wanderung unter vier Augen die alte, damals leider so schnell abgebrochene Bekanntschaft erneuern und befestigen zu dürfen.

„Sie sind sehr gütig gegen meinen Sohn, Herr Architekt,“ sagte Henriette. „Bleiben Sie längere Zeit hier?“

„Acht bis vierzehn Tage.“

„O, dann sehen wir uns vielleicht noch öfter.“

„Ich hoffe, gnädige Frau.“ –


7.

Es war Tags darauf. Arndt hatte nun auch Henrietten seinen Besuch gemacht und war mit ihr in Curt’s Begleitung an den Strand hinab gegangen. Es war mehr als ein gemeinsames Interesse, was den Architekten und des Knaben Mutter seit der gestrigen Ruderpartie innerlich genähert und ihre gegenseitigen äußeren Umgangsformen schnell vertraulicher gemacht hatte; auch jetzt – bei der zwanglosen Strandpromenade – unterhielten sie sich lebhaft, während der Knabe bald träumerisch hinterdrein ging, bald ausgelassen voraus lief, wenn er nicht gerade mit irgend einem Steine oder einer Pflanze zu Arndt herangesprungen kam, um in seiner stürmischen Weise eine Erklärung des ihm fremden Gegenstandes zu erbitten. Und so oft Arndt mit männlicher Schärfe und Klarheit eine solche abgab, bemerkte er, wie Henriette mehr als aufmerksam zuhörte.

„Dergleichen sollte man doch eigentlich selbst wissen,“ meinte sie schließlich ganz erregt. „Ich habe mich früher nie für die exacten Wissenschaften interessirt.“

„Die passen auch gar nicht für Sie, gnädige Frau!“ sagte Arndt offenherzig; denn es fuhr ihm durch den Sinn, daß eine Menge trockenen Wissens nur eine unnatürliche, häßliche Last für die Flügel ihres feinen Geistes sein würde, der so viel mehr auf die Höhe und Tiefe, als auf die breite Masse der Dinge gerichtet zu sein schien.

„Für mich passen sie vielleicht nicht, aber für Curt sind sie ein nothwendiges Erforderniß,“ antwortete sie freundlich. „Sein Geist bedarf ein fortwährendes Material, wenn er sich nicht selbst aufreiben soll. Er ist ein wunderbares Kind.“

„Das glaube ich. Ich kann Ihnen aufrichtig sagen, daß mich dieser Knabe seit dem ersten Blick interessirt hat, den ich zufällig auf der Straße aus seinen Augen auffing. Er hat wahrhaftig keine Alltagsaugen.“

„Nein,“ sagte Henriette und sah Arndt wie aufmerkend an, gleichsam als habe sie nicht geglaubt, daß er ein so eigenthümlich tiefes Verständniß für das Wesen des Knaben haben könne, und der Ausdruck einer frohen, ungewöhnlich warmen Sympathie leuchtete aus ihren Zügen.

Das entging Arndt nicht – er wurde immer wärmer.

„Seine Augen sind nicht nur schön, weil sie eine Fülle geistigen Wesens ausströmen,“ fuhr er fort, „sondern weil man ihnen ansieht, wie die Kindesseele tausend Bildern und Ideen, welche von außen auf sie eindrängen, förmlich entgegenquillt. Ich möchte sagen: es ist ein fortwährendes dramatisches Leben in seinem Blick.“

„Ach,“ sagte Henriette und blieb vor innerer Lebhaftigkeit unwillkürlich an Arndt’s Seite stehen. „Wie Sie ihn kennen! – Sie kennen ihn wirklich wunderbar gut. Ja, seine Augen sind keine Alltagsaugen; ihr Blick geht eigenthümlich in die Ferne. Er richtet sich nicht nur auf das sinnlich Wahrnehmbare an den Dingen, sondern zugleich auf Alles, was dahinter und darüber ist: Wenn gewöhnliche Menschen einen abgehauenen Baumstamm in einem Winkel des Hofes liegen sehen, so sehen die Augen meines Sohnes mitten in sonnigem Walde einen grünen Baum, in dessen Zweigen die Winde spielen und die Vögel singen.“

„Gewiß; denn er sieht mit den Augen der Phantasie.“


(Fortsetzung folgt.)



Bilder aus dem Stillen Ocean.[1]

2. Land und Leute in Neu-Britannien.
Für die „Gartenlaube“ beschrieben von Dr. O. Finsch.

„Also endlich einmal wirkliche Wilde!“ dachte ich bei mir selbst, als ich auf meinen Kreuz- und Querzügen durch den Stillen Ocean zuerst meinen Fuß in Neu-Britannien an’s Land setzte, und somit, vom „goldenen Thore“ (San-Francisco) im Westen ausgehend, die ganze Breite dieses größten aller Meere in directer Entfernung auf nahezu 6000 Seemeilen durchmessen hatte. Die dunklen Menschen, die ich hier, in Melanesien, erblickte, machen keinen angenehmen Eindruck auf den Ankömmling. Ihr negerähnlicher Typus, ihre völlige Nacktheit, das wilde, zum Theil buntgefärbte Haar und die manchmal abschreckende Malerei auf einigen Körpertheilen verleihen ihnen ein ebenso ungewohntes wie abstoßendes Aussehen, das beim weiblichen Geschlecht womöglich noch stärker hervortritt als bei dem männlichen. Unter der gaffenden Menge, die den Fremden um Tabak bettelnd umsteht, bemerkt man nicht selten bewaffnete Männer. Sie tragen mit Federn geschmückte Wurfspeere oder eingetauschte eiserne Aexte an langem, sonderbar geformtem und bemaltem Stiele. Mit einem Worte: ich sah mich unter einer mir bisher fremden Rasse, über welche die spärlichen Berichte der wenigen weißen Besucher fast übereinstimmend nicht eben vortheilhaft und vertrauenerweckend lauten; denn sie messen den Eingeborenen von Neu-Britannien Habsucht, Hinterlist, Räuberei, Mordlust und die schreckenerregende Sitte der Menschenfresserei bei.

Ganz anders bildet sich das Urtheil bei dem, welcher, wie ich, monatelang mit und unter den Eingeborenen lebte und ihre Sitten und Gewohnheiten zu seinem Studium machte. Das Auge hat sich bald mit der Nacktheit versöhnt, bemerkt sie fast gar nicht, und findet, daß die hübschen Federkronen und Büschel, die dichten Schnüre weißer und bunter Glasperlen dem dunklen Körper gut stehen, ja söhnt sich zuletzt sogar mit dem Bemalen von Haar und Körper aus, als könne dies gar nicht anders sein. Auch an die Körper- und Gesichtsformen dieser Menschen gewöhnt man sich. Zwar können die breite, nur mit der Kuppe vorspringende Nase, die weitgeöffneten Nüstern, der meist unschön große Mund, das wollig verfilzte Haar sich niemals, vom Standpunkt des Weißen aus betrachtet, das Prädicat: schön erringen, aber im Uebrigen muß man gestehen, daß die Neu-Britannier wohlgebaute Menschen von kräftigem Gliederbau und starker Natur sind und daß die dunkle kaffee- oder chocoladefarbene Haut ganz zu ihrer Erscheinung und dem Himmel, unter dem sie wohnen, paßt. So abschreckend besonders auch die Weiber anfangs erscheinen, nach und nach bemerkt man namentlich unter den jungen Mädchen gar nicht üble Personen, die in Körperform und untadelhafter Büste jeden Vergleich aushalten. Vor allem haben viele dieser „Damen“ große, schöne, lang und zart bewimperte Augen, die ohne die gelbliche Trübung des Weißen, wie sie allen Farbigen eigen ist, geradezu schön genannt zu werden verdienten. Bei diesen Schwarzen Melanesiens macht sich Lebhaftigkeit, Beweglichkeit und eine stets heitere und fröhliche Geselligkeit bemerkbar. Das schwatzt, das scherzt und schäkert oft bis tief in die Nacht hinein, und namentlich an hellen Mondscheinabenden nimmt die ausgelassene Fröhlichkeit kaum ein Ende. Musik und Tanz sind auch hier die unzertrennlichen Begleiter jeder Lustbarkeit; bald hört man einsame Künstler, die in der Stille des

[697]

Leichenfeier in Neu-Britannien.
Für die „Gartenlaube“ nach der Natur aufgenommen von O. Finsch. Auf Holz gezeichnet von Martin Laemmel.

[698] Abends auf der Flöte ihre sanftesten Weisen zum Besten geben; bald vereinigen sich Viele, um unter dem Tacte hölzerner oder mit Eidechsenhaut überspannter Trommeln mehr tumultuarische Concerte aufzuführen, denen es aber keineswegs an Rhythmus mangelt.

Musikalische Instrumente giebt es hier eine ganze Menge, darunter drei verschiedene Arten Flöten und ein Saiteninstrument; jedes Geschlecht hat seine eigenthümlichen Musikwerkzeuge für sich. Bei aller Ureinfachheit läßt sich in den Weisen und Gesängen der Melanesier ein melodischer Zug nicht verkennen, und er stellt diese „Wilden“ in ihren musikalischen Leistungen weit über alle östlichen Südsee-Insulaner, ja über das hochgebildete Volk der Chinesen, deren Musik unser Ohr auf das Aergste beleidigt. Gelegenheit zu Tanz und Festen bietet sich so oft, daß es fast scheint, als sei das Leben dieser Schwarzen nur eine ununterbrochene Kette von Lustbarkeiten und Vergnügungen. In der That ist ein solches Leben nur unter dem gesegneten Himmelsstriche, in welchem sie heimathen, und bei der natürlichen Bedürfnißlosigkeit möglich, welche diese Wilden trotz der langjährigen Bekanntschaft mit Weißen streng beibehielten. Nur so konnten sie bis jetzt ihre Freiheit und Sorgenlosigkeit bewahren.

Unter den vielen Artikeln europäischer Civilisation wußten sich bei den Eingeborenen nur Rauchtabak (und dieser noch nicht allenthalben), Glasperlen, Messer, Aexte und Feuerwaffen nebst Munition Eingang zu verschaffen, während nach Bekleidungsgegenständen kaum Nachfrage herrscht und das so verführerische Feuerwasser, welches am Untergange vieler Südsee-Insulaner die Hauptschuld trägt, in Neu-Britannien standhaft verabscheut wird. Wirklich ist der dunkle Mann sehr wohl im Stande, ohne die Hülfe seines weißen Bruders zu leben; denn das Land bietet Nahrung im Ueberfluß und befriedigt alle seine Bedürfnisse. Freilich hält die Natur auch in der Südsee nicht stets offene Tafel, wie man sich dies bei der sprüchwörtlichen Fülle der Tropen so gern einbildet, sondern es bedarf auch hier der Arbeit, wenn diese auch nicht sehr anstrengend ist: Bananen, Yams und Cocosnüsse bilden die Hauptnahrung der Bewohner Neu-Britanniens, und außerdem zeitigt der Wald eine Menge anderer Früchte, die unserem Geschmacke aber nicht sonderlich entsprechen und nicht entfernt einen Vergleich mit unseren heimischen Früchten bestehen können.

Die Neu-Britannier sind treffliche Landbauer; allenthalben sieht man geklärte und mit Hülfe von Feuer urbar gemachte Stellen, und oft wandelt man auf weite Strecken durch wohlgepflegte und gehegte Pflanzungen von förmlichen Bananenwäldern, welche für den Fleiß und die Sorgfalt dieses Volkes das günstigste Zeugniß ablegen. Entsprechend den gebotenen Verhältnissen hat sich der Neu-Britannier zum Ackerbauer entwickelt, ohne die Zwischenstufen des Jäger- oder Hirtenlebens durchzumachen, wie sonst gewöhnlich erwartet wird. Der Küstenbewohner ist dagegen außerdem ein geschickter Fischer und bedient sich zu diesem Gewerbe weit besserer Geräthe als der Mikronesier. Jagd tritt dagegen auf diesen Inseln gänzlich in den Hintergrund, weil es an größerem Wilde fehlt und die Waffen und Fanggeräthe unzureichend sind. Als vorwiegender Vegetarianer kennt der Melanesier weder Fallen- noch Schlingenstellen, welches doch die ergiebigsten Methoden für den Fang des zahlreichen Vogelwildes sein würden.

Auch seine Wohnungen versteht der dunkle Mann gut einzurichten: kleine, aber saubere Hütten, deren aus Bambu oder Stangen bestehendes Gerippe mit Binsen gedeckt und bekleidet ist, sind zu zwei, drei oder mehreren von einem Zaune umgeben und verleihen den Dörfern ein freundliches Ansehen, das durch überraschende Reinlichkeit noch bedeutend erhöht wird. Leicht zu beschaffen ist auch das wenige und geringe Hausgeräth. Zum Kochen oder besser Garmachen von Vegetabilien und Fleisch (hauptsächlich Fisch) bedarf man keiner irdenen Geräthe oder überhaupt Geschirrs, da diese Gerichte nicht in Wasser gekocht werden, sondern es genügen glühend gemachte Steine und frische Bananenblätter zum Einhüllen der Speisen. Servirt wird ebenfalls auf frischen Blättern oder in schnell aus solchen gefertigten kleinen Gefäßen, Körben oder Matten. Als Hauptgetränk dient der Saft der Cocosnuß, die sogenannte Cocosmilch, welche man sich zu jeder Zeit frisch von den Bäumen holt. Wasser, welches man in Cocosschalen verwahrt, wird dagegen im Ganzen wenig getrunken. Waschen in unserem Sinne ist unbekannt, aber die Bevölkerung liebt es, stundenlang im Wasser zu liegen und sich unter lautem Gejauchze und Gesang mit Schwimmen und Tauchen zu unterhalten.

Bei dem Reichthum des Landes an den verschiedensten Bodenproducten mußte sich auch der Handel entwickeln, der bis zur Abhaltung ständiger Wochenmärkte an den verschiedenen Küstenplätzen führte. Dieser Handel blieb nicht auf der niedrigsten Stufe des bloßen Tauschhandels stehen, sondern entwickelte sich zu höheren Formen; denn die Neu-Britannier besitzen eine Münze. Sie ist zwar himmelweit verschieden von unseren geprägten Geldstücken, aber im Verkehr doch ganz denselben entsprechend. Es ist dies eine kleine, etwa acht Millimeter lange, flache, kauriartige Meeresmuschel, deren abgeschlagener Rücken eine kleine Oeffnung bildet, durch welche man diese Muscheln zu Hunderten, Tausenden und Hunderttausenden auf biegsame Pflanzenstengel reiht und so kolossale Ringe von der Größe eines Wagenrades bildet, die, in sauber gespaltenes Bambus eingeflochten, den eigentlichen Reichthum der Capitalisten dieses Landes ausmachen. Dieses Muschelgeld heißt Diwarra oder Param, ein corrumpirtes Wort nach dem englischen Worte Fathom (Faden), da es nach Klaftern (Faden), Arm- oder Handlängen gemessen wird.

Wie bei uns nach Geld, so trachtet hier Jeder nach Diwarra; denn mit demselben kann sich der Neu-Britannier Alles verschaffen, was sein Herz wünscht. Mit Diwarra kauft er sich Nahrung, Land, Cocospalmen, Waffen, Netze, Canoes, Frauen, bezahlt Vergehen bis zur Blutschuld, erwirbt sich Freunde, Anhang und kann es bis zum Häuptling bringen; denn auch bei diesem auf der Naturstufe stehenden Volke herrscht kein Communismus, und es giebt Reiche, Wohlhabende, Bemittelte, ganz wie bei uns; nur Bettler, die lediglich von dem Mitleide ihrer Nebenmenschen leben, kennt man nicht. Häuptlinge und Reiche unterscheiden sich übrigens in ihrem Aeußern durch nichts; sie leben wie die übrige große Menge, auf die sie nur gewissen Einfluß haben, aber Jeder weiß, daß sie reich sind und gelegentlich von ihrem Reichthum abgeben, und dies genügt. Aber Niemand unter dieser anscheinend gesetz- und zügellosen Bande wird auf den Gedanken einer Theilung dieser nicht immer durch eigenen Fleiß, sondern meist durch Erbschaft überkommenen Reichthümer geraten, wie derselbe unverhohlen von einer gewissen Partei in Europa zur Parole erhoben wurde, sondern bei diesen „Wilden“ ist Privateigenthum, aufgehäufter Reichthum, selbst ohne feuer- und diebessichere Schränke, unantastbar.

Diebstähle kommen unter den Eingeborenen selten vor und werden streng bestraft; denn auch dieses Volk hat, ohne gedruckte oder geschriebene Gesetze, gewisse Satzungen für Recht und Ordnung, die ihm durch Gewohnheit und Gebrauch in Fleisch und Blut übergingen und bei Jedermann als selbstverständlich gelten. Je länger man mit diesen Leuten vertraut wird, um so mehr erstaunt man über die herrschende Ordnung, welche ohne alle Vermittlung von Staat und Kirche sich überall, namentlich bei großen Festen, kundgiebt.

Der Bewohner Neu-Britanniens kennt keine Feste oder Opfer irgend einer Gottheit, da er keine Spur von Religion oder irgend einem Cultus besitzt, und so bewegen sich die Lustbarkeiten, mit Ausnahme einiger wenigen, die einer noch unbekannten geheimen Gesellschaft der Männer angehören, fast ausnahmslos im Rahmen von Familienereignissen. Diese Richtung ist bei dem engen Verbande kleiner, meist durch Blutsverwandtschaft verbundener Gemeinden vollständig erklärlich: Leid und Freud des Einzelnen oder einer Familie berührt Andere und steigert sich je nach Rang und Ansehen bis zur Theilnahme des ganzen Dorfes und selbst der Nachbargemeinden.

Unter allen Festen werden Begräbnisse am feierlichsten begangen, und die Ehren, welche man Todten erweist, übersteigen bei Weitem die den Lebenden gezollten. Der flüchtige Besucher dieses Landes, welcher gelegentlich einmal bis in ein Dorf drang, forscht vergebens nach den Orten, wo die Todten ruhen; er findet weder Begräbnißplätze, noch Ueberreste von Knochen auf Bäumen, wie dies anderwärts der Fall ist. So kam es, daß daraufhin ein Reisender flugs die Vermuthung aussprach, die Verstorbenen möchten vielleicht von den Lebenden verzehrt werden, was ja ganz mit dem Charakter der „Wilden“ verträglich schien.

In Wahrheit verhält es sich aber ganz anders; denn die Eingeborenen, weit entfernt, ihre Todten aufzuzehren, bestatten sie vielmehr mit einem Pomp, der im Verhältniß nur selten in Europa zur Geltung kommt, ein Zug, der diesen Naturkindern zur größten Ehre gereicht.

[699] Wenn man bei Menschen, die von Kindesbeinen an gewohnt waren, nackend zu gehen, ja denen jede Kleidung unbequem und verhaßt ist, voraussetzt, daß sie die Unbilden ihres milden Klimas mit Leichtigkeit ertragen und ihr Körper gegen Witterungseinflüsse vollkommen gestählt und abgehärtet sein müsse, so irrt man in dieser Voraussetzung. Das lernte ich während meines Aufenthaltes daselbst kennen. Die Regenzeit, welche im December eintrat und bis Mitte März fast ununterbrochen anhielt, warf mit ihrer feuchten, kühlen Witterung, in der das Thermometer bis 19½° R. fiel, bald ganze Dorfschaften mit Krankheit darnieder, die einen epidemischen Charakter annahm. Es war Hals-und Brustkatarrh, das, was bei uns, glaube ich, mit „Grippe“ bezeichnet wird, also ein im Ganzen nicht gefährliches Uebel. Aber es forderte unter den Eingeborenen viele Opfer, und namentlich im Februar verging kaum ein Tag, wo nicht ein oder ein paar meist ältere Personen starben. Zwar machte man mehrmals den Versuch, den bösen Geist der Krankheit durch allgemeines Lärmen, Schlagen mit Knüppeln an Häuser, Zäune und Bäume, Abfeuern von Flinten etc. zu vertreiben, aber es half nichts, und die Bevölkerung ergab sich nun ruhig in ihr Schicksal, ohne irgend ein anderes Heilmittel zu kennen, als Blutlassen mittelst Einritzen durch Glassplitter. Diese Universalmethode der Eingeborenen, welche damit jede Krankheit behandeln, fand in dieser Zeit die umfassendste Anwendung. Kaum eine Person war zu sehen, die nicht Spuren dieser Curmethode, welche an den mit Kalk eingeschmierten Wundmalen leicht kenntlich ist, an sich trug. Wie überall verschonte der Tod selbst die Höchsten nicht, und der Eingeweihte erkannte einen solchen Fall leicht an der Heftigkeit des Klagegeschreies, welches sich dann erhob. Eines Abends ließ sich dasselbe stärker als sonst vernehmen: es mußte etwas ganz Besonderes passirt sein. Und so war es. Turumane, der älteste und höchste sogenannte König, der größte Grundeigenthümer auf der Insel Matupi und an der Küste, der mächtigste Geldprotz, hatte sein Leben beschlossen. Noch an demselben Abend eilte Alles herbei, um beim Todten zu klagen, und selbst große Männer schienen so von Schmerz überwältigt, daß sie für keine Frage Gehör hatten.

Am andern Tage entwickelte sich die eigentliche Begräbnißfeier, die mit zu den glänzendsten gehörte, welche ich in Neu-Britannien zu sehen bekam. Schon am Vormittage setzte sich die Bevölkerung nach dem Trauerhause in Bewegung, die Weiber in langen Gänsemarschreihen mit den unvermeidlichen Körben im Nacken, die an einem Bande über den Vorderkopf getragen werden. Viele Männer waren mit Glasperlenhalskragen und Federbüschen geschmückt; Häuptlinge nahten in feierlichem Aufzuge mit ihrem Anhange. Sie ließen einen Theil ihres Reichthums in mächtigen eingestrickten Muschelgeld-Ringen sich nachtragen, um denselben zur Verherrlichung des Tages zur Schau zu stellen. Trompeter, welche großen Tritonshörnern dumpfe, klagende Töne entlockten, eröffneten den Zug; Bewaffnete beschlossen denselben. Im Trauerhause herrschte bereits Leben; in langen Reihen saßen die Weiber für sich und aßen Betel, ohne welchen keine Zusammenkunft denkbar ist. Der Platz selbst war festlich geschmückt, wobei sich wiederum der natürliche decorative Geschmack dieser Eingeborenen vortheilhaft bekundete. Der Verstorbene selbst war im höchsten Schmucke zur Parade, und zwar in sitzender Stellung, ausgestellt, wie dies mein nach der Natur gezeichnetes Bild am besten zeigt, dem die zum besseren Verständnisse so nöthigen Farben im Holzschnitte allerdings fehlen (vergl. S. 697). Man wolle sich dieselben nach der folgenden Beschreibung dazu denken: Ein breiter weißer Streif bedeckt Brust und Unterleib des Todten, seine Stirn eine rothe mit Muschelgeld und an den Seiten mit gelben Haubenfedern vom Kakadu verzierte Binde. Was unter derselben noch frei bleibt, ist blau bemalt, unten von weißen Strichen begrenzt. Ein gleicher, aber rother Streifen ziert den Nasenrücken, während die Backen eine weiße rechtwinkelige Zeichnung tragen. Der Bart, welcher mit stutzerhafter Eitelkeit gepflegt wird, hat diese Sorgfalt auch beim Todten erfahren und ist weiß bepudert. Der Mund, dessen Lippen mit Betel roth gefärbt sind, hält eine lange Thonpfeife, wie sie dem Lebenden lieb und werth war, auf dem Kopfe aber prangt eine weiße Federkrone aus Schwanzfedern des Kakadu, die in einem hohen Aufbau aus bunten Papageien- und anderen Federn endet. Um die Arme trägt der todte Häuptling breite weiße, kostbare Ringe aus Riesenmuscheln, die ihm in’s Grab folgen müssen, da sie so fest in’s Fleisch eingewachsen sind, daß sie sich nicht mehr abstreifen lassen. Die Rechte hält die Lieblingsstreitaxt, die Linke einen Prachtspeer mit reichem buntem Federschmucke in geschmackvollem Muster. Auf dem Schooße des Todten aber liegt ein Spiegel; seine Beine endlich sind am Fesselgelenk roth bemalt, und an diesen selbst mit Bändern von Muschelgeld umflochten.

Der Todte sitzt unter einer Art Baldachin, welchem eingerammte Speere, mit Menschenknochen verziert, als Stützen dienen, an welchen Stücke buntgemusterten Baumwollenzeuges befestigt sind. Zu den beiden Seiten dieses Baldachins sind, zum Theil durch Prachtruder gestützt, die nur bei solchen Gelegenheiten in Gebrauch kommen, die gewaltigen Ringe Muschelgeld aufgestellt, von denen ich an dreißig zählte. Sie waren zum großen Theil Eigenthum des Verstorbenen oder sind von anderen Häuptlingen hergeliehen. An jeder Seite des entschlafenen Königs sitzt ein junges Mädchen, ein Büschel buntfarbiger Blätter in der Hand, mit welchem es die Fliegen verscheucht.

Man erkennt die niedlichen Geschöpfe kaum wieder; denn sie sind heut in der landesüblichen Trauerfarbe: in Schwarz – zwar nicht gekleidet, aber angestrichen; das Gesicht glänzt, gleich Stiefelwichse, und der übrige Körper zeigt einen matteren Ton; die Jungfrauen ähneln in diesem Schwarz mehr kleinen Teufeln als Menschen. Weiber kommen noch immer truppweis daher, lassen sich vor dem einst gewaltigen Todten nieder und stimmen ihr Klaggeheul an, wobei sie den Augen Thränen zu entlocken versuchen. Hat dies eine kurze Zeit gewährt, so machen sie Anderen Platz; sie setzen sich unter die übrigen Weiber und empfangen als nächste Belohnung Betelnüsse, Pfefferblätter und pulverisirten Kalk als Vorspiel der späteren großen Mahlzeit. Aber nicht diese ist es, auf welche die Menge jetzt sehnsuchtsvoll harrt und die sie erst durch Gesänge gleichsam erwerben muß, sondern etwas ganz Anderes hält die Aufmerksamkeit gespannt.

Nachdem nämlich Alles versammelt und sich gruppenweis, nach den Geschlechtern getrennt, niedergesetzt hat, fängt das eigentliche Todtenopfer an: Zwei große Ringe Muschelgeld werden herbeigeschleppt und ihrer Hülle entkleidet; dieses Geld wird nun an die Anwesenden nach Rang und Würde vertheilt. Häuptlinge und Große erhalten natürlich das meiste, ein bis zwei klafterlange Stränge, aber Keiner geht leer aus, und selbst der ärmste Knabe bekommt mindestens ein Stück so lang wie von der Fingerspitze bis zum Handgelenk. Mit dieser Geldvertheilung ist zunächst die Hauptfeier beendet, die Menge geht in derselben Ordnung, in welcher sie kam, wieder nach Hause, um sich am Nachmittage abermals im Trauerhause zum eigentlichen Begräbnisse zu versammeln.

Schon in der Nacht hat man Vorkehrungen getroffen und in der Eile eine neue mit grünen Palmblattmatten gedeckte Hütte errichtet, wie dieselbe der Hintergrund meines Bildes zeigt. Diese Hütte, welche die Ruhestätte überdacht, ist sinnig geschmückt. Die beiden runden Giebelspitzen sind mit buntbemalten Cocosnüssen und Blättern verziert, und von ihnen führen bis zur Mitte der Firste weiße flaumige Schnüre herab, die wie Schwanenhälse aussehen und in der That mit weißen Daunen von Hühnern umsponnen sind. An diesen Schnüren hängen die beiden unglücklichen Opfer eines so hohen Festes, zwei lebende Hühner, die – ich muß es zur Schande der Eingeborenen leider gestehen – hier hängen bleiben, bis sie elendiglich verschmachten. Es ist dies übrigens die einzige Thierquälerei, welche mir bei diesem Volke begegnet ist. An der Hütte selbst sind schlanke Bambus mit den zarten Blattwedeln befestigt, an diese wiederum zum Theil künstlich gezackte und verzierte Blätter.

Der Todte wird nun in dauerhafte Matten aus dem zähen Baste oder aus der Borke der Betelpalme gewickelt, und alle seine Verwandten und Freunde geben ihm etwas mit auf den Weg. Da fliegen längere und kürzere Stücke aufgereihtes Muschelgeld, Tabak, Betelnüsse, Kupferhütchen, Streichhölzer, Pulver, Glasperlen, selbst Messer und Beile mit unter die Leichenhülle, während dieselbe noch eingeschnürt wird, und ich habe selbst bei geringerem Range des Verstorbenen den Werth der mit in’s Grab versenkten Waaren auf sechszig bis achtzig Mark veranschlagt. Irgend eine andere Bedeutung als den einer letzten Liebesgabe an den Verstorbenen haben diese Geschenke nicht; denn der Glaube an irgend eine Fortdauer nach dem Tode, welche die Mitgabe nützlicher Gegenstände als nothwendig erscheinen lassen könnte, ist den Neu-Britanniern nicht eigen.

Inzwischen haben vorzugsweise die Weiber in der Todtenhütte ein schmales, kaum zwei Fuß tiefes Grab ausgekratzt und [700] mit Matten aus grünen Cocosblättern hübsch ausgekleidet. Man legt den Todten hinein, und die Menge stimmt die letzte leidvolle Todtenklage an, womit zwar der Schmerz, aber keineswegs die Festlichkeit ihr Ende findet. Die letztere, welche von nun an zunächst einen Charakter der Freude trägt, ist so mannigfach und nimmt so lange Zeit in Anspruch, daß es hier zu weit führen würde, sie zu beschreiben. Ich will daher nur kurz anführen, daß zu Ehren des hohen Verstorbenen bald von Männern, bald von Weibern feierliche Tänze abgehalten werden, die sich wochenlang an mehreren Abenden wiederholen, daß man ferner Tage hindurch früh und Abends förmliche Trommelconcerte hört und daß man schließlich zum Andenken an den Todten eine Art Monument errichtet. Dasselbe besteht aus einem hohen buntbemalten, mit farbigen Blattpflanzen decorirten Gestell oder Stacket, an dem in symmetrischer Vertheilung Cocosnüsse, Yams, Bananen, imitirte Ringe, Muschelgeld und die Schädel der verzehrten Schweine aufgehangen werden. Sie legen Zeugniß ab von den Gastereien, welche die nächsten Erben zum Besten gaben.

Aber auch damit sind die Todtenfeierlichkeiten noch nicht zu Ende; denn noch nach vielen Monaten werden dieselben mit Tänzen und Schmausereien wiederholt, und dann stellt man zugleich den inzwischen ausgegrabenen und buntbemalten Schädel des Todten aus, der übrigens in keiner Weise Gegenstand einer religiösen Verehrung ist.

Frauen werden mit demselben Pompe wie Männer begraben, was allein schon zur Genüge für die Gleichstellung spricht, welche das weibliche Geschlecht gegenüber dem männlichen genießt, und diesem Naturvolke wiederum zur Ehre gereicht. Mit ärmeren Leuten, um dies noch zu erwähnen, wird es in Neu-Britannien, obwohl keine Classen-Begräbnisse bestehen, ganz wie bei uns gehalten: sie finden ohne große Ceremonien und Feierlichkeiten ihre letzte Ruhestätte, wenn auch hier jeder an der Leiche Mittrauernde seinen geringen Tribut in einem Stückchen Muschelgeld erhält, den einzufordern selbst Häuptlinge sich nicht für zu gering erachten.

     Matupi, Neu-Britannien.




Ein Doppelfest in Wilhelmshaven.

Der 16. September dieses Jahres war ein denkwürdiger Tag für unsern nordischen Kriegsport Wilhelmshaven. Schon vom frühesten Morgen an durchwogte eine dichtgedrängte Menschenmenge die laubgeschmückten, reichbeflaggten Straßen der Stadt, und Aller Gesichter, ob Hoch oder Niedrig, Jung oder Alt zugehörig, zeigten denselben Ausdruck freudiger Erwartung. Galt es doch, das Andenken eines um die gesammte Seestreitmacht und den hiesigen Kriegshafen hochverdienten Mannes zu ehren: das Denkmal, das die dankbare Marine ihrem ersten Oberbefehlshaber, sozusagen Begründer, dem Prinzen Adalbert von Preußen gesetzt, sollte feierlich enthüllt werden.

Schon am Tage zuvor war Prinz Heinrich, welcher bekanntlich der Marine als Lieutenant zur See angehört und den sein erlauchter kaiserlicher Großvater mit dem Ehrenamte seiner Vertretung bei der Enthüllungsfeier des Denkmals betraut, in Wilhelmshaven eingetroffen und hatte – warm von der Bevölkerung begrüßt – sein Absteigequartier im Stationsgebäude, der Wohnung des derzeitigen Chefs der Nordseestation, Contre-Admirals Berger, genommen.

Gegen elf Uhr Morgens begann der Aufmarsch der Truppen, Matrosen und Soldaten des Seebataillons, die in zwei langen Reihen rechts und links vom Denkmale, das am Südende der breiten Adalbert-Straße, mit der Front gegen den Friedrich-Wilhelm-Platz, errichtet ist, Aufstellung nahmen. Dem Denkmale gegenüber versammelte sich das Officierscorps, eine stattliche Schaar, deren Anzahl noch durch die Officiere und Cadetten des Tags zuvor auf hiesiger Rhede eingetroffenen Geschwaders vermehrt wurde. Seitwärts davon war der Kriegerverein postirt, während im Rücken der Statue die übrigen Vereine, sowie die Schüler des Gymnasiums und der Volksschulen sich ausbreiteten. Für bevorzugte Privatpersonen, darunter die zahlreich erschienenen Vertreter der Presse, fanden sich Plätze in dem formirten Vierecke reservirt. Unmittelbar hinter den Mannschaften aber erhoben sich die Tribünen für die Damen der Garnison, die in ihrem bunten Schönheitskranze einen ebenso anmuthigen, wie wirkungsvollen Abschluß des bewegten Gemäldes bildeten. Und um diese weite lebende Mauer drängte und wogte eine gewaltige Menschenfluth, die mit jedem neu ankommenden Extrazuge und Vergnügungsdampfer sich mehr anstaute, während eine helle, strahlende Sonne ihren leuchtenden Schein über die ganze festliche Scene warf.

Punkt zwölf Uhr kam Prinz Heinrich mit seinem Gefolge die Adalbert-Straße herab und betrat den kleinen blumengeschmückten Pavillon, dem verhüllten Denkmal gegenüber. Nach ihm thaten dies noch der Chef der Admiralität von Stosch, der Oberpräsident der Provinz Hannover, von Leipziger, der militärische Begleiter, Freiherr von Seckendorff und der als Vertreter seines Souverains erschienene oldenburgische Präsident, Erdmann. Sodann schritt der Präses des Comités, Vice-Admiral Batsch, in den freien Raum zwischen Pavillon und Denkmal und verlas in längerer Rede ein Lebensbild des verewigten Prinzen. Es möge uns vergönnt sein, nur wenige Daten daraus hervorzuheben.

Wie tief die Liebe zur See und zum gesammten Seewesen im Prinzen gewurzelt, das zeigt schon seine im Jahre 1842 unternommene und über Jahr und Tag dauernde Reise nach Brasilien mit der sardinischen Fregatte „San Michele“. Eine von dem Prinzen selber verfaßte und ihrer Zeit, wenn auch nur leider in wenigen Exemplaren im Druck erschienene Beschreibung dieser Reise offenbart ihres Autors reges Interesse und intimes Verständniß für alle seemännischen Angelegenheiten. Von seinem königlichen Vetter, Friedrich Wilhelm dem Vierten, im Jahre 1848 an die Spitze der soeben gegründeten Marine gestellt, war er dem neuen Beruf fortan mit Leib und Seele ergeben. Seinen unablässigen Bemühungen gelang es, den schwachen Lebensodem der jungen Seestreitmacht zu immer kräftigerem Athemzuge anzufachen und sie im tapferen, nie ermüdenden Kampfe gegen die widerstrebendsten Verhältnisse zu stets größerer Machtentfaltung emporzuheben. Von ihm ging zuerst der Gedanke der Gründung einer Nordseestation aus, und seinem rastlosen Wirken nach diesem Ziele hin verdankt „Wilhelmshaven“ seine Entstehung. Auch die Colonisationsfrage schwebte seinem weit blickenden Geiste als eine ihrer Lösung entgegenharrende und in ihrer Wichtigkeit nicht zu unterschätzende vor. So war der ihm anvertrauten Waffe bis zuletzt das höchste Interesse des Prinzen Adalbert gemidmet, und mit seinem Hinscheiden verlor die Marine einen alle Zeit getreuen Führer und Förderer.

Nachdem Admiral Batsch geendet, nahm der Chef der Admiralität, Minister von Stosch, seine Stelle ein. In kurzer, freier Ansprache beleuchtete er den Grundgedanken der dankbaren Anerkennung, aus dem das Denkmal hervorgegangen, und nachdem er dasselbe feierlich der Stadt Wilhelmshaven in ihrem Vertreter, dem Bürgermeister, übergeben, bat er Prinz Heinrich, im Namen Seiner Majestät des Kaisers das Zeichen zur Enthüllung geben zu wollen.

Auf einen Wink des Prinzen sank unter brausendem Musiktusch und begeisterten Hochrufen der Versammelten die Hülle und zeigte die weit über lebensgroße, auf dunklem Marmorpostament sich emporhebende Bronzefigur des Prinz-Admirals. In der bekannten bequemen und doch festen Haltung steht sie aufrecht da, in die frühere Parade-Uniform der See-Officiere, Frack und Epaulettes etc. gekleidet, mit unbedecktem Haupte, die linke Hand auf den Säbelgriff gestützt, in der rechten ein Fernrohr tragend. In geradezu frappirender Aehnlichkeit tritt die Gestalt des Prinzen Adalbert in ihrer ganzen Eigenart und in treuer Lebenswahrheit dem Beschauer entgegen. Der Sockel zeigt auf der einen breiten Front das prinzliche Wappen; rechts und links an den Seitenwänden, von erhabenen Kränzen umgeben, den Geburts- und den Sterbetag des Dahingeschiedenen (den 29. October 1811 und den 6. Juni 1873) und auf der zweiten Hauptfront die Widmung: „Ihrem verewigten Oberbefehlshaber, dem Prinzen Heinrich Wilhelm Adalbert von Preußen, in dankbarer Erinnerung die kaiserliche Marine.“

Nachdem Prinz Heinrich unter den Klängen des Preußenmarsches und gefolgt vom gesammten Officiercorps das Denkmal [701] umschritten, ließ er den Schöpfer des Monuments, Bildhauer Schuler[WS 1], ersuchen, zu ihm zu kommen, und sprach ihm Dank und warme Anerkennung seines künstlerischen Werkes aus. Sodann begab der Prinz sich nach dem nahen Werfteingangsgebäude.

Kaum hatte er sich entfernt, als die Volksmenge rasch zu zerstäuben begann. In dichten Schaaren strömte Alles hinüber nach der Werft, wo im unmittelbaren Anschlusse an die Enthüllungsfeier die festliche Taufe und der Stapellauf eines neuerbauten Aviso stattfinden sollte. Hohe Flaggenstangen mit Laubgewinden und wehenden Standarten bildeten einen Triumphpfad um den Festplatz, in dessen Mitte, auf der Helling Nr. 1, der mächtige neue Aviso noch unbeweglich auf seinem Holzunterbau, dem schräg abwärts zum Wasser leitenden sogenannten „Schlitten“, ruhte.

Flaggen und Wimpel schmückten den gigantischen Täufling: sinnige Sprüche zierten seine Stützen, und auf dem noch mastenlosen Deck standen die Arbeiter und einige Beamte versammelt, bereit, mit ihm zugleich „abzulaufen“. Dicht vor seinem Bug aber erhob sich am Lande die ziemlich hohe, reich decorirte Tauftribüne, auf deren Brüstung, mittelst langer schwarz-weiß-rother Seidenbänder am obersten Schiffsrande befestigt, eine wohlgefüllte Flasche sich präsentirte. Das köstliche Naß, das solche Schiffstauf- Flaschen enthalten, wurde früher immer nur den sonnigen Thälern der Champagne entnommen, stammt aber jetzt bei derartigen festlichen Handlungen jederzeit von den Ufern des heimischen Vater Rhein, und wir haben uns also den edelsten Rauenthaler oder Johannisberger als Inhalt jener bändergeschmückten Flasche zu denken.

Die Taufe des Aviso „Pfeil“ auf der kaiserlichen Werft in Wilhelmshaven.
Nach einer Photographie im Verlage von C. J. Frankforth in Wilhelmshaven

Zur rechten Seite des Schiffes, die Helling entlang, zog sich die lange Tribüne für die Zuschauer hin; in ihrer Mitte befand sich ein freigelassener Raum für den Prinzen und die Admirale. Links vom Aviso und um die Tauftribüne geschaart, standen die Officiere und Beamten, weiterhin die Musik, und in unabsehbarer Menge dehnten sich die Mannschaften und Zuschauer zu beiden Seiten der großen Binnenbassins aus. Einen imposanten Anblick gewährten aber die naheliegenden Docks, die, mit Wasser gefüllt, zu Ehren des Tages die beiden noch zu Zeiten des Prinzen Adalbert vom Stapel gelaufenen Panzerkolosse „Kaiser“ und „Deutschland“ trugen.

Kaum hatte Alles seine Plätze eingenommen und sich rangirt, als auch schon Prinz Heinrich mit seiner Suite, vom Werftgebäude kommend, erschien.

Weiland pflegte der Taufact eines Schiffes nur von Damen vollzogen zu werden, und erst unserer ehernen neuesten Zeit blieb es vorbehalten, dieses Vorrecht aus „schönen“ Händen zu nehmen und in „kräftigere“ zu legen. Seit dem Jahre 1871 hat kein zierlicher Frauenfuß mehr die Tribüne am Bug betreten, und wenn die zurückgesetzten Schönen bisher grollend behaupteten, daß mit der entschwundenen Poesie ihrer Erscheinung die Poesie des Taufacts überhaupt verloren gegangen – heute sollten sie eines Besseren belehrt werden.

Die schlanke, jugendliche Gestalt des Prinzen, die einen eigenthümlichen hübschen Gegensatz zu den sie umringenden, breitschulterigen, kräftigen Seemannsfiguren bildete, umgab unleugbar ein voller Hauch jener vielbeklagten, verlorengegebenen Poesie. Wehende Tücher in kleinen Händen und Zurufe von zarten Lippen zeigten auch deutlich die von diesem Eindruck voll ergriffene und – versöhnte Stimmung auf der Damentribüne. Doch nicht allein von dorther blickte man wohlgefällig dem Nahenden entgegen, auch die Augen der umstehenden See-Officiere blitzten heller auf, wenn sie ihrem jungen, fürstlichen Cameraden und dereinstigen Führer folgten, wie er nunmehr rasch ihre Reihen durchschritt und dann elastisch die Stufen zur kleinen Tribüne emporstieg.

Jetzt stand er oben, der Oberwerftdirector, Capitain zur See Stenzel neben ihm, das glänzende Gefolge dicht dahinter. Mit lauter, wohlklingender und Allen deutlich vernehmbarer Stimme sprach er kurze, kernige Worte. Er wünschte dem aus deutschem Stahl und Eisen und deutschem Fleiß hervorgegangenen Schiffe eine lange, glückliche, zu Ehre des Vaterlandes gesegnete Fahrt. Erfolgreich und ruhmvoll solle sie sein, wohin sie auch immer sich wenden; den Feind treffe sie mitten in’s Herz, den Freund beschütze sie nah und fern.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schults. Gemeint ist Carl Schuler, siehe Berichtigung (Die Gartenlaube 1882/47).

[702] Dann, die vor ihm stehende Flasche ergreifend und sich unmittelbar zum Schiffe wendend, schloß der Prinz mit der üblichen Formel: „Auf Befehl und im Namen Seiner Majestät des Kaisers taufe ich dich hiermit ‚Pfeil‘,“ und nun, von seiner sicheren Hand glücklich geschleudert, zerschellte die Flasche am Bug und ergoß ihren schäumenden Inhalt über dessen vordere Planken.

Damit war der officielle Act der „Taufe“ beendet, und der des Stapellaufs bereitete sich vor.

Der Prinz verließ mit seiner Umgebung den erhöhten Standpunkt und begab sich zu den reservirten Plätzen inmitten der großen Tribüne. Seine verlassene Stelle nahm nunmehr der Schiffbaudirector ein. Für ihn und seine Untergebenen sind diese Minuten vor dem ersten Schritt in’s Leben, den das Riesenerzeugniß ihres Fleißes und ihrer Intelligenz zu thun im Begriff steht, eine Zeit unruhigen Herzklopfens.

Wohl ist Alles gethan und sorgfältig vorbereitet, jenen Schritt zu ebnen und zu sichern; der Schlitten ist ausgiebigst geglättet; die Stützen wurden bis auf die zur Aufrechthaltung dringend nöthigen bereits entfernt, aber doch – ein unseliger Zufall kann den Lauf plötzlich hemmen, eine nicht vorzusehende Nichtigkeit die Eleganz und „Schneidigkeit“ des großen Schlußmoments beeinträchtigen, von möglichem größeren Unheil ganz zu schweigen. Der Ausdruck der Spannung im Gesicht des droben Stehenden ist daher wohl erklärlich, nicht minder der prüfende Blick, mit dem er noch einmal das Ganze überfliegt, namentlich die Arbeiter, die auf jeder Seite des Schiffes mit ihren Werkzeugen, seines Winkes gewärtig, dastehen. Jetzt hebt er den Hut. „Klar zum Ablauf!“ tönt sein kräftiges Commandowort durch die Todtenstille, und fast gleichzeitig erschallen auch schon die dumpfen, aufregenden Axtschläge gegen die wenigen Holzstützen, die den „Pfeil“ noch auf seinem Stapel halten. Ein Moment allgemeiner, fast athemraubender Erwartung! Und nun beginnt der Koloß sich leise zu regen, kaum merklich zu schwanken, und dann – dann schießt er, zuerst langsam und sicher, darauf aber immer rascher und zuletzt, seinem Namen Ehre machend, schnell und sicher in seinen Gleitplatten dahin, deren eine die Inschrift trägt:

„Nicht Fleiß, nicht Kunst, nicht Arbeit nützt,
Wenn Gott der Herr das Schiff nicht schützt.“

Unter schmetterndem Tusch der Musik, jauchzendem Jubelruf, lebhaftem Tücherwehen und den Segenswünschen der umstehenden Menge gleitet er hinab in sein heimisches Element.

Damit schloß für die große Menge der schöne, dem Andenken eines um die Flotte und um Wilhelmshaven hochverdienten Mannes geweihte Tag. Ein Diner im Officierscasino, zu dem – des mangelnden Raumes wegen – nur unzureichende Einladungen hatten ergehen können, vereinigte danach noch den Prinzen und das Officierscorps für einige gemüthliche, cameradschaftliche Stunden. Das Hoch aber, das Marineminister von Stosch bei dieser Gelegenheit auf den Hohenzollern-Stamm und seine beiden Sprossen – die ehrenvolle Vergangenheit im Prinzen Adalbert, die hoffnungsvolle Zukunft im Prinzen Heinrich verkörpert – ausbrachte, findet sicher lauten Nachhall in allen Seemannsherzen.

J. v. A.




Musik der Berge und Thäler, Wälder und Wüsten.

I.
Der Streit um das singende Thal von Thronecken. – Akustische Täuschungen. – Elektrische Musik bei Gewitterstürmen. – Die Alpenfee. – Singende Wälder im Schilluklande. – Eine neue Beobachtung im Thal von Thronecken. – Posaunenengel in den Wolken. – Das Geläut an der Koralpe auf der steirischen Grenze. – Die Musik der Wasserfälle und der Meeresbrandung.

Das „singende Thal von Thronecken“, über welches wir in Nummer 2 der „Gartenlaube“ von 1881 berichteten, verspricht eine Berühmtheit unseres Vaterlandes zu werden, sofern sich an dasselbe hoffentlich die Erklärung einer Naturerscheinung knüpfen wird, welche in den verschiedensten Theilen der Welt das Erstaunen der Bewohner wie der Reisenden erregt hat. Zwar sind die Beobachtungen des Herrn Reuleaux in Remagen, der bekanntlich zuerst weitere Kreise auf die Musik dieses Thales aufmerksam machte, aus nicht völlig klaren Gründen in forstlichen Blättern lebhaft angezweifelt und angegriffen worden, aber, wie wir bald sehen werden, mit dem größten Unrecht. Man hat gemeint, die Erscheinung der stundenlang über das Thal hinwegziehenden Glockentöne sei durch vom Winde hergewehte Hornsignale der Treibjagd oder durch über den Kopf des Beobachters (unsichtbar?) hinwegziehende Vögelschaaren oder durch das Rauschen der Baumwipfel hervorgebracht worden, und in älteren Nachrichten über das singende Thal soll es sich gar blos um einige Scherze des verstorbenen Oberförster Helbron gehandelt haben.

Was nun zunächst den letzteren Einwurf betrifft, so müßte dieser alte Herr den gänzlich sinn- und gedankenlosen Scherz sehr oft wiederholt haben; denn, abgesehen von den schon im vorigen Artikel erwähnten Gewährsmännern, haben ihn noch viele andere Personen bei den verschiedensten Gelegenheiten über sein „singendes Thal“ sprechen hören, wie sich dies aus zahlreichen, Herrn Reuleaux inzwischen zugegangenen Privatberichten ergab. Die Rentnerin Weckbecker in Honnef, deren verstorbener Gatte oft in der Nähe von Thronecken zur Jagd war, berichtet, daß bei den Unterhaltungen desselben mit den ihn besuchenden Förstern „hundertmal“ die Rede auf das Singen und Tönen eines Thales bei Thronecken gekommen sei, wobei dann darüber gescherzt wurde, daß die abergläubischen Leute der Gegend diese Töne für Geisterstimmen hielten und mit dem alten Schlosse Thronecken in Beziehung brächten.

Die obenerwähnten Deutungsversuche sind übrigens außerordentlich bezeichnend für die Schwierigkeit, ungewöhnliche akustische Naturerscheinungen aufzuklären, eine Schwierigkeit, welche hauptsächlich aus der Unsicherheit unseres Ohres den Schallrichtungen gegenüber entsteht. Nehmen wir mit dem Auge irgend eine ungewöhnliche Erscheinung wahr, so können wir darauf losgehen und sie näher betrachten, oder wenigstens aus der Lage, in der sie z. B. in hoher Luft erschien, Schlüsse über ihre Entstehungsweise ableiten, aber einer neuen Klangwirkung gegenüber befinden wir uns in der übelsten Lage; jeder Bauchredner kann uns mit Erfolg weismachen, nicht er, sondern eine hölzerne Figur spreche; den Ort eines Glockenthurmes suchen wir nach dem Geläut oft in geradezu entgegengesetzter Richtung, zumal wenn ein Widerhall im Spiele ist; wir drehen uns nach allen Richtungen herum, wenn wir auf weiter Haide einen Ruf vernehmen, ohne Jemand zu sehen; kurz, wir werden Klängen unbekannten Ursprungs gegenüber leicht zum Spiel der Phantasie.

Die Gegner des singenden Thales hätten darum noch sehr viele andere Möglichkeiten zur Begründung ihrer gegnerischen Behauptungen auffinden können, und ich wundere mich besonders, daß sie nicht auch das dumpfe und anhaltende Pfeifen erwähnt haben, welches Jäger nicht selten vernehmen, wenn der Wind auf der Mündung ihres schräg über die Schulter hängenden Gewehres bläst. Gebirgs- und Wüstenreisende hören öfter ein eigenthümliches Säuseln in ihrer unmittelbarsten Nähe, welches von ausströmender Elektricität herrührt, die, namentlich bei Schnee- oder Sandstürmen, mit lautem Geräusche aus allen nach oben gerichteten Theilen ihres Körpers oder ihrer Ausrüstung und Bekleidung hervorströmt. In der Dunkelheit erblickt man dann die sogenannten Elmsfeuer, welche sich, wie ein altgriechischer Schriftsteller sagt, „singenden Vögeln gleich“ auf allen emporragenden Spitzen zeigen. Es gehört nur eine besondere, etwas gehobene Stimmung dazu, um selbst solchen in unserer unmittelbarsten Nähe entstehenden Tönen einen geheimnißvollen Charakter beizulegen. Eine von mir gemachte Erfahrung mag als Beispiel dienen.

Vor einigen Jahren wanderte ich eines schönen, oder vielmehr recht unschönen Tages in Gesellschaft eines guten Freundes den bekannten Touristensteig von Meiringen über Rosenlaui und die große Scheidegg nach Grindelwald. Es regnete beinahe ohne Aufhören; der Boden war jämmerlich durchweicht, und von all den Herrlichkeiten des Berner Oberlandes, die Einem sonst auf diesem Wege entgegentreten, war nicht die Spur zu erblicken: Wellhorn, Wetterhorn, Engelhörner etc., sie alle lagen in dichtem Nebelkleide verborgen. [703] Wir waren über die große Scheidegg hinaus und hatten noch nichts gesehen. So unmittelbar neben den herrlichsten Panoramen vorüberzugehen, ohne sie zu erblicken, ist eine Schickung, die man nicht so leicht stumm erträgt: wir verwünschten laut unser Mißgeschick und beschworen alle Wetterheiligen, endlich mit ihrer Ungunst einzuhalten. Plötzlich, ohne alle Vorbereitung, zerriß der Nebelschleier von oben bis unten, schob sich wie eine Theatergardine nach beiden Seiten aus einander und ließ das Wetterhorn vom Fuße bis zum Gipfel frei und unmittelbar vor uns in seiner ganzen Majestät aufsteigen. Das war nun eine Wundererscheinung, die uns für alles Erduldete reichlich entschädigte; denn da unser Auge nicht durch stundenlanges Vorhererblicken und langsame Annäherung allmählich an die Großartigkeit der Erscheinung gewöhnt worden war, stürmte der Anblick über alle Maßen überraschend, ja überwältigend auf uns ein, und diese ergreifende Gewalt wurde noch dadurch vermehrt, daß er nicht länger währte, als die sogenannten Apotheosen der Feerieen: nach wenigen Secunden zog sich der Vorhang schnell und ebenso undurchdringlich wie vorher von beiden Seiten wieder zusammen. Nun, ich erfreue mich nicht einer übermäßig arbeitenden Phantasie, aber als sich dieses unvergleichliche Schauspiel wie auf unsern Dacaporuf nochmals für ebenso kurze Zeit wiederholte, da hatte ich doch den inneren Eindruck, als hätten ein paar Luftgenien im Dienste der Alpenfee unsere nicht unberechtigten Stoßseufzer und Wünsche erhört, und es war mir ordentlich, als sähe ich sie blitzschnell an den Rändern der Gardine herabgleiten und sie aus einander schieben.

Meinem Begleiter schien es ebenso zu gehen, denn wenige Minuten darauf kehrte er zu mir zurück – er war ein Stück voraus gegangen – und fragte mich in offenbarer Erregung:

„Hast Du das eigenthümliche Singen in der Luft gehört?“

„Ich habe nicht das Mindeste gehört.“

„Da, jetzt kommt es wieder – horch!“

Und wirklich, es kam wieder, ein eigenthümlich gehauchtes Klingen, wie dicht über uns in der Luft. Wir blickten um uns, aber rings, soweit der Nebelschleier uns zu sehen gestattete, war außer unserem Führer keine lebende Seele zu erblicken. Alphornbläser konnten es auch nicht sein; denn der eigenthümlich singende Ton hielt immer dieselbe Höhe, schwand einen Augenblick dahin, kam dann wieder – kurz, es war die reinste Zauberei, und wie wir endlich entdeckten, wirklich von denselben Luftgeistern ausgeführt, die vorhin den Nebelvorhang zurückgeschoben hatten; sie benutzten die Gelegenheit, auf der Feldflasche, die mein Begleiter am Riemen über der Schulter trug, und von welcher der Pfropfen abgefallen war, derweile ein Stücklein zu blasen.

Eine ganz ähnliche Ursache erzeugt die Musik der verzauberten Wälder im Schilluklande, welche uns Schweinfurth geschildert hat. In diesen Wäldern wächst die Flötenakazie (Acacia fistulosa), deren elfenbeinweiße Dornen durch die Thätigkeit von Insecten, die sich in ihrem Innern entwickeln, an der Basis zu runden weißen Blasen von Wallnußgröße ausgedehnt werden, worauf die Insecten bei dem Ausschlüpfen kreisrunde Löcher in den harten Blasenwandungen zurücklassen. Auf diesen Löchern bläst der Wind seine Flötenstücke, während die hohlen Kugeln als Resonanzböden dienen.

„In den Wintermonaten,“ erzählt Schweinfurth, „gewährt der entlaubte Wald der Flötenakazie, das kreideweiße gespenstige Astwerk, welches, mit den aufgeblasenen Stacheln bekleidet, wie von Schneeflocken bedeckt erscheint, einen sonderbaren Anblick; das Flöten und Pfeifen von tausend Stimmen erhöht das eigenthümliche Aussehen eines solchen Waldes von Schoffar.“

Schweinfurth hat diesen Schoffar oder Pfeifenbaum im Parke von Esbekieh bei Kairo angepflanzt, und auch dort haben sich die betreffenden Insecten, welche ihn mit Schalllöchern versehen, eingefunden, sodaß man den Zauberwald jetzt bequem auf der großen Touristenstraße nach dem Orient besuchen kann.

Aber, um nach dieser Abschweifung wieder auf unser Thema zu kommen: solche singende Bäume der Scheherazade giebt es bekanntlich bei Thronecken nicht, und die übrigen Erklärungsversuche, welche eine Täuschung des Beobachters durch zufälliges Zusammentreffen voraussetzen, werden dadurch hinfällig, daß die Erscheinung immer von Neuem an derselben Oertlichkeit wiederkehrt, sodaß jedenfalls in örtlichen Bedingungen der Schlüssel des Geheimnisses gesucht werden muß. Daß auch die Hornsignale der Treibjagd nichts damit zu thun haben, bewies zur rechten Zeit für den darüber entbrannten Streit eine Beobachtung, die bald darauf von einem Unparteiischen gemacht wurde. Der seit kurzer Zeit zu Thronecken angestellte Oberförster-Candidat Gericke vernahm nämlich (schon einige Wochen vor dem Erscheinen des „Gartenlauben“-Artikels) die Glockentöne von Neuem, und was besonders interessant ist, unter genau denselben atmosphärischen Verhältnissen und an derselben Stelle, nur mit dem Unterschiede, daß zur Zeit keine Treibjagd in der Nähe stattfand.

„Am 8. December 1880, einem herrlichen Morgen, war ich,“ so berichtete dieser Beobachter in einem Briefe an Herrn Reuleaux, auf dessen Broschüre er erst nachträglich aufmerksam gemacht wurde, als er das Erlebniß seinem Chef berichtete, „früh in den Wald gegangen, um im Thale zwischen Fuchsstein und Erbeskopf forsttaxatorische Arbeiten vorzunehmen. … Es hatte stark gereift, und der Boden war gefroren. … Bei dem völlig klaren Himmel wirkte die Sonne dermaßen, daß ihr im Laufe des Vormittags Reif und Frost selbst in geschlossenen Beständen weichen mußten. … Es mochte zwischen 1 und 2 Uhr sein, als ich mich im Ehlesbruch befand und wiederholt leises, eigenthümliches Säuseln über mir zu hören meinte, dem ich jedoch keine Beachtung schenkte. Punkt 2¾ Uhr kam ich an die Deuselbacher Försterwiese, wo ich stutzte; denn über mir zogen laute Schallwellen weg, bald näher, bald ferner erklingend, sodaß ich nach der Uhr sah und überlegte, wo wohl Glocken geläutet würden, die hier so eigenthümlich nachklängen. Es waren dieselben Töne, welche ich eine Stunde vorher bedeutend leiser gehört hatte. … Zwanzig Minuten lang hörte ich diese lauten Töne, deren Höhe ich nicht bestimmen kann, weil ich kein musikalisches Gehör habe. Meine Arbeit beschäftigte mich noch bis gegen Abend in jenen Districten, ohne daß ich noch weiter etwas vernahm; übrigens hatte sich der Wind Nachmittags fast gänzlich gelegt. …“

Besonders hervorzuheben ist, daß diese Beobachtung unter fast denselben meteorologischen Bedingungen stattfand, wie die ersten. Herr Reuleaux leitet, wie sich der geneigte Leser erinnern wird, das Tönen von einem Südwestwinde her, der, durch die enge Schlucht des Röderbaches gepreßt, sich in das weitere ansteigende Thal ergießt, und derselbe Wind mit demselben auffallenden Temperaturunterschiede zwischen Thal und Höhe war auch das zweite Mal vorhanden. Wohl nicht mit Unrecht legt Herr Reuleaux gerade auf den letzteren Umstand ein besonderes Gewicht; denn wenn der Südwestwind allein genügte, das Tönen hervorzurufen, würde dasselbe wohl öfter vernommen werden. Möglicher Weise ruft die höhere Wärme im Thale eine vom Berge herabkommende Gegenströmung hervor, welche den Südwest in das Schallrohr der Schlucht einpreßt und erst im Kampfe mit demselben die Töne erzeugt.

Bereits in dem obenerwähnten Aufsatze hatte ich darauf aufmerksam gemacht, daß mehrere andere Oertlichkeiten, in denen gelegentlich glockenartige Töne vernommen werden, sich durch eine dem singenden Thal von Thronecken ähnliche Terrainbildung auszeichnen. Daraufhin sind mir mehrere Zuschriften zugegangen, von denen ich zwei der lehrreichsten hier auszugsweise mittheilen will. Ein Herr L. aus Herdorf im Siegerlande hörte vor nun zwanzig Jahren an einem Sommermorgen gegen 4 Uhr unweit der Mündung einer Thalschlucht seiner Heimath, die leider nicht näher bezeichnet wird, eine halbe Stunde lang solche „herrliche harmonische Töne, ähnlich einem fernen Glockengeläute, aber viel harmonischer, durch die Lüfte ziehen“, und setzt folgende charakteristische Bemerkung hinzu: „Ein alter Mann, welcher nicht weit von mir stand und mit gefalteten Händen in die Luft sah, antwortete auf meine Frage, was das sei: ‚Jetzt fährt der Simon durch’s Thal; dann ziehen Engel mit Posaunen auf Wolken durch die Luft – das höre ich hier jetzt zum zweiten Mal, und fast auf derselben Stelle.‘“

Wolken waren übrigens nicht vorhanden, aber der Correspondent erfuhr, daß später ein Förster in demselben Thale die Musik von Neuem vernommen habe.

Viel genauer ist eine zweite Mittheilung, die ich Herrn Landesschulrath Dr. F. Ilwof[WS 1] in Graz verdanke.

„Auch in den steirisch-kärntnerischen Alpen,“ schreibt mir derselbe, „giebt es ein solches tönendes Thal, und zwar in nächster Nähe des Speikkogels der Koralpe, des höchsten Berges in dem Scheiderücken zwischen Kärnten und Steiermark. Unmittelbar unter diesem Gipfel breitet sich ein enger Felsenkessel aus, welcher gegen Süden, Westen und Osten von steil aufragenden Wänden [704] eingeschlossen ist und sich nur gegen Norden in einem schmalen Ausgange öffnet. Ungefähr die Mitte dieses Felsenkessels ist der Ort, wo das ‚Geläute‘ sich vernehmen läßt. Schon vor bald fünfzig Jahren machte der bekannte Botaniker Dr. Georg Mally in der Steiermärkischen Zeitschrift (Neue Folge II, 1. Seite 13. Graz 1835) auf diese Erscheinung aufmerksam; er sagt, daß sich, als er in die Mitte des erwähnten Felsenthales gekommen sei, über ihm ‚leise Töne in der Luft vernehmen ließen, die wundersam harmonirten und mit nichts anderem füglich verglichen werden konnten, als mit dem mehrstimmigen Geläute einer fernen Kirche. Obwohl ein leiser Luftzug von Norden her sich spüren ließ, waren die Töne doch vernehmbar. Merkwürdig war die regelmäßige Fortdauer derselben. Ich ging mehrere Schritte vorwärts, die Töne wurden schwächer und verhallten endlich gänzlich.‘“

Es wehte also auch hier der Wind durch die Schlucht in das Thal hinein, und der Beobachter glaubte, wie alle früher angeführten Gewährsmänner, die Töne hoch über sich in der Luft zu vernehmen. Besonders beachtenswerth erscheint in allen diesen Berichten die Betonung der Andauer oder des langsamen Dahinziehens der Töne über dem Haupte der Beobachter, was der in dem vorigen Artikel erwähnte Pyrenäen-Reisende mit dem seltsamen, aber sehr charakteristischen Ausdrucke „ein langsamer, klagender Ton“ bezeichnete, und was Herrn Reuleaux zur Annahme eines langsam vorüberziehenden, tönenden Luftwirbels veranlaßte. Auch Herrn Gericke fiel dieselbe Eigenthümlichkeit auf. Dr. Mally suchte sich das Phänomen übrigens aus dem Geräusche einer Quelle zu erklären, welche von der steilen Wand des Speikkogels in das Felsenthal herabsprudelt, wobei nach seiner Meinung die Schallstrahlen durch die sich von drei Seiten erhebenden Felswände und deren vielfache Vorsprünge tausendfältig zurückgeworfen und gerade dort, wo man die Töne hört, in einem Brennpunkte so vereinigt werden sollen, daß sie harmoniren und das Phänomen eines Geläutes erzeugen.

Es soll nun gewiß nicht behauptet werden, daß in dem Sprudeln, Murmeln und Brausen des Wassers wirkliche musikalische Töne nicht enthalten wären, die nicht auch unter Umständen durch zurückwerfende Felswände concentrirt und zu einem „Gesange der Quellnymphen“ oder der Wellennixen, wie in der Fingalsgrotte von Staffa, verdichtet werden könnten.

Nach den vor neun Jahren (1873) angestellten Untersuchungen von Albert und Ernst Heim hat das Brausen und Rauschen der Wasserfälle die Eigenthümlichkeit, daß in ihm stets der C-dur-Dreiklang (C, E, G) und daneben das tiefere, nicht zum Accord gehörige F gehört wird. Bei großen donnernden Wasserstürzen übertönt das F die übrigen Klänge und dringt schon von ferne um die Felsecke oder über den Wald zu den Ohren des sich nähernden Besuchers. Bei weniger brausenden Fällen tritt besonders das C deutlich hervor, und neben ihm G; je nach den Eigenarten des Falles ist der eine oder der andere Ton vorherrschend hörbar, sodaß jeder Wasserfall seine eigene Musik hat.

Die genannten Beobachter konnten diese vier Töne bei allen Wasserfällen mitunter in verschiedenen Octaven heraushören, und daraus entspringen für den Besucher eigenthümliche Folgen: Wenn man am Ufer eines rauschenden Wassers ein Lied in anderer Tonart als C-dur zu singen versucht, so entstehen sehr häßliche Dissonanzen zwischen dem Gesange des Menschen und dem des Wassers, sodaß unbewußt Niemand am rauschenden Wasser anders als in C-dur, und wenn der Strom recht gewaltig donnert, in F-dur zu singen versuchen wird. Es ist anders kaum möglich.

Den geneigten Leser wird es vielleicht überraschen, zu erfahren, daß nach den 1857 veröffentlichten Untersuchungen des bekannten englischen Physikers Tyndall diese Töne viel weniger durch das Aufschlagen der stürzenden Wassermassen als durch das Zerplatzen der zahllosen mit zusammengedrückter Luft gefüllten Bläschen, welche [si]e erzeugen, hervorgebracht werden. Das heißt also mit anderen Worten: das Schäumen der Wassermassen ist die nächste und hauptsächlichste Ursache des Gebrauses derselben; es finden gleichsam unendlich viele kleine Explosionen statt, die sich in schneller Aufeinanderfolge zu theilweise musikalischen Tönen an einander reihen.

Wahrscheinlich hängt aber mit den musikalischen Tönen des fallenden Wassers noch eine andere bekannte Erscheinung zusammen, nämlich das Vorkommen rhythmischer Zusammenziehungen und Erweiterungen fallender Wasserstrahlen, die ihnen eine gewisse Aehnlichkeit mit gewundenen oder geflochtenen Schnüren geben und für Musik, wie schon Savart beobachtete, äußerst empfindlich sind. Man sieht diese Anschwellungen der Wasserstrahlen, wenn man auf der Geige (selbst in einiger Entfernung) langgezogene Töne spielt, eigenthümlich sich ballen und aus einander rücken, sodaß der Wasserstrahl einem Bambusstock mit dicken Knoten ähnlich wird.

Wir müssen es künftigen Untersuchungen überlassen, zu entscheiden, ob bei dem „Geläut der schwanbacher Alpen“, wie das Phänomen bei den Umwohnenden heißt, wirklich die Musik des kleinen Wasserfalls mitwirkt, oder ob, wie unser Correspondent glaubt, dort dieselben Ursachen das Geläut hervorrufen, wie im singenden Thal von Thronecken. Da das betreffende Gebirgsthal leicht von mehreren Seiten mit der Bahn zu erreichen ist und überdem in einer an Naturschönheiten reichen Gegend liegt, so wird sich hoffentlich bald ein Physiker finden, der, den Naturgenuß mit dem Studium verbindend, uns darüber weitere Aufklärung verschafft.

Ebenso dürfen wir dies hoffentlich bald für das singende Thal von Thronecken erwarten, welches von drei Universitäten aus leicht und schnell zu erreichen ist. Klare Spätherbst- oder Frühjahrstage mit herrschendem Südwest und niedriger Temperatur dürften den Besuchern, nach den Beobachtungen Reuleaux’, die meiste Aussicht gewähren, die Musik gegen Mittag selbst zu vernehmen, während die der Broschüre desselben beigegebene Terrainkarte als Wegweiser dienen kann.

Carus Sterne.


Etwas über die Holzschneidekunst.

Von Carl B. Lorck.
(Schluß.)
Das Clichiren und Galvanisiren. – Die nationalen Verschiedenheiten in dem Holzschnitt. – Ein Blick auf die Hochätzung und ihre Bedeutung für die Zukunft. – Holzschnitt bleibt jedoch Holzschnitt und die „Gartenlaube“ ihrer ältesten Mitarbeiterin, der „Xylographie“, treu.

Indem wir im vorhergehenden Theile unseres Artikels dem Leser die „Zurichtung“ eines Holzschnittes zu erklären versuchten, haben wir hervorgehoben, daß der Druck desselben schon durch das Unterlegen eines ganz dünnen Papierblättchens beeinflußt wird. Erwägt man dies, so leuchtet es ein, daß die geringste in dem Druckpapier selbst vorkommende Unebenheit den Abdruck eines Holzschnittes zu verderben im Stande ist. Selbst der Umstand, daß das Druckpapier bei der Fabrikation auf einem Drahtgespinnst ruht, durch welches das Wasser von der Papiermasse abläuft, wodurch diejenige Seite des Papiers, welche direct mit dem Draht in Berührung kommt, stets etwas rauher ausfällt als die andere, ist dem gleichmäßigen Drucke der Holzschnitte nachtheilig. Deshalb muß das Papier, nachdem es, um die Farbe besser aufzunehmen, angefeuchtet wurde, noch vor dem Druck satinirt, das heißt unter starker Pressung zwischen um ihre Achsen sich drehenden glatten Walzen von allen Unebenheiten und Rauhheiten befreit werden.

Trotzdem ist der Holzschnitt noch manchen Unfällen und, bei sehr großen Auflagen, auch der Abnutzung ausgesetzt. Man braucht nicht an die wirklich vorkommenden Ungeheuerlichkeiten zu denken – z. B. daß der Drucker sein Klopfholz auf der Form liegen läßt, oder daß das Mädchen, welches die Bogen auf den Cylinder auflegt, ihr Falzbein auf die Form fallen läßt, Unfälle, die nicht nur einen Holzschnitt ruiniren, sondern eine Presse sprengen können –; schon ein aus der Form sich ablösender Buchstabe, ein zerreißendes Maschinenband, das sich auf die Form legt, u. dergl. m., ja schon die wechselnde Temperatur können auf einen Holzschnitt den verderblichsten Einfluß ausüben. Man war deshalb schon lange darauf bedacht, denselben ganz zu schonen und ihn durch „Clichés“

[705]

Reiterliebe.
Nach dem Oelgemälde von Hugo König.

[706] zu ersetzen, die nebenbei den Vortheil boten, daß man solche in größerer Anzahl anfertigen, also auf mehreren Pressen oder mehrfach auf einer Presse benutzen und auch weiter verkaufen konnte, wodurch allein öfters kostspielige Unternehmungen möglich wurden. Solche Clichés fertigte man zuerst durch die Stereotypie (eine Erfindung des Lord Stanhope) in Schriftmetall an. Zu diesem Zwecke wurde der Holzschnitt mit einem Gypsbrei übergossen, der nach seinem Festwerden eine vertiefte Form (Mater) bildete. In diese wurde nun das Metall gegossen, und man erhielt hierdurch ein dem Holzschnitt gleiches, erhabenes Bild.

Einen noch besseren Ersatz für den Holzschnitt bot später die Galvanoplastik, eine Erfindung des Professors Jacobi in Dorpat. Von dem Holzschnitt wird ein Abdruck in Wachs oder Guttapercha gemacht, mit Graphitstaub gut eingerieben und in einem Bade mit Kupfervitriol den Einwirkungen des galvanischen Stromes ausgesetzt. Das hierdurch aus der Lösung sich bildende feste Kupfer setzt sich an den Graphitüberzug an und bildet nach einigen Tagen eine dünne Kupferplatte, welche das in die Guttapercha vertieft eingedrückte Bild erhaben trägt. Nachdem die hohle Rückseite durch Ausgießen mit Blei die gehörige Clichéstärke erhalten hat, bildet das „Galvano“ ein weit genaueres und dauerhafteres Cliché, als das Cliché von Schriftmetall, und wird dessen Benutzung für den Druck auf Grund seiner Unempfindlichkeit für Feuchtigkeit und Trockenheit, Wärme und Kälte in mancher Beziehung sogar der des Holzschnittes selbst vorgezogen.

Von einschneidender Wichtigkeit scheint die Erfindung der Celluloïd-Cliché’s durch den französischen Bildhauer Janin zu werden, wenn auch noch Zeit dazu gehört, um Vortheile und Nachtheile gegen die anderen Methoden gerecht abzuwägen. Das Celluloid ist eine durch chemische Behandlung aus Faserstoff hergestellte Masse von außerordentlicher Härte, zugleich, nach Erwärmung, von großer Biegsamkeit. Um ein Cliché zu gewinnen, war es jedoch nothwendig, erst eine Masse für eine Mater zu finden, die den zur Herstellung des Clichés unter Erhitzung bis zu 120 Grad Celsius nothwendigen Druck von 120 bis 130 Atmosphären aushalten konnte. Es gelang dies, und es lassen sich in jüngster Zeit vortreffliche Clichés herstellen, die namentlich für den Farbendruck besonderen Werth haben, da sie nicht, wie die Metallclichés, auf einige Farben nachtheilig wirken.

Wenn nun der Leser in der „Gartenlaube“ öfters Holzschnitt-Abdrücke sieht, die nicht allein eine volle Seite einnehmen, sondern sich sogar über zwei erstrecken, ja, wenn er in Blättern noch größeren Formates, wie z. B. in der „Illustrirten Zeitung“, auf solche trifft, die sogar den Raum von vier Seiten füllen, so wird er mit Recht die Fragen aufwerfen: „Giebt es denn auch Buchsbaumstämme von einem solchen Umfange? Und wenn es einem illustrirten Wochenblatte möglich ist, auf dem größten Format Ereignisse abzubilden, die kaum vor Wochen sich zugetragen haben, kann da ein Holzschneider in solcher Schnelligkeit arbeiten?“ Diese Fragen müssen wir verneinen, und doch sind die Thatsachen der großen Holzschnitte und der schnellen Herstellung fast alltäglich geworden. Wir wollen es versuchen, den Lesern diesen anscheinenden Widerspruch zu erklären.

Der hauptsächlich in Kleinasien wachsende und allein für den Holzschnitt taugliche Buchsbaum hat in der Regel einen Durchschnitt von 20 bis 25 Centimeter. Rechnet man jedoch den Abfall ab, welcher durch Umbildung der runden Durchschnitte in viereckige Klötze und durch schadhafte Stellen in dem Holze entsteht, so erhält man in der Regel Stücke von 10 bis 15 Centimeter im Viereck oder von 100 bis 225 Quadrat-Centimeter Flächenraum. Zu einem Holzschnitt in der Größe eines zweispaltigen Bildes der „Illustrirten Zeitung“ hat man also etwa 20 Blöcke von je 100 Quadrat-Centimeter nöthig. Diese Blöcke werden schwach zusammengeleimt und bilden somit einen Block von der nöthigen Größe. Nachdem die Zeichnung fertig gestellt ist, wird die Platte wieder in ihre einzelnen 20 Theile zerschlagen, sodaß nun so viele Holzschneider, wie Stücke vorhanden sind, gleichzeitig daran arbeiten können.

Hätte also ein Holzschneider 60 Tage zu arbeiten, um das ganze Bild allein zu fertigen, so würden 20 Holzschneider, falls diese zur Disposition ständen, die Aufgabe in 3 Tagen beenden. Sind die einzelnen Stücke im Schnitt fertig, so werden sie definitiv zusammengeleimt oder in einen eisernen Rahmen eingespannt. Der damit Beauftragte hat nur die Uebergänge von einem Stücke zu dem anderen „nachzugehen“ und hier und da eine Unregelmäßigkeit auszugleichen, bevor der Stock zum Druck gegeben wird.

Selbstverständlich wird ein solches Verfahren nur dann gewählt, wenn die Illustration den Ereignissen Schlag auf Schlag folgen muß. Ist aber die genügende Zeit vorhanden, so werden die Stücke sofort fest zusammengeleimt, und ein Xylograph schneidet die ganze Platte, wenn nicht etwa einzelne Theile, in deren Behandlung ein anderer Xylograph eine hervorragende Tüchtigkeit besitzt, einem solchen überlassen werden.

Dieses wenn auch langsamere Verfahren führt selbstverständlich zu besseren künstlerischen Resultaten als das der getheilten Arbeit; denn trotz aller Beaufsichtigung und Anleitung des tüchtigsten artistischen Dirigenten können 10 bis 20 Xylographen doch nicht so zusammen arbeiten, daß in ihrer gemeinsamen Leistung eine vollständige Harmonie erzielt werden kann, namentlich wenn es sich um eine freibehandelte Zeichnung handelt.

Hat sich in eine Platte ein störender Fehler eingeschlichen, so hat man noch ein Mittel, einem solchen abzuhelfen, obwohl man nicht gern dazu greift: mit einem Drehbohrer wird ein Loch, nach Nothwendigkeit mehrere Löcher neben einander, gebohrt und darein je ein runder Zapfen, getrieben, dessen Oberfläche mit neuer Zeichnung versehen und alsdann geschnitten wird.

Diese Mittheilungen in kurzen Zügen werden hoffentlich einigermaßen genügen, um dem Leser eine Vorstellung von der Technik des Schneidens und des Druckens der Holzschnitte zu geben.

Was die künstlerische Behandlung des Holzschnittes betrifft, so hat sich diese in den maßgebenden Ländern, England, Deutschland und Frankreich, wie es auch bei den verschiedenen Kunstrichtungen überhaupt natürlich war, nicht ganz in gleicher Weise entwickelt.

In England blieb der Tonschnitt seit Bewick ganz vorherrschend. Für den englischen Holzschneider existiren kaum Contouren. Er legt Ton auf Ton und ist deshalb im Landschaftlichen, wo Alles auf die Farbe ankommt, ganz auf seinem Platze. Er versteht es, aus einer leicht hingeworfenen, selbst mangelhaften Zeichnung einen dem Auge wohlgefälligen Schnitt zu machen. Hat jedoch der englische Holzschneider eine wirkliche kunstgerechte Vorlage, in der Alles genau berechnet ist, vor sich, bei der es darauf ankommt, Facsimile zu schneiden, so ist er mehr als ein anderer der Gefahr ausgesetzt, diese zu verderben, weil er seine Technik über Alles stellt und gewohnt ist, das zweideutige Lob, daß sein Holzschnitt sich kaum von einem Stahlstich unterscheiden läßt, als das höchste zu betrachten. Nur die illustrirten englischen Zeitungen haben sich von der Bewick’schen Schule losgesagt, und die für diese Zeitungen fast ausschließlich arbeitenden Künstler und Holzschneider sich eine den Verhältnissen angepaßte höchst praktische und effectvolle Technik angeeignet, mit der sie öfters ganz Vortreffliches liefern.

Der deutsche Zeichner und Holzschneider steht in der Behandlung des Figürlichen dem Engländer voran. Er verdirbt nicht so leicht eine gute und correcte Zeichnung; er arbeitet treuer und gewissenhafter und unterordnet sich mehr dem Zeichner; es sind bei ihm die Traditionen des sechszehnten Jahrhunderts noch nicht ganz ausgestorben. Andererseits besitzt er seltener die Selbstständigkeit in der Technik, die es dem Engländer möglich macht, eine unpraktische Vorlage praktisch umzuarbeiten. Wir sehen deshalb in Deutschland so vortreffliche Arbeiten, wie sie der Engländer nicht fertig bringt, z. B. wenn ein Unzelmann, Vogel oder Krätschmar eine Menzel’sche Zeichnung schnitt, oder unsere heutigen ersten Xylographen Bendemann’sche, Richter’sche oder Führich’sche Vorlagen reproducirten. Andererseits haben wir eine Menge echt hölzerne Holzschnitte, in welchen der Xylograph die Mängel der Zeichnung mit dem Mantel des technischen Verständnisses nicht zu decken vermochte. Kurz gesagt: der Deutsche wird den Vorzug in allen Arbeiten behalten, wo der zeichnende Künstler seine volle Schuldigkeit thut.

Der französische Xylograph nimmt seinen Platz zwischen dem englischen und dem deutschen ein und ist, nicht selten mit Glück, bemüht, die Vorzüge beider zu entwickeln und Eleganz mit Gewissenhaftigkeit zu vereinigen. Er ist weit bestimmter in den Umgrenzungen als der Engländer, vermeidet jedoch die oft zu harten Contouren der Deutschen. Extravaganzen, welche Alles der frappanten Wirkung opfern, kommen auch vor, sie liegen aber weniger bei den Holzschneidern, als bei solchen Künstlern, welche gar keine [707] Schranken kennen. In der Regel erleichtern jedoch vortreffliche Zeichner, die zum Theil sich nur dem Zeichnen von Vorlagen für den Holzschnitt widmen und somit das Wesen und die Erfordernisse des letzteren auf das Genaueste kennen, den Holzschneidern ihre Aufgabe sehr. Diese Künstler behandeln diejenigen Theile der Zeichnungen, bei welchen Alles auf die exacte Wiedergabe ankommt, mit der größten Gewissenhaftigkeit, überlassen aber die Partien, bei welchen sie der Technik des Holzschneiders vollständig vertrauen können, diesem zur freien Behandlung. Einen bemerkbaren Einfluß hat die französische Schule auf Stuttgart geübt, wo oft mit großem Glück Zeichner und Holzschneider sich in französischer Art in die Hände arbeiten.

Alle solche allgemeine Charakteristiken und Vergleiche bedürfen natürlich in den einzelnen Fällen der Correctur; denn es ist selbstverständlich, daß es Engländer giebt, die sich die Eigenschaften der Deutschen aneignen – und umgekehrt.

Was den Illustrationsdruck betrifft, stehen die drei großen Culturländer wohl auf gleicher Stufe der Vollkommenheit, doch läßt es sich nicht in Abrede stellen, daß ein englisches oder französisches Prachtwerk in seiner Totalität in der Regel einen vornehmeren und zugleich harmonischeren Eindruck erzielt als ein deutsches. Zum Theil liegt dies in dem aristokratisch-ruhigeren Charakter der lateinischen (Antiqua) Schrift und in der Vorzüglichkeit des Papiers, theils trägt dazu eine größere Einheitlichkeit in der Mache bei, indem keiner der an der Herstellung Betheiligten sich hervorzudrängen, jeder aber voll zu dem Ensemble beizutragen bemüht ist, selbst wenn seine Rolle nur eine kleine ist. In dem eigentlichen Druck steht Deutschland keinem andern Lande nach, sondern übertrifft eher seine Rivalen.

Im deutschen Reiche sind es namentlich die Städte Leipzig und Stuttgart, die im Illustrationsdruck die Führung haben: Stuttgart zeichnet sich durch die Herstellung zahlreicher dort verlegter Werke aus, die sich meistens auf dem Gebiete der Länder- und Völkerkunde, sowie der Culturgeschichte bewegen, während Leipzig nicht allein die eigenen illustrirten periodischen Unternehmungen und Werke, sondern auch die hauptsächlichsten Berliner Blätter und viele Prachtdrucke für auswärts liefert, außerdem den Holzschnittdruck vielfach für seinen großen wissenschaftlichen (anatomischen, naturwissenschaftlichen und technischen) Verlag ausbeutet.

Berlin ist in dem Illustrationsdruck etwas hinter Stuttgart und Leipzig zurückgeblieben, dagegen hat sich in Oesterreich in jüngerer Zeit diese Specialität, namentlich aber der xylographische Buntdruck mächtig gehoben. In Wien herrscht, wie in Stuttgart, eine höchst glückliche Verbindung der Kunst mit dem Kunstgewerbe, welcher ganz besonders durch das „Museum für Kunst und Industrie“ und durch die Unternehmungen der „Gesellschaft für bildende Kunst“ (gegründet 1871) Vorschub geleistet wird.

Hat der Holzschnitt, wie wir oben gesehen, Vieles von seinem ursprünglichen, eigenthümlichen Charakter eingebüßt, indem er sich die Nachahmung des Stahlstiches, ja selbst der Kreidezeichnung und der Radirung zur Aufgabe stellte, so hat er doch auf diesen neuen Wegen einen staunenswerthen Grad von Vollendung erreicht. Seine innige Verbindung mit dem gedruckten Worte wird ihm stets die Gunst des Volkes sichern, welches ihm so manchen hohen Genuß, so vielseitige Belehrung und Unterhaltung verdankt. Es scheint fast, als sei kein anderes Material findbar, in welchem sich Härte und Zähigkeit in dem Grade glücklich vereinigt, wie in dem Buchsbaum. Für alle Arten von Arbeiten, bei denen es darauf ankommt, wirkliche Kunstproducte für die Buchdruckerpresse zu schaffen, wird deshalb der Holzschnitt kaum durch ein anderes Verfahren je verdrängt werden.

Es giebt jedoch eine nicht geringe Anzahl von für den Hochdruck berechneten Arbeiten, zu welchen der Holzschnitt sich nicht eignet, wozu namentlich alle kartographischen gehören, mit ihren unter die Terrainzeichnung gemischten vielen kleinen Schriften. Schrift correct in Holz zu schneiden ist eine unendlich schwierige, zeitraubende und also auch kostspielige Aufgabe. Dies veranlaßte schon in dem vorigen Jahrhundert die berühmten Buchdrucker und Schriftgießer J. G. I. Breitkopf in Leipzig und W. Haas in Basel, nachdem die Schwierigkeiten des Musiknotensatzes glücklich überwunden waren, den Versuch zu wagen, Landkarten mit beweglichen Typen zu setzen. Sowohl die Genannten wie ihre Nachfolger auf dieser Bahn lernten jedoch die praktische Unmöglichkeit ihres Unternehmens einsehen.

Da traten in der Neuzeit Chemitypie und Zinkhochätzung als vortreffliche Helferinnen ein. Beide Verfahren werden gewöhnlich als ein und dasselbe betrachtet, sind jedoch von einander sehr verschieden. Bei der von dem Dänen C. Piil erfundenen, in Leipzig zur Ausführung gebrachten Chemitypie wird eine Zinkplatte zuerst mit einem Deckgrund, wie die Kupferplatte, überzogen, dann die Zeichnung mit der Nadel gemacht und geätzt. Die vertiefte Zeichnung wird mit leichtflüssigem Metall ausgegossen und dies mit der Oberfläche der Platte, von welcher der Deckgrund entfernt wurde, ans gleiche Höhe gebracht. Hierauf wird die Zinkplatte dem Aetzen unterworfen und die ganze Oberfläche der Wirkung der Säure ausgesetzt, welcher jedoch die in die Vertiefungen eingegossene Metallmischung widersteht. Diese letztere bildet nun, über die Zinkplatte herausragend, eine in der Buchdruckpresse verwendbare Platte. Dieses Verfahren hat ganz besonders für die Herstellung von Karten eine enorme Wichtigkeit, indem es hierdurch unter Mithülfe der Mehrfarbenschnellpressen möglich geworden ist, farbige Karten zu fabelhaft billigen Preisen zu liefern.

Die Zinkhochätzung eignet sich mehr für leichte Federzeichnungen, Reproductionen von älteren Drucken und Holzschnitten und dergleichen. Wie schon Eingangs erwähnt wurde, läßt sich die Zinkplatte wie der lithographische Stein leicht mit präparirter Kreide oder fetter Tusche bezeichnen. Fertigt man nun eine derartige Zeichnung oder trägt einen mit fetter Farbe gemachten Umdruck auf eine Zinkplatte und ätzt diese, so wird nur das reine Metall angegriffen, nicht aber werden die durch die Zeichnung oder den Umdruck geschützten Stellen dadurch alterirt. Durch fortgesetzte Aetzung tritt diese Zeichnung so hoch über die Platte hinaus, daß sie sich auf der Buchdruckerpresse drucken läßt; ja sogar Deckelplatten für Büchereinbände sind in dieser Weise herzustellen. Das ganze Verfahren ist ein ebenso rasches wie billiges und eignet sich sehr gut zur Herstellung von Illustrationen, an die keine zu hohen Ansprüche gestellt werden, z. B. für die leicht hingeworfenen Bilder in den französischen Witzblättern.

Wird nun auch die Xylographie immer für wirklich künstlerische Blätter den unbestrittenen Vorrang behaupten, da durch die Zinkhochätzung weder die Tiefe des Holzschnittes noch die Reinheit der feinen Linien und Schattirungen, noch endlich die angemessenen Abstufungen des Vorder-, Mittel und Hintergrundes zu erzielen sind, so hat die Letztere doch muthmaßlich noch eine große Zukunft. Wie die Pfennigmagazine zu den illustrirten Zeitungen führten, so mußten letztere wieder die Gedanken unternehmender Köpfe auf illustrirte Tageblätter lenken. Ohne Hülfe der Zinkographie könnte indessen ein solcher Gedanke kaum festen Boden fassen; denn nur durch diese in Verbindung mit der Rotationsmaschine wird es möglich, innerhalb vierundzwanzig Stunden eine Zeichnung auf Zink hinzuwerfen, sie in eine Hochdruckplatte zu verwandeln und zu drucken. Als europäische Versuche im Kleinen können wir die Witterungskarten, Schlachtenpläne und Kriegskarten mehrerer Zeitungen erwähnen; in Amerika hat man schon ein Tageblatt, welches jährlich 6000 Abbildungen bringt, wenn es auch nicht als eine nur den Tag illustrirende Zeitung bezeichnet werden kann.

Doch ergehen wir uns nicht in Zukunftsphantasien, deren Inscenesetzung wir zunächst unseren Collegen jenseits des Oceans in ihrem tollen Jagen, um einander eine Kopflänge abzugewinnen, überlassen müssen, und welche die Bestrebungen der „Gartenlaube“ nicht berühren. Diese wird ihrer alten Verbündeten, der „Xylographie“, treu bleiben und fortfahren, durch Mitwirkung derselben manches schöne Bild tüchtiger Künstler in gediegener Ausführung ihren Lesern vorzuführen.



Blätter und Blüthen.

Vermißte. (Fortsetzung von Nr. 34):

69) Der Sohn einer Wittwe, Robert Fromm aus Berlin, am 24. December 1850 geboren, früher als Jockey im königlichen Marstall dienend, verließ Berlin 1871, schrieb ab und zu aus Belgien, und zum letzten Male, am 12. Juli 1877, aus Wittleria auf dem Cap der guten Hoffnung. Auf Nachforschungen durch das „Auswärtige Amt“ des Reichs erfolgte am 25. April 1879 die Mittheilung, daß Fromm als Polizeibeamter im Caplande angestellt und gesund sei. Dennoch blieben die Briefe der Mutter unbeantwortet, weshalb sie sich an die britische [708] Gesandtschaft in Berlin wandte. Von dieser erhielt sie am 16. Juni dieses Jahres den Bescheid, daß ihr Sohn seit dem 15. April 1880 aus seinem Dienst entlassen und jetzt nicht zu ermitteln sei.

70) Eine Mutter in Czernowitz (in der Bukowina) wartet vergeblich auf die Heimkehr ihres nun einundzwanzigjährigen Sohnes. Denselben, Markus Hutschneker, trieb es im letzten russisch-türkischen Kriege während der Belagerung von Plewna (1878) als siebenzehnjährigen Untergymnasiasten auf den Kriegsschauplatz. Er schrieb zuerst von Alexandri in Rumänien, dann, gegen Ende des Jahres, aus der Festung Rustschuk in Bulgarien.

71) Der im Jahre 1865 von Breslau fortgewanderte Tischlergeselle Gustav Wilhelm Igel wird aufgefordert, behufs Erhebung einer Erbschaft, seinen jetzigen Aufenthalt dem königlichen Amtsgericht zu Breslau anzuzeigen.

72) Ein Sohn deutscher Eltern aus Ludwigslust in Mecklenburg, der in St. Petersburg geborene Friedrich Ludwig Meyer, lebte dort als Inhaber eines Uhrengeschäfts, hat aber – nach Mittheilung des deutschen Consulats – St. Petersburg zu Anfang Juli 1880 verlassen, um sich nach Deutschland zu begeben, und ist seitdem verschwunden.

73) Sollte der vor dreißig Jahren nach Melbourne in Australien ausgewanderter Adolf Perzel, der vor achtzehn Jahren zum letzten Mal geschrieben, oder dessen einziger Sohn noch leben, so bittet der alte Bruder Perzel’s um Nachricht durch die „Gartenlaube“.

74) Der Seemann Jürgen Priehn aus Rendsburg fuhr vor etwa achtzehn Jahren mit einem Schiffe von Nord-Amerika nach Australien, ließ sich in Queensland nieder und schrieb von dort vor zwölf Jahren zum letzten Mal an die Seinen. Seine sechs Geschwister bitten um Nachricht von ihm.

75) Der Sohn eines Magdeburger Handelsmanns, Fritz Röber, den 24. December 1850 in der Vorstadt Sudenburg geboren, war im Geschäft seines Vaters thätig, als er sich plötzlich, am 9. Januar 1878, ohne jede äußere Veranlassung, aus dem elterlichen Hause entfernte. Er hatte sich von Dammdorf, wo er Geschäfte verrichten sollte, nach Braunschweig begeben. Seitdem ist keine Spur mehr von ihm zu finden gewesen. Er ist ein Mann von schlanker Gestalt, gesundem, vollem Gesicht, mit stark aufgeworfenen Lippen, bartlos, hat dagegen sehr starke Augenbrauen und hellblondes, sehr krauses Haar.

76) Aus Hernals bei Wien ging die zu Littau in Mähren geborene, jetzt etwa vierunddreißigjährige Ottilie Schwarz im Jahre 1866 nach Wien in Dienst, folgte von da einer Herrschaft nach Aegypten und befand sich 1875 wieder zu Hause, worauf sie Anfang 1876 mit einer englischen Familie nach Ostindien reiste und zuletzt in Singapore gelebt haben soll. Sie wird von ihrem Bruder gesucht.

77) Vor zwölf Jahren ist der Heiligenbildermaler Felix Tomaskiewicz aus Wien verschwunden, und seitdem warten Mutter und Kind vergeblich auf seine Heimkehr.

78) Der Schlossergeselle Georg Werner, geboren 1859 in Berlin, ging im October 1877 auf die Wanderschaft, arbeitete zuletzt in Oldesloe bis zum Juli 1878, um welche Zeit er, nach polizeilicher Mittheilung, diese Stadt verließ, ohne seitdem den Seinigen Nachricht zu geben. Indessen sind die Eltern gestorben, und seine Schwester bittet ihn nun um Heimkehr oder Nennung seines Aufenthaltsortes.

79) Im Jahre 1862 wanderte der damals zwanzigjährige Goldschmied Theodor Christian Daniel Wiese aus Lübeck nach Valparaiso aus, schrieb nach zwei Jahren, daß er feste Stellung in einer Druckerei dort erhalten und sich mit einer Chilenerin verheirathen werde. Seitdem ist seine Mutter, die als Wittwe in Hamburg lebt, auf alle Briefe ohne Antwort geblieben.

80) Aus Berbersdorf bei Hainichen in Sachsen ging 1878 Karl Hermann Diehnelt, der damals sechszehnjährige Sohn eines armen alten Handarbeiters, nach Berlin, diente drei Jahre als Kellner in der Spenger’schen Restauration in der Von-der-Heydt-Straße, zog dann zu einem Herrn Karl Freyer in die Lützowstraße 12 und verließ Mitte April 1881 seine Wohnung, um sich in eine Restauration zu begeben, in welcher er sechs Tage auf Probe arbeiten sollte. Er hatte Herrn Freyer versprochen, am nächsten Sonntag wieder zu kommen, hat jedoch seitdem nichts wieder von sich hören lassen. Daß er auch seinen Koffer mit seinen Kleidern etc. nicht abgeholt, erregt den Verdacht, daß hier ein Unglück oder ein Verbrechen vorliege. – Der Vermißte ist von langer Statur, hat blondes Haar und an der linken Wange ein sogenanntes Erdbeermal.

81) An einen ebenso unheimlichen Fall müssen wir, um der sich in Gram verzehrenden Mutter den einzigen, letzten Trost nicht zu versagen, noch einmal erinnern. Wilhelm Eschhoff, ein sechszehnjähriger Präparandenschüler in Barby, von Aussehen klein und schwächlich, mit röthlich-blondem Haar und einer unbedeutenden Narbe über dem einen Auge, war am 27. Januar 1877 der Einladung eines Realschülers zu einem Besuch in Magdeburg gefolgt, und am Abend des nächsten Tages mit diesem in’s Theater gegangen. Beim Herausgehen aus dem Schauspielhause verschwand er plötzlich von der Seite seines Gefährten und ist seitdem spurlos verschollen. Die beklagenswerthe Mutter, die schon vier Kinder in der Jugendblüthe durch den Tod verloren, klammert sich an jeden Strohhalm von Hoffung, ihren Jüngsten wieder zu finden.

82) Hermann Richard Strunz wanderte als achtzehnjähriger Schlossergeselle mit Bewilligung seiner Eltern im Mai 1872 von seiner Heimath Oberschlema bei Schneeberg in Sachsen erst nach Amerika und von da nach Australien. Von New-York, San Francisco und Sydney hat er heimgeschrieben; der letzte Brief datirt vom 2. Juni 1875 und erzählt, daß Strunz von San Francisco aus mit auf den Walfischfang ging, daß ihr Fahrzeug in einen starken Sturm gerieth, an einen Felsen geschleudert wurde und Schiffbruch erlitt. Es gelang ihm, in einem der vier Rettungsboote unterzukommen, aber erst nach drei Tagen erreichten sie Land, und zwar eine der Fidschi-Inseln. Hier mußten sie vier Monate warten, bis ein Schiff des Weges kam, das sie nach Australien mitnahm. Am Schlusse verspricht Strunz noch: „Ich werde bald nach Hause kommen.“ Seitdem fehlt alle Nachricht.

83) Ernst Hermann Krauße aus Langenhessen bei Werdau, achtundzwanzig Jahre alt, Tischler, wanderte 1878 nach Argentinien, gab zuletzt Nachricht 1879 von Villa Libertad bei Buenos Ayres und beabsichtigte damals eine Reise mit einem gewissen Wurlitzer, der schon zweiunddreißig Jahre dort gelebt, sowie mit dem aus Baiern stammenden Colonisten Schottenhofer vom Uruguay nach Missiones. Von Krauße ist seitdem keine Kunde mehr zu erlangen gewesen.

84) Leopold Gottlieb Kirsch, geboren in Nakel den 22. Februar 1845, hat die Maschinenbauerei in der Werkstatt der königlichen Ostbahn zu Königsberg in Preußen gelernt, ist als Heizer und Maschinenbauer in Kowno, Wilna, Dünaburg beschäftigt gewesen, ging aus dem Dienst der Eisenbahn Dünaburg-Witebsk im Jahre 1873 in einen neuen Dienst als Maschinenbauer oder Locomotivführer im südlichen Rußland. Alle Bemühungen des Vaters, durch Vermittelung früherer Collegen an genannten Eisenbahnen von dem Sohne etwas Genaueres zu erfahren, sind vergeblich gewesen.

85) Moritz Reinhold Schmidt, ein Tischlergeselle, 1858 zu Wilsdruff bei Dresden geboren, 1872 bis 1875 in Meißen in der Lehre, seit August 1878 auf der Wanderschaft, hat am 20. Februar 1879 aus Remptendorf in Reuß-Greiz zum letzten Mal geschrieben. Das dreijährige Schweigen versetzt seine Eltern in große Sorge.

86) Von drei Schwestern Brombach aus Insterburg, die das Schicksal aus einander gerissen, befindet sich Bertha in St. Petersburg und sehnt sich nach ihren Schwestern Wilhelmine, die zuletzt in Stallupönen, und Auguste, die in Königsberg in Preußen war, und von welchen sie seit sechszehn Jahren keine Kunde erhalten hat. Wird die „Gartenlaube“ sie aufzuspüren vermögen? Die Adresse ihrer Schwester liegt für sie bereit.

87) Karl Schmidt, der Sohn des verstorbenen Lehrers Schmidt in Dänschendorf auf Fehmarn, jetzt einundvierzig Jahre alt, ging nach Australien und schrieb den letzten Brief aus Woods Point im November 1869. Spätere Briefe der Angehörigen blieben ohne Antwort; Nachforschungen waren vergeblich. Später (1877) erfuhr die Mutter, er lebe in Melbourne, sei Fuhrmann und es gehe ihm gut. Seine kranke Mutter hofft auf diesem Wege Nachricht von ihm zu erhalten.

88) Der Tischler Julius Sorge in Berlin ist seit dem 7. März 1880 spurlos verschwunden. Es wird vermuthet, daß er entweder verunglückt ist oder sich nach Amerika begeben hat. Seine Frau und drei Kinder bitten um Kunde von ihm.

89) In Australien suchen zwei Thüringer Kinder ihren Vater: Karl Schwarz aus Schmalkalden, einen tüchtigen Sattler, der sich jetzt im 53. oder 55. Jahre befindet. Er stand bis 1848 als Werkstellenchef und Unterofficier bei der Feuerwerkscompagnie der kurhessischen Artillerie, wanderte 1856 mit mehreren Cameraden nach Australien aus, landete glücklich in Sydney und folgte der Einladung eines fremden Herrn in das Innere des Landes, und zwar mit noch einem Landsmann, Wenzel aus Schmalkalden. Dieser gab den Seinen daheim gute Nachricht; leider sind durch den Tod seiner Angehörigen die Briefe verloren und damit auch die Adresse Beider, die nun durch die „Gartenlaube“ wiedergefunden werden soll.


Warnung! Unsere Leser wissen, daß die „Gartenlaube“ seit Jahren freiwillig und ohne den geringsten Anspruch auf irgend welche Vergütung dem Aufenthaltsorte oder dem Schicksale deutscher Vermißter und Verschollener im In- oder Auslande nachzuforschen pflegt, so oft Privatpersonen oder Behörden die Bitte um solche Nachforschungen an uns stellen. Wir fühlen uns zu diesem Opfer verpflichtet, weil kein anderes Blatt sich solcher Verbreitung unter den Deutschen in fremden und überseeischen Ländern erfreut, wie gerade die „Gartenlaube“, und eben deshalb hat es uns auch an oft überraschenden Erfolgen nicht gefehlt. Die große Mehrzahl dieser Vermißten gehört der ärmeren Classe an, der zur Nachforschung durch Inserate die Mittel fehlen. Nie hat es uns an Lesern in Deutschland und an Landsleuten in der Fremde gemangelt, welche nicht gern Auskunft auf unsere Anfragen gegeben und denen das Bewußtsein der Freude oder Beruhigung, welche sie dadurch den Suchenden zu bieten vermocht, nicht genügender Lohn gewesen wäre. – Da entpuppt sich nun plötzlich eine Helfersorte, die aus dem Auskunft-Versprechen ein einträgliches Geschäft macht. Vor der Hand haben wir zwar nur eine Firma auf diesen Streifzügen nach deutschen Zwanzigmarkstücken ertappt, wollen jedoch dieser sofort die nöthige Leuchte anhängen, um warnend und abschreckend zugleich zu wirken. Die Sache ist diese: Wir haben in einzelnen unserer Nachfragen die Namen nicht nur des Vermißten, sondern auch der Anfragenden, d. h. der Eltern, Geschwister oder dergl. genannt. Diese Adressen wurden nun benutzt, um unfrankirte Briefe an dieselben zu richten, welche auf der Kehrseite mit der Bemerkung versehen sind: „Dieser Brief enthält Nachricht über den vermißten N. N.“ – Welcher Arme aber wird nicht die letzten Groschen daran wenden, um einen solchen Brief öffnen zu können! Und was erfährt er? In den uns in Originalen und Copien vorliegenden Zuschriften heißt es fast gleichlautend: „Zufällig habe ich in Erfahrung gebracht“ – oder „Zufällig habe ich in einer Zeitung gelesen, daß Sie Den und Den suchen. Nun erklärt der Gefällige, daß er den Vermißten entweder kenne oder auf einer Reise gesprochen etc., und erbietet sich, die betreffende Adresse ausfindig zu machen, jedoch – der Kosten wegen – nur gegen Einsendung von 20 Mark.

Unsere Leser und die betreffenden Briefempfänger werden auf Grund obiger Warnung fortan wissen, was sie von solchen Zuschriften zu halten haben. Wir unsererseits werden übrigens künftig die Angabe der Namen von Anfragenden vermeiden und damit diesem Schwindel am kürzesten ein Ende machen. Soll denn kein Werk der Wohlthätigkeit bestehen können, ohne von unsauberen Händen ausgebeutet zu werden?

Die Redaction.

Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ilwolf