Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1883)/Heft 3

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[41]

No. 3.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Paul kam der Aufforderung nach und trat gleichfalls auf den Altan. Es war während der letzten Stunden klarer geworden; die Wolken jagten und zogen noch an den Bergwänden hin, aber der Nebel war gesunken, und die Gipfel zeigten sich unverhüllt. Man blickte von diesem Theile des Schlosses aus unmittelbar hinunter in die schwindelnde Tiefe eines öden Felsenthales, aus dem nur Klippen emporstarrten, während unten in dem nebelumhüllten Grunde der Bergstrom tobte, dessen Brausen bis hier herauf drang. Drüben flatterten die Wolken an den jähen Abstürzen einer Felswand, deren Fuß dunkle Wälder umsäumten, während die Höhe nackt und kahl aufragte, und ringsum lagerten die Häupter des Gebirges, die, zum Theil schon schneebedeckt, in schweigender Majestät niederblickten. Nirgends war eine menschliche Wohnung zu erblicken, nirgends ein milderer Zug in diesem Gemälde wilder Großartigkeit – ringsum nur Felsen, Tannen und Schneegefilde!

Dem Schlosse gerade gegenüber stieg ein einzelner, riesiger Gipfel empor, der, fast in Pyramidenform gestaltet, all die andern überragte. Auch er trug das leuchtende Schneegewand, aber er thronte einsam, wie ein Herrscher über der ganzen Bergwelt. Obgleich die Weite des Thales zwischen ihm und dem Schlosse lag, schien er doch in unmittelbarer Nähe zu sein, und es lag beinahe etwas Drohendes in dieser Nähe. Es war, als wolle der Berg mit seinen eisigen Wänden die Menschenwohnung erdrücken, die sich bis in sein Gebiet hinaufgewagt hatte.

„Wir werden Sturm bekommen,“ sagte Werdenfels, dort hinauf weisend. „Wenn die Geisterspitze sich so nahe zeigt, müssen wir ihn stets erwarten.“

„Ist das der Sturmprophet der Gegend?“ fragte Paul. „Er hat allerdings etwas Geisterhaftes. Mir wäre es unheimlich, wenn ich immer diese starre weiße Wand vor Augen hätte.“

„Mir ist sie vertraut, schon seit Jahren. Ich und die Geisterspitze, wir kennen einander – nur zu gut.“

Die Worte wollten anscheinend gar nichts Besonderes sagen; dennoch fiel ihr Klang dem jungen Manne auf, ebenso wie der Ausdruck in dem Gesicht seines Onkels. Er hatte die Regungslosigkeit dieser Züge anfangs für ruhigen Ernst gehalten, aber es war etwas Anderes. Allmählich trat immer deutlicher eine Starrheit und Leblosigkeit hervor, die etwas Unheimliches hatte. Jede leidenschaftliche Empfindung, jede warme menschliche Regung schien darin begraben zu sein, und der Blick, welcher unverwandt an jenem Schneegipfel hing, war wohl träumerisch aber auch in ihm lag dieselbe todte Ruhe.

Der Freiherr schien den beobachtenden Blick zu spüren; denn er wandte sich plötzlich um und fragte:

„Wie gefällt Dir die Aussicht?“

Paul zögerte mit der Antwort.

„Du vermagst ihr wohl keinen Geschmack abzugewinnen?“

„Wenn ich offen sein soll – nein!“ entgegnete der junge Mann. „Sie ist ja unendlich großartig und mag auch einen mächtigen Reiz ausüben – auf Stunden. Wenn ich aber verurtheilt wäre, Tag für Tag immer nur in diese Felsenöde zu schauen, so würde ich schon in der ersten Woche Selbstmordgedanken hegen und in der zweiten hinunterstürzen in das erste beste Dorf, um nur wieder Menschen zu sehen und zu fühlen, daß ich nicht allein auf der Welt bin.“

„Das wäre allerdings das Schwerste für Dich!“ sagte der Freiherr mit leisem Spott. „Ich würde es ertragen.“

Er trat wieder in das Zimmer zurück und gab Paul einen Wink ihm zu folgen.

„Vermuthest Du nicht, weshalb ich Dich nach Deutschland zurück rief?“ fragte er dann, seinen früheren Platz wieder einnehmend.

„Nein, aber ich gestehe offen, daß es mich überraschte. Du hattest bisher nie den Wunsch, mich zu sehen.“

„Ich hatte ihn auch jetzt nicht, aber es war doch wohl nothwendig, daß Dein Aufenthalt in Italien ein Ende nahm. Vielleicht fühlst Du das selbst.“

Paul sah betreten auf.

Der Onkel konnte doch unmöglich etwas Anderes von diesem italienischen Aufenthalt wissen, als was die Briefe des jungen Mannes ihm davon berichteten.

„Ich?“ fragte er ungewiß, „wie meinst Du das?“

„Du weißt, ich habe die Vormundschaft über Dich stets nur dem Namen nach geführt, sagte Werdenfels ruhig. „Du bist Dir seit dem Tode Deiner Mutter gänzlich allein überlassen gewesen. Ich liebe es nicht, den Mentor zu spielen, und ich greife auch jetzt nur sehr ungern ein, aber Du selbst hast meine Einmischung herausgefordert. Du bist mir doch nun einmal von Deinem sterbenden Vater übergeben worden, und ich kann mich der übernommenen Pflicht nicht entziehen. Du hast dafür gesorgt, daß sie unabweisbar an mich heran tritt.“

In dem Antlitz Pauls stieg eine dunkle Röthe auf. Er verstand nur zu gut, wohin diese Worte zielten, wenn es ihm auch unbegreiflich blieb, wie der Onkel in seiner weltverlorenen Einsamkeit zu der Kenntniß jenes Treibens gekommen war. Dennoch versuchte er sich zu vertheidigen.

[42] „Ich weiß nicht, was Du gehört haben magst, Onkel Raimund, aber ich versichere Dir –“

„Ich mache Dir ja keine Vorwürfe,“ unterbrach ihn Raimund. „Du bist jung, lebensfroh und fremdem Einfluß sehr zugänglich. Da geräth man leicht in den Strudel, aber nicht Jeder hat die Kraft, sich mit eigener Hand wieder daraus empor zu arbeiten, und Du hast sie vollends nicht, deshalb mußte ich die meinige herleihen. Es wäre doch schade, Paul, wenn Du mit vierundzwanzig Jahren schon in diesem Strudel zu Grunde gingest.“

Der junge Mann sah zu Boden, während die Röthe in seinem Gesicht noch tiefer wurde. Es waren nicht die Worte, welche ihn verletzten; es lag ja kaum ein Vorwurf darin, und er war sich bewußt, noch ganz andere Vorwürfe verdient zu haben, aber die kühle Ruhe und Theilnahmlosigkeit, mit der das alles ausgesprochen wurde, kränkte und reizte ihn zugleich. Er hatte die Empfindung, als ob es dem Onkel in Wirklichkeit ziemlich gleichgültig sei, ob sein junger Verwandter zu Grunde gehe oder nicht. Er erfüllte mit seinem Einschreiten nur eine Pflicht, welche ihm offenbar sehr lästig war; ein Interesse an der Sache selbst nahm er durchaus nicht.

„Du hast Recht,“ sagte Paul endlich mit einer Selbstüberwindung, die ihm schwer genug wurde. „Ich bin leichtsinnig gewesen und undankbar gegen Dich, dem ich so Vieles danke, aber Du darfst es mir glauben“ – hier schlug er die blauen Augen voll und offen zu dem Freiherrn auf – „ich habe das oft genug selbst gefühlt und mehr als einmal versucht, mich loszureißen, aber –“

„Deine sogenannten Freunde haben das nicht zugegeben,“ ergänzte Werdenfels. „Ich weiß es. Da war vor Allem ein gewisser Bernardo, der Dich zu all den Thorheiten verleitet hat.“

„Also auch das weißt Du?“ rief Paul auf’s Höchste betroffen. „Ich ahnte nicht, daß Du so genau über meine dortigen Bekanntschaften orientirt bist.“

Der Freiherr ließ die letzte Bemerkung unerörtert; er fuhr mit derselben kühlen Gelassenheit fort:

„Es war nothwendig, Dich aus diesen Umgebungen zu entfernen; deshalb rief ich Dich zurück. Ich hoffe und erwarte, daß jene Beziehungen nicht wieder aufgenommen werden; aber um Dich ganz davon zu lösen, müssen Deine Angelegenheiten vollständig geregelt werden. Du hast dort Verpflichtungen hinterlassen?“

„Ja,“ sagte der junge Mann leise.

Jetzt kam die gefürchtete Beichte; er hatte sie sich doch nicht so schwer und peinlich gedacht, und er wußte, daß die Gelassenheit des Onkels nicht Stand halten werde, wenn er die Summe erfuhr, um die es sich handelte. Der Freiherr zeigte jedoch gar keine Neugier in dieser Hinsicht.

„Wende Dich an meinen Rechtsanwalt, den Justizrath Freising, durch den Du bisher Deine Geldsendungen bezogst! Ich werde ihm die Weisung zugehen lassen, die Sache sofort zu erledigen. Er wohnt nur zwei Stunden von hier in M.; Du kannst also alles Nöthige mit ihm persönlich besprechen.“

„Wie Du befiehlst,“ sagte Paul zögernd, „aber die Summe ist bedeutend, sehr bedeutend sogar; ich –“

„Nenne sie dem Justizrath!“ unterbrach ihn der Freiherr abwehrend. „Zwischen uns Beiden braucht das nicht weiter erörtert zu werden. Ich fordere nur Dein Ehrenwort, daß Du in dieser Beziehung offen bist, damit jene Verpflichtungen ganz und voll gelöst werden. Alles Uebrige wird Freising besorgen.“

Paul stand wortlos da und wußte nicht, ob er sich erleichtert oder bedrückt fühlen sollte. Er hatte diese Auseinandersetzung sehr gefürchtet, und nun ging sie ohne jede Scene vorüber. Der Onkel fragte nicht einmal nach dem Betrag jener Summe, die immerhin ein kleines Vermögen repräsentirte; er gewährte, ohne auch nur einen Tadel auszusprechen; aber die kalte, halb verächtliche Art, in der dies geschah, beschämte den jungen Mann auf das Tiefste. Er hätte lieber Tadel und Vorwürfe hingenommen, als eine derartige Verzeihung, und das warme Dankeswort, das er so gern ausgesprochen hätte, wollte nicht über seine Lippen.

„Ich danke Dir,“ sagte er endlich etwas gezwungen. „Ich glaubte nicht, daß Du die Sache so aufnehmen würdest, aber ich werde mich bemühen, Deine Güte besser zu verdienen, als bisher.“

Das Auge des Freiherrn ruhte prüfend auf den Zügen seines jungen Verwandten, aber es lag kein Interesse in diesem Blick.

„Das wird mich freuen, um Deinetwillen. Und nun kein Wort mehr von der Angelegenheit! Sie ist besprochen und erledigt; übergeben wir sie der Vergessenheit! – Ich hoffe, daß Du mit Deinen Zimmern zufrieden bist. Du hast Deinen eigenen Diener mitgebracht?“

„Ja, den alten Arnold, der mich stets begleitet.“

„Er ist ja wohl schon lange in den Diensten Deiner Familie?“

„Schon seit länger als vierzig Jahren. Ich habe ihn von meinen Eltern übernommen.“

„Und Du bist vermutlich sehr vertraut mit ihm?“

„Allerdings,“ entgegnete Paul, mit geheimer Verwunderung, daß der sonst so gleichgültige Onkel sich so eingehend nach einem alten Diener erkundigte, der ihm gänzlich unbekannt war. „Arnold hat mich von meiner frühesten Kindheit an unter seiner ausschließlichen Obhut gehabt und, wie er stets behauptet, ‚erzogen‘. Wir sind zwar fortwährend im Kriegszustande; denn er nimmt sich bei jeder Gelegenheit heraus, den Hofmeister zu spielen, aber ich weiß doch, daß er mit Leib und Seele an mir hängt, und ich selbst kann ihn und seine ewigen Predigten gar nicht mehr entbehren.“

„Man muß diesen alten Dienern manche Eingriffe hingehen lassen,“ sagte Werdenfels. „Sie betrachten sich als zur Familie gehörig und haben gewissermaßen ein Recht dazu. Behalte immerhin Deinen Arnold.“

„Interessirst Du Dich für ihn?“ fragte Paul, dem eine gewisse Beziehung in diesen Worten zu liegen schien. „Er würde sehr glücklich sein, wenn es ihm erlaubt würde, sich Dir vorzustellen; Onkel Raimund.“

Der Freiherr machte eine abwehrende Bewegung.

„Nein, ich sehe nicht gern fremde Gesichter um mich. Aber noch Eins, Paul! Laß den ‚Onkel‘ aus unseren Gesprächen weg! Dein Vater und ich waren allerdings Vettern, der Altersunterschied zwischen Dir und mir ist aber nicht so groß, um diesen Titel zu rechtfertigen. Ich habe nur zehn Jahre vor Dir voraus. Nenne mich einfach Raimund!“

Paul blickte erstaunt auf seinen Onkel, der erst vierunddreißig Jahr alt sein sollte; er hatte ihn mindestens um zehn Jahre älter geschätzt. Die Züge des Freiherrn waren allerdings noch jugendlich, aber die tiefe Blässe dieser Züge und die noch tieferen Linien darin ließen den Irrthum verzeihlich erscheinen.

„Was nun Deinen nächsten Aufenthalt betrifft,“ fuhr Raimund fort, „so wirst Du vorläufig hier bleiben. Ich weiß, daß das nicht in Deinen Wünschen liegt, aber ich halte es doch für besser, Dich nicht sofort neuen Versuchungen auszusetzen, indem ich Dich nach der Residenz schicke. Du hast freie Disposition über die Ställe und kannst reiten und fahren, wohin es Dir beliebt; Du findest hier oben ein vorzügliches Terrain für die Jagd, und die Bibliothek des Schlosses steht ebenfalls zu Deiner Verfügung. Im Uebrigen mußt Du Dich mit der Einsamkeit und Langeweile von Felseneck abfinden, so gut Du es vermagst. Ich selbst werde Dich wenig sehen; denn ich liebe es nicht, mich in meinen Gewohnheiten stören zu lassen. Im Laufe des Winters wird sich ja wohl irgend eine Thätigkeit für Dich finden, die Dir in Zukunft einen festeren Halt im Leben giebt. Und nun leb’ wohl für heute!“

Im Laufe des Winters! Paul war so entsetzt über die Aussicht, den ganzen Winter hier zuzubringen, daß er zu antworten vergaß. Zwar stand es bei ihm fest, daß er auf keinen Fall in Felseneck bleiben werde, aber für den Augenblick war jede Opposition unmöglich. So ruhig die Worte auch klangen, sie enthielten doch einen ganz bestimmten Befehl, und nach der unbedingten Großmuth, die der Onkel ihm soeben gezeigt, konnte der junge Mann sich füglich nicht offen dessen Willen widersetzen. Er verneigte sich also und ging. Der Freiherr winkte ihm freundlich, gleichgültig mit der Hand und trat dann wieder auf den Altan hinaus, von wo er unverwandt zu der Geisterspitze hinaufblickte, die in ihrem leuchtenden Schneegewande in voller Klarheit dastand.




Es war in der That nicht zu viel gesagt, wenn man behauptete, daß der Burgherr von Felseneck das Märchen der ganzen Umgegend geworden. Je weniger er nach der Welt und den Menschen zu fragen schien, desto mehr fragten sie nach ihm, und die vollständige Zurückgezogenheit und Einsamkeit, in der er nun schon seit Jahren lebte, gaben Anlaß zu den seltsamsten Gerüchten. [43] Diese Gerüchte waren freilich meist so abenteuerlich, daß die Vernünftigen sie ohne Weiteres in das Reich der Fabel verwiesen und sich mit der Annahme begnügten, daß Raimund von Werdenfels ein ausgemachter Menschenfeind sei. Allerdings blieb kaum eine andere Erklärung übrig für die Hartnäckigkeit, mit der er sich jedem Umgange, ja sogar jeder zufälligen Begegnung entzog. Er war und blieb unsichtbar für die ganze Nachbarschaft, unzugänglich für seine Beamten, welche niemals direct mit ihm verkehrten; selbst seine eigene Dienerschaft, den Kammerdiener ausgenommen, bekam ihn nur höchst selten zu Gesicht. Er betrat niemals Werdenfels oder eines seiner anderen Güter und hatte um sein Felseneck einen förmlichen Bannkreis gezogen, der nicht zu durchbrechen war, so mancher Versuch auch in dieser Hinsicht gemacht wurde. Die Dienerschaft hatte strenge Befehle, die ebenso streng befolgt wurden. Das Schloß öffnete sich Keinem, der nicht durch den Schloßherrn selbst gerufen war.

Unter seinen Standesgenossen erregte diese Art zu leben ebenso viel Befremden wie Tadel. Man fand es unerhört, daß ein Mann, der durch seinen Namen und Reichthum, durch die Traditionen seiner Familie berufen war, eine der ersten Stellungen im Lande einzunehmen, auf jede Thätigkeit verzichtete und es sogar verschmähte, unter den Gutsbesitzern der Provinz, wo er weitaus der bedeutendste war, eine Rolle zu spielen. Man verzieh ihm nicht seine vollständige Gleichgültigkeit gegen alle Interessen und Vorgänge der Umgegend und empfand sein entschiedenes Abwenden davon als eine Art Beleidigung. Die Neugier beschäftigte sich allerdings viel mit ihm, aber er genoß auch nicht die geringste Sympathie in jenen Kreisen.

Noch schlimmer gestaltete sich das Verhältniß des Freiherrn zu dem Landvolk, das ihm geradezu feindselig gegenüberstand, und gerade seine eigenen Güter waren es, wo diese Feindseligkeit am schärfsten und nachdrücklichsten hervortrat. Selbst die zahlreichen Beamten, die auf den ausgedehnten Besitzungen und in den umfangreichen Bergwaldungen angestellt waren, traten selten oder nie für ihren Herrn ein, wenn ihre Stellung es ihnen auch verbot, offen gegen ihn Partei zu nehmen. In diesen Kreisen glaubte man unbedingt allen jenen Gerüchten, die über Raimund von Werdenfels im Umlaufe waren, und hielt um so hartnäckiger daran fest, je abenteuerlicher sie lauteten. Es war ein Gemisch von Furcht, Haß und Aberglauben, das schließlich einen förmlichen Sagenkreis um ihn wob.

Paul von Werdenfels war mit all diesen Verhältnissen nur sehr oberflächlich bekannt; er hatte nur durch gelegentliche Berichte und Schilderungen davon erfahren, aber es war genug, um im Verein mit dem, was er hier sah und hörte, ihm den Aufenthalt in Felseneck als unmöglich erscheinen zu lassen. Er kannte zwar jetzt den Grund dieser plötzlichen Berufung und mußte auch nothgedrungen die Fürsorge anerkennen, die darin lag, aber seit jener persönlichen Begegnung wußte er auch, daß es dem „gnädigen Herrn Onkel“, wie Arnold ihn nannte, sehr unbequem war, sich so eingehend mit seinem leichtsinnigen Neffen befassen zu müssen. Der Freiherr empfand diese Unterbrechung seiner gewohnten Einsamkeit offenbar als eine lästige Störung, hielt es aber doch für seine Pflicht, den jungen Mann, den er bisher so ganz sich selber überlassen, auf einige Zeit den Versuchungen der großen Welt zu entziehen. Eine derartige Buße aber war durchaus nicht nach Paul’s Geschmack, und er trat in sein Zimmer, wo Arnold soeben mit dem Auspacken der Garderobe beschäftigt war, mit einem Gesichte, das die übelste Laune verkündete.

„Du packst nur den kleinen Koffer aus, Arnold!“ befahl er. „Nur so viel, wie für etwa acht Tage nöthig ist; wir bleiben auf keinen Fall länger hier.“

„So?“ fragte Arnold indem er in seiner Beschäftigung innehielt und verwundert aufblickte. „Sind der Herr Onkel damit einverstanden?“

„O, der Onkel!“ rief Paul mit einem ärgerlichen Lachen. „Der hat die freundliche Absicht, mich den ganzen Winter hier oben zu behalten, damit ich Buße thue für meine Sünden und nebenbei bei ihm einen Cursus in der Menschenfeindlichkeit durchmache. Aber eine derartige Strafe lasse ich mir nicht zudictiren. Wir reisen in der nächsten Woche.“

„Nein, Herr Paul, das thun wir nicht!“ erklärte Arnold in voller Gemüthsruhe, während er schleunigst wieder auszupacken begann.

„Ich sage Dir, wir reisen! Soll ich etwa zum Trappisten werden in dieser Einsamkeit? Soll ich den ganzen Tag lang Gemsen schießen oder aus Verzweiflung die gelehrten Werke der Schloßbibliothek durchstudiren, die mir großmüthig zur Verfügung gestellt werden? Ich halte es nicht aus in diesem verwünschten Schlosse mit seiner öden unheimlichen Pracht! Ich komme mir wie verzaubert darin vor, und der Onkel hat auch etwas von einem Hexenmeister an sich, dem nichts verborgen bleibt. Er, der nie sein Schloß verläßt, der mit keinem Menschen Verkehr unterhält, ist trotzdem ganz genau über meinen Aufenthalt in Italien unterrichtet. Er weiß Alles, kennt Alles, sogar den Bernardo.“

„Sogar den Signor Bernardo!“ wiederholte Arnold mit einem ganz eigenthümlichen Seitenblicke. „Ja, woher mag er das erfahren haben?“

„Weiß ich es? Vielleicht hat es ihm seine weiße Geisterspitze da oben zugeflüstert. Mit natürlichen Dingen geht es nicht zu.“

„Der Herr Onkel waren wohl sehr wild von wegen unserer Schulden?“ fragte der alte Diener mit einer unverkennbaren Genugthuung.

„Nein,“ sagte Paul ernster. „Er war im Gegentheile die Güte selbst, aber ich wollte, er hätte mich gescholten. Ich hätte lieber die härtesten Vorwürfe ertragen, als diese eisige Gleichgültigkeit, mit der er Alles gewährte und Alles verzieh. Da ist auch nicht ein Funke von Wärme, von Interesse mehr vorhanden, weder für mich noch für sonst Etwas auf der Welt. Er scheint allen menschlichen Regungen abgestorben zu sein.“

Arnold pflegte sonst stets seinem jungen Herrn zu widersprechen; es war dies Grundsatz bei ihm, diesmal aber war er ausnahmsweise derselben Meinung. Er hatte in der Zwischenzeit die Diener ausgefragt und dabei so viel von den Sonderbarkeiten des alten Freiherrn gehört, daß es auch ihm in Felseneck nicht recht geheuer schien, aber er verstand es, mit den Verhältnissen zu rechnen.

„Ja, viel Vergnügen werden wir hier nicht haben,“ hob er an. „Der Herr Onkel scheinen – mit Erlaubniß zu sagen – etwas verrückt zu sein.“

„Ja, das ist er!“ stimmte Paul aus Herzensgrund bei. „Ein vernünftiger Mensch hat nicht solche Gewohnheiten.“

„Aber deshalb darf man ihm doch nicht den Respect versagen,“ fuhr Arnold mit Nachdruck fort. „Er ist und bleibt doch nun einmal der Chef der Familie, und außerdem unser Vormund.“

„Ich bin längst mündig.“ warf Paul heftig ein. „Schon seit drei Jahren.“

„Aber wir haben kein Geld,“ beharrte Arnold hartnäckig. „Der Herr Onkel kann uns enterben, und das thut er ohne Zweifel, wenn wir ungehorsam sind. Die Güter sind nicht Majorat – das wissen Sie ja, Herr Paul; es kommt alles auf das Testament an.“

„Meinetwegen, ich bin kein Erbschleicher!“ rief der junge Mann, indem er ungeduldig auf und abzuschreiten begann. „Kurz und gut, ich bleibe nicht in Felseneck. Die Luft hier bekommt mir nicht; in einigen Tagen werde ich krank werden, sehr krank. Der Onkel wird die Nothwendigkeit eines Luftwechsels einsehen und mein Leben nicht leichtsinnig auf das Spiel setzen – auf diese Weise geht es.“

Der alte Diener schüttelte in würdevoller Entrüstung sein graues Haupt.

„Sie sollten sich schämen, Herr Paul, eine solche Komödie zu spielen. Sie sehen ja so blühend aus, daß es eine Sünde ist, von Krankheit zu sprechen.“

„Ich bekomme das Fieber!“ erklärte Paul. „Dazu ist keine Blässe nothwendig, und übrigens werde ich es wirklich bekommen vor Aerger und Aufregung, wenn ich hier bleiben soll. Zu all seinen sonstigen Eigenschaften scheint der Onkel nun auch noch ein Weiberfeind zu sein. Die ganze Dienerschaft des Schlosses ist männlich; es existirt in diesen Mauern gar nichts Weibliches. Die einzige Vertreterin des schönen Geschlechts in der Nähe überhaupt ist die Frau des Försters, und die –“ Paul seufzte – „die ist über sechszig Jahr!“

Arnold erhob sich plötzlich von dem inzwischen ausgepackten Koffer und stellte sich mit voller Feierlichkeit vor seinem jungen Herrn hin.

[44] „Also darnach haben Sie sich schon erkundigt? Ja, das Weibliche, das hat wieder das ganze Unheil angerichtet! Denken Sie, ich weiß es nicht, warum Sie auf einmal so obstinat sind? Die Reisebekanntschaft aus Venedig steckt dahinter. Sie haben es ja nun glücklich herausgebracht, daß sie in W. geblieben ist, während wir abreisen mußten. Darum waren Sie so wüthend auf der ganzen Reise; darum wollten Sie Hals über Kopf wieder fort; darum riskren Sie sogar den Zorn des Herrn Onkels und die Erbschaft und die ganze Zukunft. O, ich weiß Bescheid!“

„Arnold, ich verbitte mir dergleichen Predigten!“ rief Paul gereizt. „Du vergißt vollständig, daß ich nicht mehr der Knabe bin, den Du hofmeistern durftest. Ich bin vierundzwanzig Jahre und fordere jetzt den Respect, die Ehrfurcht, die Du unter allen Umständen Deinem Herrn schuldig bist.“

„Da müssen Sie erst vernünftiger werden, Herr Paul,“ sagte Arnold trocken. „Viel vernünftiger! Bis jetzt sind Sie es noch nicht – das haben wir in Italien gesehen. Und Sie brauchen sich nicht den Kopf zu zerbrechen, woher der Onkel unsere dortigen Streiche erfahren hat. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt.“

„Du?“ dem jungen Manne blieb vor Erstaunen und Entrüstung das Wort im Munde stecken. „Du hast –?“

„Dem gnädigen Herrn geschrieben! Ja, das habe ich gethan, und ihm allerunterthänigst gemeldet, daß wir eben dabei sind, uns an Leib und Seele zu ruiniren, und daß der Wirthschaft schleunigst ein Ende gemacht werden müßte. Das hat auch geholfen; denn acht Tage darauf kam das Abberufungsschreiben. Ich habe bisher darüber geschwiegen, weil Sie sonst überhaupt nicht nach Felseneck gegangen wären, und der Herr Onkel hat auch geschwiegen, wie ich sehe. Er denkt vielleicht, ich könnte Unannehmlichkeiten davon haben. Er weiß ja nicht,“ hier hob Arnold mit großem Selbstgefühl den Kopf, „wie wir Beide mit einander stehen.“

Die gerühmte Stellung hatte aber jetzt eine schwere Probe zu bestehen; denn Paul gerieth außer sich über diese Enthüllung. Er sprach von unberechtigten Eingriffen, von Intriguen, von unerträglicher Bevormundung und schüttete die ganze Heftigkeit seines leicht erregbaren Temperamentes über den alten Diener aus, dieser aber nahm das alles in unerschütterlicher Ruhe hin.

„Ich habe meine Pflicht gethan und nichts weiter,“ erklärte er. „Ich habe es der seligen Frau Baronin auf dem Sterbebette versprochen. Sie hat mich eigens rufen lassen, um mir zu sagen –“

„Arnold, hör’ auf! Du könntest mir das Andenken meiner Mutter verleiden mit diesen ewigen Wiederholungen!“ rief Paul verzweiflungsvoll; denn er wußte, daß dieses Thema unerschöpflich war. „Ein für alle Mal: ich bleibe nicht in Felseneck, und wenn Du Dir etwa einfallen lassen solltest, neue Intriguen gegen mich zu spinnen, so reise ich allein ab und lasse Dich hier!“

Er stürmte fort. Arnold blickte ihm kopfschüttelnd nach.

„Und solch ein Brausekopf verlangt Respect und Ehrfurcht von Unsereinem!“ sagte er indignirt. „Aber diesmal hilft uns all das Aufbrausen nichts. Wir bleiben hier und müssen uns fügen lernen. Gott sei Dank, in diesem einen Punkte wenigstens scheinen der Herr Onkel vernünftig zu sein!“

Damit holte er einen Schlüssel hervor und begann, ganz unbekümmert um das Verbot seines jungen Herrn, den großen Koffer auszupacken.

Paul hatte in voller Aufregung das Zimmer verlassen und war auf die Terrasse hinausgegangen, die sich vor seinen Fenstern hinzog. Er war wüthend über den ihm gespielten Streich und noch wüthender über den Befehl des Onkels, in Felseneck zu bleiben, während er doch um jeden Preis fort wollte. Die scharfen Augen des alten Dieners hatten ganz recht gesehen: es war die schöne Reisegefährtin, welche das ganze Sinnen und Denken des jungen Mannes ausfüllte. Er war gleichzeitig mit ihr in W. eingetroffen und wußte, daß sie in einem dortigen Hôtel abgestiegen war, folglich stand es für ihn fest, daß er gleichfalls dorthin müsse. Weiter hatte er allerdings nichts erfahren; denn die Dienerin zeigte sich sehr unzugänglich und Arnold, den er als Kundschafter benutzen wollte, hatte ihm, anstatt zu gehorchen, eine nachdrückliche Predigt gehalten. Es galt daher, die glücklich gefundene Spur nicht zu verlieren, und es fragte sich nur, wie und unter welchem Vorwande die Abreise zu bewerkstelligen war. Eine plötzliche Erkrankung in der rauhen Luft von Felseneck erschien noch als das beste Mittel.

Rauh war die Luft hier oben allerdings, aber ihr herber, würziger Hauch berührte doch die Nerven des jungen Mannes unendlich erfrischend, die in der weichen, schwülen Luft Italiens erschlafft waren. Er stand auf der kleinen Burgterrasse, die, weit auf den Fels hinausgebaut, den vollen Anblick des Schlosses selbst gewährte, und erst hier, in unmittelbarer Nähe, kamen die mächtigen Verhältnisse desselben zur vollen Geltung. All diese Mauern, Thürme und Erker, die in scheinbarer Regellosigkeit und Willkür bald vorsprangen, bald zurücktraten, fügten sich doch zu einem einzigen malerischen Ganzen, das jedenfalls großartiger und bedeutender war als die ehemalige Burg, wenn auch die Pläne derselben maßgebend gewesen sein mochten. In mächtigen Pfeilern und Bogen, deren reich durchbrochene Arbeit allein ein Kunstwerk war, führte die breite steinerne Gallerie hinüber in den alten Theil des Schlosses. Auch hier hatte die Hand des Baumeisters theilweise eingegriffen, um den Verfall aufzuhalten, aber das Vorhandene war möglichst geschont und erhalten worden.

Dichter hundertjähriger Epheu umspann wie ein dunkles Gewand den halbrunden Thurm, in dem das Arbeitszimmer des Freiherrn lag. Die beinahe armdicken Wurzeln und Stämme waren tief in das Mauerwerk hineingewachsen und überzogen es mit einem undurchdringlichen Netz grüner Ranken. Auch der Seitenflügel, der sich an den Thurm anschloß, trug dieses Epheugewand; nur war es hier nicht so dicht und ließ an vielen Stellen die noch eisenfest gefügten Quadern der altersgrauen Mauern erblicken.

Schloß Felseneck führte seinen Namen mit Recht. Auf einem Felsengipfel gegründet, beherrschte es weithin das ganze Thal und ragte stolz und trotzig empor zu den Wolken, die oft genug zu ihm herniederstiegen und es von allen Seiten umflatterten.

Und ein derartiges Bauwerk ließ der Freiherr in dieser weltverlorenen Einsamkeit erstehen, wo Niemand es sah und bewunderte. nicht einmal der eigene Herr! Paul konnte nicht umhin, sich der Meinung Arnold’s anzuschließen, der im allertiefsten Respect meinte, daß der gnädige Herr Onkel doch einigermaßen verrückt sei.

(Fortsetzung folgt.)




Die kleine Haselmaus, ihr Thun und Treiben und ihr Winterschlaf.

Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.

Aus der Ordnung der Nager wählen wir heute für unsere Betrachtung den keinsten, niedlichsten Vertreter der Unterordnung Bilche oder Schlafmäuse (Myoxina), die kleine Haselmaus.[1]

Vielen bleibt das Thierchen zeitlebens unbekannt; denn es verfällt dem ausgesprochensten Winterschlafe, der bei normaler Witterung, das heißt in strengen Wintern, volle sieben Monate währt, wie der des Siebenschläfers, und auch während des Sommers pflegt es zu schlummern, so lange die Sonne am Firmamente steht. Es liegt, theils den Kopf unter die Brust oder den Bauch geschoben, theils seitwärts zusammengerollt, Tags über in einem Schlupfwinkel des Waldbodens oder in einem kleinen, sehr künstlich geformten runden Neste verborgen, und erst wenn die Abenddämmerung eintritt, beginnt das Schläferchen sich zu regen. Vorsichtig und furchtsam lugt dann das erwachte Mäuschen aus dem Verstecke heraus, windet nach allen Richtungen hin mit dem Näschen und weilt oft eine Minute lang, halb dem Schlupfwinkel entstiegen, vor dem Eingange seines Nestchens oder vor

[45]

Die kleine Haselmaus. Originalzeichnung von A. Müller.

[46] einem Wurzelloche, bis es, sich sicher glaubend, aus seinem Winkel hervorkommt. Leichtfüßig und flüchtig durchmißt es die Umgebung. Bewundernswürdig entfaltet es seine Kletterkunst auf den Stauden und Sträuchern des Niederwaldes, besonders des Haselgebüschs, bis in das schwankendste Gezweig hinauf.

In seiner Wachperiode liebt es die Gesellschaft von Seinesgleichen, und der aufmerksame Beobachter des Waldlebens belauscht dann in der Abenddämmerung oder im Mondschein eine Anzahl dieser allerliebsten Naturturner. Unter einem Haselbusche eines von dem Thierchen besonders besuchten Waldortes gelang es uns manchmal, das Thun und Treiben vereinigter Haselmäuse zu beobachten. Wie die Schatten bewegter Blätter im Mondschein, so huschen diese Zwerge über den Beobachter dahin, und hier und dort heben sich die niedlichen Silhouetten ihrer Figuren gegen den klaren Abend- oder Nachthimmel ab. Noch im vorigen Sommer belauschten wir das anmuthige Treiben einer Familie Haselmäuse, welches wir in der anseitigen Illustration möglichst lebenstreu wiederzugeben versuchten.

Unweit der Försterwohnung auf dem Waldorte „Stoppelberg“ bei Wetzlar hatte sich an dem Wurzelstocke eines großen Haselstrauches ein Haselmauspaar eine Familienwohnung gegründet und seine Jungen erzogen. Eichhörnchen en miniature gleichend, kletterte, hüpfte und spielte das Völkchen auf dem Schauplatze seiner Kindheit umher. Im Nu war das eine Mäuschen wie ein vom Winde bewegtes Blättchen im Schlupfloch des Nestes verschwunden. Da setzte sich das andere, ein Männchen machend, mit schiefgeneigtem Köpfchen mit den großen, wie dunke Perlen glänzenden Augen auf die Warte eines schwanken Zweiges, um sogleich dem wieder zum Vorschein kommenden Gespielen entgegen zu springen und das neckische Spiel mit reizend aufgehobenem Vorderpfötchen wieder zu beginnen. Bisweilen jagte das Paar um den Wurzelstock herum oder die Zweige des Haselstrauchs hinauf.

Nach solchen Touren pflegt sich die Familie zu putzen. Dabei sitzen die Kleinen bisweilen wie junge, eben erst ausgeflogene Vögelchen dicht gedrängt auf einem Zweige oder auf einer Wurzel und putzen sich ihre allerliebsten Gesichtchen, aus welchen schon kleine Schnurren hervorsprießen, mit den weißen feinen fingerartigen Zehen. Die Alten thun es den Jungen im Putzgeschäft zuvor, wobei sie manchmal selbst die Hinterfüße als Bürste zum Kämmen und ordnen des Pelzes gebrauchen.

Nicht minder anziehend als das Spiel gestaltet sich das Ernährungsgeschäft. Die Haselmaus weiß mit ihren feinen Nagezähnen Haselnüsse und Knospen wahrhaft künstlich durch eine verhältnißmäßig kleine Nagestelle auszuhöhlen. Dabei bleiben Nüsse wie Knospen an ihren Haftstellen hängen, sodaß es einer genaueren Untersuchung bedarf, um solche Pflanzenbestandtheile als angebohrte oder ausgehöhlte zu erkennen. An solchen Knospen stehen die Hüllen sternförmig aus einander, der zarteren inneren Theile vollkommen beraubt, während die Haselnüsse unter der unberührten grüngelben Hülse ein selten über fünf bis sechs Millimeter breites Nageloch in der unteren Spitze der Schale zeigen.

Wie oft haben wir das Nagegeschäft an unseren in Käfigen gehaltenen Haselmäusen belauscht! Es macht sich hörbar als ein im schnellsten Tempo erfolgendes leises Tremuliren und währt oft Stunden lang vom Abend bis zur Morgendämmerung. Der auffallende Umstand, daß unsere zahmen Haselmäuse ohne Unterschied wohl anfangs die Schale von Haselnüssen annagten, aber nie durchbrachen, sodaß wir den Thierchen die von der Schale befreiten Nüsse reichen mußten, die Wahrnehmung ferner, daß unsere Pfleglinge getrocknete Haselnüsse, Mandeln und Kerne von Welschnüssen in ihre Wassergefäße trugen, sowie daß sie vorzugsweise gern die genannten Nahrungsbestandtheile fraßen, wenn diese vorher in Flüssigkeit erweicht wurden – dies Alles bewies, daß die Thiere in der Natur gewiß die Nüsse in weicherem, noch nicht ganz gezeitigtem Zustande lieben und angehen. Und in der That verzehrt die Haselmaus im Freien vorzugsweise die noch nicht reifen Nüsse.

An unseren Thierchen beobachteten wir des Interessanten so viel, daß der uns hier gewährte Raum nicht ausreicht, alle geheimen Züge ihres Thuns und Treibens zu schildern. Nur die hervorragendsten und theilweise noch unbekannten mögen hier Erwähnung finden. So erweist sich die Behauptung, unser Thierchen tränke weder Wasser noch Milch, als irrthümlich. Mit hörbarem Schmatzen genossen unsere gefangen gehaltenen Mäuschen die Milch, und am Wassernäpfchen waren die Thierchen ebenso oft zu bemerken. Obgleich die keine Haselmaus in Bezug auf Temperament und seelisches Wesen das entschiedenste Gegentheil von ihren großen Verwandten ist, also nicht im Geringsten boshaft, listig oder stürmisch, sondern im Gegentheil sanft und höchst friedlich erscheint, so gelingt es doch nur sehr allmählich einem behutsamen, freundlichen Pfleger, den furchtsamen und scheuen Pflegling wahrhaft zu zähmen. Keines unserer gefangenen Thiere brachten wir dahin, daß es sich im Käfige mit der Hand hätte aufnehmen und offen davontragen lassen. Die Mäuschen duldeten zwar eine vorsichtige, stetige Annäherung des Gesichtes oder der Hand bis zum Gitter ihres Behälters, bei jeder weiteren, noch so leisen Annäherung aber flüchteten sie in ihre Verstecke.

Wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit dem Winterschlafe der kleinen Haselmaus zu! Durch vieljährige Beobachtung ihres Freilebens haben wir im Gegensatz zu anderen Schriftstellern gefunden, daß sie nicht vereint mit mehreren von Ihresgleichen, sondern stets allein gewöhnlich in einem Kugelnestchen, zuweilen auch in einer Wurzelhöhlung ihren Winterschlaf hält.

Dieses Winternestchen ist der näheren Betrachtung werth; denn es stellt ein wahres Kunstwerk dar. Im weitesten Durchmesser sammt seiner Umhüllung nicht mehr als sechs bis sieben Centimeter haltend, bildet es bei fünfzehn Centimeter starker Wandung eine regelrechte niedrige Kugel. Diese ist inwendig aus zarten Bandgrashalmen oder auch Bastschnürchen von weichem Holze geformt, welche nach außen durch etwas breiteres, stärkeres Material derselben Art ersetzt werden. Ueber diesen horizontal und vertical geführten Halmen- und Schnürenanlagen sind Blätter, gemeinlich von der Haselstaude, dicht- und glattanliegend mit dem Speichel der Maus ausgekittet; das zeigt insbesondere der oft an den Blättern und Halmen noch deutlich sichtbare, eingetrocknete und wie Schneckenschleim glänzende Speichel. Dieses Winternest fertigt die Maus in der Regel in der Laub- oder Moosdecke des Waldbodens auf einer rostartigen Unterlage von Gras, Moos oder Blättern.

Hier liegt die Maus nun, selbst zu einer Pelzkugel zusammengerollt, die unwirthliche Zeit des Jahres über in tiefem Schlafe erstarrt. Schon bei eintretender Kühle des October verkittet sich die Schläferin in ihrem Kugelneste und erwacht erst bei milderem Wetter des April.

Gewiß reizt es den wahren Forschertrieb nicht wenig, das Wesen dieses Zustandes zu erkennen. Aber gewiß auch ist es auffallend, daß bis jetzt diesem hochinteressanten Gegenstande nicht der nachhaltige Ernst und Fleiß gründlicher Untersuchung entgegengebracht wurde. Wohl sind einzelne gute Versuche an typischen Schläfern angestellt worden; allein diese stehen vereinzelt da, weil sie nicht ergänzt und erweitert wurden. Wir können selbstredend diesen Gegenstand hier nur seinen Hauptgrundzügen nach skizziren und erlauben uns im Uebrigen auf unser eben bei Th. Fischer in Kassel erscheinendes Werk: „Thiere der Heimath“ hinzuweisen.

Zieht man in Betracht, daß unsere Fledermäuse, diese meist ausgesprochenen Winterschläfer, aus Mangel ihrer ausschließlichen Insectennahrung an die Winterruhe gebunden sind, so begegnet man von vornherein einem scheinbaren Räthsel, warum Thiere aus der Gruppe der Nager, wie Murmelthiere, Siebenschläfer, Ziesel, Hamster und Haselmaus, in diesen Zustand gerathen, da sie doch mit den anderen Nagern an keine einseitige Nahrung gebunden sind. Sobald aber in das eigentliche Wesen dieser Schläfer, in die Summe ihrer Lebensbethätigungen, ihr ganzes Thun und Treiben aufmerksam und gründlich eingegangen wird, löst sich der angedeutete Widerspruch.

Es muß eine andere Ursache der Erscheinung der wahren Erstarrung zu Grunde liegen, und wir finden sie in dem äußerst erregten, reizbaren Wesen der Schlafmäuse. Ihr außerordentlich empfindliches Nervensystem, dessen hohe Spannung sich in ihrem ganzen Thun und Treiben während der Wachperiode kundgiebt, erzeugt zuletzt die gegentheilige Erscheinung, eine Lethargie, in welche der thierische Organismus zur Herstellung eines Gleichgewichts in der gestörten Harmonie der Lebenskräfte übergehen muß. Und in der That, das ganze Wesen der Erstarrung bringt uns die Kehrseite des Zustandes von wachen Thieren zur Erscheinung. Wie wir bei der Schlafmaus im wachen Zustande die größte Spannung der Lebenskräfte, den erregtesten Puls und eine lebhafte Respiration mit hochgradiger Wärme, kurz die sprechenden [47] Symptome der Schnelllebigkeit, gewahren, welche wir aufgezählt haben, so bekundet sich die Erstarrung in völlig zurückgetretener Thätigkeit des inneren Organismus. An der kleinen Haselmaus bemerkt man im Zustande normaler Erstarrung nur alle drei bis fünf Minuten einen Athemzug, und an einer unserer Haselmäuse konnten wir selbst noch zu Anfang des März mit bloßen Augen kein Athmen bemerken. Erst mit Hülfe der Loupe entdeckten wir die Athmung, welche sich innerhalb drei bis vier Minuten in einem ruckweisen Aufblähen der Bauchseiten verrieth, worauf wieder ein vollkommener Ruhezustaud eintrat. Wurde die Schläferin den Sonnenstrahlen ausgesetzt, so trat bald Leben in den Organismus, das in auffallend erregterem Athmen und Pulsschlage bemerkbar wurde.

An schlafenden Murmelthieren haben interessante Versuche stattgefunden, welche im Wesentlichen mit den von uns an der kleinen und großen Haselmaus wie dem Hamster angestellten Untersuchungen übereinstimmen. Ebenso finden sich dieselben bestätigt in den Beobachtungen Fr. Tiemann’s in Breslau an dem Ziesel. Nach dem Chemiker Regnault bedurften erstarrte Murmelthiere unter der Luftpumpe nur den dreißigsten Theil des Sauerstoffs zur Respiration, den sie im wachen Zustande verbrauchten; ihr normales Athmen erwies sich also in der Erstarrung dreißigfach vermindert, und ihre Körperwärme war 4° R. tiefer als die der umgebenden Luft. Eines der untersuchten Thiere erwachte unter der Luftpumpe und starb in der des Sauerstoffs entbehrenden Umgebung; ein anderes verharrte in der Erstarrung ohne Schaden, und es erwachte, außerhalb der Glocke der Luftpumpe gebracht, bei + 20° R. Seine Respirationsbewegungen verriethen sich alsbald dem bloßen Auge, welches das alle drei bis fünf Minuten nur einmal erfolgende Athmen in der Erstarrung nicht gewahren konnte. Die vermehrte Athmung brachte auch die Körperwärme auf die sehr hohe normale der Thiere bis zu + 33 und 34° R.

Diese Andeutungen mögen genügen zur Charakteristik des Erstarrungszustandes. Es ist aber noch die Frage aufgeworfen worden, ob die Winterschläfer während der Winterruhe an Körpergewicht ab- oder zunehmen. Von einigen Autoren ist eine Zunahme behauptet worden, aber an den Fledermäusen hat unser Freund Karl Koch – der bewährteste Kenner der heimischen Handflatterer – bereits seit längerer Zeit eine merkliche Abnahme von 1/6 bis 1/3 ihres Körpergewichts während ihres Winterschlafes nachgewiesen. An unseren Schlafmäuschen gewahrten wir gleichfalls eine beträchtliche Abnahme ihres Körpergewichts am Ende ihrer Winterruhe, welche Thatsache neuerdings auch von anderer Seite bestätigt wird.

Es erweist sich sonach die mancherseits aufgestellte Behauptung, daß die Schlafmäuse in Folge ihres lethargischen Zustandes Fett ansetzen, im gegenwärtigen Falle als nicht zutreffend.

Bei der Zerlegung der Körper von der kleinen und großen Haselmaus fiel uns kein nur einigermaßen nennenswerther Fettgehalt desselben auf. Wir fanden vielmehr alle Körperbestandtheile merklich trocken und die Thiere überhaupt abgemagert. Bei einigen Schlafmäusen und Fledermäusen waren auch die Magen sehr trocken und deren Wände eingeschrumpft. Die Verdunstung der Flüssigkeiten im Körper der Winterschläfer erklärt auch die oft beobachtete Thatsache, daß unsere Fledermäuse für ihre Winterquartiere gerne feuchte Umgebungen, sogar mit Wasser versehene Orte aufsuchen und überhaupt alle aus der Winterruhe erwachende Schläfer vorzugsweise gern Flüssigkeiten zu sich nehmen.

Wir schließen diesen Artikel mit einigen Ausführungen über das Wesen des Winterschlafes, welche wir unserm oben erwähnten Werke entlehnen.

Alle diese Merkmale, welche wir aufgezählt haben, bieten hinlänglichen Stoff zur Erklärung, wie es unter unseren Schlafmäusen auch der kleinen Haselmaus ermöglicht ist, die sehr lange Epoche der Winterstarre ohne Nahrung zu bestehen. Der äußerst geringe Verbrauch des Sauerstoffs hängt selbstredend mit dem verlangsamten Athmen, also mit dem sehr verminderten Verbrennungsproceß des Kohlenstoffs im Körper zusammen. Die während des Sommers im Körper angehäufte Fettmenge giebt aber hinlänglichen Kohlenstoff zu dem geringen Verbrennungsprocesse in den Lungen ab und schützt den Schläfer vor Erfrieren.

Dieser Zustand flößt uns im Verlaufe seiner ganzen Erscheinung Verwunderung ein und fordert den Forschergeist zum regsten Nachdenken auf. Es ist kein eigentlicher Schlaf, diese Erstarrung; der Anblick eines in Lethargie versunkenen Thieres erzeugt eher den Eindruck eines Todten als eines Schlafenden. Wiederum aber bieten die Glieder und der ganze Körper nicht die langgestreckte Form der Todesstarre.

In eine Kugel zusammengedrückt, weilt der Körper regungslos, sodaß der unter die Brust und zwischen die Vorderbeine herabgezogene Kopf mit der Nase den vier auf einen Punkt vereinigten Pfoten begegnet und insbesondere der Schwanz unserer Haselmaus im Kreise, dicht an den zusammengezogenen Bauch gedrückt, nach vorn über die Stirn sich biegt. Das Gesicht der Maus liegt in starren Falten, und die Schnurren strecken sich abwärts wie ein zusammengelegter Fächer zu den Seiten der Schnauze bis zu den Flanken herab. Die Hinterpfoten sind zusammengeballt und die Vorderpfoten fest an die beiden Wangen gedrückt, sodaß sie nach der Winterruhe daselbst kahle Stellen zurücklassen.

Es ist ein Verharren zwischen Leben und Tod, oder besser zwischen Schlaf und Tod; denn der eiskalte Körper verharrt in einem ganz eigenthümlichen Stadium, näher dem Tode als dem Schlafe, in dem Scheintode. In diesem Zustande gewaltsam getödtete Thiere bleiben vollständig in ihrer Lage, wie mehrere Beispiele uns überraschend zeigten. Nichts ändert sich an diesen scheinbar schon todt Gewesenen, und selbst im Tode ist uns der Cadaver solcher Thiere noch ein Räthsel: er entbehrt der Todesstarre. Ebenso merkwürdig tritt an dem Körper der im Winterschlafe getödteten Thiere eine andere Erscheinung auf: die Leichen kleiner und großer Haselmäuse, die wir uns zu Modellen für Zeichnungen verschafften, zeigten trotz der herrschenden Ofenwärme kein Anzeichen der Fäulniß. An das Ofenfeuer gebracht, vertrockneten die Cadaver zu Mumien, ohne merklichen Geruch.

So steht der Forscher vor dieser merkwürdigen Erscheinung in der Thierwelt, wie vor einem unentschleierten Geheimniß, einem noch ungenügend gelösten Räthsel, und er muß auch hier der Worte des großen Dichters gedenken:

     „In’s Inn’re der Natur dringt kein erschaffe’ner Geist.“

Adolf Müller.




Das türkische Derwischthum in seiner heutigen Gestalt und Bedeutung.

Von L. von Hirschfeld.
(Schluß.)

Neben den im ersten Theile dieses Artikels erwähnten Orden der heulenden und drehenden Derwische verdienen noch die Chalwetti (gegründet zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts) besonders namhaft gemacht zu werden: sie sind die heutigen Eremiten und Wanderderwische des Islam. Gleich den „Kalenders“, welche indischer Abstammung sind, durchziehen sie das Land. Ihr Gelübde verbietet ihnen eine stehende Wohnung zu haben, und sie leben von Almosen, weit öfter aber noch vom Raube. In den inneren Provinzen des türkischen Reiches machen sie geradezu die Landstraßen unsicher. Mit einer hohen Filzmütze bedeckt, mit dem langen, in fettigen Strähnen herabhängenden Haar, in Lumpen gehüllt, ein Pantherfell auf der Schulter, aber nie ohne eine Waffe – Keule, Spieß oder Dolch – sind diese unheimlichen Gestalten mit Recht der Schrecken aller einsam Reisenden. (Vergl. unsere Abbildung auf S. 48) Der Europäer vor Allen weiche ihnen aus; denn zur Raublust gesellt sich bei diesen Derwischbanden meist ein wahnsinniger Fanatismus. Ein hier in Constantinopel lebender, auch in der künstlerischen Welt durch seine charakteristischen effectvollen Aquarelle wohlbekannter Maler, Herr P., wäre vor einigen Jahren fast das Opfer eines von fanatischer Raserei befallenen Chalwetti geworden. Er zeichnete an einem einsamen Orte eine Grabstätte; der Derwisch mochte darin eine Entweihung [48] des Ortes erblicken; genug, er zog den spitzen Stahl, den die meisten der kurzen, harmlos erscheinenden Derwischstäbe, gleich unseren Stockdegen, im Innern beherbergen, und schlich von hinten an den Künstler heran. Dieser ward noch rechtzeitig des Attentats gewahr, vertheidigte sich mit seinem Feldstuhl und entwaffnete endlich mit Hülfe eines herbeigerufenen Dritten den rasenden Mönch.

Mit der Entstehung der Derwischorden, welche namentlich im zwölften Jahrhundert wie die Pilze aufschossen, wurde ein neues fremdes Element auf den Islam übertragen. So mannigfach auch die äußere Gestaltung der Orden war, so bildete doch der sufische Pantheismus – der Glaube, „daß das verborgene Lebensprincip, welches die verschiedenen Formen des Weltorganismus erzeugt, nur das Erzittern des göttlichen Wesens sei“ – die allgemeine Grundlage der verschiedenen Schulen.

Viele Orden hatten aber neben der öffentlichen noch eine Geheimlehre. Nach jahrelangen Prüfungen und Kasteiungen erfuhr der bewährte Neugeweihte, daß der Prophet unter dem Schleier symbolischer Verhüllung nur politische oder sociale Grundsätze aufgestellt habe, daß der Koran nur ein todter Buchstabe und die Auslegung desselben das allein Wahre, Wissenswürdige sei. „Wenn man außerhalb der Kaaba[2] steht,“ lautete z. B. ein von Dschelaleddin ausgesprochener Glaubenssatz, „so ist es gut, seine Blicke auf dieselbe zu richten; wer aber drinnen steht, mag sich wenden, wohin er will.“

Eine solche Lehre, welche darauf ausging, ihre Bekenner von den Landesgesetzen unabhängig zu machen und womöglich unter die ausschließliche unumschränkte Botmäßigkeit ihres Scheikh zu bringen, mußte gar bald zu einem Conflict mit dem Clerus und der herrschenden Classe führen. Das Chalifat sah mit Recht das Bestehen seines Staatssystems durch diese Geistesrichtung bedroht, die um so gefährlicher erscheinen mußte, als sie gleichzeitig der nationalen Bewegung zum Deckmantel diente. Es war nicht mehr der bloße Dogmenstreit; es war der Rassenkampf zwischen dem persischen und arabischen, zwischen dem indogermanischen und semitischen Element, der jetzt aufloderte.

Wander-Derwisch.
Nach einer Skizze von L. von Hirschfeld.
Auf Holz gezeichnet von G. Broling.

Es begann nun eine Zeit grausamster Verfolgung, die mit dem Blut zahlloser Märtyrer bezeichnet ist. Gelang es auch den Chalifen, die nationale Gährung niederzuhalten, so vermochten sie doch nicht zu verhindern, daß der Sufismus im Verborgenen fortwucherte, ja hier und da neue Triebe ansetzte und schließlich wieder in voller Blüte stand. Die Beispiele festen Duldermuthes, welche die Derwische, gleich den christlichen Märtyrern, ihren Peinigern gaben, gewannen selbst unter diesen der bekämpften Lehre neue Anhänger. Nach und nach erlahmte die Verfolgung, und die Unsicherheit, mit der die letzten gegen das Derwischthum gerichteten Schläge geführt wurden, bekundete hinlänglich die beginnende Erschlaffung und wachsende Ohnmacht des Sultanats.

In dem Maße, wie die Zahl der Orden sich nun wieder mehrte, wie die einzelnen Tekés sich durch Schenkungen und Speculationen bereicherten, wuchs auch der politische Einfluß der Derwische. Sie erhielten bald ungehindert Zutritt zu den Höfen der Großen, wurden deren Vertraute und Rathgeber; wir finden sie später in der nächsten Umgebung der Chalifen; ja im Jahre 1501 gelang es sogar einem Derwisch, Ismail Lefevi, sich auf den persischen Thron zu schwingen und so Begründer der „sophischen" Dynastie zu werden. – Nur die Priesterkaste der Ulemas setzte, wenn auch auf dem unblutigen Felde schriftstellerischer Polemik, den Kampf mit ungeschwächtem Eifer fort, weniger vielleicht aus Liebe zur Reinheit ihrer Lehre, als zur Vertheidigung der ihr vom Derwischthum mit Erfolg bestrittenen Herrschaft im Serail.

Die stärkste Stütze aber fanden die Derwische an dem berühmten Corps der Janitscharen, mit dem der Orden der Begtaschi, der Bettelderwische, von Alters her durch eine Art Waffenbrüderschaft verbunden war. Als Sultan Orkhan diese „neue Truppe“ (jeni-tscheri) im Jahre 1328 gründete, wollte er, getreu dem Princip seiner Vorgänger, welche allen weltlichen Ordonnanzen durch das beigedrückte Siegel des Mufti eine religiöse Weihe geben ließen, auch diesem militärischen Institut einen religiösen Charakter beilegen. Der damals am Hofe in großer Gunst stehende Scheikh der Begtaschi segnete die Truppen ein, indem er den weiten Aermel seines Mantels auf das Haupt der höheren Officiere legte. Zur Erinnerung an diese Weihe trugen letztere seitdem an dem Turban jenen eigenthümlichen auf den Rücken herabhängenden Filzlappen. Von nun an waren beide Corporationen Verbündete und theilten sich in die Herrschaft über die ohnmächtigen Regenten. Die Begtaschi begleiteten die Truppen in’s Feld, und in der Caserne am Atmeidan mußten beständig acht Ordensbrüder für die Wohlfahrt des Heeres und den glücklichen Erfolg der Waffen beten.

Da erfolgte im Jahre 1826 der fürchterliche Schlag, welcher die verwilderte Prätorianergarde vernichtete. Um sich von dem Einflusse der Janitscharen zu befreien, errichtete nämlich Mahmud der Zweite ein eigenes türkisches Heer nach europäischem Muster. Im Mai 1826 erließ er dann den Befehl, daß ein Theil der Janitscharen in die neuen Truppen eintreten solle. Da weigerten sich aber die wilden Krieger, diesem Befehle zu gehorchen, stürmten das Haus ihres Führers und rückten selbst gegen das Serail vor. Nun ließ der Sultan die heilige Fahne des Propheten entrollen und hierdurch alle Gläubigen zu den Waffen rufen. Mit den treu gebliebenen Truppen warf er die Aufrührer in ihre Caserne zurück und steckte dieselbe in Brand, wobei gegen 8000 Janitscharen den Flammentod fanden. Am 16. Juni desselben Jahres erfolgte eine Bekanntmachung, welche die Institution der Janitscharen aufhob und ihren Namen mit Fluch belegte. Die grausame Verfolgung, die nunmehr gegen die Besiegten in Scene gesetzt wurde, mußte sich natürlich auch gegen die Derwische, namentlich gegen die mächtigen, mit den Janitscharen verbrüderten Begtaschi, richten. Ihre Scheikhs wurden hingerichtet, die Klöster verbrannt; der ganze Orden wurde aufgehoben. Diese kühne Maßregel traf die Derwische wie ein Schlag aus heiterem Himmel.

Unfähig zu fliehen, „lehnten sie,“ wie der Chronist sagt, „starr an der Mauer, bleichen Entsetzens und sahen die Fackel des Lebens erlöschen“.

Allein die Energie des Reformators erlahmte noch im letzten Augenblick. Waren es religiöse Bedenken, war es die Furcht vor der Wuth des Pöbels oder glaubte er weit genug gegangen zu sein – genug, Sultan Mahmud gab die anfangs beabsichtigte Aufhebung sämmtlicher Derwischorden und die Einziehung der geistlichen Güter auf. Es ist nicht zu sagen, wie viel dieser Augenblick der Schwäche dem türkischen Staat gekostet hat, wie [49] so manche finanzielle Verlegenheiten und politische Complicationen mittelst einer energischen Durchführung des einmal begonnen Reformwerkes verhindert wären! Einmal versäumt, erschien die Gelegenheit zu einer durchgreifenden Verwandlung der inneren Verhältnisse nie wieder. Den Derwischen aber kehrte mit dem Gefühl der Sicherheit auch der alte Uebermuth zurück. Ihr Ansehen hatte durch die letzte mißglückte Verfolgung nur gewonnen. Der Trieb der Selbsterhaltung drängte sie nunmehr in eine allen Neuerungen feindliche Opposition, und das Volk sieht seitdem in ihnen die Schildträger des conservativen Princips, die eifrigsten Verfechter des Islam. Ihr Einfluß auf die unteren Volksschichten ist größer denn je; sie drängen sich in alle öffentlichen und Privatverhältnisse, und ihr Auftreten ist selbstbewußt, oft rücksichtslos.

Unter den einzelnen Orden sind neben den dogmatischen Verschiedenheiten auch noch gewisse sociale Färbungen wahrnehmbar: der Begtaschi ist das Urbild des Fanatikers; zu seinen religiösen Uebungen erhält nie ein Ungläubiger Zutritt. Während dieser Orden sich vorzugsweise aus den unteren Ständen recrutirt, ist der Orden der Mewlewi der aristokratische, was seine persönliche Zusammensetzung, der liberale, was seine politische Färbung anlangt. Musik und Wissenschaft werden unter seinen Mitgliedern eifrig und systematisch getrieben. In Pera besitzt der Orden ein großes Häuserviertel und in Stambul mehrere Tekés. Sein Hauptvermögen aber besteht in großen Ländereien, welche in der Umgegend von Koniah gelegen und gleich den Moscheengütern in Erbpacht (vakuf) gegeben sind. Dieser Besitz stammt schon von Murad dem Vierten, der ihn einst, nach einem glücklichen Kriegszuge gegen die Perser, den Mewlewis überwies.

Man irrt sehr, wenn man glaubt, daß die Derwische ein beschauliches mönchisches Leben führen. Die wenigsten Orden verlangen von ihren Mitgliedern Ehelosigkeit und Clausur. Bei den Mewlewis und Rufayis trägt nur ein kleiner Theil derselben die Ordenstracht; die meisten sind im Staatsdienst oder treiben bürgerliche Gewerbe. Die Mewlewis dürfen nicht einmal in dem Teké eine Nacht zubringen. Sie versammeln sich nur an bestimmten Tagen zu ihren Uebungen. So kommt es, daß man sie überall antrifft, und zwar vorzugsweise in den Kaffeehäusern, wo sie zwei Dritttheile ihres Lebens verbringen.

Man hat indessen wohl zu unterscheiden zwischen den eigentlichen Ordensbrüdern und jenen seltsamen Gestalten, denen man im Orient auf Schritt und Tritt begegnet, die der Volksmund Heilige und Erleuchtete bezeichnet und die einfach blödsinnig oder verrückt sind.

Der türkische Staat besitzt keine Irrenanstalten und hält es für bequemer und ökonomischer, jene Armen, deren verwahrlostes Aussehen bald Mitleid, bald Ekel erregt, der öffentlichen Nachsicht und Mildthätigkeit zu überweisen. Unter den abenteuerlichen Figuren, welche die Straßen Constantinopels bevölkern, ist der sogenannte „nackte Heilige“ jedenfalls die auffallendste und bekannteste. Dieser wunderliche Büßer – der übrigens die ihm gewordene Bezeichnung im buchstäblichen Sinne bewahrheitet – treibt sich zum Gaudium der Straßenjugend und zum Aergerniß der europäischen Damenwelt auf allen öffentlichen Plätzen umher, und der Polizei ist es bisher noch nicht gelungen, ihn zu entfernen oder zum Anlegen einer den Zeit- und Witterungsverhältnissen entsprechenden Bekleidung zu veranlassen. Die meisten dieser „Heiligen“ sind harmlos; indessen hört man auch hier und da von Excessen, die von ihnen begangen wurden, und nicht selten findet der Betrug und das Verbrechen unter dieser bequemen Maske den Weg zur Straflosigkeit. – –

Aus dem Obigen wird dem Leser die heutige Bedeutung des Derwischthums einigermaßen ersichtlich geworden sein. Allmählich und fast unmerklich ist im Laufe der Jahrhunderte eine Verschiebung der Ansichten eingetreten: die ursprünglich anti-islamische Tendenz des persischen Sufismus ist mehr und mehr zurückgetreten; die lose zusammenhängenden religiösen Seelen haben sich zu einer geschlossenen politischen Partei verdichtet, und der religiöse Schwärmer ist zum Fanatiker, das Derwischthum zur kräftigsten Stütze des Halbmondes geworden. Und seine Zukunft? Sie scheint nunmehr unzertrennlich an die Geschicke des Staats geknüpft zu sein, dem das Derwischthum seine Kräfte opfert. Hätte es, anstatt (wie der Jesuitenorden) nach weltlicher Macht und politischer Bedeutung zu haschen, sich begnügt, die Lehren seiner Gründer zu entwickeln, den Idealen des sittlich Guten und ewig Wahren nachzustreben, welche den Grundzug aller Religionen bilden, so wäre ihm vielleicht einmal die schöne Aufgabe zugefallen, die weite Kluft zu überbrücken, welche den Islam vom Christenthum und der modernen Civilisation scheidet.




Die Wassersnoth am Rhein.

Von Adolf Ebeling.

Die Ueberschwemmung in Mainz, November 1882;
Die deutsche Reichspost.

Nach der Natur gezeichnet von Ferd. Lindner.

Der Rhein! Welch ein Zauber liegt in diesem Namen! Die ganze Romantik wacht auf wie ein farbenprächtiges Märchen bild: die Ruinen auf den Höhen werden zu stolzen Burgen; der Schloßhof füllt sich mit Rittern, Knappen und Reisigen, und schöne Edelfräulein sprengen auf weißen Zeltern heran. Die Wappenfahne weht auf der höchsten Zinne; der Thurmwart bläst; die

[50] Zugbrücken senken sich an rasselnden Ketten herab, und eine schimmernde Cavalcade zieht in’s Thal hinunter nach irgend einer rheinischen Stadt zu Festspiel und Turnier.

Die Zeiten sind längst dahin; denn die Burgen sind zerfallen, aber freundliche Legenden und Sagen umschweben sie in Wahrheit und Dichtung; der herrliche Strom jedoch ist derselbe geblieben, und seine Ufer und Gelände sind im Laufe der Jahrhunderte immer schöner geworden. Zu den alten Städten gesellten sich neue; unscheinbare Weiler wurden nach und nach zu blühenden Dörfern und zu stattlichen Markflecken, und immer höher stieg die fleißige Hand der Menschen an den Bergen und Felsen empor, um ihnen fruchtbares Erdreich für den Wein- und Feldbau abzugewinnen. Handel und Gewerbe blühten bis in die kleinsten Ortschaften, und der Verkehr auf Eisenbahnen und Dampfschiffen wuchs nach und nach zu einer Bedeutung, wie kaum anderswo in Deutschland.

Der unendliche Liebreiz der Gegend kam hinzu, den Rhein weit und breit berühmt zu machen, sodaß er längst für alle Reisenden und Touristen Europas ein Hauptmagnet geworden, und wenn sie auch Schottland oder Norwegen, die Schweiz oder Italien besucht hatten und durch die prächtigen landschaftlichen Bilder jener Länder fast übersättigt waren an Naturgenüssen: den Rhein begrüßten sie mit stets neuer Freude, und vom Rheine wurde ihnen stets die Trennung am schwersten. Die sympathische Bevölkerung der Rheinlande hatte unleugbar großen Antheil daran:

„Die Frauen so frank und die Männer so frei,
Als wär’ es ein adlig Geschlecht;
Gleich bist Du mit glühender Seele dabei –
So dünkt es Dich billig und recht.“

Und dazu der Gesang und der Wein! Denn wenn schon Deutschland vor allen übrigen Ländern berühmt ist durch Musik und Gesang, so gebührt den Rheinlanden von diesem Ruhm die Krone, und wie das Gold das edelste und kostbarste unter allen Metallen, so ist auch der goldene Rheinwein der König unter den Weinen, und deshalb segnet auch der große Kaiser Karl alljährlich im Lenz die Reben am Rhein.

Unvergeßlich ist gewiß Jedem, dem sie vergönnt gewesen, die Erinnerung einer Rheinfahrt an einem schönen Sommertage mit befreundeten Genossen. Hier langgedehnte, bewaldete Höhenzüge, dort senkrecht gen Himmel ragende Felsmassen, dann bei einer Biegung des Stromes unabsehbare auf- und niedersteigende Rebengelände, und wo die Berge einen Durchblick in die Ebene gestatten, gleich unabsehbare Kornfelder und Wiesen, nach dem alten Volkswort: „Korn und Wein segnet der Rhein“. Städte und Ortschaften spiegeln sich in den klaren Wellen; elegante Landhäuser und stattliche Villen, oft wahre Fürstensitze, schauen überall hervor aus dem Grün, und in den sorgfältig gepflegten Gärten, die gern bis dicht an den Strom gehen, sind Grotten und Lusthäuschen erbaut, liebliche Ruhesitze zu einem Rundblick über das herrliche Panorama.

Und welch fleißige und rührige Bevölkerung! Jung und Alt, Vornehm und Gering in lebendiger Bewegung, Jeder in seinem Kreise wirkend nach Kraft und Vermögen, und Gruß und heiterer Zuruf von allen Seiten, wenn die bewimpelten Dampfschiffe vorüberziehen oder wenn die Reisenden in den schmucken Wirthshäusern einkehren! Gute, daseinsfrohe Menschen! Herrliches, gesegnetes Land! .

Und jetzt, welch eine Wandlung voll Grauen und Entsetzen! Von Mainz und weiter hinaus bis hinunter nach Düsseldorf und weiter hinab ist der schöne, friedliche Strom ein wild brausendes Meer geworden, dessen ungeheure Wassermassen dort, wo die Felsen des Bettes sie einengen, in furchtbarem Wirbel dahin schießen, Alles mit sich fortreißend, was in ihren Bereich kommt, und dort, wo die offenen Thäler einen Abfluß gestatten, alle Niederungen meilenweit überflutend.

Fast alljährlich und gewöhnlich im Frühjahr zur Zeit des Eisganges tritt freilich der Rhein aus seinen Ufern und setzt die tiefergelegenen Felder und Wiesen und auch einzelne Theile der allzu dicht am Strome liegenden Städte und Ortschaften unter Wasser, aber die Bevölkerung ist mit diesen im Allgemeinen nicht bedeutenden Fährlichkeiten längst vertraut und weiß sich dagegen genugsam zu schützen. Anders ist es schon mit den größeren wirklichen Ueberschwemmungen, die viel Noth und Gefahr bringen und durchschnittlich alle fünfzehn bis zwanzig Jahre eintreten, so in diesem Jahrhundert die von 1811, von 1845 und namentlich die von 1876. Die letztere ist noch überall in schrecklichem Andenken, und da nur wenige Jahre seitdem verflossen sind, so hatte man um so mehr Veranlassung, eine baldige Wiederkehr nicht zu befürchten.

Alte Leute erinnerten sich bei dieser Gelegenheit wohl der Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern, welche die furchtbare Wassersnoth von 1784 mitgemacht hatten, die größte und verderblichste seit vielen Jahrhunderten, und trösteten die ängstlich Zuhörenden mit der Versicherung, daß dergleichen eben nur alle hundert Jahre vorkäme, und das kaum.

Als daher gegen Mitte October dieses Jahres der Rhein in Folge der anhaltenden Regengüsse stark zu steigen und die Flachlande zu überschwemmen begann, blieb man guten Muthes, traf die nöthigen Vorkehrungen und athmete schon nach acht Tagen wieder auf; denn die Wasser sanken und die Gefahr schien beseitigt.

Aber dies war nur ein mattes, unbedeutendes Vorspiel zu dem furchtbaren Drama, das ein düsteres, unerbittliches Geschick über das schöne Land verhängte und das sich einen Monat später in so grauenhafter Weise verwirklichen sollte. Die letzte Novemberwoche 1882 wird in den Annalen der Rheinlande auf langehin mit Schreckensbuchstaben verzeichnet stehen – aus Millionen Herzen stieg der Wunsch empor: gebe Gott, auf Nimmerwiederkehr! (Und doch stehen wir heute, wo dieses gedruckt wird, vor der schrecklichsten Wiederkehr des steigenden Verderbens! Der Leser gestatte uns, zunächst jene Nothtage zu schildern, auf die jetzigen aber am Schluß zu kommen! D. Red.)

Nach langen trüben Schnee- und Regentagen kamen am 21. und 22. November in der unteren Rheingegend und speciell in Köln und Düsseldorf die beunruhigendsten Nachrichten vom Oberrhein, die das Schlimmste befürchten ließen, und am 25. begann die entsetzliche Katastrophe. Das war diesmal keine Ueberschwemmung, wie in früheren Jahren, kein langsames, wenn auch bedrohliches Steigen des Stromes, sondern ein fast plötzliches und jedenfalls unerhört schnelles Hereinbrechen ungeheuerer Wassermassen von allen Seiten, die in dem tiefen Rheinbette ihren Ausgang suchten und mit rasender Gewalt dahinstürmten. Die zahlreichen und in gewöhnlichen Zeiten meist harmlosen Nebenflüsse waren zu reißenden Strömen angeschwollen, vor allen die Mosel, die auch diesmal wieder, und schlimmer als je, ihren tückischen Charakter zeigte; denn sie stieg in kaum vierundzwanzig Stunden nicht fuß-, sondern meterweise, überfluthete dabei ihr eigenes Gebiet weitin nach allen Richtungen und führte trotzdem bei Coblenz dem Rheine ihre hochgehenden Wogen zu. Und Aehnliches meldete man von den nahen und fernen Flüssen des Südens, so namentlich vom Main und Neckar, und der Rhein selbst stieg dadurch zu einer seit Menschengedenken nicht dagewesenen Höhe. Die furchtbaren Naturkräfte waren entfesselt und begannen ihr grausiges, verderbenbringendes Spiel, und die Menschen schauten mit bewunderndem Entsetzen die tobenden Gewalten und fühlten verzweifelnd ihre Ohnmacht. Nicht als ob sie die Hände müßig in den Schooß gelegt hätten: im Gegentheile, tausend und aber tausend Hände waren ohne Aufhören thätig, von früh bis spät, und während der gefährlichen Periode auch die Nächte hindurch, vielfach von Erfolg gekrönt, aber leider noch weit häufiger vergeblich. Denn von sämmtlichen am Rheine gelegenen größeren und kleineren Städten, von allen Städtchen und Ortschaften bis zum letzten Dörfchen, und in einer Ausdehnung von mehr als fünfundzwanzig deutschen Meilen liefen immer neue Schreckensnachrichten ein und eine immer schrecklicher als die andere; man vernahm sie mit wehmüthiger Theilnahme, aber der eigene Herd schien fast Jedem am schlimmsten bedroht.

Um sich einigermaßen ein annähernd richtiges Bild dieser entsetzlichen Wassersnoth zu machen, sind durchaus zwei verschiedene Gesichtspunkte nöthig. Der eine ist das Anschwellen und Steigen des keinsten Baches wie des größten Stromes – stetig, unaufhaltsam und unerbittlich, höher und immer höher wälzen sich die Fluthen; der andere ist der plötzliche und gewaltsame Durchbruch der Deiche. Im ersteren Falle, wo man die Gefahr kommen und näher und näher rücken sieht, ist es möglich, die nöthigen Vorkehrungen zu treffen; man räumt die Keller und Parterrewohnungen und bezieht die oberen Stockwerke, oder sucht, wo das nicht thunlich ist, ein Asyl [51] an höher gelegenen Orten; auch findet man stets bereitwillige Hülfe bei den weniger bedrohten Einwohnern; denn das gemeinsame Unglück nähert die Menschen und öffnet die Herzen. Im zweiten Falle dagegen tritt die Katastrophe urplötzlich ein: der Damm zerreißt; die bis dahin hochaufgestauten Gewässer brechen wie Meeresfluthen herein, und zehn, zwanzig Minuten genügen, um die niedrig gelegenen Ortschaften, denen eben der Damm Schutz gewähren sollte, in einen weiten tiefen See zu verwandeln. Da gilt es, in wilder Hast nur das nackte Leben zu retten und Hab und Gut im Stiche zu lassen; auch von gegenseitiger Hülfe ist kaum mehr die Rede; denn Jeder denkt nur an sich und an die Seinigen und der Bauer höchstens noch an sein Vieh, seinen größten und oft einzigen Reichthum, und auch das muß in vielen Fällen geopfert werden. Im Ganzen haben während der Novemberkatastrophe allein im Rheingebiete fünf solcher Deichbrüche stattgefunden, von denen zwei geradezu unerhörte Calamitäten herbeiführten: der eine in der Niederung bei Worringen zwischen Köln und Neuß und der andere bei Niehl in der Nähe von Köln.

Der bei Worringen war wohl der grauenvollste von allen: am 27. November war die ganze gesegnete Landschaft in ein einziges, über eine Quadratmeile großes Meer verwandelt, aus welchem die Baumgipfel und Dörfer hervorragten; lebendes und todtes Vieh treibt auf den Fluthen, dazwischen die auf den Feldern losgeschwemmten Fruchtbarmen, ebenso Ackergeräthe und unzähliger Hausrath aller Art, zertrümmert und verloren und den Winden und Wellen preisgegeben, Balken, Bretter und leere schaukelnde Fässer, auch wohl ein mit Menschen überfüllter Nachen, Männer, Frauen und Kinder, in allen Augen Thränen, auf allen Gesichtern bleiches Entsetzen; dazu das Läuten der Sturmglocken von den Kirchthürmen (die Kirchen selbst vielfach vom Wasser erreicht) und ein dunkler, bleischwerer Himmel wie ein Leichentuch über dem Fluthengrabe. Auf einer Anhöhe in der Ferne stehen andere Menschen, die bereits gerettet sind und die mit wehenden Tüchern ihren Leidensgefährten zuwinken. Das ist ein, wenn auch nur flüchtig skizzirtes Jammerbild unter vielen hundert ähnlichen.

Am 29. November gegen Abend hatten die Fluthen des Rheins ihren Höhepunkt erreicht, zugleich den höchsten in diesem Jahrhundert: nun endlich standen die Wasser und die geängstete Bevölkerung, so schwer sie auch getroffen war, schöpfte Hoffnung und frischen Muth. Die Verheerung war freilich fürchterlich und spottet jeder Beschreibung. Wer beispielsweise von irgend einer Höhe des Siebengebirges, oder weiter hinauf, etwa vom Schlosse Stolzenfels, wo auf dem rechten Ufer die Lahn und auf dem linken die Mosel in den Rhein mündet, in die Thalebene hinabschaute, erkannte die Gegend nicht mehr; denn eine unabsehbare Wasserfläche, ein Ocean war an die Stelle der weitgedehnten Felder und Fluren getreten, und manche kleinere Ortschaft war so gut wie ganz verschwunden. Coblenz und Neuwied hatten furchtbar gelitten, nicht minder Sanct Goar, Rüdesheim und Bingen – doch wollten wir hier die einzelnen Städte nennen, so könnten wir nur nach der Rheinkarte bei Mainz anfangen, um bei Düsseldorf aufzuhören. Nur das ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß die Städte und mehr noch die Flachlande des Niederrheins von Bonn über Köln bis Düsseldorf am schwersten heimgesucht wurden, was sich schon dadurch erklärt, daß hier der Strom völlig und ganz in die Ebene tritt und seine Wassermassen zu beiden Seiten stundenweit abgeben kann, bevor er nach Emmerich, der letzten preußischen Stadt an der holländischen Grenze, gelangt. Deshalb ist auch bei Emmerich die Ueberschwemmung nur unbedeutend gewesen und das holländische Rheingebiet ist so gut wie ganz verschont geblieben.[3]

Nach dem banalen Volksworte, daß jedes große Unglück gewöhnlich auch von einem großen Glücke begleitet ist, wird bei der Wassersnoth im November als Trost hervorgehoben, daß während der Schreckenstage kein Sturm gewüthet hat, was die Noth und Gefahr natürlich noch gesteigert haben würde. Dies ist allerdings nicht zu leugnen, aber es ist doch, angesichts des entsetzlichen Elends, nur ein leidiger Trost. Und ein Umstand kommt hinzu, der diese Ueberschwemmung zu der schlimmsten und folgenschwersten von allen macht, der nämlich, daß sie im Spätherbst, also dicht vor Anfang des Winters stattgefunden hat, wohingegen alle vorhergehenden stets im Frühjahr eintraten. Der Grund davon liegt auf der Hand. Im Herbst sind alle Feldfrüchte eingeheimst, desgleichen die Vorräthe an Gemüsen, in erster Reihe Kartoffeln, Rüben und Kohl, ebenso der Feuerungsbedarf, kurz alles Nöthige, um den Unbilden der kalten und bösen Jahreszeit zu begegnen.

Das Alles ist jetzt zum größten Theil und in vielen Ortschaften gänzlich verdorben und verloren, und die wirkliche Noth, das heißt die Sorge um das tägliche Brod, ist bei tausend Familien eingezogen. Dies gilt hauptsächlich von der Landbevölkerung und überhaupt von den „kleinen Leuten“, die mit Angst und Zagen dem nahen Winter entgegen gehen. Die letzte Ernte war überdies nur eine sehr mittelmäßige, und der Ertrag des Weinbaues schon seit mehreren Jahren ein kläglicher. Nun noch die weithin überschwemmten Kornfelder, wo die Wintersaat überall und vielfach sogar die „Ackerkrume“ zerstört ist, und wo die Neubestellung doppelte und dreifache Arbeit kostet! Auch sind die Wohnungen auf dem Lande größtentheils weniger gut und solid gebaut als in den Städten, und hunderte kleiner Bauernhäuser sind eingestürzt oder doch völlig unbewohnbar – Alles trostlose, beklagenswerthe Zustände, wo rasche, durchgreifende und weitumfassende Hülfe dringend geboten ist.

Daß wir aber auch nur gleich hinzusetzen: viel, unendlich viel ist geschehen und geschieht noch täglich nach allen, allen Richtungen hin zur Linderung, sowohl der augenblicklichen Noth, wie auch in Fürsorge der nächsten Zukunft. Und das ist die schöne und herzerfreuende Lichtseite unserer sonst so betrübenden Schilderung. Manchmal scheint es wirklich, als ob die Vorsehung in ihren unergründlichen Rathschlüssen große Calamitäten in Form schrecklicher Naturereignisse über ganze Länderstrecken verhänge, um den Menschen Gelegenheit zu geben, sich von ihrer edelsten und schönsten Seite zu zeigen: in den Werken christlicher Nächstenliebe. Das war hier der Fall.

Schon in den ersten Tagen der Ueberschwemmung waren hülfreiche Arme in Menge bereit, als aber die Wasser wuchsen und wuchsen, als Noth und Gefahr immer größer wurden mit jedem Tage, zuletzt mit jeder Stunde, da stand die verschont gebliebene Hälfte der Bevölkerung auf wie Ein Mann und bot der heimgesuchten Hälfte die rettende Bruderhand. Die Localbehörden waren überall so gut wie in Permanenz; denn der Nothbrücken- und Nachendienst mußte auf das schleunigste hergestellt werden, um wenigstens das Leben der bedrohten Menschen zu retten, wenn sonst nichts mehr zu retten war. Herzerschütternde Scenen sind dabei vielfach vorgekommen, so in Köln und in Coblenz, wo Wöchnerinnen aus dem dritten Stockwerk herabgelassen und Kranke und Gebrechliche in ähnlicher Weise geborgen werden mußten.

Wir könnten lange Seiten füllen mit Aufzählung derartiger Einzelnheiten, und dabei sind wohl nur die wenigsten derselben in die Oeffentlichkeit gedrungen. Auch an Handlungen hochherziger Selbstaufopferung hat es nicht gefehlt. Unerschrockene Männer retteten mit Gefahr ihres eigenen Lebens hülflose Frauen und Kinder, namentlich bei den Dammbrüchen, wo die wasserkundigen Rheinschiffer sofort große Flöße gezimmert hatten und ganze Familien mit ihren schnell zusammengerafften Habseligkeiten aufnahmen und in Sicherheit brachten.

Leider ist auch der Verlust manches Menschenlebens zu beklagen, wenngleich die bisjetzt bekannt gewordene Zahl der Opfer im Verhältniß zu der außerordentlich großen Ausdehnung der Ueberschwemmung Gottlob nur eine geringe ist. Ein entsetzlicher Unglücksfall ereignete sich in Offenbach bei Frankfurt, wo ein altes baufälliges Haus so plötzlich von den Fluthen ergriffen wurde, daß man in der Hast drei Kinder von zwei, sechs und acht Jahren vergessen hatte. Die Mutter, die ihre Kinder schon gerettet glaubt, eilt zurück, aber die treue Dienstmagd drängt sich vor, arbeitet sich durch das Wasser wieder in das Haus hinein und gelangt auch in das obere Stockwerk zu den Kindern. In demselben Augenblicke stürzt das Gebäude mit furchtbarem Krachen zusammen und begräbt die Unglücklichen in den Trümmern. Alle Rettungsversuche waren vergebens; denn die Straße war zu einem reißenden Strom geworden. Erst am Abend des nächsten Tages gelang es, die vier Leichen unter dem Schutt hervorzuholen. Die Magd hielt das kleinste Kind noch in den Armen. Man denke sich den Schmerz der Eltern!

[52]

Die Ueberschwemmung in Mainz, November 1882;
Versorgung mit Trinkwasser.

Nach der Natur gezeichnet von Ferdinand Lindner.

Dieser grauenhafte vierfache Todesfall steht glücklicher Weise vereinzelt da, aber andere Fälle, wo namentlich Kinder in der Angst und Hast der nächtlichen Flucht verloren gingen und später als Leichen aufgefunden wurden, haben sich leider mehrfach wiederholt. Sehr häufig schwebten übrigens, besonders in den abgelegenen Stadttheilen, ganze Familien Stunden, ja halbe Tage lang in Lebensgefahr, bevor die erlösenden Boote sie abholen konnten; denn Hunderte und Tausende, die sich in gleicher Lage befanden, mußten gerettet werden, und Einige mußten unvermeidlich die Letzten sein.

Dann galt es, die Geretteten anderweitig, wenn auch vor der Hand nur provisorisch, unterzubringen, und auch hier kamen wieder die von der Wassersnoth verschont Gebliebenen den Unglücklichen von allen Seiten entgegen. Hülfsvereine hatten sich schon gleich in den ersten Tagen gebildet, als die Gefahr so bedrohlich zu werden begann, und nun entfalteten vorzugsweise die Frauen ihre segensreiche Thätigkeit. Keine Stadt, keine Ortschaft, zuletzt kein Dorf, wohin sie den Bedürftigen nicht ihre Liebesgaben entweder selbst brachten oder sandten: Betten, Kleider, die nothwendigen Haus- und Küchengeräthe und vor Allem Lebensmittel in Menge; denn gerade diese mangelten vollständig. Es schien ein wahrer Segen auf diesen Vertheilungen zu ruhen; denn je mehr die Vereine in Anspruch genommen wurden, desto reichlicher flossen die Gaben. Bäcker lieferten hunderte von Broden umsonst, oder doch für den halben Preis; Bergwerksbesitzer sandten Kohlen waggonweise nach allen Richtungen, Getreidehändler Mehl und Hülsenfrüchte, und von allen bemittelten Familien wurden Kleidungsstücke, Wäsche und sonstige Effecten massenhaft nach den verschiedenen Sammelstätten geschickt.

Die Ueberschwemmung in Mainz, November 1882: Ein Begräbniß.
Nach der Natur gezeichnet von Ferdinand Lindner.

Das war zur Linderung der ersten Noth. Gleichzeitig waren die eigentlichen Unterstützungscomités zusammengetreten, und noch bevor derselben durch das ganze Land ihre Aufrufe erlassen hatten, gingen schon Geldsendungen ein. Die Reichen gaben viel, manche mehrere tausend Thaler, die weniger Begüterten nach Kräften, und selbst die Unbemittelten wollten nicht zurückbleiben. Auch im übrigen Deutschland wurden Sammlungen angestellt, und von Berlin, Hamburg, Leipzig, Dresden, Königsberg waren bereits um die Mitte des Decembers namhafte Summen eingetroffen. Und immer weiter hinaus erstreckte sich die Theilnahme: von den Deutschen in London und Paris, aus Oesterreich kamen Beiträge, und die Listen sind, so Gott will, noch lange nicht geschlossen. Der preußische Minister des Innern stellte eine Beihülfe von einer halben Million aus Staatsmitteln in Aussicht, und die Provinziallandtage von Rheinland und Westfalen votirten eine ähnliche Summe. So werden leicht mehrere Millionen zusammenkommen, aber viele, viele Millionen sind auch nöthig, um alle Wunden nur einigermaßen zu heilen und alles Verlorene nur theilweise zu ersetzen. Bis

[53]

Die Ueberschwemmung in Neustadt an der Haardt, Ende November 1882.
Nach einer Photographie im Verlage von A. Reinhard in Neustadt an der Haardt.

Eingestürztes Haus am Burgplatz in Düsseldorf.
Nach einer Photographie im Verlage von H. Juppen in Düsseldorf.

[54] jetzt ist es unmöglich, auch nur annähernd die Höhe des Gesammtschadens in runder Summe anzugeben; man spricht von wenigstens zehn bis zwölf Millionen Mark, aber noch gegen Ende December, wo diese Zeilen in Druck gehen[4], laufen immer neue Reclamationen ein, sodaß die amtlichen Sitzungsberichte der Sachverständigen noch nicht vorliegen.

Mittlerweile verfolgt die Privatthätigkeit mit immer neuen und von den günstigsten Erfolgen gekrönten Anstrengungen ihr edles Ziel. Theatervorstellungen und Concerte zum Besten der Ueberschwemmten werden in allen größeren Städten gegeben; Bazare und Lotterien sind projectirt, und die Männergesangvereine, diese schöne Spezialität der Rheinlande, werden auch bald zu diesem Zwecke ihre kleinen Kunstreisen antreten. Man wird sie überall willkommen heißen.

So öffnen sich rings die Quellen des Wohlthuns, hier kleine Bäche, dort größere Zuflüsse, und alle zusammen vereinigen sich in dem großen Strom der opferfreudigen Nächstenliebe. O möchte auch dieser Strom aus seinen Ufern treten und zu einer Ueberschwemmung werden, aber zu einer Ueberschwemmung des Segens und des Heils! Wenn wir dann im nächsten Sommer den alten Vater Rhein wieder begrüßen, dem wir jetzt zürnen müssen und den wir doch so lieb haben, so werden uns die Bewohner doppelt herzlich entgegenkommen, und ihr Dank für das, was wir für sie in den Tagen großer Noth gethan, wird wie ein lichter Regenbogen nach einem schweren Gewitter über den herrlichen Bergen und Geländen stehen. Das walte Gott!

*     *     *

Kaum hatten wir diesen Artikel vollendet und eingesandt, als bedrohliche Anzeichen einer neuen Ueberschwemmung von allen Seiten laut wurden. Noch waren die Wasser der ersten furchtbaren Katastrophe nicht verlaufen; noch standen viele tausend Morgen Ackerland in Schmutz und Schlamm; noch waren die unzähligen Wohnungen in Städten und Dörfern kaum nothdürftig gereinigt und getrocknet und von den Bewohnern, die eben kein anderes Obdach hatten, wieder bezogen worden, als auf’s Neue der Nothschrei durch die Lande ging und alle Herzen mit wahrer Verzweiflung erfüllte.

Man schenkte anfangs den entsetzlichen Nachrichten aus dem Süden, namentlich aus dem Main- und Neckargebiete und aus dem ganzen badischen Oberlande, dessen zahlreiche Flüsse zu hochgehenden Strömen angeschwollen sein sollten, keinen vollen Glauben; sogar der Bodensee sollte so hoch stehen, wie kaum je seit Menschengedenken, aber nur zu bald ward man inne, daß jene Hiobsposten nicht nur nicht übertrieben waren, sondern noch vielfach hinter der grausigen Wirklichkeit zurückblieben. Schon wenige Tage später, und das ganze Rheinthal war von Neuem überfluthet; die neuen Wassermassen hatten nur zu schnell den Weg wieder gefunden, den ihnen diejenigen des vergangenen Monats so schrecklich gebahnt, und diesmal noch schneller und in den meisten Gegenden noch gefahrdrohender und verheerender. Der Hauptgrund hiervon lag in den vielen Dammbrüchen, welche diesmal weit häufiger eingetreten waren, als im November; denn die Dämme hatten damals zwar Widerstand geleistet, aber von dem gewaltigen Anprall der Fluthen so stark gelitten, daß sie einem nochmaligen erliegen mußten, und deshalb sind auch bei dieser zweiten Ueberschwemmung weit mehr Menschenleben zu beklagen. Die Lokalblätter wimmeln von herzerschütternden Einzelheiten. So haben bei einem Brückeneinsturz zu Lörrach 15 Menschen das Leben verloren, und aus gar vielen Ortschaften Badens, des Ober- und Niederrheins und der Rheinpfalz werden Todesfälle durch Ertrinken gemeldet.

Noch schrecklichere Nachrichten kommen aus Ludwigshafen: dort ist ein großer Kahn mit vierzig Insassen, die den Ueberschwemmten Lebensmittel bringen sollten, umgeschlagen, und nur fünf Personen wurden gerettet. In Frankenthal war eine fürchterliche Sylvesternacht: vier Dämme brachen fast zu gleicher Zeit und setzten das ganze Gebiet zwischen Ludwigshafen und Worms meterhoch unter Wasser. In den dortigen Ortschaften sind die Häuser buchstäblich zu hunderten eingestürzt, und mehrere tausend Obdachlose, die Alles, Alles verloren haben, mußten in Kirchen, Schullocalen und in den höher gelegenen Häusern untergebracht werden. Das Elend und die Noth dieser Unglücklichen entzieht sich jeder Beschreibung.

Auch ist das Ueberschwemmungsgebiet diesmal ein größeres als im November, und mithin die Noth der Heimgesuchten eine doppelte. Für viele tausend Familien, und natürlich vorwiegend der unteren, unbemittelten Classen, hat die diesjährige Weihnachtswoche nur Elend und Schrecken gebracht; das schöne Christfest, das Fest der Freude, der Kinderfreude zumal, wo auch in den ärmlichsten Hütten fast immer ein Lichterbäumchen schimmert, ist düster und freudlos vorübergezogen. Man dankte Gott, wenn man nur das eigene Leben und das der Seinigen vor den wilden Fluthen glücklich in Sicherheit gebracht hatte, und die ängstliche Sorge um das tägliche Brod und für die gesammte Existenz nahm alle übrigen Gedanken in Anspruch. Der schöne, in besseren Zeiten vieltausendfach erklingende Wunsch vergnügter Feiertage und der nicht minder schöne eines glückseligen Neujahrs wäre für all die Unglücklichen bittere Ironie gewesen, und auch die Begüterten und verschont Gebliebenen konnten sich diesmal nicht so herzlich und unbefangen freuen, wie sonst; denn auch auf ihnen lastete die entsetzliche Calamität, wie der wolkenschwere Himmel, der gerade in der Festwoche fast überall und fast ununterbrochen seine Regenmassen herabsandte. Nur in dem einen Gedanken begegneten sich Alle: zu helfen und zu lindern, so viel und so weitgehend man nur irgend konnte. Die Aufrufe schilderten von Neuem und noch eindringlicher als zuvor die allgemeine Noth; von Neuem flossen und fließen die Gaben und Beiträge, und die öffentlichen Behörden und die unzähligen Privatvereine wetteifern in der Erfüllung der ihnen obliegenden schönen Pflichten zur Unterstützung ihrer leidenden Mitmenschen. Mit Gottes Hülfe wird es schon gelingen, dem augenblicklichen und größten Elend zu steuern; das Weitere wird dann freilich der staatlichen Fürsorge überlassen bleiben; denn hier ruft eine Noth des Vaterlandes um Hülfe und hat das Reich die Hand zu erheben, um die schrecklichen Wunden zu heilen, die ein hartes Geschick den schönen Rheinlanden jetzt zweimal geschlagen.

[55]
Blätter und Blüthen.


Schutz den Füßen! Wer kennt nicht jene Fabel von dem Magen und den Gliedern des Menschen, welche einst Menenius Agrippa dem römischen Volke, welches die Stadt verlassen wollte, vortrug? Wenn die Füße noch heute ebenso reden könnten, so würden sie uns ohne Zweifel bittere Klagen hören lassen. Sie würden einen energischen Protest erheben gegen den unduldsamen Druck, dem sie ausgesetzt werden; sie würden die Mode und die ganze Schuhmacherei als ihre schlimmsten Tyrannen ohne Erbarmen verurtheilen.

Wir sehen, wie nun, nachdem diese Zeilen von den Millionen unserer Leser durchflogen worden sind, auf den meisten Gesichtern ein spöttisches oder mindestens zweifelndes Lächeln den Mund umspielt; wir hören Hunderttausende vor sich hin flüstern: „Wir sind doch wahrlich keine chinesischen Damen, um so hart und bedingungslos verurtheilt zu werden;“ wir sehen auch manchen ehrbaren Meister die Stirn runzeln, und wir hören seinen zornigen Ausruf: „Wie? Ist denn der Rückgang des Kleingewerbes, ist denn unsere Noth nicht groß genug? Muß da noch ein Volksblatt wie die ‚Gartenlaube‘ solche Ansichten in die breitesten Schichten des Volkes hinausposaunen?“

Und doch bleiben wir, trotz dieser Opposition, bei unserer Behauptung.

Wir wissen wohl, daß es laut der Zählung vom 1. December 1880 im deutschen Reiche 249,996 Schuhmacherbetriebe mit 374,205 Handwerkern gab, daß also auf 10,000 Einwohner in Deutschland 86 Schuhmacher kommen. Wir würdigen wohl die hohe Bedeutung dieses Standes für die Wohlfahrt des Volkes, und wir selbst würden es in erster Linie beklagen, wenn dieses Klein-Bürgerthum von dem Großcapitale verschlungen würde und die Meister zu Fabrikarbeitern herabsinken sollten. Indem wir hier gewissermaßen klagend gegen das Schuhmachergewerbe auftreten, geben wir ihm gleichzeitig Mittel an die Hand, sich zur neuen Blüthe aufzuraffen. In diesem Sinne mögen die nachstehenden Ausführungen verstanden werden und Niemanden verletzen.

Alle aber, die an der Richtigkeit unserer obigen Behauptung zweifeln, stellen wir vor die einfache Frage: Wie sind die Füße unserer heutigen Generation beschaffen? Sind sie gut oder schlecht? Das ist nun eine Frage, die gar schwer zu beantworten ist; denn eine Statistik der gesunden und kranken menschlichen Füße wurde niemals aufgenommen. Und doch läßt sich diesem Mangel wenigstens theilweise abhelfen. Ein Fachmann auf diesem Gebiete, Dr. Vötsch[5] hat die Aushebungslisten des württembergischen Heeres geprüft und gefunden, daß etwa der zehnte Theil der unbrauchbaren Mannschaft wegen Fehler an den Füßen für den Militärdienst untauglich war, und ein anderer mit den Verhältnissen gut vertrauter Arzt hat so gar die Behauptung aufgestellt, daß sich die Zahl der schlechtfüßigen Mannschaft auf 25 Procent belief. Da nun die Zahl der mit fehlerhaften Füßen zur Welt kommenden Menschen eine verschwindend kleine ist, so liegt die Vermuthung nahe, daß an der großen Verbreitung der Fußübel unsere Fußbekleidung schuld ist. Und in der That ergiebt eine genaue ärztliche Untersuchung, daß mit vollkommen normalen Füßen nur diejenigen kleinen Erdenbürger ausgestattet sind, die noch niemals der Culturwohlthat theilhaftig wurden, auf Schusters Rappen zu laufen, Diese Thatsache wird uns durchaus nicht befremden, wenn wir die Art und Weise, wie heute Stiefel und Schuhe angefertigt werden, kennen lernen. Dr. Vötsch sagt hierüber in seinem oben citirten Werke:

„Wer Schuhe oder Stiefel braucht, der läßt sich solche entweder nach alter Väter Sitte – von einem Schuster anmessen, oder aber er geht, wie es heutzutage vielfach gebräuchlich ist, in einen Schuhbazar, eine Schuhfabrik, und kauft sich da fertige Waare. Wie es in dem einen, wie im andern Fall zugeht, was dabei erreicht wird, soll zunächst Gegenstand der folgenden Besprechungen sein.

Wenn der Schuster einem Kunden Schuhe oder Stiefel anfertigen soll, so läßt er diesen sich setzen, den Stiefel eines Fußes sich ausziehen und nimmt nun seine Maße. Damit macht er ohne Wissen und Willen – nicht weniger als drei Fehler auf einmal. Denn 1) weiß oder berücksichtigt er nicht, daß der freihängende Fuß kürzer und schmäler ist, als der belastete (während des Stehens), weshalb seine Maße zu klein ausfallen müssen; 2) mißt er über den Strumpf an, der die Zehen einander genähert erhält – ein weiterer Grund, daß die Maße unrichtig, Form und Umfang der Fußbekleidung zu klein werden müssen; zudem kann er auf diese Weise ja keinen richtigen Begriff vom Zustand der Füße bekommen, die er gar nicht einmal sieht; 3) begnügt er sich mit nur einem Fuß, statt beide zu messen und zu vergleichen, die oft sehr verschieden von einander sind, also auch verschiedene Form und Größe des Stiefels verlangen. Und mit diesen falschen Maßen in der Tasche, die bis zu einem gewissen Grade zu corrigiren (‚ab- und zuzugeben‘) der Eine mehr, der Andere weniger versteht und gewöhnt ist, geht der Meister nach Hause, um zu einem weiteren verhängnißvollen Act zu schreiten, respective einen vierten Fehler zu machen, nämlich durch die Wahl des Leistens oder Leistenpaares in seinem Leistenschrank.

Wir sind hier bei dem wichtigen Capitel von den Leisten angelangt. Es hat damit folgende Bewandtniß. Bekanntlich bedarf der Schuster zur Herstellung jeder Fußbekleidung eines Leistens, das heißt einer Nachbildung des Fußes aus einem Material, das eine bestimmte derbe Behandlung (Klopfen, Nageln) ertragen muß und bis jetzt durch etwas Anderes als Holz nicht ersetzt worden ist. Ueber diese Form her werden die verschiedenen Materialien, aus denen die Fußbekleidung zu bestehen hat, wie eine Schale oder ein Gehäus zusammengesetzt, wonach der Leisten wieder herausgenommen wird, an dessen Stelle nun der Fuß kommt. Wie der Leisten, so der Schuh oder Stiefel.

Eine auch nur oberflächliche Vergleichung dieser Leisten mit verschiedenen Füßen läßt indeß fürwahr nur eine entfernte Ähnlichkeit zwischen beiden erkennen, während solche doch vernünftigerweise eine größtmögliche sein müßte, um die Fußbekleidung dem Fuß möglichst ähnlich werden zu lassen. Der Fuß war zuerst da; nach ihm, sollte man denken, hat sich die Fußbekleidung, zunächst aber der Leisten, zu richten, nicht umgekehrt.

Thatsächlich haben wir es aber wirklich bisher mit einer Umkehrung dieses Verhältnisses zu thun. Und darunter haben wir schwer zu leiden gehabt. Bei näherem Zuschauen erklärt sich das ziemlich einfach. Die Leisten pflegt der Schuster, der blos Lederspecialist ist, nicht selbst herzustellen, sondern sie fertig von einem Specialisten in der Holzbranche, dem Leistenmacher, zu beziehen. Es wird noch Niemand davon gehört haben, daß ein Leistenmacher mit anatomischen und physiologischen Kenntnissen vom Bau und von den Verrichtungen des menschlichen Fußes sich befaßt oder dies auch nur als wünschenswerth oder nothwendig erkannt hätte. Derselbe stellt eben aus einem Stück Holz nach bestimmten Schablonen und nach seinem Kopf – nicht nach den Füßen – geformte Modelle dar, deren Abnahme ihm immer gesichert bleibt, weil sie der Schuster eben haben muß. Dieser ist von ihm abhängig. Und dieses Verhältniß gerade ist vom Uebel und von weittragenden Folgen begleitet. So, wie die Dinge bisher lagen, pflegte sich der Schuster, sobald er einen selbstständigen Geschäftsbetrieb anfing, eine Anzahl Leisten von verschiedener Größe und Form, Fabrikleisten, beizulegen und ab und zu nachzukaufen. Der Glücksfall nun, daß der Schuster unter seinem Vorrath von Leisten gerade ein oder zwei Paar findet, mit welcher seine Maße genau übereinzustimmen scheinen, wird zu den selteneren Vorkommnissen gehören. Er muß also darauf Bedacht nehmen, sich anderweitig zu helfen, sich zu behelfen. Dies heißt so viel: er sucht den am ehesten mit seinen Maßen im gegebenen Fall übereinstimmenden Leisten aus, nimmt etwa da etwas vom Holze weg, befestigt dort eine dünnere oder dickere Schicht Leder, um den Leisten dicker zu machen – und wenn auf diese Weise vollständige Uebereinstimmung zwischen Fuß und Leisten doch noch immer nicht erreicht wird, so bleibt es dem ersteren überlassen, sich nach dem Leisten zu richten und nach der Decke zu strecken. Daß eine nach solchen Leisten gemachte Fußbekleidung den Fuß abzwingt, Meister über ihn wird, das zeigen die verschiedenen mißgestalteten Füße in überzeugendster Weise, die ja doch nur anerzogen und Kunstproducte sind.“

Die obige klare Schilderung genügt vollständig, um einen Mangel des heutigen Schuhmachergewerbes zu beleuchten, sie genügt aber auch, um uns den Werth der Fabrikwaare, die nur nach Durchschnittsleisten hergestellt wird, im richtigen Lichte zu zeigen. Jeder Unbefangene wird nach dieser Darlegung dem Verfasser beipflichten, daß eine Reform des Schuhmachergewerbes durchaus nothwendig ist.

Der Schuster muß zuerst und hauptsächlich Leistenmacher sein; im Anfertigen rationeller Leisten für jeden Einzelfall muß er seine Hauptaufgabe und Hauptkunst suchen. Er wird sich entscheiden müssen, ob er blos „Verschönerungskünstler“, nur Specialist in eleganter Leder- und dergleichen Arbeit, oder aber rationeller Fußbekleidungskünstler, Berather und Helfer in allerlei Fußangelegenheiten sein will. Im letzteren Fall kann es ihm gleichgültig sein, ob er für Holzarbeit oder für Lederarbeit bezahlt wird; ersterer braucht er überdies nur einmal bei einem Kunden sich zu unterziehen. Ordentliche, vernünftige Leute werden kaum die geringe Mehrausgabe für das erste Paar Stiefel scheuen, welches über diese neuen, ihnen nun eigen gehörigen und sie in alle Zukunft vor unbrauchbaren Stiefeln schützenden, rationellen Leisten gemacht ist.

Es ist nur die einfache Folgerung des bisher Ausgesprochenen, daß das Urtheil über den Großbetrieb der Schusterei, über Schuhfabriken und Schuhbazars, da hier nicht für den gegebenen Fall gearbeitet und nicht über bestimmte Füße angemessen wird, vom rationellen Standpunkt aus nicht anders als ungünstig lauten kann.

Und wahrlich, nur durch ernstes Eingehen auf diese Grundsätze wird es dem Kleingewerbe möglich sein, die Concurrenz der Maschinenarbeit siegreich aus dem Felde zu schlagen. Auf dieses Gebiet der wahren Meisterarbeit wird ihm kein Fabrikant folgen können. Ader eine derartige Reform kann nicht ohne Zuhülfenahme besonderer Mittel ausgeführt werden. Die Bemühungen einzelner Meister und einzelner Vereine, die anerkennenswerther Weise hier und dort bereits aufgetaucht sind, reichen dazu nicht hin. Einem Gewerbe, das eine Viertelmillion Betriebe aufzuweisen hat, darf und muß der Staat helfen, aber nicht in dem jetzt so beliebten staatssocialistischen Sinne, daß er die Producirenden mit Geld unterstützt, sondern dadurch, daß er Fachschulen für Schuster, Schusterakademien, errichtet, die mit tüchtigen ärztlichen und technischen Lehrkräften und allen nöthigen Lehrmitteln ausgerüstet sind. Auch in diesem Punkte muß man unbedingt dem Verfasser Recht geben, wenn er sagt:

„Während man von Schneider-, Müller-, Brauer-, Gärtner- und ähnlichen Akademien, landwirthschaftlichen Instituten, Ackerbauschulen und dergleichen hört und liest, während man sich in den industriellen Kreisen mehrerer Städte mit dem Plane beschäftigt, Fachschulen sogar für Kesselwärter zu errichten, ja während der deutsche und österreichische Alpenverein behufs der Ausbildung tüchtiger Bergführer im Hochgebirge die Einführung von Führer-Instructions-Cursen beschlossen hat etc., ist es – wenige Ausnahmen abgerechnet – von Schuster-Akademien und -Fachschulen still geblieben.

[56] Es könnte einem in Folge langjähriger Mißhandlung seiner Füße durch ungeschickte Schuster Verbitterten zu gut gehalten werden, wenn er sich Gedanken darüber machte, warum, wo es sich um so viele Leidensgenossen, um eine wahre Volkscalamität handelt, nicht schon von Reichsgesundheitsamtswegen gegen den gemeinschädlichen Gewerbebetrieb der bisherigen Schuster vorgegangen wird. Einem biedern Schwaben aber, welcher alljährlich von Staatswegen eine Aufforderung an die Hufschmiede des Landes zur Betheiligung an Fortbildungskursen in der Hufbeschlagkunst ergehen sieht, könnte es passiren, daß er sich fragte, ob denn das liebe Vieh und seine Locomotionsapparate mehr werth seien, als die der viel zahlreicheren fußkranken Menschen, für deren Wohl Niemand sorgt. Es nimmt sich gar sonderbar aus, wenn in der modernen Zeit, welche mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts strebt, welche mit allen Mitteln der Technik auf die Verbesserung und Beschleunigung des Massentransportes zu Wasser wie zu Land, und was damit zusammenhängt, hinarbeitet, wo das Fliegen nur noch eine Zeitfrage ist, – die ursprünglichste, ureigenste, immer doch unentbehrlichste Locomotion des Einzelnen mit Schusters Rappen, deren weder Hoch noch Niedrig jemals wird entrathen können, noch so sehr im Argen liegt, wenn im alten Schlendrian fortgeschustert und fortgewirthschaftet wird und kaum Jemand Beschwerden und Klagen über seine Locomotionsapparate erspart bleiben und auch nur erträglich gute Füße überall zu den Ausnahmen gehören. Und wer jene Monumentalbauten, die großartig ausgestatteten polytechnischen Anstalten, Kunstgewerbe-, Baugewerkeschulen und dergleichen Kostbarkeiten der Großstädte, welche verhältnißmäßig wenig Leuten, und meist nur Städten und Städtern, zu gute kommen, sieht und sich daneben erinnert, wie etwa jeder hundertste Mensch ein Schuster ist, für dessen Ausbildung man diesen bis heute lediglich selber sorgen läßt, – der gelangt leicht zu illoyalen Anwandelungen, eine Vergleichung anzustellen zwischen Schooßkindern und Stiefkindern des Staates, und er fände wohl kaum ein Arges oder einen Luxus darin, wenn im Gesammtinteresse Jedermanns, von Alt und Jung, in Stadt und Land, auch für die Heranziehung eines auf der Höhe der Zeit stehenden Schusterstandes von der Gesammtheit etwas geschähe.“

Soll aber diese Reform wirklich durchgreifend wirken, so muß auch das große Publicum seine bisherigen verschrobenen Ansichten über Schuh und Stiefel ändern und von der Narrethei des „kleinen und schönen“ Fußes zu der Würdigung und Schätzung des „gesunden“ Fußes Umkehr halten. Wir beabsichtigen zu dieser Bekehrung nach Kräften beizutragen und in einem zweiten illustrirten Artikel die Frage von diesem Standpunkte aus zu beleuchten.




Die Ueberschwemmung in Mainz, November 1882:
Straßenverkehr.

Nach der Natur gezeichnet von Ferdinand Lindner.


Karl Chop, einer der ältesten Mitarbeiter der „Gartenlaube“, ist durch seinen Tod der erste Verlust unseres Blattes im neuen Jahre geworden. Chop gehörte zu der nicht geringen Zahl geist- und kenntnißreicher Menschen in Deutschland, deren Wirken sich vorzugsweise auf engere Grenzen, namentlich auf ihr Heimathsgebiet beschränkt, und denen, weil sie abseits von den großen Preßerzeugniß-Märkten wohnen, die Gelegenheit, ihre Namen so oft wie möglich dem Publicum in Erinnerung zu bringen, abgeht, oder denen es widerstreben würde, selbst von der reichlichst dargebotenen Gebrauch zu machen. Diese Stillen im Lande sind ein großer Schatz für die Verbreitung der Volksbildung, welche in der Regel ihre liebste Sorge ist und der sie die Berühmtheit in weiteren Kreisen zum Opfer bringen, während auf den genannten Literatur-Märkten gar manche Mittelmäßigkeiten von freundschaftlicher Hand in brillirendes Licht gestellt werden, freilich auch nicht länger als bis Freundschaft und Licht mit einander ausgehen.

Karl Chop ist am 2. März 1825 in Sondershausen, der Residenzstadt der Schwarzburgischen Unterherrschaft, geboren, wo sein Vater Staatsminister war. Nach gründlicher Vorbildung studirte er in Leipzig in den wissenschaftlich und politisch steigend erregten Jahren von 1845 bis 1848 die Rechtswissenschaft, lebte dann in seiner Vaterstadt als Rechtsanwalt und widmete seine freie Zeit den schon auf der Universität gepflegten naturwissenschaftlichen, literarhistorischen und philosophischen Studien. Diesen Gebieten sind auch die schriftstellerischen Arbeiten entsprossen, mit denen er von Zeit zu Zeit in die Oeffentlichkeit trat, und es ist ein Zeugniß für den Werth derselben, daß Ernst Keil sehr bald auf ihn aufmerksam wurde und ihm die „Gartenlaube“ öffnete. Außer Novellen, deren Stoffe seinem Berufs- und seinem geschichtlichen Studien- und Erfahrungskreise, der Rechtspflege und dem patriarchalischen Staate, entnommen waren, hat er mit Vorliebe seine naturwissenschaftlichen Beobachtungen in volksverständlicher Weise mitgetheilt, aber auch selbstständige Schriften erscheinen lassen, von denen am bekanntesten sind: „Professor Schmidtchens Abenteuer“ und „Mein Vetter, der Graf“, eine Stadt- und Hofgeschichte. Ebenso war er ein fleißiger Mitarbeiter und zuletzt auch Mitredacteur des „Thüringer Hausfreundes“, in welchem er manche treffliche Frucht seiner Volkskenntniß und seines gesunden Humors niederlegte. Daß er seine Naturstudien auch praktisch zu verwenden vermochte, beweist seine Stellung als Vorstand der meteorologischen Station in Sondershausen. Von den vielen kleineren Schriften und Aufsätzen Karl Chop’s verdient nicht Weniges der Vergessenheit durch eine Sammlung derselben entrissen zu werden, damit der einst so stille Mann mit seinem Geist da fortlebe, wo er so gern gewirkt hat.




Der Leichenzug des Gideon Hosenstoß. Man schreibt uns aus Herisau in der Schweiz (Canton Appenzell): Alljährlich am Aschermittwoch findet in unserem Wohnorte der Leichenzug des „Gideon Hosenstoß“ statt, ein Gebrauch, wie er in gleicher origineller Form wohl nirgends sonst gefunden werden dürfte. – Unsere gesammte Schuljugend wird durch dieses Ereigniß stets in große Aufregung versetzt; denn schon am Morgen des betreffenden Tages laden Knaben im Alter von 12–14 Jahren, die jeweiligen Festordner, die jüngeren Kinder ein, recht zahlreich zum Leichengebete des „Gideon“ zu erscheinen, und kaum sind Abends 4 Uhr die Schulen geschlossen, so strömen fast alle Kinder des Ortes nach der Stelle, an welcher der Umzug seinen Anfang nimmt. Derselbe wird durch Knaben eröffnet, die als alte Weiber verkleidet und mit brennenden Laternen und langen Geißeln versehen sind. Sie eilen in grotesken Sprüngen dem Zuge voraus, um ihm den Weg frei zu machen. Ihnen folgt dann ein flacher Handwagen, auf welchem der Gideon, eine lebensgroß aus Stroh und alten Kleidern hergestellte Puppe, liegt; zwei Knaben besprengen dieselbe und die miteilenden Kinder mit Wasser, während Andere mit Pfannendeckeln, Trommeln und Pfeifen einen ohrzerreißenden Spektakel machen. Kleinere Knaben, meist verkleidet, figuriren als Leidtragende, und ihnen schließt sich ein langer Zug kleiner Mädchen an, welche, mit rothen, weißen und gelben Tüchern, bunten Bändern und Schleiern wunderlich aufgeputzt, die Pflicht haben, in die vorgehaltenen Hände zu weinen und möglichst laut zu klagen und zu jammern. Wer dies verabsäumt oder sich untersteht, die geordneten Reihen zu verlassen, wird von den hin- und hereilenden Zugführern mit Geißelhieben zum Gehorsam gebracht; alle unverkleideten Kinder aber werden mit drohendem Geschrei und geschwungenen Stöcken von der Theilnahme am Zuge abgehalten. So bewegt sich derselbe unter unaussprechlichem Lärm durch sämmtliche Straßen des Ortes, um schließlich zu seinem Ausgangspunkte zurückzukehren. Dort besteigt ein Knabe eine erhöhte Stelle und hält eine je nach der Begabung des Redners mehr oder minder witzige Ansprache; er giebt zuerst eine Lebensbeschreibung des Gideon Hosenstoß, wobei alle möglichen lächerlichen Untugenden und Situationen erwähnt werden; sodann folgt ein Verzeichniß seiner Hinterlassenschaft, in welcher papiernes Kochgeschirr, Gabeln und Kämme ohne Zinken und dergleichen Unsinn eine große Rolle spielen. –

Nach Schluß der Rede verläuft sich das Publicum, der Gideon aber wird in irgend einem Holzstall verwahrt bis zum nächsten Sonntag, wo er in einem der auf allen Höhen leuchtenden „Funken“ oder Freudenfeuer den Flammentod findet.

Dieses Zugrabetragen des Faschings – denn so kann der Umzug wohl gedeutet werden – ist vermuthlich nur die veränderte Form einer alten heidnischen Feier, und da die Appenzeller als ein zäh am Althergebrachten, Gewohnten festhaltendes Volk bekannt sind, hat sich das Fest jedenfalls in ziemlich ursprünglicher Weise erhalten.


K. G. in Berlin. Das ergreifende Gedicht von Emil RittershausFür die Nothleidenden am Rhein“ ist von der Jul. Taddel’schen Buchhandlung in Barmen zu beziehen. Einzelne Exemplare kosten 25 Pfennig, 50 Exemplare 10 Mark und 100 Exemplare 15 Mark. Da der ganze Ertrag für die armen Ueberschwemmten am Rhein bestimmt ist, so ist ein Nachdruck des Gedichtes in öffentlichen Blättern nicht gestattet.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Zum Unterschiede von dem Contingente der kurz- und langgeschwänzten oder der eigentlichen und Wühlmäuse ist diese Thiergruppe von der Wissenschaft zwischen die Eichhörnchen und Mäuse gebracht worden. Alle zu ihr gehörenden Arten zeichnen sich durch eine mausähnliche Körperform aus; sie sind mit einem Eichhornschwanze versehen. Die keine Haselmaus wird zum Unterschiede von ihrem größeren Verwandten, der großen Haselmaus oder dem Gartenschläfer (Myoxus nitela), in der Kunstsprache Muscardinus avellanarius benannt. Die erwachsene kleine Haselmaus erreicht die Größe von 7,5 Centimeter, den Schwanz eingerechnet; ihre Hautfarbe ist röthlichgelb, und nur die Brust und die Kehle sind weiß.
  2. Mohammed’s viereckiger Tempel in Mekka.
  3. Bekanntlich theilt sich der Rhein unterhalb Emmerich in zwei Arme, von denen der linke sich mit der Maas vereinigt und in die Nordsee fällt. Der rechte theilt sich dann wieder in mehrere größere und kleinere Arme und führt seine Hauptmase der Zuydersee zu.
  4. Die Veröffentlichung derselben mußte wegen der anzufertigenden Illustrationen hinausgeschoben werden. Von den lebenstreuen an Ort und Stelle aufgenommenen Bildern erfordern einige eine nähere Erklärung. Es war nämlich ein guter Gedanke unseres Künstlers, uns die furchtbare Hochfluth des November nicht in den das Land überströmenden Wasserflächen der freien Natur darzustellen, sondern uns in einer Bilderreihe die Wandelungen zur Anschauung zu bringen, in welche plötzlich das Leben der Menschen in einem vom Wasser überfallenen Gemeinwesen umgestaltet wird. Er wählte dazu Mainz, das ihm nicht blos ein großes Gemeinwesen, sondern auch die Ueberschwemmung im höchsten Grade darbot; denn dort quoll das Wasser schon übermächtig aus der Erde hervor, ehe noch der Rhein seine Fluthen in die Stadt warf. F. Lindner hatte keine leichte Arbeit, es galt da nicht, Skizzen am Fenster zu entwerfen; er mußte sich in allen Ecken und Winkeln des Ueberschwemmungsgebietes selbst herumtreiben, an Pontoniere, Schutzmannschaft, Feuerwehren u. dergl. sich anschließen, um den rechten Stoff zusammenzufinden. Was wir davon unseren Lesern mittheilen, können wir zu leichterer Uebersicht classificiren. Vor Allem mußte der Verkehr in den Straßen möglich gemacht werden. So weit dies angeht, stellt man die Straßenverbindung durch Bretter auf fester Balkenunterstützung her. Es sind Eilbauten, deren Beschreibung auch zu manchen heiteren Scenen führt. An Kreuzungspunkten, von denen unsere Illustration uns eine zeigt, hilft ein Schutzmann den Aengstlichen vorüber; der Schlauch, den wir unter der Bretterlage hinlaufen sehen, gehört zur Wasserleitung. – Das Zweitnöthigste bei solcher Erschwerung, ja oft Absperrung des Verkehrs ist die Beischaffung von Nahrungsmitteln. Unser Künstler zeigt uns, wie die Feuerwehr sich um die Wasserversorgung der überschwemmten Straßen verdient macht; in derselben Weise führt man auch andere Lebensmittel aus Fahrzeugen aller Art herbei, die dann mittelst Seilen in Körben, Eimern oder Säcken, ja nach der Art der Waare, von den Bewohnern in die höheren Stockwerke emporgezogen werden. In ähnlicher Weise sorgt die Reichspost für den ununterbrochenen Fortgang des geistigen Zusammenhangs der Menschheit auch über die Hochfluth der Straßen und Gassen hin, nur daß der Fahrpostwagen dem Postkahne Platz gemacht hat und der Postbote statt die Treppen im Innern die Leitern am Aeußeren der Häuser zu ersteigen hat. Und selbst den letzten Gang des Menschen hält die Wasserfluth nicht auf: auch der Sarg findet seine Stätte im Kahne, wohin der Wagen ihn nicht befördern kann. Unheimlich erleuchtet die Pechflamme das stille Gewässer, aus welchem der Begräbnißzug dahinschwimmt, bis er landen muß und der Todte endlich doch zu dem Häuflein Erde kommt, von dem man wünscht, daß es leicht sei. – So hat F. Lindner uns an verschiedene Stellen von Mainz geführt; wenn wir dieselben Straßen wiedersehen, den Fuß auf trockenen Steinen, so wird das Bild der Fluth uns wie ein Märchentraum erscheinen, und doch ist sie eine so ernste, für Hunderttausende an den deutschen Strömen so furchtbare Wahrheit gewesen.
    D. Red.
  5. Wie verweisen bei dieser Gelegenheit auf das beachtenswerthe, soeben erschienene Buch: „Fußleiden und rationelle Fußbekleidung“ von Dr. Vötsch in Nürtingen in Württemberg (Stuttgart, J. B. Metzler’sche Buchhandlung, 1883), welches durch alle Buchhandlungen für 2 Mark zu beziehen ist. Auch bitten wir unsere Leser, den Artikel: „Eine drückende Frage“ im Jahrg. 1877, S. 333 der „Gartenlaube“ nachschlagen zu wollen.