Die Gartenlaube (1883)/Heft 11
[169]
No. 11. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Gebannt und erlöst.
Er sprach mit möglichster Unbefangenheit; denn er sah, daß die scharfen Augen der Dame seine Gala musterten, und ärgerte sich unbeschreiblich über das leise, aber verständnißvolle Lächeln, das dabei um ihre Lippen spielte. Er nahm indessen Platz, und nach zwei Minuten waren die Beiden auch schon wieder im Streit begriffen. Fräulein Hofer hatte die ebenso einfache wie unbestreitbare Behauptung aufgestellt, daß heute Freitag sei, und das gab dem Justizrath sofort Veranlassung zu einem Ausfall.
„Das ist ja wohl ein Unglückstag in Ihren Augen?“ fragte er. „Soviel ich weiß, steht der Tag im Codex des Aberglaubens mit dieser Eigenschaft verzeichnet.“
„Wenigstens würde ich an solchem Tage nichts Wichtiges unternehmen oder beginnen,“ erwiderte das Fräulein mit einem anzüglichen Blick auf das Bouquet.
„Ich denke anders darin,“ sagte Freising mit Nachdruck. „Ich wähle mit Vorliebe gerade diesen Tag, um meine freisinnige Stellung damit zu documentiren. Das ist bisweilen nothwendig, um der hiesigen Bevölkerung ein Beispiel zu geben, die noch auf ihre Geisterspitze, ihre Eisjungfrau und allerlei Hexenzeug schwört.“
Fräulein Hofer wußte recht gut, wer mit der „Bevölkerung“ gemeint war; sie antwortete daher in gereiztem Tone:
„In Ihren Proceßacten steht allerdings nichts davon geschrieben, und ich erlaube mir, sie etwas nüchtern und prosaisch zu finden – die Acten nämlich!“
„Und ich nehme mir die Freiheit, sie etwas überspannt zu finden – die Sagen nämlich!“ gab der Justizrath schlagfertig zurück.
Das Fräulein wurde roth vor Aerger.
„Natürlich, Sie sind ja ein Mann der reinen Vernunft und sympathisiren in dieser Beziehung mit Frau von Hertenstein. Die gnädige Frau ist gleichfalls ein Freigeist in solchen Dingen.“
„Zu meiner großen Befriedigung,“ bestätigte der Justizrath, dessen Zufriedenheit in diesem Augenblicke noch erhöht wurde, da Anna in Begleitung ihrer Schwester eintrat. Die Letztere ließ ihm aber kaum Zeit zur Begrüßung; sie hüpfte ihm entgegen und fragte neugierig:
„Onkel Justizrath, weshalb erscheinen Sie denn heute so feierlich im Frack?“
Die vertrauliche Anrede datirte noch aus Lily’s Kinderzeit, wo Freising, der die gesammte Rechtspraxis der Umgegend in Händen hatte, bisweilen in das Pfarrhaus von Werdenfels kam. Lily hatte in aller Unbefangenheit die alte Vertraulichkeit wieder aufgenommen, und der Justizrath hatte auch nichts dagegen, sich von einem jungen hübschen Mädchen „Onkel“ nennen zu lassen. Heute aber schien ihn diese Bezeichnung etwas in Verlegenheit zu setzen, ebenso wie die Frage, aber er faßte sich rasch und antwortete :
„Ich habe bei einer festlichen Gelegenheit die Verhandlungen zu leiten, möchte aber vorher noch mit der gnädigen Frau eine wichtige geschäftliche Angelegenheit besprechen.“
„Dann wollen wir gehen, Lily,“ sagte Fräulein Hofer, den Arm des jungen Mädchens ergreifend. „Bei Geschäften sind wir überflüssig. Kommen Sie!“
Lily fand das auch und folgte ohne Widerspruch in das Nebenzimmer, konnte aber doch nicht umhin, sich zu erkundigen, ob der Justizrath das schöne Bouquet gebracht habe, das auf dem Tische lag.
„Jawohl, er probirt sein Glück am Freitag – ich hoffe, die Bedeutung des Tages wird ihm diesmal klar gemacht,“ sagte Fräulein Hofer nachdrücklich, indem sie aus dem Zimmer ging.
Lily versank ob dieser orakelhaften Worte in tiefes Nachdenken. Der Frack des Onkel Justizrath war ihr von vornherein verdächtig vorgekommen; sie blieb also im Zimmer, um die weitere Entwickelung der Sache abzuwarten. Leider hatte Fräulein Hofer die Thür nach dem Salon geschlossen; zu sehen war also nichts, aber wenn man das Ohr an die Thürspalte legte, konnte man hören, was drinnen gesprochen wurde, und die junge Dame that das denn auch ohne alle Gewissensbisse.
Drinnen im Salon begann der Justizrath soeben die Verhandlungen einzuleiten, indem er das Bouquet nahm und der jungen Frau überreichte.
„Die Rosen – der Rose!“ sagte er mit steifer Galanterie, aber offenbar sehr zufrieden mit dem Complimente, an dem er lange studirt haben mochte. Anna nahm die Blumen mit freundlichem, aber etwas kühlem Danke; sie war an diese kleinen Huldigungen und Aufmerksamkeiten von Seiten Freising’s zu sehr gewöhnt, als daß ihr die heutige hätte besonders auffallen sollen.
„Sie haben Wichtiges mit mir zu besprechen?“ fragte sie, ihm gegenüber Platz nehmend. „Es betrifft vermuthlich den Verkauf von Rosenberg.“
„Das nicht,“ versetzte der Justizrath mit vielsagendem Lächeln. „Ich hoffe im Gegentheil, daß es möglich sein wird, Ihnen den Landsitz zu erhalten, wenigstens als Sommeraufenthalt, wenn Sie auch für gewöhnlich in der Stadt wohnen.“
[170] „Das wäre mir allerdings sehr erwünscht, ich sehe aber diese Möglichkeit nicht ein bei den jetzigen Verhältnissen, indessen lassen Sie hören!“
„Gnädige Frau,“ begann Freising mit großer Feierlichkeit. „Sie sind Wittwe!“
„Allerdings,“ sagte Anna, etwas befremdet über diese Einleitung.
„Und ich bin Junggesell!“ fuhr der Justizrath fort.
Die junge Frau sah ihn verwundert an.
„Auch das ist mir bekannt.“
„Es ist aber etwas Trauriges um solch ein Junggesellenleben. Ich fühle mit jedem Jahre mehr meine Vereinsamung, ich sehne mich unendlich nach einer Lebensgefährtin –“
„Herr Justizrath!“ unterbrach ihn Anna erschrocken; denn jetzt wurde ihr die Bedeutung der Rosen klar, aber der Herr Justizrath ließ sich nicht unterbrechen, sondern sprach so geläufig weiter, als stelle er einen Antrag vor Gericht. Er berief sich auf die langjährige Bekanntschaft, erwähnte seine ausgebreitete Praxis, sein nicht unbedeutendes Vermögen, betonte seine Uneigennützigkeit, die ihm bei der genauen Kenntniß aller Verhältnisse allerdings zugegeben werden mußte, und hielt endlich in aller Form um die Hand der jungen Frau an.
In Anna’s Zügen malte sich eine peinliche Empfindung; sie hatte die Blumen bei Seite gelegt und sagte jetzt mit leisem Vorwurf:
„Herr Justizrath, diese Stunde hätten Sie sich und mir ersparen sollen. Ich ahnte nicht, daß unser freundschaftlicher Umgang derartige Gefühle in Ihnen erweckte – sonst hätte ich es nicht so weit kommen lassen.“
„Sie weisen mich ab?“ rief Freising in bitterer Enttäuschung.
„Ich hege die höchste Achtung, die aufrichtigste Freundschaft für Sie und werde Ihnen stets die Dankbarkeit bewahren, die ich Ihrem treuen Rath und Beistand schulde.“
„Ja, gnädige Frau, damit kann ich nichts anfangen,“ sagte der Justizrath wehmüthig. „Das haben mir all die Damen angeboten, denen ich meinen Antrag machte.“
„Haben Sie denn das schon öfter gethan?“
„Schon dreimal! Und immer habe ich nur Hochachtung und Freundschaft bekommen statt des Jawortes.“
Das eigenthümliche Geständniß kam so schmerzlich heraus, daß Anna ihr Lächeln unterdrückte und tröstend sagte:
„Das ist aber unbegreiflich bei einem Manne von Ihrer Stellung und Ihren Verdiensten. Bei mir walten eben ganz besondere Verhältnisse ob.“
„Ja, es ist eben mein Unglück, immer auf diese ganz besonderen Verhältnisse zu stoßen,“ seufzte Freising. „Die erste Dame, an die ich mich wandte, erklärte mir, sie könne nur einen Künstler lieben; ein Jurist habe höchstens Anspruch auf ihre Achtung; sie verlobte sich denn auch gleich darauf mit einem jungen Maler. Die zweite gab mir ihre Absicht kund, in ein Kloster zu gehen, aber sie ließ mir ihre Freundschaft zurück. Die dritte gestand mir, daß sie bereits einen Anderen liebe, und nahm meine Hülfe bei ihren Eltern in Anspruch, die gegen diese Partie waren, wofür sie mich ihrer ewigen Dankbarkeit versicherte – und jetzt weisen auch Sie mich ab!“
„Soll ich deshalb einen treuen, bewährten Freund verlieren?“ fragte die junge Frau, ihm die Hand hinstreckend.
„Nein, das sollen Sie nicht,“ sagte der Justizrath mit Selbstüberwindung, indem er die dargebotene Hand ergriff, und nun erfolgte zum vierten Male der übliche Austausch von Hochachtung und Freundschaft, der ihm trotzalledem wohlzuthun schien; denn er sah einigermaßen getröstet aus, und als Anna die Rücksicht so weit trieb, ihren Shawl umzuwerfen und den abgewiesenen Freier bis zu dem Gitterthor zu begleiten, wo sein Wagen hielt, schien das alte freundschaftliche Verhältniß wieder hergestellt zu sein.
Inzwischen hatte Lily im Nebenzimmer Mühe gehabt, sich nicht zu verrathen; denn sie war mehr als einmal in Versuchung gewesen, laut aufzulachen. Als aber jetzt der Wagen fortfuhr und gleichzeitig Fräulein Hofer wieder eintrat, flog das junge Mädchen ihr entgegen und rief mit einem Ausbruch stürmischer Heiterkeit:
„Der Freitag hat doch Recht behalten! Der Onkel Justizrath hat sich einen Korb geholt, und denken Sie nur, es ist schon der vierte, den er erhält!“
„Sie haben gehorcht, Lily?“ fragte das Fräulein in vorwurfsvollem Tone.
„Natürlich!“ bestätigte Lily, die gar nichts Unrechtes darin fand, und begann nun die Scene, die sie erlauscht hatte, in sehr komischer Weise zu schildern. Aber das machte nicht den beabsichtigten Effect – Fräulein Hofer zog die Stirn kraus und verwies dem jungen Mädchen ernstlich die Spöttereien über diesen „höchst achtungswerthen Mann“.
„Aber Sie können ihn ja nicht leiden,“ warf Lily ein, sehr erstaunt über diese Parteinahme. „Er ist ja auch bei jeder Gelegenheit Ihr Widersacher.“
Fräulein Hofer gerieth einen Augenblick in Verlegenheit, faßte sich aber sofort wieder und sagte salbungsvoll:
„Das ist er, aber man darf auch seinen Feinden nichts Böses wünschen!“
Anna war nicht wieder in das Haus zurückgekehrt, sondern machte einen Gang durch den Garten; Lily bemerkte das und stürmte ihr nach. Sie hatte gleichfalls nur ein leichtes Mäntelchen übergeworfen und war gerade bis zu dem Gewächshaus gekommen, als sie einen zweiten Wagen vorfahren und zu ihrer Ueberraschung den jungen Baron Werdenfels aussteigen sah. Das junge Mädchen wußte oder errieth doch wenigstens, daß dieser Besuch einzig ihrer Schwester galt; Paul’s Augen hatten damals im Pfarrhause deutlich genug gesprochen, aber einen Gruß hatten er sicher für seine kleine Bekannte vom Schloßberge übrig, und sie blieb unwillkürlich stehen, um diesen Gruß zu erwarten.
Aber Paul bemerkte sie nicht einmal, obgleich er in geringer Entfernung vorüberging. Er hatte sofort beim Aussteigen die hohe dunkle Gestalt dort am anderen Ende des Gartens entdeckt, und nun hing sein Auge so fest an diesem einen Punkte, daß alles Andere für ihn nicht existirte. Er trat nicht in das Haus, sondern suchte sofort die junge Frau auf, und dabei strahlte sein ganzes Antlitz, als sei dieses Alleinsein, in dem er sie traf, ein langersehntes Glück.
Lily senkte das Köpfchen; sie hatte keine Lust mehr, zu der Schwester zu gehen und an der Unterhaltung Theil zu nehmen, bei der sie so gänzlich überflüssig war; man sah sie ja nicht einmal. Leise trat sie hinter einen Pfeiler des Gewächshauses zurück; sie wollte diesmal nicht lauschen, was bei der weiten Entfernung auch gar nicht möglich war, aber sehen durfte[WS 1] sie doch die Beiden, die jetzt dort drüben in der blätterlosen Allee auf und nieder gingen und keine Ahnung davon hatten, daß sie beobachtet wurden.
Die Unterredung dauerte sehr lange und schien im Gegensatz zu jener Scene mit dem Justizrath sehr ernst zu sein. Anfangs sprach Paul viel und lebhaft, aber die Antworten der jungen Frau mußten wohl seine stürmische Beredsamkeit dämpfen; denn er wurde immer stiller, bis endlich Anna selbst das Wort nahm. Auch sie sprach lange und eindringlich und schien einzelne leidenschaftliche Bemerkungen ihres Begleiters zurück zu weisen; denn dieser verstummte endlich ganz und stand regungslos da, das Auge auf den Boden geheftet.
Es folgte eine kurze Pause; dann reichte Anna ihm die Hand, die Paul, ohne aufzublicken, an seine Lippen zog, und nun wandte die junge Frau sich ab und kehrte in das Haus zurück.
Lily hatte eine Ahnung von dem, was sich dort begeben hatte, obgleich der junge Baron keinen Frack und kein Bouquet trug; sie wollte sich natürlich nicht zeigen und blieb deshalb an ihrem Platze, aber Paul, der nach einigen Minuten auch zurückkehrte, nahm diesmal den nächsten Weg, der ihn dicht am Gewächshause vorbeiführte.
Er ging sehr langsam, und sein hübsches Gesicht, das vorhin so glückselig strahlte, war jetzt so bleich und trug den Ausdruck eines so bitteren Schmerzes, daß Lily all ihre Vorsätze vergaß. Sie war in diesem Augenblicke noch ganz Kind und wußte nicht einmal, daß sie eine Tactlosigkeit beging, als sie plötzlich hervortrat und mit angstvoller Miene fragte:
„Herr von Werdenfels, was ist Ihnen denn?“
Paul schrak zusammen bei der unerwarteten Anrede und fuhr rasch mit der Hand über die Augen.
„Verzeihen Sie, mein Fräulein!“ sagte er gepreßt. „Ich sah Sie nicht, aber – mein Wagen wartet – empfehlen Sie mich der gnädigen Frau!“
[171] Er war im Begriffe zu gehen, aber die hellen braunen Kinderaugen, die zu ihm empor blickten, sahen ihn so mitleidig, so traurig an, daß er zu lächeln versuchte, was ihm freilich nicht gelang.
„Verzeihen Sie die flüchtige Begrüßung!“ fuhr er fort, „aber ich kann wirklich nicht länger bleiben.“
„Hat Ihnen meine Schwester wehe gethan?“ fragte Lily schüchtern.
Die Lippen des jungen Mannes zuckten schmerzlich.
„Ja wohl, sehr weh! Sie weiß es wohl selbst nicht einmal, wie sehr.“
„O ja, Anna kann bisweilen hart sein,“ bemerkte Lily leise, aber Paul schüttelte heftig den Kopf.
„Sagen Sie das nicht, sie war unendlich gütig gegen mich. Es ist ja nicht ihre Schuld, daß ich mich täuschte, aber,“ hier brach er plötzlich in leidenschaftlichen Schmerz aus, „ich ertrage es nicht, wenn mir jede Hoffnung genommen wird! Ich nehme mir das Leben!“
„Um Gottes willen!“ schrie Lily entsetzt auf. „Thun Sie das nicht, Herr von Werdenfels! Anna würde ja keine ruhige Stunde mehr im Leben haben, wenn sie an Ihrem Tode schuld wäre, und ich – ich auch nicht!“
So treuherzig die letzte Versicherung auch klang, sie machte gar keinen Eindruck auf Paul, dessen Schmerz nur noch stürmischer ausbrach.
„Was soll mir denn ein Dasein ohne Glück, ohne Hoffnung?“ rief er. „Mein Fräulein, weshalb soll ich Ihnen die Wahrheit verhehlen, die Sie ja doch schon errathen haben? Ja, ich liebe Ihre Schwester, liebe sie mit ganzer Seele, und ich kann nicht leben ohne ihren Besitz – ich erschieße mich!“
Es war gut, daß die Beiden im Schutze des Gewächshauses standen, wo sie nicht gesehen werden konnten; denn Lily begann jetzt bitterlich zu weinen und beschwor den jungen Baron in den rührendsten Ausdrücken, doch nicht so schreckliche Gedanken zu hegen. Vielleicht habe es Anna gar nicht so ernstlich gemeint; sie habe es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Wittwe zu bleiben – aber vielleicht, ja wahrscheinlich sei sie noch umzustimmen.
„Halten Sie das in der That für möglich?“ fragte Paul, dem schon wieder ein Hoffnungsschimmer aufblitzte.
„O gewiß!“ versicherte Lily, welche in ihrer Herzensangst alles nur Mögliche zugab. „Ich werde mit meiner Schwester sprechen; ich werde Ihre Verzweiflung schildern; ich werde all meinen Einfluß aufbieten – geben Sie nur diese furchtbaren Selbstmordgedanken auf!“
Paul schien vorläufig noch gar nicht geneigt dazu; er sah noch immer sehr verzweifelt aus, aber seine Stimme klang doch ruhiger, als er erwiderte:
„Ich danke Ihnen, mein Fräulein! O gewiß, Sie haben Einfluß bei Ihrer Schwester, und sie hat es mir ja selbst gesagt, daß sie keine persönliche Abneigung gegen mich hegt, daß sie sich nur nicht wieder vermählen will. Vielleicht ist dieser Entschluß noch zu erschüttern, und wenn ich auf Ihre Fürsprache, auf Ihren Beistand rechnen darf –“
„Sie dürfen es!“ versicherte Lily, indem sie ihm feierlich die Hand reichte. „Ich werde mit all meinen Kräften für Sie und Ihre Liebe eintreten.“
Der junge Mann drückte dankbar die kleine Hand, die in der seinigen lag, aber es fiel ihm nicht ein, sie an seine Lippen zu ziehen.
„Doch wie erfahre ich das Resultat Ihrer Bemühungen?“ fragte er. „Ich kann selbstverständlich nicht wieder nach Rosenberg kommen, ehe ich nicht wenigstens einen Hoffnungsschimmer habe.“
Lily dachte einige Secunden nach.
„Am nächsten Sonntag besuchen wir den Vetter Gregor in Werdenfels; können Sie nicht wieder in das Pfarrhaus kommen?“
„Nein,“ sagte Paul ernst. „Seit ich die Stellung kenne, die der Pfarrer Vilmut meinem Onkel gegenüber einnimmt, muß auch ich ihm fern bleiben. Aber Sie machen doch jedenfalls wieder einen Spaziergang in der Umgebung des Dorfes – könnten wir uns nicht wie damals am Schloßberge treffen?“
„Bei den Haselnüssen!“ fiel Lily erfreut ein. „Das ist eine sehr gute Idee! Um die Mittagsstunde bin ich dort – versprechen Sie mir nur, sich bis dahin nicht zu erschießen!“
„Ich werde noch etwas damit warten,“ erklärte Paul. „Vielleicht ist noch nicht alles verloren.“
Er drückte noch einmal die Hand seiner neuen Bundesgenossin und ging dann zu seinem Wagen. Als er fortgefahren war, kehrte Lily in das Haus zurück, ganz erhoben und erfüllt von ihrer Mission. Sie kam sich auf einmal so wichtig vor, als eine Person, auf deren Einfluß man rechnete und deren energisches Eingreifen einen Menschen vom Selbstmord zurückgehalten hatte. Sie zweifelte auch nicht mehr, daß ihre Schwester sich erweichen lassen werde; der junge Baron wollte sich ja erschießen, wenn sie bei ihrem Nein blieb; aber es war doch seltsam, welch eine zauberhafte Macht Anna über die Männer ausübte, daß sie sich alle ohne Ausnahme in sie verliebten. Zwei Heirathsanträge hatte sie an einem Vormittage erhalten und wußte nichts Anderes damit anzufangen, als sie beide abzulehnen. Lily fand, daß ebenso wie die Güter der Erde auch die Heirathsanträge ungleich vertheilt seien; einer davon hätte ihr, der jüngeren Schwester, doch auch zufallen können – „natürlich der zweite!“ setzte sie in Gedanken hinzu.
Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages, als Raimund von Werdenfels an dem Fenster seines Arbeitszimmers stand. Der Wintertag war soeben erst angebrochen, aber ohne Sonnenschein; der „Sturmprophet“, die Geisterspitze, zeigte sich trotz des düsteren Himmels in klaren, scharfen Umrissen und in unheimlicher Nähe; auch das Gewölk ringsum verkündete Sturm. Werdenfels sah wieder zu jenem weißen Gipfel empor, aber nicht mit der gewohnten müden Träumerei; in seinem Blicke lag heute etwas Finsteres, Unruhiges, und dieselbe Unruhe verrieth sich in seinen Bewegungen, als er jetzt mit verschränkten Armen einen Gang durch das Zimmer machte, dann an den Tisch trat und auf die Klingel drückte.
„Ich lasse Herrn von Werdenfels bitten, zu mir zu kommen,“ rief er dem eintretenden Kammerdiener zu; dieser wollte sich entfernen, um den Auftrag auszurichten, und war schon an der Thür, als der Freiherr die Frage hinwarf:
„Mein Neffe war ja wohl gestern in Buchdorf?“
„Nein, gnädiger Herr. So viel ich weiß, ist der junge Herr Baron nach Rosenberg gefahren. Wenigstens wurde der Wagen dorthin beordert.“
Raimund erwiderte nichts, sondern gab dem Diener einen Wink, sich zu entfernen.
„Ich dachte es mir!“ murmelte er. „Er hat keinen Tag verlieren wollen!“
Schon nach zehn Minuten trat Paul in das Zimmer. Er mochte in der Nacht nicht viel geschlafen haben; denn er sah blaß und überwacht aus und bemühte sich vergebens, in Ton und Haltung die alte Unbefangenheit zu zeigen. Es lag wie ein trüber, schwerer Druck auf seinem ganzen Wesen. Man sah es deutlich, das Nein, das er gestern erhalten, war dem jungen Manne tief zu Herzen gegangen.
Auch Raimund sah diese Veränderung, aber er bedurfte keine Erklärung dafür, und seine Stimme klang ungewöhnlich milde, als er fragte:
„Hat mein Ruf Dich gestört, Paul? Es ist noch früh am Tage.“
„O nein, ich war schon angekleidet,“ entgegnete Paul, „aber ich war überrascht, zu hören, daß Du bereits wach seist. Du pflegst ja sonst in den Vormittagsstunden den Schlaf nachzuholen, den Du in der Nacht versäumst.“
„Ja, diese Nachtwachen sind eine leidige Gewohnheit meiner Einsamkeit,“ sagte Werdenfels. „Ich fühle doch, daß sie auf die Dauer entnerven, und habe in den letzten Tagen versucht, dagegen anzukämpfen.“
Paul sah seinen Onkel verwundert an; es war das erste Mal, daß dieser die Absicht kundgab, gegen irgend etwas anzukämpfen. Bisher hatte er sich nur passiv seinen Launen und Träumereien überlassen. Aber der junge Mann fühlte schon nach den ersten Worten, daß jene seltsame Gereiztheit des Freiherrn gegen ihn vollständig geschwunden war. Raimund zeigte wieder die alte Güte, nur war er nicht ganz so kalt und gleichgültig wie sonst, und es lag sogar ein Anschein von Interesse in der Art, mit der er sich nach Buchdorf erkundigte und nach dem Eindruck, den es auf seinen nunmehrigen Herrn gemacht hatte.
[172] Paul gab sich Mühe, eine lebhafte Freude zu zeigen, die einzige Art des Dankes, die ihm erlaubt war, aber das helle Glück, mit dem er noch gestern früh an seine neue Heimath gedacht hatte, war dahin zugleich mit der Hoffnung, eine junge Herrin dort einzuführen. Er berichtete indessen ausführlich über seinen Besuch auf dem Gute und über die Rücksprache, die er mit dem Pächter genommen hatte.
„Du hattest vollkommen Recht hinsichtlich der Uebersiedlung,“ sagte Paul endlich, „ich werde also bis zum Frühjahr in Felseneck bleiben, wenn Du es nicht anders bestimmst.“
Raimund blickte ihn prüfend an.
„Und Du willst den ganzen Winter hier in dieser Einsamkeit aushalten? Das ist ein tapferer Entschluß für eine Natur wie die Deinige, aber vielleicht kann ich ihn Dir erleichtern. Ich habe Dir einen Vorschlag zu machen. Paul – willst Du mich nach Werdenfels begleiten?“
Paul glaubte nicht recht gehört zu haben.
„Nach Werdenfels?“ wiederholte er, starr vor Erstaunen. „Du willst dorthin?“
„Ja, vorläufig nur auf einige Tage.“
„Aber Du hast das Schloß ja seit dem Tode Deines Vaters nicht betreten! Du hast überhaupt seit sechs Jahren Dein Felseneck nicht verlassen und jetzt –“
„Jetzt ändere ich das,“ fiel Raimund ein, in einem Tone, der das Erstaunen ebenso wie den Widerspruch verbat. „Wenn Du übrigens keine Lust hast, mich zu begleiten, so steht es Dir ja frei, hier zu bleiben.“
„Durchaus nicht – ich ziehe es unbedingt vor, Dich zu begleiten,“ rief Paul, der sofort berechnete, daß sich dort unten im Schlosse die Wiederanknüpfungspunkte mit Rosenberg viel leichter finden würden.
„Gut, so fahren wir um zwei Uhr. Ich habe bereits gestern dem Castellan die Weisung gesandt, die Zimmer in Bereitschaft setzen zu lassen. Wir nehmen nur die nothwendigste Dienerschaft mit, in die Dein Arnold natürlich eingeschlossen ist; also richte Dich für den Ausflug ein! Ich erwarte Dich zur festgesetzten Stunde.“
Aus dem Verbannungsorte der ägyptischen Rebellen.
In den letzten Jahren wurde die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt zu wiederholten Malen auf die Insel Ceylon gelenkt. Zunächst wurde in Fachblättern berichtet, daß die Versuche mit dem Anbau der Cinchonabäume, deren Rinde das gegen Wechselfieber alleinhelfende Chinin liefert, auf Ceylon über alle Erwartung gelungen wären. Dann folgte dieser frohen Kunde eine Art Hiobspost von der „ceylonischen Kaffeeseuche“, einer Pilzkrankheit, welche die Kaffeeplantagen der Insel arg bedrohte und von dort sich über die angrenzenden Kaffeeländer ausbreitete. Dann wieder erfuhren wir, daß der berühmte deutsche Zoologe Professor Dr. Ernst Häckel von seiner Forscherreise nach Ceylon, reich beladen mit allen möglichen Schätzen der Wissenschaft, in seine jenaische Heimath zurückgekehrt sei. Und endlich, als die Tragikomödie des Arabi Pascha-Aufstandes in Aegypten ausgespielt war, da hieß es, das stolze, aber gnädige Albion habe den Führer der Rebellen und seine Getreuen nach Kandy auf Ceylon in Verbannung geschickt.
So oft wir nun von allen diesen Dingen hörten, stieg unwillkürlich das glühende Bild Ceylons vor unseren Augen auf, das Bild jenes Märchenlandes, welchem schon unsere Vorfahren die Namen „der Garten Indiens“ und die „Königin der Inseln“ beigelegt hatten. Da lag der Gedanke nahe, das vielgenannte Tropenland den Lesern der „Gartenlaube“ einmal vor Augen zu führen, und wir sind heute in der Lage, dieses Vorhaben zu verwirklichen.
Ein talentvoller, vielgereister Maler stellte uns einige Skizzen aus seiner Bildermappe zur Verfügung, und ein junger deutscher Forscher,[1] der gegenwärtig auf einer Weltreise begriffen ist, gewährte uns den Einblick in sein Reisetagebuch, in welchem auch Ceylon ausführlich beschrieben wird. So fand sich Material für Wort und Bild zusammen. –
Die an der Südostseite von Vorderindien gelegene „immergrüne Wunderinsel“ ist um Weniges kleiner als das Königreich Baiern, und zählt gegenwärtig gegen zwei Millionen Einwohner. Europäische Reisende begrüßen sie in der Regel von Westen her und gehen bei der wichtigen Handelsstadt Colombo an’s Land. Schon in dem Hafen tritt ihnen das bunte Völkergemisch, welches im Laufe der Zeiten sich hier niedergelassen, entgegen. Sonderbar geformte Boote umringen den Dampfer; sie bestehen aus einem einzigen ausgehöhlten Baumstamme von ungefähr sechs Meter Länge, dessen Breite kaum ein halbes Meter beträgt. Von einer Seite des Bootes gehen rechtwinkelig zwei gebogene Bambusstämme ab, welche an ihren Enden durch einen dickeren Stamm verbunden sind. Man nennt ihn „Outrigger“, das heißt Ausleger, und dieser einfache Apparat, welcher flach auf dem Wasser schwimmt, verleiht dem schmalen Fahrzeug einen hohen Grad von Sicherheit.
In den meisten Auslegerbooten erblickt man nackte, braune Gestalten, nur mit einer Schwimmhose oder dem Sarong, einer Art baumwollenen Schurzes, bekeidet. Es sind Singhalesen, ein auf Ceylon stark vertretener Volksstamm. Sie tragen ihr langes schwarzes Haar sorgfältig frisirt und meistens zu einem starken Zopfe geflochten oder mit einem Schildpattkamme geziert. Neben diesen schwächlich gebauten Menschen erscheinen der kräftigere Schlag der rabenschwarzen „Tamils“ und die stattlichen Gestalten der Indo-Araber oder Mohren, die mit langem weißem Kaftan und weißen Pumphosen bekleidet sind und auf ihren bärtigen Häuptern einen majestätischen, meistens gelb gefärbten Turban tragen. Das sind ceylonische Typen, bunt und mannigfaltig, wie sie der Zeichner auf unserem nebenstehenden Bilde dargestellt hat.
Weder Neugierde noch Gastfreundlichkeit führen sie zu den europäischen Schiffen; sie klettern behend an ihren Planken in die Höhe, um mit dem Fremden ein Geschäft abzuschließen, um Cocosnüsse, Bananen, Ananas, Fische und Krebse zu verkaufen oder Schmuckgegenstände an den Mann zu bringen. Manche Stücke ihrer nationalen Industrie, wie Elephanten- und Buddhabilder aus Elfenbein oder Körbchen und Matten, aus Binsen und Palmfasern geflochten, werden gern als Erinnerung an Ceylon gekauft, aber sobald die nackten Schlauköpfe prachtvolle Edelsteine anbieten, ist die größte Vorsicht geboten; denn die Söhne der „Rubininsel“ führen nur allzuoft geschliffenes europäisches Buntglas in ihrem Hausirkasten.
Colombo ist eine wahre Gartenstadt. Kein Bungalow (Villa, Landhaus) der Europäer ist zu erblicken, der ohne einen üppig blühenden und grünenden tropischen Garten da stände. Dabei bedeckt die Stadt einen Flächenraum von elf englischen Quadratmeilen und hat nahe an 112,000 Einwohner. Wie fast alle
[173][174] indischen Städte besteht auch Colombo aus der „weißen“ und der „schwarzen“ Stadt. Die letztere wird gewöhnlich „Pettah“ genannt und ist von den Eingeborenen dicht bevölkert.
Ein hallenreiches Zollhaus, ein paar Standbilder einstiger Gouverneure, weite Waarenlager, ein massiver Glockenthurm, schattige geräumige Geschäftscontore aus der Niederländerzeit, eine Anzahl riesiger, beinahe nur aus Fenstern und Dach bestehender Casernements für die englischen „Rifles“ und Artilleristen, ein am Wasser stehendes uraltes Kirchlein, dichtbelaubte Bäume allerwärts in den Straßen, dahinter auf der einen Seite die weiß brandende See, auf der anderen der dunkle Cocoswald, darüber die blitzenden Reflexe der senkrecht herabfallenden Sonnenstrahlen, vor deren verderblicher Wirkung der Europäer ungemein auf der Hut ist, auch der Singhalese sein langhaariges, schildpattkammgeschmücktes Haupt unter große grüne chinesische Parasols verbirgt, gestalten zusammen das Bild der „weißen“ Stadt.
Aber die Welttouristen halten nicht lange in Colombo Rast. Schon nach wenigen Tagen brechen sie auf, um in das Innere der Insel vorwärts zu dringen. Da sie in die Welt hinausgefahren sind, um Neues zu schauen, so bereuen sie sehr selten diese Ausflüge – denn das Reisen auf Ceylon ist mindestens originell.
Der „Garten Indiens“ hat auch eine Fahrpost, deren Omnibus, wie Ernst Häckel erzählt, auf seiner Thür das englische Wappen mit der stolzen Inschrift des Hosenbandordens: „Honny soit qui mal y pense!“ („Hohn dem, der Arges dabei denkt!“) zu führen pflegt. Aber diese Warnung klingt wie die reine Ironie angesichts dieser „königlichen Postkutsche“, die kaum für sechs Personen genügenden Raum bietet und oft mit einem Dutzend Passagieren vollgepfropft wird. Dabei kostet eine fünfstündige Fahrt in diesem Wagen 30 Mark für jeden weißen Europäer, während der farbige Eingeborene nur die Hälfte dieses Preises zu zahlen hat. Aber der schrecklichste der Schrecken bei jeder ceylonischen Postkutschenfahrt ist die grausame Thierquälerei, mit welcher sie stets verbunden ist. Die singhalesischen Postillone verachten die Kunst des Rosselenkens, und es fällt ihnen niemals ein, die Postpferde einzufahren. Die halbwilden Thiere werden vor den Wagen gespannt, und nun sammelt sich eine Rotte kreischender Jungen, welche mit Stangen, ja mit brennenden Fackeln gegen die armen Geschöpfe loswüthen, dieselben von vorne an den Zügeln, von hinten an dem Schwanze aus Leibeskräften zerren, bis die Pferde im rasenden Galopp fortstürmen, um halbtodt an der nächsten Station Halt zu machen.
Wer keine Lust hat, mit dieser sonderbaren Post zu fahren, und sich auch der langsameren, aber sicheren „Ochsendroschke“, die von den kleinen, aber sehr flinken Ceylonochsen gezogen wird, nicht anvertrauen will, der benutzt das modernste Verkehrsmittel, die Eisenbahn.
Ceylon hat gegenwärtig vier Eisenbahnlinien. Die bedeutendste von ihnen ist die nach Kandy, der ehemaligen Hauptstadt des Landes, hinauf. Die weißen Passagiere fahren durchweg erster Classe; die zweite Classe ist für die gelben und gelbbraunen Nachkommen der Portugiesen und ihrer singhalesischen Frauen reservirt, und in der dritten Classe überwiegt die dunkelbraune Farbe der echten Singhalesen, sowie die schwärzliche der Tamils. Die Coupés der ceylonischen Eisenhahn sind groß und luftig, mit doppeltem Dach und doppelten Vorhängen versehen, und während der Fahrt kann der Reisende selbst ein kühlendes und erfrischendes Bad nehmen.
Für die Welttouristen ist die Route Colombo-Kandy zu der unerläßlichsten Heerstraße geworden, und mit Recht; denn auf dieser Strecke lernt man am besten die Natur der ceylonischen Landschaft kennen. Unseren europäischen Lesern, die nie die Tropenwelt geschaut und ihre Touristenfahrten nie über die heimischen Berge und Thäler ausgedehnt haben, dürfte die folgende Schilderung einer tropischen Eisenbahnfahrt nicht unwillkommen sein.
„Ich hatte,“ erzählt Hans Meyer in seinem Tagebuche, „mit dem Mittagszuge Colombo verlassen und fuhr nun bereits anderthalb Stunde über das ebene Unterland durch das Dickicht der Palmen, Bananen, Mangos, Banyans, der Zimmetbüsche, Gewürznelkensträucher, Muscatbäume, der Citronen, Orangen und Ananas, das nur vereinzelt unterbrochen ist von einem abgestuften hellgrünen Reisfeld oder einem glitzernden Flußbett, über dessen Eisenbrücke der Zug poltert. Die Stationen sind nett wie die südindischen, von den zugehörigen Ortschaften ist aber nirgends etwas zu erblicken. Unmerklich steigt die Bahn zu den Bergen an, die man selbst nicht eher zu Gesicht bekommt, als bis man mitten darin ist. Die Steigung wird nun erheblich. Eine Maschine zieht, eine andere schiebt. Der Wald geht allmählich in undurchdringliche Dschungeln über, welche die Hügel und Berge überziehen, weiterhin aber stark gelichtet sind und sorgfältig in Reihen gepflanzten Kaffeestauden Raum geben. Riesige Termitenhügel schauen über das Dickicht hervor, und fußlange Eidechsen huschen, vor der Maschine fliehend, in das sichere Versteck. Die Aussicht auf die Thäler unter uns wurde mit zunehmender Steigung seltsamer; es war die Verwirklichung dessen, was die üppigste Phantasie von Malern und Zeichnern uns Nordländern in Tropenbildern vor Augen zu führen pflegt, nur größer und ruhiger. Grün und immer wieder grün ist die Erscheinung einer ceylonischen Landschaft. Jede grelle Farbe fehlt, weder Fauna noch Flora ist farbenprächtig, und nur die Menschen machen in Kleidung und Schmuck eine Ausnahme, aber welcher Reichthum der Formen, welches Uebermaß des Wachsthums und des Schwellens in dieser Natur!“
Der Eindruck, den auf uns die Natur ausübt, hängt jedoch gewiß von der Stimmung unseres Gemüthes ab; denn gelegentlich einer anderen ceylonischen Eisenbahnfahrt gelangt unser Reisender zu folgenden Betrachtungen:
„Der Pflanzenreichthum ist erdrückend; die Fülle der Formen schwillt beinahe in’s Unschöne. Nur wo die Bahn ihre Spur zieht, tritt die Erde an’s Tageslicht. Das helle Gelbgrün der glatten, glänzenden Blätter thut den Augen weh; die durchsichtigen Schatten lindern das stechende Einwirken auf den Sehnerv nicht. Wie lautlos die Natur im Umkreise auch sei, es herrscht kein ruhiger Friede in solch einem tropischen Walde. Der deutsche Wald ist stiller, heimlicher. Den tiefen Ernst eines winterlich abgestorbenen deutschen Eichenwaldes sucht man ebenso vergeblich wie den keuschen Zauber eines jungen deutschen Frühlings. Der tropische Wald ist üppig, prächtig, reich und bezaubernd, aber poesielos.“
Solche allgemeine Eindrücke bestürmen den schnell vorwärtseilenden Weltumsegler, der ruhige Forscher aber, der länger im Lande weilt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf andere interessante Naturerscheinungen, die während der Eisenbahnfahrt sich unseren Augen darbieten. Lauschen wir auch seiner Erzählung, die uns nicht nur den Genuß des Schönen in der Natur, sondern auch manche Belehrung bietet.
Auf der Fahrt von Colombo nach Kandy begegnet man oft der mächtigen Talipotpalme, der stolzen Königin unter den Palmen Ceylons. Ihr weißer Stamm erreicht über hundert Fuß Höhe, und jedes einzelne ihrer fächerförmigen Blätter der Gipfelkrone bedeckt einen Halbkreis von zwölf bis sechszehn Fuß Durchmesser. Früher vertraten diese Blätter die Stelle des Papiers, und alte singhalesische Bücher in den Buddhaklöstern bestehen aus solchem „Olapapier“, auf welches man mit eisernen Griffeln schrieb. Die Talipotpalme blüht nur einmal in ihrem Leben, und zwar zwischen dem fünfzigsten und achtzigsten Lebensjahre. Der Blüthenbusch auf dem Gipfel des Baumes besteht aus einer Pyramide, die Millionen kleiner gelblich-weißer Blüthen enthält und deren Höhe dreißig bis vierzig Fuß beträgt. Häckel zählte während der genannten Fahrt gegen hundert derartiger blühender Bäume. Nach ihrer Blüthe und dem Reifen der Nüsse stirbt die Talipotpalme ab.
Doch an Abgründen von vier- bis fünfhundert Fuß Tiefe rollt der Eisenbahnzug schnell vorüber und in den Bahnhof von Kandy hinein. Der Reisende muß nun Abschied nehmen von allen den majestätischen Schöpfungen der Natur und seine Aufmerksamkeit auf die Werke der Menschenhand lenken. Der Gegensatz ist hier freilich groß; denn keine stolzen Bauten ragen in dieser ehemaligen Hauptstadt des Landes zum Himmel empor; das Wirken und die Thaten der Menschen sind hier winzig und klein. –
Von der ehemaligen Pracht dieser „stolzen Königsstadt“ sind nur wenige Spuren übrig geblieben. Spärliche Ruinen des alten Königspalastes locken den Wanderer, aber enttäuscht betritt er diese Stätte; denn ihr fehlt sogar der Reiz der üppigen, rankenden Vegetation; kein Epheu umschlingt hier das alte Gemäuer; nur mächtige Pilze wuchern in- und auswendig auf den steinernen Wänden des Baues. Die Häuser der Stadt sind zu ebener Erde gebaut; eine der Hauptstraßen, welche unser Zeichner uns vorführt, charakterisirt deren Aermlichkeit zur Genüge. Das wichtigste Bauwerk in Kandy ist aber der Buddhatempel, in welchem unter einem goldenen glockenförmigen Behälter der Zahn Buddha’s aufbewahrt [175] wird. Der Zähne des Propheten giebt es viele in den indischen Tempeln, und selbstverständlich ist jeder echt. Ungläubige behaupten aber, daß der, welchen man in Kandy aufbewahrt, einstmals das Maul eines Elephanten schmückte. An und für sich ist der Tempel von sehr untergeordneter Bedeutung.
Der moderne Palast des Gouverneurs macht dagegen einen guten Eindruck; er ist von Säulen und Veranden und einem prächtigen Garten umgeben. Professor Häckel hat nach seiner Schilderung in demselben einen angenehmen Abend zugebracht, aber er fügt vorsichtig hinzu: „Zahlreiche Schlangen, Scorpione und anderes derartiges Tropengesindel, besonders aber zahlreiche Blutegel sollen den Aufenthalt darin etwas ungemüthlich machen.“
In dieser Stadt wird also Arabi Pascha den Rest seines Lebens verträumen. Das gnädige England war liebenswürdig in der Wahl des Verbannungsortes; der General, der einst die europäischen Cabinete in Verwirrung brachte, aber bei Tel-el-Kebir sich nicht besonders heldenmäßig benahm, kann hier in aller Muße über die Vergänglichkeit der irdischen Dinge nachdenken – die Umgebung paßt ja vortrefflich für solche Betrachtungen.
Die Engländer hätten ihren Zweck vielleicht besser erreicht, wenn sie den Begnadigten nach der Ruinenstadt Ceylons, nach Anuradhapura, „verschickt“ hätten. Vor 2400 Jahren wurde diese Stadt vom König Anurado erbaut und war viele Jahrhunderte hindurch die prächtigste Cultusstätte des Buddhismus. Noch im Jahre 412 nach Christus betrug die Zahl der Priester in der Stadt allein mehr als 5000, und ein singhalesisches Buch aus dem Anfang des siebenten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung entrollt uns folgendes Bild von Anuradhapura:
„Die Entfernung vom Hauptthor zum Südthor beträgt vier Stundenmärsche, ebenso vom Nord- zum Südthor. Die Hauptstraßen sind die Mondstraße, die König Hingururek-Straße und die Mahawellstraße, deren erstere an 11,000 Häuser enthält, viele davon zwei Stockwerke hoch. Kleinere Straßen giebt es unzählige. Der Palast hat lange Reihen von Gebäuden, manche von ihnen zwei und drei Stockwerke hoch, und seine unterirdischen Gänge sind von großer Ausdehnung.“
Schildern wir nur eine einzige der Ruinen, die noch heute hier zu sehen sind, die Ruine des Palastes Lowamahapaya; sie ist kein zerfallenes Mauerwerk, sondern ein aus dem Rasen emporwachsender Pfeilerwald, der in der Höhe von 12 Fuß abgestutzt zu sein scheint. In einem Quadrat von 230 Fuß Länge stehen 1000 vierkantige, aus einem Steinblocke gehauene Pfeiler in Reihen von 40 zu 40 neben einander; hier und da ist einer umgestürzt, ein anderer ist geneigt, und dazwischen streben ein paar gewaltige Laubbäume und weiden die Zebu-Ochsen des Dorfs. Vor zwei Jahrtausenden war dieser Palast von König Butugemum für die Priester von Anuradhapura gebaut worden, und heute stehen von den neun Stockwerken und von den tausend Zellen und Clausen nur noch die Grundpfeiler des Erdgeschosses.
Unmittelbar hinter dieser Ruine breitet seine Aeste der heilige Bo-Baum, welchen König Dewananpiya-Tissa im Jahre 300 v. Chr. gepflanzt haben soll. Der Baum wäre demnach 2200 Jahre alt und gewiß der älteste historische Baum der Welt. Priester beschützen und verehren ihn noch heute. Gegen ein Geschenk gaben sie auch Herrn Dr. Hans Meyer ein Blatt zum Andenken. Ein Blatt von einem Baume, dessen Haupt zweiundzwanzig Jahrhunderten trotzte!
Passen denn nicht auf diesen Altriesen und die Geschicke der Menschen, auf die er herabschaute, jene Verse, die einst von den sangreichen Lippen des unsterblichen Homer erklungen:
„Muthiger Tydeussohn, was fragst du nach meinem Geschlechte?
Folgen sich doch wie die Blätter am Baum die Menschengeschlechter;
Welkende streut auf die Erde der Wind, und andere neue
Bildet der knospende Wald im wiedergeborenen Frühling.
Ebenso wächst ein Menschengeschlecht, und das andere schwindet.“
Ja, sie sind geschwunden, jene Geschlechter, die da noch wirkten zu der Zeit, als die Zinnen der Paläste von Anuradhapura in der Sonne blinkten, als das immergrüne Land den Namen „Löweninsel“ trug und seine Einwohner im Munde der angrenzenden Völker den stolzen Beinamen „Löwensöhne“ führten. Was bedeutet heute ein singhalesischer Fürst? Was bedeutet das ganze Volk der ceylonischen Eingeborenen? Verwelkt sind sie und verweht. Wird sie der für Ceylon anbrechende Frühling der Cultur verjüngen?
Aber wohin verirren wir uns? Verlassen wir die Ruinenstätte des heute kaum 1000 Einwohner zählenden Anuradhapura, halten wir uns auch nicht zu lange auf in dem berühmten botanischen Garten von Peradeniya, wo die Menschenhand die tropische Vegetation in Fesseln geschlagen und der Wissenschaft und Kunst dienstbar gemacht hat, wo die Pracht der tropischen Bäume und Rankengewächse uns sinnbestrickend umstürmt. Wir eilen noch nach dem Süden Ceylons, nach der Hafenstadt Punta Galle, auch Point de Galle genannt, die einst mit Colombo um die Handelsherrschaft wetteiferte, nunmehr aber, von der Regierung stiefmütterlich behandelt, zur zweiten Stadt der Insel herabsank.
An der brandenden Küste des Indischen Oceans, welche die Zeichnung unseres Künstlers (Seite 177) uns vor Augen führt, wollen wir nicht die schmucken Villen der Europäer aufsuchen, sondern ein Naturwunder schauen, wie es prächtiger und großartiger kaum anderswo zu finden ist. Wir steigen hinab in die Zaubergärten, welche auf dem Grunde der See die Töchter des Meeresgottes, die geheimnißvoll schaffenden Oceaniden, errichtet haben.
Langsam durchfurcht der Kiel des schwanken Bootes, dem wir uns anvertraut, die ruhige Wasserfläche, und im Glanze der Sonne erglühen unter uns in wunderbarer Farbe die vielgestaltigen Gebilde der Korallen, welche, Sträuchern und Bäumen ähnlich, in die Höhe streben. Das sind die berühmten Korallengärten Ceylons. Die Bezeichnung ist durchaus zutreffend; denn wie in der Vegetation der Insel die grüne Farbe vorwiegt, so ist sie auch in dieser unterseeischen Welt vorherrschend. Die Undine lockt uns, und wir tauchen hinab in eine neue, eine Märchenwelt.
Zwischen dem verworrenen Astwerk der zahllosen Korallenstöcke wimmelt es von den sonderbarsten Thieren, Fischen, Krebsen, Schnecken, Muscheln, Würmern, und sie alle finden ihre Nahrung in diesen Zaubergärten, in denen sie ihre ständige Wohnung aufgeschlagen haben, und führen hier mit tausend Künsten den uralten Kampf um’s Dasein.
Aber der Besuch dieser Gärten ist nicht so gefahrlos, wie man denken möchte. Die Feuerkorallen und die zwischen ihnen schwimmenden Medusen brennen bei der Berührung gleich den schlimmsten Brennnesseln. Der Stich der Flossenstacheln von manchen Panzerfischen ist ebenso schmerzhaft und gefährlich wie derjenige des Scorpions. Viele Krabben kneipen auf das Empfindlichste mit ihren mächtigen Scheeren, und schwarze See-Igel bohren ihre fußlangen Stacheln, die mit feinen Widerhaken besetzt sind, in das Fleisch des Fußes.
„In meinem ganzen Leben,“ bemerkt hierzu Professor Häckel, „habe ich keine so zersetzte und geschundene Haut gehabt, wie nach mehrtägigem Tauchen und Korallenfischen in Punta Galle.“
Doch wir müssen hier schließen. Wer wäre im Stande, die Wunder der Tropenwelt in erschöpfender Weise auf wenigen Blättern zu schildern? Die meisterhafte Feder des großen deutschen Zoologen hat dieses Wunderkind der deutschen Leserwelt zu erschließen gewußt, und wessen Neugierde und Wissensdrang mit dem vorstehenden Artikel nicht zufrieden sind, der nehme die „Indischen Reisebriefe“ zur Hand.
[176]Honigameisen.
Die Ameisenstaaten mit ihren Anklängen an unsere eigenen gesellschaftlichen Einrichtungen, ihren geordneten Zuständen, ihrer entweder friedlichen, Ackerbau oder Viehzucht begünstigenden, oder kriegerischen Verfassung, bieten ein so anziehendes und ergiebiges Forschungsgebiet, daß sie, trotz der zahllosen Arbeiten auf demselben, immer von Neuem den Beobachter fesseln und ihn mit reicher Ausbeute lohnen.
Dem vor etwa Jahresfrist veröffentlichten Buche des Londoner Banquier Sir John Lubbock über seine langjährigen, besondere die Intelligenz unserer heimischen Ameisen betreffenden Studien ist rasch ein Werk des ausgezeichneten amerikanischen Ameisenforschers Henry C. McCook (“The Honey Ants of the Garden of the Gods and the Occident Ants of the American Plains. With thirteen plates.“ Philadelphia, 1882) gefolgt, welches uns mit ganz absonderlichen Entdeckungen aus dieser kleinen Welt bekannt macht, vollauf geeignet, das allgemeinste Interesse zu erwecken.
In diesem neuen Buche handelt es sich nämlich zuvörderst um Ameisen, die gleich ihren Gevattern, den Bienen, Honig eintragen, aber ihre Vorräthe nicht, wie diese, in kleinen selbsterbauten Zellen oder Töpfen, sondern in den kugelig aufschwellenden Leibern einer auserwählten Schaar ihrer Angehörigen aufspeichern, die dadurch zu wahrhaftigen lebenden Vorrathstöpfen ihrer Gemeinden werden.
Schon im Jahre 1832 hatte ein mexicanischer Naturfreund, Dr. Pablo de Llave, in einem mexicanischen Journale Nachricht von einer Ameisenart gegeben, deren erbsengroßer, kugelrunder Hinterleib durchscheinend wie eine kleine gelbe Weinbeere sei und den köstlichsten Honig enthalte, weshalb sie bei den ländlichen Festen der Eingeborenen als beliebtes Dessert auf den Tisch komme Alles, was er aber nach den Mittheilungen einer Dorfbewohnerin unweit Mexico über diese Busileras genannten Honigameisen berichten konnte, war, daß sie in besonderen Kammern des unterirdischen Nestes einer gewöhnlichen kleinen Ameise, wie Vorrathstöpfe an den Wänden und an der Decke aufgehängt, gefunden würden und daß die Kinder und Frauen der Gegend diese Nester wohl aufzufinden wüßten, obwohl sie über der Erde durch keine Hügel bezeichnet wären.
Diese Nachrichten blieben in Europa so gut wie unbekannt, obwohl später der belgische Gesandte Baron Norman seinem Landsmanne Wesmael Exemplare der mexicanischen Ameise mit der irrthümlichen Angabe zugesandt hatte, diese Thiere sammelten wie die Bienen Honig in besonderen Behältern. um ihn im Winter zur Ernährung der Colonie zu verwenden. Die Honigameise, welcher Wesmael, ohne die Arbeit von Dr. de Llave zu kennen, den Namen Myrmecocystus mexicanus beigelegt hatte, war inzwischen zur Mythe geworden, und im Jahre 1873 berichtete Henry Edwards, ebenfalls vom Hörensagen, daß bei Santa Fe in Neu-Mexico Ameisen vorkämen, die unter der Erde ein Zellennetz ähnlich einer Bienenwabe „webten“, und die einzelnen Zellen mit Honig füllten, welchen sie ebenso wie die Bienen aus Blumen sammelten. Man sieht, alle diese ersten Nachrichten stammten aus zweiter Hand, und keiner dieser Berichterstatter hatte einen Bau der Honigameise selbst untersucht; erst im Jahre 1875 kamen ausführlichere Nachrichten von Saunders, Löw, Kummeck und anderen Beobachtern, welche die Honigameisen in der letzterwähnten Gegend, unweit der Hauptstadt von Neu-Mexico studirt hatten, wobei aber noch sehr viele Punkte völlig dunkel blieben, wie denn z. B. Saunders glaubte, daß diese Ameisen ihren Honig aus Blättern bereiteten, die er sie in Menge eintragen sah.
Unter diesen Umständen beschloß der durch eine lange Reihe von trefflichen Abhandlungen und Werken über amerikanische Ameisen bekannte Entomologe McCook, ihr Leben und Treiben genauer zu studiren, und wollte zu diesem Zwecke im Juli 1879 nach Neu-Mexico reisen. Unterwegs, bei einem Aufenthalte zu Manitou (Colorado), besuchte er den dort gelegenen „Garten der Götter“, eine pittoreske Gegend, in welcher sich auf dem engen Bezirke von kaum einer halben Quadratmeile ein Miniaturgebirge erhebt, dessen in allen Richtungen sich durchkreuzende Hügelketten auf ihren Gipfeln hervortretende Zacken
[177] von rothem Sandstein tragen, die wegen ihrer Aehnlichkeit mit grotesken Götzenbildern der Gegend jenen romantischen Namen gaben. Auf dem Rücken jener Hügelketten entdeckte McCook die niedrigen kegelförmigen Hügel einer Ameise, die er bald als eine nahe Verwandte der mexicanischen Honigameise erkannte, weshalb er seine Weiterreise aufgab und sein Beobachtungszelt in dieser anmuthigen Gegend aufschlug.
Die unterirdischen Nester dieser Myrmecocystus hortus deorum getauften Art waren abweichend von denen der mexicanischen Honigameise, über die sich gar kein Hügel erhebt, durch abgestutzte, niedrige Kegel aus grobem Kiessand von zwei bis drei Zoll Höhe bei sechs bis sieben Zoll Durchmesser an der Basis gekennzeichnet (Fig. 1), und sie befanden sich stets auf den Kämmen der Hügelketten, niemals in den zwischen ihnen befindlichen Schluchten, wahrscheinlich, um den Wasserfluthen zu entgehen, die sich bei Regengüssen dort hinabwälzen. Mitten auf dem Gipfel des kleinen Kegels findet sich eine trichterförmige Einsenkung, von welcher eine einfache, seltener doppelte Eingangsröhre in den Bau hinabführt. Aus dieser Pforte lugen beständig zahlreiche Schildwachen, welche die Ordnung an diesem Eingange aufrecht erhalten. Durch Oeffnung mehrerer solcher Hügel überzeugte sich McCook, daß die Eingangsröhre gewöhnlich nur ein kürzeres Stückchen senkrecht hinabsteigt, dann einen Winkel macht und in abschüssiger Richtung zu dem Labyrinthe von Gängen, Kammern und größeren Räumen führt, welches bis zu einer Tiefe von mehreren Fußen in dem weichen, zerreiblichen Sandsteinfelsen ausgehöhlt ist, der das Gerippe dieser Berglandschaft bildet.
Eins der von unserm Gewährsmann eröffneten Nester nahm beispielsweise einen Raum von acht Fuß Länge, drei Fuß Tiefe und anderthalb Fuß Breite in dem Felsboden ein, was eine beträchtliche Minirarbeit erfordert haben muß. In der inneren Architektur der einzelnen Nestabtheilungen zeigt sich ein bemerkenswerther Unterschied darin, daß die Wandungen der Gänge, Versammlungs- und Puppenräume, sowie des Königin-Gemaches ganz glatt und eben gehalten werden, während in den sogleich näher zu beschreibenden Honigkammern Wendungen und Wölbungen völlig rauh und ungeglättet geblieben sind, offenbar, um den Honigameisen das Festklammern an denselben zu erleichtern.
Diese Honigkammern oder Keller, von denen die obersten gewöhnlich schon wenige Zoll unter der Erdoberfläche angetroffen wurden, sind im Grundriß meist elliptisch, zwei bis drei Zoll lang bei dreiviertel bis ein Zoll Höhe und an ihren Wölbungen mit Häufchen von Honigameisen bedeckt, die sich mit ihren Füßen festgeklammert halten, während der honiggefüllte Hinterleib gerade herabhängt, sodaß sie in ihrer Zusammendrängung häufig den Anblick kleinbeeriger Weintrauben darbieten (Fig. 2).
Eine genauere Untersuchung dieser Thiere ergab, daß sie sich anatomisch in keinem wesentlichen Punkte von den gewöhnlichen Arbeitern, die in drei Größen vorhanden sind, unterscheiden, außer daß eben ihr Kropf oder Vormagen mit Honig derartig überfüllt ist, daß der eigentliche Magen und die Eingeweide in ein kleines Klümpchen nach unten und hinten gedrängt werden, weshalb sie von einigen Beobachtern ganz übersehen worden sind. Durch diese Ueberfüllung und Ausdehnung des Kropfes, welche man im Uebrigen auf allen Stufen der Entwickelung antrifft, werden die dunkleren Rückenbrustplatten, welche sonst ringförmig und dicht an einander schließend den Leib panzern, weit aus einander geschoben, während die sie verbindende zarte, durchscheinende Haut sich ausdehnt, emporwölbt und endlich den größten Theil des Umfangs ausmacht, auf welchem die sonst dichtstehenden dunkleren Platten nunmehr weitgetrennte hervortretende Streifen bilden. Ob die Honigträger ihren Platz an der Kammerwölbung ohne fremde Hülfe erreichen, oder ob sie dorthin von ihren behenderen Cameraden geschoben werden, konnte nicht festgestellt werden; ebenso bleibt es vor der Hand noch eine offene Frage, ob ihr Kropf ausschließlich von den anderen Arbeitern mit Honig angefüllt wird, oder ob sie in ihrer ersten marschfähigen Jugendperiode selbst Honig einsammeln und aufspeichern. Jedenfalls muß diese letzte Füllung ihres [178] Silenbauches[2] durch fremde Kräfte erfolgen, denn die Honigträger sind in den späteren Stadien ihres Körperumfanges nicht mehr im Stande, weitere Wege, geschweige bis zu den entfernten Honigquellen zurückzulegen.
Die nächste Frage war nun natürlich, woher die Ameisen ihre bedeutenden Honigvorräthe holen, und diese Frage war nicht ohne einige Umständlichkeit zu beantworten, da sie nächtliche Thiere sind, bei Tage ihr Nest gar nicht verlassen, ja sogar durch die Strahlen der heißen Augustsonne binnen wenigen Minuten getödtet wurden, als man sie denselben aussetzte. McCook mußte deshalb ein bestimmtes Nest Tag und Nacht überwachen und fand dann, daß der Auszug der Arbeiter bald nach Sonnenuntergang begann, sich geradenwegs nach dem über fünfzig Fuß von dem Neste entfernten Stamm einer niedrigen Eiche richtete, und denselben in circa siebenzehn Minuten erreichte. Diese Buscheiche, welche im „Garten der Götter“ vielfach kleine Bestände bildet, gehört einer Varietät von Quercus undulata an. Bei Laternenlicht sah er die Ameisen den Stamm ersteigen, von Zweig zu Zweig eilen und sich bei Gruppen von kleinen Gallen sammeln, die sie eifrig absuchten.
Es handelt sich dabei aber nicht, wie anfangs erwartet wurde, um die Ausbeutung etwa auf diesen Gallen lebender Blattlausheerden, sondern die jungen grünen Auswüchse zeigten sich vielmehr mit stecknadelkopfgroßen Ausschwitzungen von Zuckersaft bedeckt, welchen die Ameisen gierig aufleckten, während die älteren hart gewordenen, rothbräunlichen Gallen solche Ausschwitzungen nicht weiter darboten. Der Rückzug der ersten Ameisen von dem Erntefelde begann bereits kurz vor Mitternacht, aber es kam die vierte bis fünfte Morgenstunde heran, bevor die letzten Auszügler das Nest, in welchem sie sich dann den ganzen Tag verborgen hielten, wieder erreicht hatten. Höchst wahrscheinlich wird ein Theil des Tages damit zugebracht, den im Ueberflusse aufgenommenen Honig wieder emporzuwürgen, um theils die jungen, unentwickelten Larven, sowie die Königin damit zu füttern, theils die schon halbgefüllten Honigameisen damit vollends anzufüllen.
Es kann wohl kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß der Zweck dieser Anfüllung lebendiger Behälter thatsächlich darauf hinausgeht, sich für die Zeiten des Mangels einen Zehrvorrath aufzuspeichern, der jeden Augenblick zur Verfügung steht; denn die Honigameise läßt, bei dem geringsten Druck ihres Leibes sofort ein kleines Tröpfchen Honig aus ihrem Munde hervortreten, den sie jederzeit bereit ist, ihren hungrigen Nestgenossen mitzutheilen (Fig. 3). Die Königin, die jungen Weibchen, die Männchen, die zahlreichen jungen Larven in den überfüllten Kinderstuben sind beständig auf die ihnen von den Arbeitern übermittelte Nahrung angewiesen. McCook hat dann auch einzelnen Nestern vier Monate lang alle Nahrungszufuhr mit Ausnahme von reinem Wasser abgeschnitten, und fand nach Verlauf dieser Zeit die Arbeiter alle sehr munter und wohlgenährt, die Honigträger zwar deutlich, wenn auch nicht in dem erwarteten Maße, ihres Inhalts beraubt.
Das Benehmen der Arbeiter ist den Honigträgern gegenüber für gewöhnlich sehr zärtlich, dennoch erfreuen sich die letzteren ihrer Hülfsbereitschaft nicht in dem Maße, wie man eigentlich erwarten möchte. Sie müssen sich in ihrer unbequemen hängenden Stellung den Körper mit den freien Vorderfüßen selbst reinigen, und von der Decke herabgefallene Exemplare, die sich nicht selbst wieder auf die Füße helfen konnten, blieben monatelang in ihrer hülflosen Lage. Während bei einer Störung der Nester die Ameisen aller anderen Arten ihren hülflosen Schutzbefohlenen, den Maden und Puppen, die größte Sorgfalt zu widmen pflegen, vernachlässigten die Arbeiter der in Rede stehenden Art die Honigträger bei solcher Veranlassung ganz und gar. Nur einmal sah McCook, wie ein Arbeiter eine Honigameise unterhalb einer künstlich gemachten Spalte emporzog (Fig. 4 b). Wurde ein ausgehobenes Nest an irgend einer Stelle ausgeschüttet, so beeilten sich die Arbeiter, neue Gänge anzulegen, wobei sie sich so wenig um die Honigträger kümmerten, daß sie diese beinahe unter der aufgewühlten Erde begruben. Wurden dagegen bei der Störung eines Nestes Honigameisen derartig verwundet, daß ihr Hinterleib von dem übrigen Körper getrennt war, so ließen die Arbeiter Larven und Puppen im Stiche und fielen mitten in dem allgemeinen Wirrwarr über die eröffnete Honigquelle her, um sie aufzulecken. In merkwürdigen Gegensatze hierzu stand ihr Benehmen den eines natürlichen Todes verstorbenen Honigträgern gegenüber. Sie trennten dann den runden Hinterleib des bequemeren Fortrollens wegen von den anderen Gliedmaßen, begruben aber beide sorgfältig auf dem gemeinschaftlichen Friedhofe, den sie gleich vielen anderen Ameisenarten außerhalb ihres Nestes unterhalten. Ob ein strenger Brauch der Unverletzlichkeit der Honigträger, ob Erfahrungen über die Schädlichkeit des Honigs solcher eines natürlichen Todes verstorbenen „Behälter“ sie zu diesem Thun veranlassen, muß natürlich unentschieden bleiben. Uebrigens haben sie auch die Gewohnheit, einen Honig, den sie als schädlich oder ekelhaft erkannt haben, z. B. einen mit Carmin gefärbten Honig, der zu Controlversuchen dienen sollte, mit Erde zu überschütten, anscheinend damit nicht andere, weniger erfahrene Mitglieder des Nestes davon genießen.
Von ihren sonstigen Gewohnheiten verdient noch hervorgehoben zu werden, daß die Königin, welche ungefähr die Länge einer Honigameise (ohne deren Leibesumfang) erreicht, wie bei anderen Ameisenarten beständig von einer Leibgarde aus zehn bis zwanzig Arbeitern umgeben ist, die sie mit großer Aufmerksamkeit bewachen (Fig. 4 a). Bei einer Gelegenheit, als sie aus ihrem großen, gewöhnlich am äußersten Ende des Nestes belegenen Staatsgemache entwischt war, um sich wieder einmal die Oberwelt anzusehen, beobachtete McCook, wie sie von einem großen Arbeiter mit Gewalt wieder in den Nesteingang hineingezerrt wurde.
Außer dem schon erwähnten Gebrauche der Honigträger als Dessert, preßt man ihre Leiber in verschiedenen Gegenden auch aus, um den so gewonnenen Honig zum Versüßen der Speisen, als äußerliches und innerliches Arzneimittel, ja sogar auch zur Bereitung eines berauschenden Getränkes durch Gährung (nach Art des aus Bienenhonig bereiteten Meth) zu gebrauchen.
In der That besitzt der Ameisenhonig fast denselben angenehmen Geschmack wie Bienenhonig, ja derselbe gewinnt sogar noch durch ein gewisses säuerliches Aroma an Wohlgeschmack. Er erscheint seiner Consistenz nach etwas dünner als Bienenhonig und ist nach Dr. Wetherell’s Analyse als eine Auflösung von reinem, unkrystallisirtem Traubenzucker in Wasser zu betrachten. Ein von Dr. Loew ausgegangener Vorschlag, die Honigameisen ebenso wie die Honigbienen zu züchten, verspricht jedoch nach McCook’s Erhebungen kaum einen lohnenden Erfolg. Er fand nämlich, daß selbst die größten Nester höchstens gegen sechshundert Honigameisen enthielten, während fast die doppelte Anzahl nöthig wäre, um ein einziges Pfund ausgelassenen Honig zu liefern. Außerdem dürfte den meisten Personen ein aus lebenden Insecten (und zumal aus Ameisen!) gepreßter Honig kaum als eine besonders verlockende Speise erscheinen. Den Indianern Mexicos, Neu-Mexicos und Colorados dürfte mithin das Monopol der Ameisenhoniggewinnung auch fernerhin ungeschmälert verbleiben.
Zum Schlusse haben wir noch zu erwähnen, daß vor etwa drei Jahren auch zu Adelaide in Australien eine Honigameise entdeckt worden ist, welche 1880 Sir John Lubbock von Gerald Waller zugesandt erhielt, worauf sie Camptonotus inflatus getauft wurde. In Fig. 5 sehen wir vergrößerte Bilder der nordamerikanischen und der australischen Art neben einander. Bei aller äußeren Aehnlichkeit sind sie indessen nicht näher mit einander verwandt, gehören vielmehr zu ganz verschiedenen Abtheilungen des Ameisengeschlechts. Es kann demnach kein Zweifel darüber bestehen, daß der Instinct derselben, einzelne unter ihnen durch Ueberfüllung mit Honig in lebendige Vorrathstöpfe zu verwandeln, bei beiden so weit von einander entfernt lebenden Arten unabhängig von einander entstanden sein muß. Die Art und Weise, wie dies geschehen sein kann, macht dem Begreifen wenig Schwierigkeiten, denn auch bei anderen Ameisen trifft man gelegentlich Arbeiter, die mit überfüllten Kröpfen von dem Melken ihrer Milchkühe (Blattläuse) zurückkehren, den Ueberschuß aber gewöhnlich unmittelbar zur Ernährung der Brut etc. verwenden. Bei den Honigameisen fände sich also nur der Unterschied, daß die größeren Arbeiter immer mehr Honig aufnehmen, der ihnen zuletzt von ihren Cameraden zugetragen wird, bis der Kropf kugelrund aufgeschwollen ist und die übrigen Eingeweide in einen kleinen Winkel zusammengedrängt hat. Mancher Süßschnabel möchte das Loos, sich auf diese Weise für das Wohlergehen seiner Mitbürger opfern zu können, wohl nicht gar zu sauer finden, zumal er bei jeder Fütterung der Anderen den Wohlgeschmack von Neuem mitkostet.
[179]Die Anfänge des Geldes.
Wie sinnig hat unsere Muttersprache das Wort für jenes Gut gewählt, mit welchem wir alle anderen Güter in der menschlichen Wirthschaft eintauschen! Sie nennt es Geld, weil es überall gilt. Am Faden dieses Gedankens findet man sich im Labyrinthe des Geldbegriffes leicht zurecht, der nach der Bemerkung eines englischen Schriftstellers viel mehr Menschen verrückt gemacht habe, als die Liebe!
„Aber was gilt denn überall,“ wird man fragen, „da Datteln, Stockfisch, Salz, Felle, Vieh einmal Geld gewesen sind?“ Die Antwort wäre leicht. Doch – versetzen wir uns einige Augenblicke in eine Ansiedelung im fernen Westen, dann wird eine Antwort überflüssig sein.
Ueber das fruchtbare Thal zerstreut wohnen einige Dutzend Ansiedler. Nach und nach haben sich ein Schmied, ein Schneider, ein Schuster eingefunden und hantiren mit dem Blasebalge, der Elle und dem Pechdrahte. Darauf kam ein junger Arzt. Ja zuletzt hat dort ein Setzer eine Zeitung gegründet. Die Ansiedler sind weit vom Markte entfernt. Sie erhalten nur selten kingende Münze für ihre Waaren, und wenn der Schmied, der Schuster und der Schneider für die Farmer arbeiten, dann bekommen sie Getreide, Kartoffeln, ein fettes Schwein für ihre Schuhe, ihre Nägel, ihre Schlösser und Röcke. Bei dem Arzte sammelt sich eine wilde Collection von Weizen, Stiefeln, Hosen, Schuhnägeln und Kartoffeln an. Der Setzer versteht es, sich mit Geschick in die Culturverhältnisse vergangener Jahrhunderte zu versetzen. Er kündet auf dem Titelblatte seiner Zeitung an, daß ein Jahresabonnement ein Paar Stiefel oder drei Hektoliter Weizen oder fünftausend Schuhnägel oder ein Dutzend ärztliche Besuche koste. Bis jetzt sieht das noch ganz lustig aus. Aber es häufen sich Schwierigkeiten auf Schwierigkeiten. Wie viel Pfund Kartoffeln ist ein Recept werth? Wie viel Centner Getreide ein Anzug? Wie viele Hufnägel gehen auf eine gute Weste? Wenn die Leute in der Colonie nun daran denken, daß es ihnen in Europa leicht wurde zu sagen, wie viel ein jeder Gegenstand werth war, dann kommen sie zur Erkenntniß einer Seite des Geldes, die wir in unseren civilisirten Zuständen meistens übersehen, daß es nämlich der allgemein geltende Werthmaßstab ist, daß wir an ihm den Preis der Dinge messen, wie wir am Pfunde ihre Schwere, am Meter ihre Länge messen. Von welcher Bedeutung das ist, wird man sich unschwer vorstellen können, wenn man es versucht, zehn Dinge, die man um sich hat, an einander abzuschätzen. Drückt man ihren Werth in Geld aus, so braucht man nur zehn Preisangaben, mißt man ihren Werth aber an einander, dann hat man fünfundvierzig Werthangaben nöthig.
Dann kommt eine zweite Schwierigkeit. Der Schuster hat unglücklicher Weise am Schmied seinen besten Kunden, weil er die meisten Stiefel zerreißt, hier und da ein Schurzfell braucht, aber der Schmied kann ihm dafür nur immer wieder Schlösser und Schuhnägel liefern. Der Schuhmacher müßte ja verhungern, wenn er nur immer Nägel erhielte. Getreide ist ihm jedenfalls lieber, davon kann er sich Brod backen, wenn es auch vorkommen mag, daß er zu viel erhält, es nicht wieder los wird und sich Leder dafür anzuschaffen nicht im Stande ist. Bei diesen und ähnlichen Vorkommnissen werden auch die Leute im fernen Westen durch eine Vergleichung mit den Zuständen in Ländern mit Gold- und Silbergeld der Annehmlichkeit bewußt werden, etwas für ihre Mühe zu erhalten, wofür überall ein Bedürfniß vorhanden ist, was leicht von Hand zu Hand wandert, was überall gilt. Sie fühlen das Bedürfniß eines allgemeinen Tauschmittels. Wir köunen es nun leicht verstehen, daß in verschiedenen amerikanischen Colonien der Tabak lange Zeit als allgemeines Tauschmittel, als Geld gebraucht wurde.
Doch wir sind mit den Schwierigkeiten noch nicht zu Ende. Der Arzt hat dem Schneider einmal im Jahre ein Recept zu verschreiben. Nun rechnet der Schneider, daß zwanzig ärztliche Besuche auf einen Rock gehen. Was soll da geschehen? Soll der Rock in zwanzig Theile getheilt und ein Theil dem Arzte ausgezahlt werden? Dann hätte der Rock gar keinen Werth mehr. Wie viele Vorzüge hat da das Metallgeld! Die kleinsten Beträge bis auf den Pfennig herunter und die höchsten bis in die Milliarden hinauf lassen sich durch eine Stufenleiter von Münzen berichtigen. Der Stoff, welcher zur Würde des Geldes erhoben werden soll, muß aber leicht theilbar sein. Und nun kommen wir zur letzten Schwierigkeit.
Man denke sich, daß der Zeitungsverleger in einer Gegend lebt, wo hauptsächlich Baumfrüchte gezogen werden. Für sein Blatt werden ihm die Kirschen centnerweise in’s Haus geschickt. Was soll er damit machen? Sie alle essen oder verfaulen lassen? Die Nutzanwendung liegt auf der Hand. Der Geldstoff muß leicht aufbewahrt werden können.
Was überall gelten soll, muß also drei Anforderungen entsprechen: sein Besitz muß erstens von Allen oder den Meisten erstrebt werden, es muß zweitens leicht theilbar und drittens dauerhaft sein. Der Gegenstand, welcher diesen Anforderungen in einem bestimmten Lande, zu einer bestimmten Zeit am meisten entspricht, wird allgemeines Tauschmittel, und der Preis aller Sachen wird in ihm festgesetzt. Er wird Geld. Nun sind die Bedürfnisse und die Naturproducte in verschiedenen Ländern verschieden, ebenso verschieden wird der Geldstoff sein.
Beobachten wir zunächst, welchen Einfluß das zwingendste Bedürfniß, der Hunger, in Ländern mit verschiedenen Producten hat. An den westlichen Abhängen des Hochlandes von Anahuac ist die Heimath der Cacaobohne. Cacao war das Nationalgetränk der Mexicaner. Die Bohne entsprach also einem allgemeinen Bedürfnisse. Sie läßt sich bekanntlich leicht aufbewahren. Eine einzige Bohne hat geringen Werth, aber da ihre Zahl einer unberechenbaren Zunahme fähig ist, können mit Cacaobohnen auch werthvolle Gegenstände bezahlt werden. Wir können uns daher nicht darüber wundern, daß sie den Mexicanern als Geld gedient hat.
Dasselbe trifft bei der Dattel zu. Wer hat niemals von den Lobsprüchen der Orientalen auf die Datteln gehört? Eine gute Hausfrau, heißt es, kann einen Monat lang ihrem Hausherrn jeden Tag eine neue von Datteln bereitete Speise vorsetzen. Sie ist denn auch in der Oase Siwah in Afrika und in verschiedenen Theilen Persiens Geld gewesen. Das Dattelgeld eröffnet uns einen eigenthümlichen Blick auf die Weise, wie sich im Leben die Erscheinungen an einander reihen. Als später in Persien Metallgeld geschlagen wurde, hatten die ersten Münzen die Gestalt eines Dattelkerns.
Auf ähnliche Betrachtungen führt uns der Kabeljau, der bekanntlich in großen Mengen auf der Bank von Neufundland gefangen wird. Wenn man bedenkt, wie sehr wilde Völker, ja die Fischer in unserer Zeit auf Fischnahrung angewiesen sind, wie leicht sich der Kabeljau aufbewahren läßt, da er gesalzen, getrocknet, getrocknet und gesalzen werden kann, mit wie geringer Mühe das Thier in die kleinsten Theile zu zerlegen ist, dann wird man in Papiergeldländern geneigt sein, die Neufundländer um ihr gutes Stockfischgeld zu beneiden.
Wenden mir uns nun von der unwirthlichen Insel im atlantischen Ocean nach den Hochebenen des inneren Asiens und nach Sibirien! Dort sehen wir den Thee in Ziegelform als Geld von Hand zu Hand wandeln, was wir bei den Eigenschaften des Thees (Dauerhaftigkeit und Theilbarkeit) und dem allgemeinen Bedürfniß nach demselben fast selbstverständlich finden.
Was wäre die beste Speise ohne die einfachste, die älteste Würze, das Salz? Erwägt man, daß Reich und Arm es gebrauchen muß, daß es leicht theilbar und dauerhaft ist, dann erblickt man gar nichts Befremdendes darin, es in vielen Erdstrichen, besonders aber in salzarmen Gegenden mit der Würde des Geldes bekleidet zu sehen, so z. B. an der Grenze von China und Birma und besonders im inneren Afrika. Wie der Thee in Ziegelform von bestimmter Größe gepreßt wird, damit an ihm leicht alle Gegenstände gemessen werden können, so giebt man dem Salze die Form einer Tafel oder eines Barrens von conventionellem Umfang. Kleine, längliche Salzwürfel haben in manchen Gegenden Afrikas ungefähr den Werth von 5 Pfennig.
Dem Nahrungsbedürfniß giebt das Bedürfniß nach warmer Kleidung in kalten Gegenden nichts nach. Die Jägervölker bieten das Schauspiel, daß dieses Bedürfniß und der Charakter ihres Erwerbes über den Geldstoff entscheiden. Was ist auf diesen niedrigen Culturstufen das Wünschenswertheste und Dauerhafteste? [180] Nicht die Speise, das Fleisch der Thiere, das die Menschen sich auf täglicher Jagd in Wald und Wasser spielend erwerben, sondern das Fell der Thiere. In Felle kleidet sich der Jäger; auf Fellen schläft er, und gegen Felle kann er von den umherziehenden Händlern Branntwein, Messer, Büchsen eintauschen. Es ist daher nur natürlich, daß die Jägervölker ein Fell- und Pelzgeld besitzen. Aber sind Felle leicht theilbar? Das nicht, aber es giebt Felle von verschiedenem Werthe. Für einen Gegenstand von geringem Werthe giebt man das Fell eines minderwerthigen Thieres, Das Fell einer seltenen Bestie gilt so viel wie mehrere Felle einer gewöhnlichen. Man sehe sich folgende Gleichung an: 12 Marderfelle = 4 Biberfelle = 2 Fuchsfelle = 1 Fell eines schwarzen Fuchses. Liest sie sich nicht wie etwa die folgende: 2000 Kupfermünzen = 200 Nickelmünzen = 20 Silbermünzen = 1 Goldstück (20 Mark)? Eine Büchse kostet dort 15 Biberfelle. Stellen wir uns einen Indianer vor, der zwar nur 8 Biberfelle besitzt, aber noch anderes Pelzwerk auf Lager hat. Wenn er zu den 8 Biberfellen noch das Fell eines schwarzen Fuchses, eines weißen Fuchses und obendrein 3 Marderfelle legt, dann geht die Flinte in seinen Besitz über.
Selbst in einem großen europäischen Lande, in Rußland, hat das ganze Mittelalter hindurch Pelzgeld bestanden. Hier entwickelte sich nun etwas, was an den Unterschied von Metall- und Papiergeld erinnert. Das Papiergeld hat, wie alles symbolische Geld, nur so lange Werth, wie der Glaube allgemein verbreitet ist, daß man von den Staatskassen baares Geld dafür erhalten kann. In Rußland wurde es Sitte, im Verkehr nicht mehr mit Fellen zu bezahlen, sondern mit kleinen Lederstückchen. Ein Lederstückchen war eine Anweisung auf ein Fell in den öffentlichen Magazinen. Dies Verfahren erleichterte zwar den Verkehr, als jedoch nach der Eroberung des Landes durch die Mongolen die Magazine von diesen in Besitz genommen wurden und die Sieger die Lederstückchen nicht in Zahlung nahmen, waren die Besitzer der Lederstückchen ebenso arm, wie die Inhaber werthloser Actien.
Auf einer ganz anderen Culturstufe stehen die Hirtenvölker, wie wir z. B. die Juden im alten Testamente kennen lernen. Sie legen einen besondern Werth nicht auf das Fell des Thieres, sondern auf das Thier selbst. In großen Heerden von Schafen, Ziegen, Rindern besteht ihr Reichthum. Das Vieh giebt ihnen Nahrung und Kleidung. Die Bedürfnisse des Viehes zwingen sie zu einem langsamen Wandern. Die Natur ihres Erwerbes verleiht ihrem Familien-, ihrem Stammleben sein eigenthümliches Gepräge. Darum ist das Viehgeld bei allen Hirtenvölkern geradezu eine Naturnothwendigkeit. Deutliche Spuren von der Existenz des Viehgeldes zeigen sich in Griechenland, in Rom, bei den Persern, sowie bei den nord- und südgermanischen Völkern. In den allerältesten Zeiten setzten die Gesetzgeber die Bußen und Strafen nicht in Metallgeld, sondern in Vieh fest. Die römische „multa“ war eine ursprünglich in Vieh zu erlegende Strafe. Das geringste Strafmaß war ein Schaf, das höchste dreißig Rinder.
Nach der Einführung des Metallgeldes mußten die Viehstrafen in Geldstrafen umgewandelt werden.
Dieser Culturzustand spiegelt sich deutlich in den Werken des griechischen Dichters Homer. So heißt es an einer Stelle der Ilias:
„Doch den Glaukos erregete Zeus, daß er ohne Besinnung
Gegen den Held Diomedes die Rüstungen, goldne mit eh’rnen
Wechselte, hundert Farren die werth, neun Farren die andre.“
Und in einer andern:
„Peleus Sohn nun setzte noch andere Preise des Kampfes,
Zeigend dem Danaervolk, des mühsam strebenden Ringens:
Erst dem Sieger ein groß dreifüßig Geschirr auf dem Feuer,
Welches an Werth zwölf Rinder bei sich die Danaer schätzten;
Doch dem Besiegten stellt er ein blühendes Weib in den Kampfkreis,
Klug in mancherlei Kunst, und geschätzt vier Rinder am Werthe.“
Daß die Viehgeldperiode tiefgreifend und lang andauernd war, geht allein daraus hervor, daß das älteste Wort der lateinischen Sprache für Vermögen, Geld von dem Worte für Vieh abgeleitet ist. „Pecus“ heißt das Vieh, pecunia das Vermögen, das Geld. Ebenso hat „peculium“ die Bedeutung von Vermögen. „Peculatus“ ist die Unterschlagung von öffentlichen Geldern. Diese Ausdrücke haben sich in den romanischen Sprachen erhalten, so in dem französischen péculat (Cassendiebstahl) und pécule (selbst erworbenes Vermögen). Sprechen wir nicht täglich von pecuniären Verhältnissen? Die gleiche Erscheinung weist die isländische Sprache auf, in welcher Fe (Vieh) Vermögen bedeutet. In Griechenland und in Rom zeigten sich noch Spuren der älteren Periode, als das Metallgeld das Viehgeld verdrängt hatte. Die rohen Geldwürfel der alten Zeit waren in Athen mit dem Bilde eines Stieres, in Rom mit den Darstellungen von Schafen und Rindern geschmückt. Es vollzog sich also ein ähnlicher Proceß, wie wir ihn beim Dattelgeld beobachtet haben.
Zwischen der unteren Wolga und dem Randgebirge der ostasiatischen Hochebene dehnt sich eine weite Steppe aus, welche von den nomadisirenden, heerdenreichen Kirgisen bewohnt wird. Dieses Volk ist deshalb für uns von Interesse, weil es das Tauschmittel der Jägervölker und der Hirtenvölker in sein Geldsystem verwebt hat. Neben Vieh werden Wolfs- und Löwenfelle in Zahlung genommen.
Wenn endlich äußere Umstände ein Wandervolk zur Seßhaftigkeit zwingen, dann muß es Wälder fällen, Gräben ziehen, Sümpfe austrocknen, die Erde roden, Brücken schlagen und Häuser bauen und oft die mühsam errungene Frucht seiner Arbeit mit dem Schwerte in der Faust vertheidigen. Nun werden ihm vor Allem die Metalle wichtig, woraus sich Ackergeräte und Rüstungen verfertigen lassen. In der Wahl des Metalles ist der Mensch nicht frei. Er ist an die Gesteine seines Landes gebunden und von der erworbenen Fertigkeit in der Behandlung der Metalle abhängig.
Aus diesem Grunde umfaßt die Bronzeperiode die ersten Jahrhunderte der europäischen Culturentwickelung, aus jenem bedienten sich die Griechen des Eisens, die Römer des Kupfers zu den erwähnten Zwecken. Leicht vollzieht sich nun der Uebergang zu einem aus unedlen Metallen gefertigten Gelde, da es einem allgemeinen Bedürfnisse entspricht und vor allen anderen Geldstoffen dauerhaft und theilbar ist. Bei den Chinesen und Malayen wird Zinn, in Senegambien Eisen Geld. Auch in Griechenland soll das erste Metallgeld aus Eisen bestanden haben. Die Völker des alten Italiens dagegen wies der Boden der Halbinsel und der frühe Handelsverkehr mit der kupferreichen Insel Cypern auf die Wahl des Kupfers hin. Aus einer Mischung von diesem Metall und von Zinn (Bronze) gossen sie Stücke von länglich viereckiger Form, zwei bis drei Pfund schwer, Würfel ohne Werthzeichen, ohne Gepräge, Stücke von gedrückt elliptischer Gestalt, wie ein im Jahre 1828 bei Volci aufgefundener vergrabener Schatz dargethan hat.
In der allerältesten Zeit sind also die Stücke ohne Gepräge; erst später versieht man sie mit dem Bilde von Thieren. Bei Käufen und Verkäufen werden die Kupferstücke auf der Wage gewogen. Noch später entwickeln sich aus den Metallstücken Münzen, indem der Staat auf den Bronzewürfeln und -barren den nominalen Werth derselben angiebt.
Ihre Bronze nannten die Römer „aes“. Die Abschätzung einer Sache, z. B. die Umwandlung der Vieh- in Geldbußen, der auf eine bestimmte Geldsumme lautende Urtheilsspruch des römischen Richters, hieß in der Sprache „aestimatio“ (ein Wort, dessen erste Silbe „Bronze“ bedeutet). Daher aestimare, estimer, stimare etc. Wer von uns behauptet, daß er nicht genug „ästimirt“ werde, beschwört folglich den Schatten des römischen Bronzegeldes herauf.
Eine ganz andere Wendung werden die Geldverhältnisse eines Volkes, wie das indische, nehmen, dessen Individuen, unter einem sonnigen Himmel, in einem fruchtbaren, aber metallarmen Lande, mit einer Hand voll Reis ihren Hunger stillen und mit einem Schurze ihre Bekeidungsbedürfnisse befriedigen. Der unbeschäftigte Geist sinnt auf glänzenden Körperschmuck. Da bieten sich zunächst die Muscheln dar. Jeder Leser begreift unschwer, daß unter diesen Umständen die Muschel in die Stelle des Geldes gedrängt wird. Thatsächlich benutzt man die Kaurimuschel in weiten Strecken Asiens und Afrikas als Geld. Sie wird in großen Mengen bei den Malediven, südwestlich von Vorderindien, gefunden und nach Bengalen, Siam sowie anderen Ländern des östlichen Asiens verschifft. Der Bestimmungsort der größten Menge ist aber die berühmte Handelsstadt Sansibar, auf der Insel gleichen Namens an der Ostküste von Afrika. Von dort führen arabische Händler sie in den dunklen Erdtheil ein. Schon seit Jahrhunderten scheint sie den Schmucktrieb der Menschen besonders gefesselt zu haben. Denn sie findet sich in Urnen und
[181][182] alten Gräbern in Preußen, Schweden und in England. Im siebenzehnten Jahrhundert herrschte das Muschelgeld in Indien und auf den Philippinen, und noch heutigen Tages gilt es sowohl in Siam, als in dem breiten, Sudan genannten Gürtel, der das mittlere Afrika durchsetzt.
Auch die allmähliche Einführung der Edelmetalle als Geld ist auf die ästhetische Natur des Menschen zurückzuführen. Ihr Glanz, ihr Klang, ihre Schwere, ihre Seltenheit bestimmte sie zunachst zu Luxusgegenständen für Könige und Vornehme und zu Weihgeschenken für die Götter. Ihre Umwandlung aus einem Luxusmittel zu einem allgemeinen Tauschmittel ist eng mit der Entfaltung des Handels verknüpft. Wo ein lebhafter Handel große Werthe aus einem Lande in das andere beförderte, da richtete sich naturgemäß der Sinn der Kaufleute auf ein Zahlungsmittel, in dem man mit geringer Mühe bedeutende Beträge versenden konnte.
Den Bedürfnissen des Handels verdankt also das Edelmetallgeld seine Entstehung. In großen Handelsstädten oder Handelsstaaten hat es seinen Ursprung. Ueberall sehen wir es dem Zuge der Handelsentwickelung folgen, und bei fortschreitender Ausdehnung dieses Zweiges der menschlichen Werthschätzung vollzieht sich der naturgemäße Uebergang von dem minder edlen Metalle (Silber) zu dem edleren (Gold). Von Babylon, Phonicien, Kleinasien setzt es über das ägäische Meer nach Griechenland, dessen frühe Berührung mit der orientalischen Cultur bekannt und durch Schliemann’s Ausgrabungen in Mycenae in ein für unseren Gegenstand noch deutlicheres Licht gerückt worden ist. Allmählich erobert es auch den Wirthschaftsboden des jüngeren Volkes, das berufen sein sollte, ein politisches Band um die Mittelmeervölker zu schlingen. Im Jahre 268 v. Chr. werden die ersten Silbermünzen, sechszig Jahre später die ersten Goldmünzen in Rom geprägt.
Das Edelmetallgeld erscheint uns heutigen Tages als das natürlichste Tausch- und Zahlungsmittel. Und doch wäre man versucht, es die künstlichste zu nennen. Wenn man erwägt, daß alles Geld aus solchen Tauschmitteln hervorgeht, die einem Bedürfnisse des Menschen entgegenkommen, dann fühlt man sich veranlaßt zu fragen: Aber welches Bedürfniß befriedigt denn der Besitz an Gold und Silber? Eine ähnliche Frage scheint sich der geistvolle Daniel Defoe vorgelegt zu haben, da er den Robinson auf der einsamen Insel traurig auf einen Goldklumpen blicken läßt, aus dem er kein Feuer, keinen Rock und kein Mittagessen herstellen kann. Ein wenig Pelzgeld und ein wenig Dattelgeld hätte ihm bessere Dienste geleistet. Und in der Midas-Sage spukt etwas Aehnliches. Also welchen selbstständigen Werth hat ein Häufchen Zwanzigmarkstücke? – Doch wir wollen den Leser nicht in seinen Speculationen stören, die ihn vielleicht noch auf manche andere künstliche Zustände in unseren so natürlich erscheinenden Geld- und Creditverhältnissen führen werden.
Wie ich zu meiner Frau kam.
Die Eröffnung der großen Gewerbe-Ausstellung hatte mich im Beginn des Frühlings nach der Residenz geführt. Müde vom langen Stehen und Umhergehen, müder noch vom Schauen und Bewundern der zahllosen die mächtigen Culturfortschritte unserer Heimath hekundenden Wunderdinge dieser Ausstellung, kehrte ich eines Nachmittags in meine Wohnung zurück.
Von meinen Freunden hatte ich mich, eine weitere Verabredung für den Abend treffend, verabschiedet und lenkte meine Schritte nun einem der stilleren Stadtviertel zu, in welchem mein Hôtel belegen war. Je seltener die großen Bazars und Schauläden wurden, um so geringer wurde auch das pflastertretende Publicum, wenigstens der Zahl nach. Im Uebrigen erschien es mir besser, das heißt vornehmer, als in dem lauten Treiben des Centrums, weil hier die hohen ernstblickenden Häuser auch meistens von höheren Beamten, von Stabsofficieren oder reichen Privatiers bewohnt wurden.
Vor mir her ging schon eine geraume Zeit eine junge elegant gekleidete Dame, bei einer Biegung der Straße hatte ich einmal flüchtig ihr feines Profil zu sehen bekommen und mich deshalb veranlaßt gefunden, auch dem Knoten des goldblonden, sonnig schimmernden Haares mit dem dunklen englischen Hütchen darüber, sowie der ganzen zierlich graziösen Gestalt des noch sehr jugendlichen Mädchens größere Aufmerksamkeit zu schenken.
Plötzlich stockte ihr Fuß; sie wandte sich halb, zögerte noch einen Augenblick und schritt dann hastig mir entgegen, an mir vorüber und den Weg zurück, den sie eben gekommen war. Vor uns, nicht gar weit, kam ein Officier mit einer Dame am Arme daher, eifrig plaudernd und lachend; sollten die meine holde Unbekannte so erschreckt haben? Ein plötzliches Interesse regte sich in mir; ich wollte Aufschluß über ihr sonderbares Benehmen haben, machte daher schleunigst Kehrt, folgte und hielt mich dann nur wenige Schritte hinter ihr.
Da sah ich, wie sie die kleine zusammengeballte Hand heftig auf’s Herz drückte und mit Thränen in den Augen in halb traurigem, halb zornigem Ausdruck etwas vor sich hin murmelte, das meine aufgeregte Phantasie sich in die Worte ausspann:
„O du thörichtes Herz, warum bist du nicht still: weshalb stieg mir das Blut in die Wangen und zwang mich zur Umkehr, wenn ich mich nicht verrathen wollte?“
Mich rührte unbewußt dies kindliche Gebahren, und mich beschlich ein Gefühl von Eifersucht gegen jenen Officier, den ich ja unwillkürlich mit dem jungen Mädchen bereits in Verbindung gebracht hatte. Hätte ich sie nur anreden dürfen, aber das konnte ich mir nicht erlauben, gehörte sie doch unzweifelhaft den ersten Kreisen der Gesellschaft an, und nichts lag mir ferner als eine Beleidigung. Doch der Zufall war mir günstig.
Ein kleines Paket, das sie bisher getragen, entglitt ihrem Arm, ohne daß sie es bemerkte: schnell hob ich es auf und gab es mit ein paar höflichen Worten der Eigenthümerin zurück. Sie maß mich mit einem erstaunten etwas hochmüthigen Blick, als ich länger, wie wohl gerade nöthig war, vor ihr stehen blieb. Ihre großen blauen Kinderaugen schwammen noch in Thränen, das feine Gesicht war tief blaß.
„Ich danke,“ sagte sie kurz, das Paket aus meiner Hand nehmend.
So schnell ließ ich mich aber nicht abweisen.
„Sie sind nicht wohl, mein gnädiges Fräulein,“ sagte ich. „Wollen Sie nicht meine Dienste annehmen?“
Etwas in meiner Stimme, vielleicht auch meine ruhige respectvolle Haltung schien ihr Vertrauen einzuflößen. Sie sah mich mit den thränenumflorten Augen noch etwas verwundert an, sagte dann aber minder herb als vorhin:
„Sie sind sehr freundlich, mein Herr, ich möchte wohl eine Droschke haben.“
Ich verbeugte mich und, während sie an einem Blumenladen stehen blieb, eilte ich die Straße hinunter und hatte bald einen leeren Fiaker gefunden, in welchem ich triumphirend und mit einem leisen Gefühl der Erwartung, was nun geschehen werde, zu meiner kleinen Unbekannten zurückfuhr. Sie hatte inzwischen ihre Fassung wiedergewonnen, nur ihre Hand zitterte noch, als sie sich beim Einsteigen in den Wagen leicht auf meine dargebotene Rechte stützte, auch fühlte sie sich durch den Handschuh eiskalt an.
„Ihre Wohnung?“ fragte ich.
Sie nannte eine der elegantesten Straßen im Westende, und wie ich dem Kutscher die Adresse zurief, wußte ich auch, daß ich dieselbe sicher nicht vergessen würde. Ich schloß den Wagenschlag, da beugte sie ihr schönes Köpfchen in das offene Fenster und dankte mir für meine Dienste, sie sprach aber so befangen, und in der Verwirrung färbten sich die blassen Wangen mit einem zarten Roth, sodaß sie noch um Vieles reizender aussah als vorhin.
„Darf ich morgen kommen und mich nach Ihrem Befinden erkundigen?“ wagte ich zu fragen, das schien sie aber nicht erwartet zu haben; sie zögerte mit der Antwort, und das Roth ihrer Wangen verdunkelte sich.
„Hü!“ machte der Kutscher in demselben Augenblicke; der Gaul zog an, und während ich mit einer Verbeugung auf das Trottoir zurücktrat, rumpelte der Einspänner schon die Straße hinunter.
Wie im Traume schritt ich hinterdrein meinem Hôtel zu. Ich mußte mich selbst belächeln; dieser Eifer, dies Interesse für eine mir völlig unbekannte Dame – waren an mir doch im Leben schon häufig schönere, blendendere Erscheinungen vorüber gegangen als dies kindlich schüchterne Mädchen, ohne daß ich mich sonderlich um sie gekümmert hätte. Ich wurde mir selbst zum Räthsel, faßte aber den festen Entschluß, morgen Näheres über diese Straßenbekanntschaft zu ermitteln. – –
Einige Stunden später saß ich mit einer Anzahl guter Bekannter in einem der ersten Restaurants unter den Linden. Der Verkehr war lebhaft, auch Damen sah man häufig, aber nur in Begleitung von Herren, dort aus- und eingehen. In der Nähe unseres Tisches, an dem es bald lustig genug, wenn auch nicht übermaßig laut, herging, saß eine größere Gesellschaft, gleich uns heiter und lebhaft. Einige dazwischen befindliche junge niedliche Mädchengesichter fesselten mich flüchtig: unwillkürlich hatte ich mich nach einer Unbekannten umgeschaut: dann aber – ja wahrhaftig, das war er, dort neben der kleinen koketten Blondine mit dem verführerischen Stumpfnäschen und dem auffallenden weißen Filzhut – der Officier aus der Lützower Straße, derselbe, vor dem meine kleine Freundin die Flucht ergriffen hatte; denn obschon ohne jeden Anhalt und jede Begründung – da uns ja noch mehr Menschen auf jener Straße begegnet waren – konnt’ ich’s nicht lassen, den stattlichen, auffallend hübschen, aber auch unendlich blasirt und siegesgewiß blickenden Infanterielieutenant mit ihr in Verbindung zu bringen.
„Wer ist jener große blasse Officier?“ fragte ich meinen Freund Erich.
„Wo?“
Ich wies ihm die Richtung. „Der dort mit dem schwarzen Vollbart neben dem blonden Dämchen.“
„Der?“ lachte er, „der neugebackene Bräutigam, der schöne Paumwolf? Du mußt ihn kennen, dächte ich.“
[183] „Nein, nein, aber was ist’s mit ihm? erzähle nur,“ forschte ich.
„Nun. weiter nichts, als daß ihn – mit einiger Mühe allerdings – jene Blonde aud Lebenszeit gekapert hat, nachdem er circa neunundneunzig andere denselben günstigen Erfolg hatte träumen lassen. Mir ist wahrhaftig nie so etwas von Courschneiden bei solch elegischer Ruhe vorgekommen! Aber hatte der Mensch ein Glück! Junge Damen mit und ohne Stammbaum, mit und ohne Geldsack beugten sich nach der ersten halben Stunde, in der er sich ihnen gewidmet, vor seiner Unwiderstehlichkeit, und die Alten machten’s nicht anders. Manche freilich behaupten auch, hinter jener titanenhaften Stirn verberge sich nichts, als ein unabsehbares Kornfeld – aber ein ausgedroschenes!“
Ich hatte, während Erich plauderte, besagten Paumwolf nicht aus den Augen gelassen. Sein blasses, von lockigem Bart und Haar eingerahmtes Gesicht erinnerte in der That an den Zeus von Otricoli; mir war er im höchsten Grade zuwider.
„Es werden neulich genug Thränen aus schönen Augen geflossen sein, wie seine Verlobung mit Fräulein Josepha Maier in den Zeitungen stand.“
„Maier?“ fragte ich unwillkürlich.
„Ja, ja,“ lachte Freund Erich, „schlechtweg Maier, mit ai, dazu ziemlich bornirt, aber leidlich hübsch und kolossal reich natürlich, und da Fräulein Josepha, Gottlob! nicht jüdisch aussieht, kann es Paumwolf ja auch gleich sein, daß sein Schwiegervater in spe ein ehemaliger Tuchhändler aus Frankfurt am Main ist.“
Die Unterhaltung, einmal auf den schönen Paumwolf gebracht, wollte nicht so bald von dem Gegenstande wieder ahlassen. Drüben an der anderen Seite unseres Tisches flüsterten sie noch von ihm und einer sagte:
„Es ist mir nur unbegreiflich, daß er nicht lieber die kleine Gerdshof genommen hat, die er in letzter Zeit so poussirte; in dem Mädchen steckt doch ein ganz anderer Fonds, als in der Maier, und die schien ja bis über die Ohren in ihn verliebt zu sein.“
„Ja, aber de Moneten – de Moneten!“ spöttelte ein Anderer.
„Na, jedenfalls ist diese auch blond, impertinent blond sogar,“ meinte ein Dritter.
Ich wurde plötzlich von einer Idee erfaßt.
„Wo wohnt Fräulein Gerdshof?“ fragte ich Erich.
Er sah mich einen Moment sprachlos an; dann lachte er laut auf.
„Du bist köstlich heute Abend mit Deinen abrupten Fragen. Ueberdies heißt sie von Gerdshof, alter märkischer Adel: ihr Vater ist pensionirter General. Wo sie wohnt, weiß ich nicht; wolltest Du sie über Paumwolf trösten, mein alter Junge?“
Ich schleuderte ihm einen wüthenden Blick zu. Ein junger Assessor, der mit an unserem Tische saß und unseren Dialog gehört zu haben schien, rief mir zu:
„Ich kan Ihnen die Adresse sagen, Baron: Kurprinzen-Straße 35.“
Hollah! das war richtig die Wohnung meiner Unbekannten; ich fühlte, wie mir alles Blut nach dem Herzen drängte, dankte für die Auskunft und griff dann nach Hut und Stock, um, ohne mich an die Stichelreden der Zurückbleibenden zu kehren, das Local zu verlassen und ohne Zweck und Ziel durch die mondhellen Straßen zu schlendern.
Wie ich dann nach langem Hin- und Herirren vor das bewußte Haus in der Kurprinzen-Straße gelangte, weiß ich selber nicht. Ich trat auf die gegenüberliegende Seite der Straße und sah das Haus im hellen Mondlicht vor mir liegen. Aus knospenden Gärten ragte die zierliche Villa mit dem antiken weinumrankten Säulenaltan hervor, wie das Zauberschloß im Märchen. Und die kleine Fee, die drinnen waltete? Wachte sie etwa noch hinter den einzigen noch erleuchteten Fenstern der Giebelwand und härmte sich um den ungetreuen Paumwolf? Mitleid, Zorn und – ja, ich will’s gestehen – brennende Eifersucht im Herzen, kehrte ich endlich heim in mein stilles Logis.
Nach einer ziemlich schlaflos verbrachten Nacht und ein paar unruhvollen, ungemüthlichen Morgenstunden befand ich mich zur Visitenzeit richtig in der Kurprinzen-Straße. Nun war ich auf der Treppe. O, das Herzklopfen, die seltsam beklemmende Angst, die ich empfand! Wilder hatte mein Herz nicht gepocht, als mir vor einer Reihe von Jahren der erste Kugelregen um die Ohren pfiff. Auf meinem einsamen alten Familiensitz Bärwalde in der Mark waren die letzten Jahre so still und gleichförmig an mir vorüber gegangen, hatten ernste Studien und die Verwerthung meiner auf früheren weiten Reisen erworbenen Kenntnisse mich so ausschließlich beschäftigt, daß die Etiquette der großen Welt mir fremd und unbequem geworden war. Und doch war’s nicht Schüchternheit allein, was mein Blut so in Wallung brachte, was mich mit fast zärtlichem Interesse das zierliche Messingschild mit dem eingravirten Namen „von Gerdshof“ betrachten ließ. Ei was! Frisch drauf los, die Klingel gezogen! In’s Feuer!
Ein alter, sauber gekleideter Diener in Livrée öffnete mir, und auf meine Anfrage, ob die Herrschaft zu sprechen sei, ging er mit dem üblichen „ich will nachsehen“ und meiner Visitenkarte in’s Zimmer, kam aber bald zurück und öffnete mir die hohe Flügelthür links vom Eingang. Sein Bescheid, es wäre der gnädigen Herrschaft sehr angenehm, klang mir ordentlich beruhigend in’s Gemüth.
Drinnen im elegant möblirten Salon empfing mich der General, ein alter, würdiger Herr mit straffer militärischer Haltung, einem martialischen, aber nicht unfreundlichen Gesicht und stattlichem grauem Bart, aus dem das breite Kinn sorgsam herausrasirt war.
Nachdem ich ihm meine Freude ausgedrückt, seiner Tochter behilflich gewesen zu sein, und er mir für den geleisteten Ritterdienst gedankt – er schien von Allem unterrichtet zu sein und mich gewissermaßen erwartet zu haben – kamen wir von den obligaten Höflichkeitsformeln in ein angeregtes Gespräch, das sich auf alle möglichen Gebiete ausdehnte. Die Zeit verging mir wie im Fluge, fast eine Stunde hatte ich so mit dem liebenswürdigen alten Herrn geplaudert – freilich, ohne daß Fräulein Eveline erschien. Als aber der General beim Abschiede sagte, er hoffe mich während meines Aufenthalles in der Residenz öfter in seinem Hause zu sehen, konnte ich nicht umhin, ihm voll inniger Dankbarkeit die Hand zu drücken. Nicht lange darnach erhielt ich eine zierlich geschriebene Karte – entschieden eine Damenhandschrift – der zufolge Herr General von Gerdshof sich die Ehre gab, Herrn Baron von *** zum Diner einzuladen. Ich mußte mir gestehen, daß ich nie mit ähnlicher Freude eine Einladung empfangen hatte. Was war die Aufregung und Erwartung vor dem ersten Hofballe gegen dies ungestüme Herzklopfen, mit welchem ich am bestimmten Tage die Festräume betrat! Eine zahlreiche Gesellschaft war bereits versammelt; manche der anwesenden Personen war mir bekannt, ja befreundet, sodaß ich mich bald im besten Wohlbehagen befand. Und die Tochter des Hauses? Dort stand Eveline zwischen ihren Freundinnen, ihre anmuthige Gestalt bewegte sich mit bezaubernder Grazie unter den Gästen, denn sie mußte jener ältlichen, etwas klösterlich blickenden Dame helfen, die Honneurs des Hauses zu machen – die Generalin war schon vor vielen Jahren gestorben – und ich bewunderte den Tact und die Sicherheit, womit sie trotz ihrer Jugend ihren Pflichten als Wirthin so reizend nachzukommen wußte. Bald fragte sie hier einen alten Herrn nach dem Befinden seiner kranken Gemahlin, flüsterte dort einer jungen Dame etwas Angenehmes zu über ihre geschmackvolle Toilette, oder speiste einen allzu galanten Kavalier mit einem spöttischen Blicke, einer abweisenden Entgegnung ab. Mit Jedem und Jeder wußte sie den rechten Ton zu treffen; von Allen wurde sie umschwärmt; Alles schaarte sich um sie, die wie eine Erscheinung aus dem Märchen zwischen gedrechselten Modebildern umher ging. Und doch lag auf Augenblicke, wenn sie sich unbeachtet glaubte, ein schwermüthiger Ausdruck in ihren Veilchenaugen, der zu dem verbindlichen Lächeln des kleinen Mundes nicht stimmen wollte.
Endlich wurde das Zeichen zum Beginne der Tafelfreuden gegeben. Eveline legte ihre Fingerspitzen auf den Arm eines langen blonden Rittmeisters, eines Vetters des Hauses. Mir ward eine nicht mehr in erster Jugendblüthe stehende Komtesse Soundso zu Theil – zu meinem großen Verdrusse, muß ich hinzusetzen, hatte ich im Stillen doch gehofft, Evelinens blondes Engelköpfchen an meiner Seite zu sehen; mit gewiß nicht sehr liebenswürdiger Miene bot ich der Gräfin den Arm und führte sie zu den uns bestimmten Plätzen. Meine Nachbarin, eine sonst gewiß sehr schätzenswerthe Dame, brachte mich mit ihrer Redseligkeit schier zur Verzweiflung, und während sie – noch vor der Suppe – nach meiner letzten Reise in den Orient forschte, von etwaigen neuen Werken etwas hören wollte, schweifte mein Blick achtlos an der Fragestellerin vorüber und suchte vergebens Eveline. Hatte ich doch vorhin noch kein Sterbenswörtchen mit ihr sprechen können, nur zugenickt hatte sie mir aus einiger Entfernung und ganz lieb und vertraut, wie einem alten Bekannten.
Da fühlte ich leise meinen linken Arm berührt, und eine ach nur zu bekannte Stimme fragte schüchtern und neckisch zugleich:
„Kennt denn der Herr seine Schutzbefohlene nicht mehr?“
Ich fuhr mit dem Kopfe herum: ja wahrhaftig, da saß Eveline schon seit fünf Minuten neben mir, ohne daß ich sie bemerkt hatte, und sowohl meine Nachbarin, die Comtesse B., wie Evelinens Tischherr, der Vetter von der Garde, mochten nun sehen, wie sie sich die vier bis fünf Stunden des Diners über unterhielten: wir Beide kümmerten uns perfider Weise wenig um sie. Was wir uns Alles zu sagen hatten, mein Gott, wer kann das noch wissen! Ich aber war ganz glücklich, während der ganzen Zeit nicht einmal jenen schwermüthigen Ausdruck in ihren Augen zu entdecken, der mich vorhin erschreckt hatte. O, wenn es mir gelänge, sie Paumwolf vergessen zu machen! In diesen einen demüthig stolzen Gedanken concentrirte sich all mein Sinnen und Trachten. Mit Entzücken bemerkte ich, wie ihre Augen andächtig an meinen Lippen hingen, als ich ihr von meinen weiten Reisen, dem ruhelosen Umherwandern von einem fernen Land in’s andere erzählte. und als ich von meinem lieben düsteren Bärwalde sprach, mit seinen dunklen Föhren und schilfbewachsenen Teichen, von meiner großen Bibliothek und dem schönen Concertflügel, den ich manchmal sogar den Händen meines Inspectors anvertraute, nur um die begleitende Stimme für mein geliebtes Cello zu haben – sie, Fräulein Eveline, spiele gewiß auch Clavier, und sicher viel besser als mein Inspector – da überzog ein nachdenkliches Lächeln ihr süßes liebes Gesicht. Sie liebe die Musik gleichfalls sehr, antwortete sie mir, und es würde ihr Freude machen, mich einmal beim Cellospiel zu accompagniren.
„Das müßten Sie aber in Bärwalde thun!“ rief ich feurig.
Da senkte sie ihre Veilchenaugen, und dunkles Roth färbte die lieblichen Wangen. – –
Acht Tage darauf war Eveline meine Braut! Was kümmerten mich alle Paumwolfs der ganzen Welt!
Gleich in den ersten Tagen nach unserer Verlobung begegneten wir dem Brautpaar Maier-Paumwolf auf der Straße.
„Wollen wir auch wieder umkehren, Evi?“ fragte ich scherzend, konnte mich aber doch eines leisen Gefühls von Bangigkeit nicht erwehren. Sie wurde einen Augenblick ganz ernst; dann schmiegte sie sich fester an mich, sah mich mit ihren unschuldigen Kinderaugen an:
„Du weißt ja, das liegt hinter mir,“ sagte sie sanft.
Ich drückte ihren Arm fester an mich.
„O Evi, meine süße kleine Evi!“
Ich war so glücklich, so stolz, daß selbst die dreiste Neugier, mit der Lieutenant Paumwolf uns beim Vorübergehen musterte, mich nicht irritiren konnte.
Jetzt leben wir Beide schon manches Jahr auf unserm stillen Bärwalde, wo die Sonne erst aufgegangen ist, seit Evi’s Blondkopf durch Haus und Garten lacht. Die schönsten Stunden in unserm glücklichen Leben sind aber doch die, wenn wir nach des Tages mancherlei Last und Mühen traulich beisammen sitzen und die Töne des Claviers und Cellos vereint durch die stille Abendluft klingen lassen. E. R.
Blätter und Blüthen.
Ein Invalide aus den Befreiungskriegen. Das vorige Jahr, in welchem Tod und Noth so Vieles in Deutschland vernichteten, ist auch für die ältesten und ehrwürdigsten unserer Kriegshelden, für unsere Invaliden von 1813 ein hartes gewesen; von vielen Seiten kamen die Nachrichten, daß da und dort einer der letzten ihrer Helden aus jener Zeit zur großen Armee abberufen worden sei. Aber immer tauchen auch wieder Nachrichten auf von allerletzten Greisenhäuptern, die einst auf den jungen Locken den Tschako mit dem Todtenkopf getragen oder als Sieger das Paris von 1815 gesehen. Und leider kommt es sogar dabei vor, daß von Armuth und Entbehrung solcher Alten wie von etwas Selbstverständlichem erzählt wird.
Zu diesen armen Ehren-Alten gehört auch der jetzt neunzigjährige Invalid und Taglöhner Karl Friedrich Salzer in Albernau, der am 6. Januar 1793 in Burkhardsgrün geboren und in seinem siebenzehnten Jahre zum Militär – eingefangen worden ist. Er erzählt nämlich, daß er den „Werbern“, welche ihn der Militärbehörde einzuliefern hatten, zweimal entwischt sei, das eine Mal, indem er durch das Stallloch in einem Gehöfte zu Zelle bei Aue kroch, das andere Mal durch einen Sprung vom zweiten Stockwerk desselben Gebäudes in die weiche Gartenerde; das dritte Mal faßten sie ihn beim Abendessen ab, nahmen ihm fast alle Kleider und führten ihn so sicher seiner Bestimmung zu.
Salzer diente ununterbrochen, ohne eine einzige Beurlaubung, elf Jahre sechs Monate, und zwar erst in der Infanterie, dann als Ulan und zuletzt im zweiten leichten Reiterregiment „Prinz Johann“. Während dieser Zeit wohnte er den Schlachten und Gefechten bei Dresden, Bautzen, Jauer, Jüterbogk, Großbeeren, wo er im Unterschenkel eine noch jetzt nicht geheilte Verwundung erhielt, und bei Leipzig bei und stand dann noch mehrere Jahre bei den Occupationstruppen in der Nähe von Lille.
Nach seiner Entlassung vom Militär ließ er sich in Albernau nieder, wo er von 1828 bis 1878 auf dem dortigen Freigut als Taglöhner arbeitete. Er hätte also im genannten Jahre sein fünfzigjähriges Taglöher-Jubiläum feiern können, wenigstens hätte die so lange Dienstzeit bei einem Hause öffentliche Anerkennung und Belohnung verdient, aber keins von beiden geschah. Er arbeitete weiter; denn er hatte auch schwer an häuslichen Sorgen zu tragen. Er war verheirathet und Vater von vier Kindern. Aus diesem Familienkreise starben ihm binnen sechszehn Wochen die Frau und drei erwachsene Kinder von achtzehn bis dreiundzwanzig Jahren: die Stützen seiner alten Tage. Nun lebt ihm nur noch eine Tochter, verheirathet und in kümmerlichen Verhältnissen. Aber helfen kann er ihr nicht mehr, seine Wunde von Großbeeren brach wieder auf, er mußte seine Taglöhnerdienste aufgeben und lebt seitdem von einer Invalidenpension von 10 Mark monatlich und einer Taglöhnerpension von wöchentlich 4 Mark, welche die Freigutsherrschaft ihm bewilligt hat.
Wenn auch dieser Alte von Anno Dreizehn sich vielleicht nicht als interessante Persönlichkeit auszeichnet, die einen Wirthstisch mit Kriegsberichten anziehend machen kann, so gehört er doch zu Denen, welche in jener großen Zeit mitgelebt, mit im Feld gestanden, mit für Deutschlands Befreiung vom französischen Joch geblutet. Auf den Besitz eines solchen Alten sollte der Ort, wo er wohnt, stolz sein; es sollte da Männer und Frauen geben, welche es für ihre Ehrenpflicht hielten, den Lebensabend eines solchen Alten möglichst gut und schön zu gestalten; eifersüchtig müßten sie darüber wachen, daß nicht Andere ihren Invaliden unterstützten. Das würde von einem Hochsinn zeugen, wie wir ihn so gern am deutschen Volke bewundern möchten. Man muß nicht allzu viel immer nur dem Staate zuschieben, wo die eigene Leistung eine so selbstlohnende, so ehrende ist.
Sie stehen Alle in den Neunzigern, die noch vom Heldenstamme der Befreiungskrieger übrig sind: bald wird man doch endlich den letzten begraben. Möge dann Niemand sich den Vorwurf zu machen haben, daß er gleichgültig und hartherzig genug war, um einen solchen Alten darben zu lassen. Fr. Hfm.
Der Hansel spielt Cither, lauft alle herzu!
Da sitzt er im ledernen Höschen, der Bu’,
Und lockt aus den Saiten euch Töne hervor,
Die fahren zum Herzen durch jegliches Ohr.
Die junge Mutter von Spindel und Spul’
Schleicht leise sich hinter des Hansel’s Stuhl.
Der alte Lehrer, der ernst da saß,
Vergißt die Pfeif’ und das Schoppenglas.
Großvater, willkommen! Da setz’ dich her!
Keins lacht nun im Kreise so selig, wie er.
Auch des Hansel’s Cam’rad in Freud und Leid
Lacht mit, doch drückt ihn ein wenig der Neid.
Da kommt der Nachbar von drüben, und –
Vor Staunen nimmt er das Pfeiferl vom Mund.
So freuen sich alle im kleinen Kreis,
Und Jegliches freut sich in seiner Weis’.
Der Hansel lacht mit dem ganzen Gesicht,
Die Mutter lacht auch, man hört es nur nicht:
Sie lacht ganz innen so stolzgemuth,
Wie das Lachen am allerschönsten thut.
Ich lauscht’ an der Thür und sah’s mit an,
Wie der Bub’ und die Cither allein es gethan,
Daß jedes Herz in dem Stübchen lacht.
Das hat doch der liebe Gott herrlich gemacht.
Bitte! An uns wird häufig die Anfrage gestellt: „Welche ‚Heims für alte Erzieherinnen‘ bis jetzt in Preußen, respective ganz Deutschland gegründet sind, welche Heims bereits eingerichtet sind und benutzt werden, welches Heim davon das erste, bevorzugteste und beliebteste ist und endlich wie die Adressen lauten?“ Eine Beantwortung dieser Fragen würde mancher besorgt in die Zukunft blickenden Lehrerin und Erzieherin zum Trost gereichen.
Kleiner Briefkasten.
A. F. S. in West-Franklin, Inda. Lieber Herr! Wir müssen bezweifeln, daß Sie „schon seit vielen Jahren ein aufmerksamer Leser der ‚Gartenlaube‘“ sind. Sonst würden Sie wohl wissen, daß wir unsere Leser zu wiederholten Malen über „Spiritismus“ und „Spiritualismus“ aufgeklärt haben. In dem vor Kurzem erschienenen „Generalregister der Gartenlaube“ sind 16 Artikel namhaft gemacht, welche das von Ihnen berührte Thema behandeln.
O. V. in Bayreuth. Die Bilder sind im Schnitt; nur noch ein wenig Geduld!
Ab. R. in Budapest. Uns ist nichts derlei in der G. bekannt. Was übrigens hinsichtlich der Rattenvertreibung auf einem Schiff thunlich ist, kann für eine Stadt leicht unmöglich sein.
Anfrage. Giebt es eine Anstalt, in welcher ein alleinstehender, chronisch kranker Mann, welcher seinen Berufsarbeiten nicht mehr vorzustehen vermag, sich mit einem Vermögen von 4500 Mark auf Lebenszeit einkaufen kann?
E. A. D. G. in Darmstadt. „Das Heidelberger Schloß“. Ihr Wunsch kann nicht erfüllt werden.
H. M. in St. Nein! Erschienen ist das Werk bei G. Westermann in Braunschweig.
Für die Deutschen am Ohio.
Nordamerika ist die zweite Heimath von Millionen Deutschen geworden, und Millionen dort von deutschen Eltern Geborene preisen es als ihr Vaterland, aber sie erkennen in Deutschland noch mit Stolz die Heimath ihrer Väter, und in allen schlägt das deutsche Herz noch warm für Wohl und Wehe unseres Volkes. Das haben sie alle Zeit durch die That bewährt und am wohlthuendsten für uns in den Tagen unseres letzten großen Krieges. Während wir erst nicht ohne Besorgniß, aber gleich nach unseren ersten Siegen mit entschlossenem Trotz rufen konnten: „Feinde ringsum!“ – denn alle unsere lieben Nachbarn hatten nur auf unsere erste Niederlage gewartet, um ihr wahres zu zeigen –, während man rings um uns her die angeblichen erlogenen Triumphe der Franzosen bejubelte und später unsere Siege wie eigene Beleidigungen aufnahm – standen alle Deutschen Nordamerikas vom ersten Kanonenschuß an mit Leib und Seele auf unserer Seite, unsere Siege waren ihre Siege: ihre Liebesgaben strömten unseren Verwundeten zu, sie litten und triumphirten mit uns. Mit dem gleichen Hochgefühl, wie wir, begrüßten sie das neuerstandene deutsche Reich, und wie freudig und würdig sie die ersten Kriegsschiffe der deutschen Flotte in ihren Häfen begrüßten, wird bei uns unvergessen bleiben.
Ebenso haben alle schwereren Schicksale, die Deutschland betroffen, bei unseren Stammesbrüdern im freien Lande der Union jederzeit werkthätige Theilnahme erregt, von der großen Feuersnoth von Hamburg bis zur großen Wassersnoth, die jüngst an unserem Rhein gewüthet und deren Spuren noch grausig vor Aller Augen stehen. Die Hülfs- und Rettungsgaben, die aus Nordamerika für unsere von dem großen Unglück Heimgesuchten herüberflossen, zählen nach Hunderttausenden, wie dies der Dank des deutschen Reichstages bezeugt.
Da überraschte uns vor Wochen die schmerzliche Kunde aus Nordamerika, daß nun auch dort eine Ueberschwemmung tobt, daß aber das Unheil dort um so viel verheerender auftritt, als die Riesenströme die neue Welt mächtiger durchfluthen, als unsere gegen jene bescheidenen Flüsse das deutsche Reichsgebiet: die Schilderungen der ungeheuren Verwüstungen, welche ganz besonders der Ohio meilenweit über das Land verbreitet und an den blühenden Uferstätten ausgeübt, füllten längst alle Zeitungen, sodaß wir hier keiner Wiederholung derselben bedürfen.
Ebenso klar muß aber jedem dankbaren und patriotischen Deutschen eine Pflicht vor Augen stehen, welche wir jetzt zu erfüllen haben. Aufrufe, nun auch unsererseits den in tiefste Noth gekommenen deutschen Brüdern in Nordamerika mit allen Kräften beizustehen, hätten kaum nöthig sein sollen, aber sie sind ergangen, und auch wir richten nun an unsere Leser und Landsleute dies- und jenseits der Meere die Mahnung, nicht die Bitte, der Ehre des deutschen Namens gerecht zu werden!
Auch wir bitten, die Sendungen, um sie möglichst rasch zum Ziel zu führen, an die Firma „Brasch und Rothenstein“ in Berlin zu richten.
- ↑ Dr. Hans Meyer, Enkel des durch seine großartige Wirksamkeit auf buchhändlerischem und volkswirthschaftlichem Gebiet ausgezeichneten Patrioten Joseph Meyer (Bibliogr. Institut) in Hildburghausen und Sohn des jetzigen Chefs derselben Firma zu Leipzig, steht gegenwärtig in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahre. Nachdem er bei der reitenden Artillerie in der Garde seiner Militärpflicht genügt und in Straßburg 1881 promovirt hatte, begab er sich Anfang October desselben Jahres auf eine Reise um die Welt. Das Bibliographische Institut zu Leipzig hat schon jetzt die ersten Reiseskizzen des jungen Forschers unter dem Titel „Blätter aus meinem Tagebuch von Dr. Hans Meyer“ veröffentlicht. Da das Werkchen jedoch, von dem bis jetzt drei Hefte erschienen sind, nur als Manuscript für die Freunde des Verfassers gedruckt wurde und darum nur Wenigen bekannt sein dürfte, so haben wir unsere heutige Schilderung der Insel Ceylon zum Theil demselben entlehnt und Meyer’s Mittheilungen durch die von Professor Ernst Häckel in seinen „Indischen Reisebriefen“ (Gebr. Pätel, Berlin 1883) niedergelegten Erfahrungen zu ergänzen versucht. Die kleine Karte von Ceylon, welche wir zur leichteren Orientirung für unsere Leser beifügten, ist dem Meyer’schen Tagebuch entnommen.
- ↑ Silenus, der Erzieher und Begleiter des Weingottes Bacchus wird gewöhnlich mit dickem Bauch und kahlem Haupt auf einem Esel reitend abgebildet. Anm. d. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: dufte